Das Problem einer Vollendung der Emanzipation im Denken der Gegenwart

Marxismus und Marxismuskritik

Einleitung

Gegenstand folgender Untersuchung ist nicht der Marxismus selber, sondern die Kritik, die er in seiner Geschichte durch sich selbst und auch von außen, d.h. von nichtmarxistischen Positionen und Voraussetzungen her, erfahren hat. Beabsichtigt ist eine Kritik dieser Kritik. Der Marxismus soll bei seinem eigenen Wort genommen und die durch ihn produzierte Wirklichkeit als Instanz seiner Kritik zugelassen werden. Wichtig aber ist es, von vornherein klarzustellen, daß die vom Marxismus produzierte Wirklichkeit nicht in ihrer empirisch faktischen Gegebenheit in den Vollzug seiner immanenten Kritik hineingenommen wird, sondern sie soll vielmehr mit dem sie letztlich legitimierenden Anspruch konfrontiert werden, Geschichte als Entfremdung aufzuheben, also mit dem Anspruch, das, was Marx die Vorgeschichte genannt hat, in eine Geschichte zu überführen, die zu ihrem Subjekt die sich als Freiheit verwirklichende Menschheit hat.
Dieses Unternehmen sieht sich eigentümlichen und überraschenden Schwierigkeiten ausgesetzt. Der Marxismus als eine homogene Einheit hat sich gegenwärtig in eine Pluralität höchst mannigfaltiger und heterogener Formen seiner politischen und praktischen Verwirklichung aufgelöst. Die ideologische Auseinandersetzung Moskaus mit Peking verdeckt nicht nur, sondern ermöglicht auch einen Polyzentrismus, der in seinen Konsequenzen für die Zukunft der kommunistischen Welt nur schwer überschaut und abgeschätzt werden kann. Doch noch erheblich uneinheitlicher und kontroverser ist die Auslegung und Interpretation, die dem Marxismus dort zuteil wird, wo der Gedanke, sei es unter seinen Herrschaftsbedingungen, sei es in der westlichen Welt, daran festhält, marxistisch sein zu wollen. Die Charakterisierung der Gestalten und Tendenzen dieses Versuches als revisionistisch führt schon darum nicht weit, weil das Gegenteil, nämlich eine verbindliche, ein Minimum an Eindeutigkeit und Gemeinsamkeit repräsentierende marxistische Theorie, in der Gegenwart fragwürdig geworden ist. Daß der als Weltanschauung angebotene Diamat diese Rolle nicht spielen kann, versteht sich von selbst, nachdem seine Funktion, totalitäre Herrschaft zu legitimieren - und damit sein im Sinne von Marx unbezweifelbar ideologischer Charakter - von marxistischen Theoretikern selber analysiert worden ist.
Es wäre in einer solchen Situation durchaus plausibel, wenn man eine theoretische Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Marxismus mit der Begründung ablehnte, daß sie unmöglich sei, da der Marxismus sich als identifizierbare und in sich kohärente Theorie verflüchtigt habe oder doch in einem Prozeß des Zerfalls und der Auflösung begriffen sei. So ist denn auch, nicht ohne ein gewisses Recht, das Interesse am Marxismus mit dem die westliche Welt bedrohenden Machtpotential der Sowjetunion begründet worden, eine Bedrohung, ohne welche sich niemand mehr für ihn interessieren würde, es sei denn aus Gründen einer historischen und geistesgeschichtlichen Erforschung des 19. Jahrhunderts. Die Aufforderung, den Marxismus philosophisch ernst zu nehmen, müßte dann ihrerseits als eine Frage sozialpsychologischer Analyse der Rolle von Intellektuellen in der modernen Welt betrachtet werden.
Aber schon die Kennzeichnung der ideologischen Situation des marxistischen Gedankens als einer solchen, die von seinem Verfall und seiner Auflösung zeugt, ist nicht unproblematisch. An welchen Kriterien soll diese Situation gemessen und beurteilt werden und woher sollte man die Kriterien nehmen können? Der Rückgriff auf die klassischen Texte der Väter des Marxismus ist dann nicht mehr so ohne weiteres möglich, wenn Marx zu einem Klassiker erhoben und damit doch in einem bestimmten Sinne von gewissen marxistischen Denkern als selbst historisch geworden erklärt wird. Man will nicht mehr wie Marx denken und argumentieren, sondern so, wie Marx unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts gedacht hätte oder gar hätte denken sollen, um als genuin marxistisch anerkannt werden zu können. Die Berufung auf die Realität des Kommunismus, die These, daß der Marxismus in seiner Entfaltung über Engels, Lenin, Stalin, bis in die Gegenwart hinein, sich immer mehr von seinem Ausgangspunkt entfernt und sich in sein Gegenteil verwandelt und pervertiert habe, wird nicht angenommen, sondern es wird ihr geantwortet, der wirkliche Marxismus sei nicht der wahre. Wenn es sich als möglich erweisen sollte, so wird behauptet, diese Fehlentwicklung selber noch mit den Mitteln marxistischer Dialektik zu begreifen, dann sei der Marxismus gerettet. Für wen gerettet? Für die Zukunft! Sollte sich aber erst in der Zukunft herausstellen, was das Wesen des Marxismus ausmacht, dann bleibt für die Gegenwart nur Hoffnung oder Furcht, je nach dem Standpunkt des Betrachters.
Was bleibt also in einer solchen Situation dem zu tun, der weder den Wunsch hat, den Marxismus zu bekämpfen, noch ihn zu verteidigen? Es bleibt das Interesse an dem, was durch ihn geschieht und im Grunde der Geschichte schon geschehen ist. Immerhin ist die verändernde Gewalt, die der Marxismus ausgeübt hat und noch ausübt, so groß, daß jeder einzelne in unserer Welt durch sein Geschick direkt oder indirekt betroffen ist. Nicht nur die weltgeschichtlichen Realitäten unserer Gegenwart und ihrer Zukunft werden in einer grundlegenden Weise durch ihn bestimmt, sondern auch die Möglichkeiten philosophischen Denkens werden durch ihn vorgezeichnet und entscheidend begrenzt, solange es keine Theorie des Marxismus gibt, die ihn nicht zu ihrem Subjekt, sondern zu ihrem Gegenstand macht. Als unmittelbare Voraussetzung für eine solche hier geforderte Theorie müßte aber erst der Nachweis erbracht werden, daß alles in der Epoche des Eintritts des Kommunismus in die Weltgeschichte ausgebildete Denken wenigstens indirekt und implizit durch die Auseinandersetzung mit einer Erfahrung bedingt ist, die sich in den verschiedensten Ausprägungen marxistischer Praxis und Theorie zu artikulieren suchte. Es ist also notwendig, die implizite Marxismuskritik in unsere Kritik der Kritik mit einzubeziehen.
Die gegenwärtige Lage erinnert nicht zufällig immer wieder an die, die durch die französische Revolution geschaffen wurde. Die Analogie in der Wiederkehr der durch sie bewirkten geistigen Konstellation ist in der Tat erstaunlich. Eine der notwendigen Konsequenzen ihrer Feststellung ist es, daß auf beiden Seiten, der östlichen wie der westlichen, die Konfrontation mit den Resultaten der kommunistischen Revolution eine Aktualität des Hegelschen Denkens gezeigt hat, deren Reichweite und Bedeutung von der Entscheidung der Frage abhängt, ob die kommunistische Revolution im 20. Jahrhundert weltgeschichtlich, über das von Hegel Gedachte hinaus, ein qualitativ neues Moment produziert hat. Es ist also in der Sache selbst begründet, wenn alle Schritte in der Entwicklung des marxistischen Gedankens sich aus einer Auseinandersetzung mit Hegels Denken herleiten und auch vorliegende Untersuchung zunächst hypothetisch und heuristisch Hegels Theorie der Freiheit, seinen Begriff einer Vollendung der Freiheit und seinen Begriff einer Vollendung der Geschichte voraussetzen wird.
Was im Unterschied zu allen anderen Theorien der Emanzipation und ihrer Vollendung die philosophische Auseinandersetzung mit dem Marxismus so außerordentlich fruchtbar erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß der Marxismus an die Verwirklichung seines Entwurfs die Verheißung der Verwirklichung aller Versprechen geknüpft hat, die in der Überlieferung christlich-philosophisch-europäischer Geschichte nach seiner Auffassung uneingelöst geblieben sind. Die von Marx in seinem Verhältnis zu Hegel entwickelte Theorie einer Dialektik von Aufhebung und Verwirklichung macht eine Theorie der kommunistischen Praxis von den von ihm selbst anerkannten Kriterien her erst sinnvoll und möglich. Grundlegend für eine solche Auseinandersetzung ist die von Marx in Hinsicht auf die Philosophie formulierte These - und sie gilt ebenso für die Religion und die Idee politischdemokratischer Freiheit -, daß sie nicht verwirklicht werden könne, ohne aufgehoben zu werden und daß ihre Aufhebung nur in der Form ihrer Verwirklichung möglich sei. Die aufhebend verwirklichende Praxis bisheriger Geschichte soll damit gleichzeitig Entfremdung überhaupt aufheben und somit eine Vollendung der Geschichte, gemessen am Begriff bisheriger, praktisch ermöglichen.
Nur wenn der Marxismus verstanden wird als der praktisch revolutionäre Vollzug der Einlösung und Realisierung dieses Entwurfes, ist Marxismuskritik in ihrer impliziten und expliziten Form möglich. Im anderen Fall würden alle Maßstäbe und Kriterien für eine solche fehlen, und die Selbstliquidation des Gedankens vor dem dann irrationalen Anspruch bloßer, aber etablierter kommunistischer Herrschaft bliebe die einzige Möglichkeit. Der Kommunismus wäre dann in der Tat nichts anderes als eine Herrschaftsgestalt blinder und totaler Unterdrückung, als die er in der ideologischen Strategie des kalten Krieges und mancher Philosophien des Westens, z.B. der von Karl Jaspers, erscheint. Was aber Kritik notwendig machte, war der im Vollzug der praktischen Verwirklichung des Kommunismus in Gestalt der kommunistischen Praxis auftretende und sich unübersehbar ständig vergrößernde Hiatus zwischen seinem Anspruch und seiner Realität. Denn wenn zugestanden wird, daß es sich bei der Verwirklichung des Marxismus, die wir als säkulares geschichtliches Experiment vor Augen haben, um das handelt, was Marx gewollt hat, dann kann nicht geleugnet werden, daß im Vollzug des Experiments seiner Realisierung eine Nichtidentität zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis, also eine neue Gestalt von Entfremdung aufgetreten ist. Es bedeutet keine Widerlegung dieser Feststellung, wenn dies von dem etablierten System kommunistischer Herrschaft und ihren Vertretern geleugnet wird. Das ausgebildete Herrschaftssystem ist selbst dann, wenn man von der allgegenwärtigen Präsenz des Terrors als Mittel seiner Durchsetzung absieht, der Beweis dieser Nichtidentität, weil im Kommunismus Herrschaft zur Bedingung des Funktionierens gesellschaftlicher Selbsterhaltung ebenso geworden ist wie in allen industriellen Gesellschaftsformen des Westens. Planung der Freiheit in allen ihren Gestalten impliziert, unter den Bedingungen technisch industrieller Gesellschaft, Herrschaft und Kontrolle der Geplanten durch die Planenden. Welche Gestalt politisch konstitutioneller Verfassung sie sich gibt, hat sich als Frage sekundärer Art erwiesen, für die sie die klassische politische Philosophie des Westens schon immer gehalten hat.
Wenn man aber nun nicht hinter das im Marxismus erreichte theoretische Niveau zurückfallen will, dann muß unsere Frage so gestellt werden, daß sie nach dem Moment von NichtVerwirklichung in der Verwirklichung, von Nichtidentität in der Identität fragt. Sie bildet den leitenden Bezugspunkt in einer Interpretation der Marxismuskritik. Die von Marx entwickelte Dialektik des Theorie-Praxis-Verhältnisses muß auf ihn selber angewandt werden, ehe die Notwendigkeit gezeigt werden kann, über ihre innermarxistische Fassung und damit über das Medium marxistischer Reflexion hinauszugehen. Gemäß dem Marxschen Diktum, daß über die Wahrheit einer Theorie durch die gesellschaftliche Praxis entschieden werde, muß auch mit dem Marxismus selber verfahren werden, nachdem dieser aufgehört hat, eine bloße Theorie zu sein. Nur weil das Geschick von Philosophie selber in diesen Versuch ihrer aufhebenden Verwirklichung involviert ist, kann nach ihr gefragt werden.