Was geschah im 18. Jahrhundert? Das von den Theologen errichtete orthodoxe Gebäude ist ins Wanken geraten. Die Selbstverständlichkeit des Menschen, an der Wahrheit seiner selbst, seiner Welt und Gottes teilzuhaben, wird erschüttert. Das durch die Tradition Überlieferte wird, eben weil es durch bloße Tradition überliefert ist, zutiefst fragwürdig und problematisch. Wer erschüttert diese Tradition? Die Aufklärung, durch die gewisse Grundlagen theologischen Denkens, des Denkens, in dem die Wahrheit als Wahrheit ausgesagt und erfaßt wurde, in Frage gestellt worden sind.
Grundaxiom des orthodoxen Denkens ist das Dogma der Inspiration. Alle Lehraussagen der Orthodoxie waren begründet in diesem Dogma, daß die Bibel ein unmittelbares Diktat des Heiligen Geistes sei. Die Bibel als das so vorliegende Buch ist eine unmittelbare Hervorbringung Gottes und enthält somit die Wahrheit, gegen die es keine Möglichkeit des Einspruches gibt. Dieses Dogma aber enthält in sich einen Zirkelschluß; der Wahrheitsgehalt einzelner Sätze der Bibel wurde dadurch bewiesen, daß man sagte, das ganze Buch sei inspiriert. Andererseits aber wurde dieses Buch als inspiriert geglaubt auf Grund bestimmter Sätze, die in ihm vorkamen. Man kam nur auf Grund eines Salto mortale des Intellektes in dieses System hinein, aber man konnte aus diesem System nicht wieder herauskommen. Akzeptierte man dieses Grunddogma, mußte man das gesamte andere Lehrgebäude auch akzeptieren. Gegen diese Gleichsetzung von Gottes Offenbarung mit dieser bestimmten Bibel wandte sich die Aufklärung. Sie richtete sich gegen die Meinung, daß die Berichte der Bibel nicht menschlich, sondern unmittelbar als göttlich zu begreifen seien. Durch die moderne, voraussetzungslose, kritische wissenschaftliche Methode versuchte die Aufklärung den Nachweis zu führen, daß das als Offenbarung Ausgegebene geschichtlich und als solches begreifbar sei aus Menschlichem. Wir haben hier das spezifische Schema der modernen Religionskritik vor uns: Das als göttlich Geglaubte oder Ausgegebene ist auf diesseitige menschliche, psychologische, soziologische, geschichtsphilosophische Größen zurückzuführen. Dieses Schema ist mit der Aufklärung gegeben. Aus ihm ergab sich notwendig der Versuch einer Destruktion des überkommenen theologischen Lehrgebäudes und damit auch eine Zerstörung des christlichen Glaubens selbst, denn die Theologie ist ja nur die Auslegung dieses Glaubens, der für sich in Anspruch nahm, auf göttliche Offenbarung zurückzugehen. Die Aufklärung versuchte also, die Kategorie der Offenbarung als solche gegenstandslos erscheinen zu lassen. Nach welchen Hinsichten sollte sie zerstört werden? Grundpostulat der Aufklärung ist einmal die Vernunft, die sich in der Aufklärung selbst erfaßt als eine autonome menschliche Größe, als die sich selbst aufklärende Vernunft auf ihre Mündigkeit hin. Aufklärung ist die Aufklärung der Vernunft über sich selbst und durch sich selbst. Das bedeutet die Überführung einer abhängigen Vernunft in eine nur sich selbst verantwortliche Vernunft. Diesem Unternehmen liegt zugrunde, daß die Vernunft den Anspruch erhebt, mit nichts anderem als mit sich selbst zu beginnen. Die Grundvoraussetzung der modernen, aufgeklärten, autonomen Vernunft besteht in dem Postulat, mit nichts anderem als mit sich selbst zu beginnen. Die Vernunft, die diesem Postulat nicht gehorchte, war dem Wahn oder der Autorität unterworfen, die die Vernunft bisher als faktische geschichtliche Macht daran hinderte, das zu tun, was sie wollte: mit sich anfangende Vernunft zu sein. Das bedeutet aber für eben diese Vernunft eine totale Abstraktion aus der Geschichte. Die Gegenmacht gegen den Anspruch der Vernunft, sich selbst durch sich selbst auf sich selbst hin befreien zu können, ist die Geschichte.
Aufklärung ist identisch mit einer durch die Vernunft ausgelösten und als vollendbar geglaubten Bewegung der Emanzipation. Aufklärung ist die Bewegung der Selbstemanzipation der Vernunft aus der Geschichte. Wie wird hier Geschichte gedacht? Von welcher Geschichte muß sich die Vernunft befreien, um durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt zu sein? Seit der Aufklärung ist es der durchgehende Anspruch der Vernunft, ihrer selbst Herr zu sein.
Die Geschichte, aus der sich diese Vernunft emanzipiert, wird als Tradition gedacht, insofern diese Tradition einen bestimmten Autoritätsanspruch erhebt. Es liegt hier in der Tradition das Phänomen vor, daß etwas auf Grund dessen, daß es sich als solches durch den Ablauf der geschichtlichen Situationen und Epochen durchhält, einen Anspruch auf Autorität erhebt. Die Anwendung dieser sich aus der Tradition emanzipierenden Vernunft auf die christliche Offenbarung als Autorität ist nur eine spezielle im Zusammenhang der Anwendung auf Tradition überhaupt. Das Unvernünftigfinden des christlichen Glaubens ist nur die Konsequenz einer selbst dogmatischen Setzung der modernen emanzipativen Vernunft. Denn dieser emanzipativen Vernunft liegt ja nicht eine Einsicht zugrunde, ein Faktum, eine Beobachtung, die die Vernunft im Vollzug ihrer Selbstkonstituierung gemacht hätte, sondern der Emanzipation der modernen Vernunft liegt ein Wille, ein Entschluß zugrunde: Ich will nichts anderes mehr als vernünftig gelten lassen, als was ich auf Grund mir selbst innewohnender Prinzipien, auf Grund eigener Prüfung auch als vernünftig einsehen kann.
Aus diesem Anspruch der Vernunft ergeben sich dann die Antinomien einer Anwendung auf bestimmte Bereiche, z.B. auf den christlichen Glauben.
Für den Glauben selbst bleiben gegenüber der Einordnung in diese Vernunft nur drei mögliche Standpunkte übrig:
- Es wird alles das aus dem Inhalt der Offenbarung ausgeschieden, was sich nicht mit diesem Anspruch der Vernunft vereinbaren läßt.
- Die christliche Offenbarung ist als Offenbarung supra rationem: Die die Offenbarung weigert sich, sich dem kritischen Gericht der Vernunft zu unterziehen. Als Übernatürliche darf sie sich nicht dieser Prüfung durch die mündig gewordene Vernunft stellen.
- Die christliche Offenbarung ist unvernünftig, und die Vernunft kann sich in ihrem Verhältnis zur christlichen Offenbarung nur so bestimmen, daß sie alles, was mit Glauben, Religion und Offenbarung zusammenhängt, als eine Produktion der puren Irrationalität, als keiner vernünftigen Rechtfertigung fähig, überhaupt ausschaltet.
Wieso ist Lessing durch seine spezifische Möglichkeit, die er ergriffen und ausgebildet hat, der Vater der modernen (für Deutschland) maßgebenden Religionsphilosophie geworden? Eins kann man schon sagen: Die Lessingsche Möglichkeit ist mit keiner der drei skizzierten
identisch.
Im Mittelpunkt des >Nathan< steht die Frage nach der Wahrheit der Religion. Schon die Tatsache, daß hier von Religion und Religionen die Rede ist, bedeutet eine revolutionierende Veränderung der Fragestellung, denn man kann nur unter den Voraussetzungen der Aufklärung nach Religion als Religion fragen. Denn innerhalb der geschichtlich-konkreten Religionen und ihres Glaubensvollzuges ist das Abstraktum einer »Religion« undenkbar. Die Aufklärung entfernt sich von der nur positiven Religion, weil sie nicht durch die Vernunft gesetzt und insofern auch nicht durch die Vernunft begründbar ist. Indem die Religion als ein bloß geschichtliches und damit vernunftloses Datum gefaßt wird, fällt sie unter das Verdikt der Aufklärung gegen die Geschichte. Windelband bestimmte das Wesen der Aufklärung zu recht als den Prozeß der Vernunft gegen die Geschichte. Dieser Prozeß, den die Vernunft gegen die Geschichte führt, setzt aber eine Instanz voraus, vor der dieser Prozeß anhängig gemacht werden kann. Wie begründet sich diese Instanz, von der aus der Kampf gegen die Geschichte geführt wird? Da es sich um eine Überwindung der Geschichte als eines bloß kontingenten Zusammenhangs von Tatsachen handelt, die jeder Vernunftbegründung entbehren, muß diese Instanz selbst ungeschichtlicher Art sein. Die Konstitution dieser Instanz erfolgte im Aufkommen der modernen Naturwissenschaft. Insofern ist es richtig, in Descartes den Ursprung, Anfang und die Begründung der Aufklärung überhaupt zu sehen.
Mit dem cartesischen Ansatz ist die moderne Aufklärung gegeben, insofern die Voraussetzung der Neubestimmung des Methodenbegriffs bei Descartes impliziert, daß alles durch die Tradition Gegebene, alles das, von dem her sich bisher die Vernunft begründete, umgestürzt wird, weil es keiner vernünftigen Begründung fähig ist: Umsturz der bisher geltenden Wahrheit als einer solchen, die einer strengen, durch die Vernunft selbst vollzogenen Nachprüfung nicht standhält. Die Paradoxie der Aufklärung besteht darin, daß sich die Vernunft in diesem Umsturz einen eigenen Grund setzen muß, wenn keine von der auf sich selbst reflektierenden Vernunft unabhängige Gegebenheit mehr gilt, weil sie der Möglichkeit des Zweifels unterliegt. Das ist das formal-abstrakte Argument, das Descartes entwickelt, um eine neue Grundlegung möglich zu machen, eine nun geschichtsunabhängige, d.h. voraussetzungslose. Hegel hat daher mit Recht das Prinzip der neuzeitlichen Philosophie, ja das Prinzip der modernen Welt schlechthin bestimmt als das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit, d.h, als das Prinzip des bedingungs- und voraussetzungslosen Anfangs. Der neue Anfang muß streng notwendig und gültig sein, und das kann er sein, weil er durch die auf sich selbst reflektierende Vernunft gesetzt wird. Erst das garantiert die unbedingte Voraussetzungslosigkeit und das Entnommensein aus jeder Möglichkeit des Zweifels.
Mit dieser voraussetzungslosen und damit ungeschichtlichen Vernunft ist zugleich das Prinzip einer permanenten Revolution gesetzt. Diese Vernunft wird sich erst dann zu ihrer Perfektion und Affirmation gebracht haben, wenn nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch eine Welt konstituiert ist, die kein durch die Geschichte gegebenes und durch die Geschichte vermitteltes Moment mehr in sich hat. Erst wenn es geschichtlich so geworden ist, daß der Mensch nur noch in einer durch sich selbst gesetzten und in ihrem Setzungscharakter klar durchschauten und in einer so durch die Methode garantierten Welt lebt, erst dann hat die Aufklärung ihr Ziel erreicht. Der Weg zur Verwirklichung dieses Ideals ist der Weg der konsequenten Austreibung der Geschichte als Geschichte.
Was soll unter dieser Voraussetzung der geschichtsunabhängigen Vernunft eigentlich Religionsphilosophie besagen? Sie kann sich verstehen als ein radikal negatives Unternehmen: Destruktion jeder Religion, insofern sich die Religion durch die selbst gesetzten Vernunftprinzipien nicht bestätigen und bewähren läßt. Und da die christliche Religion (und darin besteht ihr Spezificum gegenüber den anderen Religionen) eine Geschichtsreligion ist - d.h. eine Religion, die sich nicht nur in der Geschichte konstituiert, sondern die erst die Geschichte selbst konstituiert, indem das Heilsverbürgende kein Prinzip, sondern ein geschichtliches Ereignis ist -, bedeutet die konsequente Verwirklichung dieser aufgeklärten Vernunft die radikale Destruktion der christlichen Religion. Das wäre Religionsphilosophie in der Form der Religionskritik. Denn man muß ja erst einen Begriff von dem geben, was man destruieren will. Das bedeutet für die Religionsphilosophie negativ, daß sie von vornherein das durch die rationale, geschichtsunabhängige, voraussetzungslose Vernunft gesetzte Verständnis von Wirklichkeit der Religion substituiert. Diese negative Religionsphilosophie ist also ein Substitutionsvorgang: der Religion wird ein Begriff von Wirklichkeit zugrunde gelegt, der erst dieser aufgeklärten Vernunft entstammt.
Eine zweite grundsätzliche Möglichkeit der Religionsphilosophie unter der Voraussetzung der Aufklärung besteht darin, daß man einen Kompromiß, eine Vermittlung leisten will: eine Angabe der Möglichkeit, wie unter dieser Voraussetzung eine Religion koexistieren kann. Dieser Versuch wurde im 18. Jahrhundert durch die Neologie geleistet.[1]
Es gibt schließlich - und das wäre die Religionsphilosophie im positiven Verstände - eine Religionsphilosophie, die vom Verständnis der geschichtlichen Religion her ebenfalls (unter der Voraussetzung der Aufklärung) Religionskritik (wie die negative Religionsphilosophie) sein muß. Sie stellt sich die Frage: Wie kann unter den Bedingungen der geschichtslosen, aufgeklärten Vernunft noch das glaubende Dafürhalten des Menschen in der Religion überhaupt einsichtig gemacht werden? Diese Religionsphilosophie unterscheidet sich von der Theologie dadurch, daß sie sich nicht selbst als gegeben voraussetzt.[2]
Demgegenüber ist Religionsphilosophie unter der Voraussetzung der Aufklärung in ihrem positiven Verstände der Versuch, dieses Gegebensein, das, was in der faktischen Form religiöser Vermittlung gegeben ist, vernünftig einsichtig zu machen. Sie will die Zugehörigkeit der Religion zu der durch die aufgeklärte Vernunft ausgelegten Wirklichkeit erweisen. Diese Religionsphilosophie setzt damit auch eine Religionskritik voraus. Dieses dialektische Verhältnis von Religionsbegründung und Religionskritik ist unter den Bedingungen der Aufklärung unaufhebbar. Es ist so lange unlösbar, als die rationale Vernunft konstitutiv für die Wirklichkeitsauslegung ist. Solange die Ratio über das Realitätsverhältnis des Menschen zur Welt entscheidet, kann Religionsphilosophie im positiven und negativen Verstände nur in der wechselseitigen Bedingtheit von Kritik und Begründung bestehen.
Es gibt für die moderne, unter den Voraussetzungen der Aufklärung stehende Religionsphilosophie im Prinzip drei Möglichkeiten:
- Man begreift die Dialektik von Religionsbegründung und Religionskritik als eine geschichtliche Notwendigkeit der modernen Welt, wenn man die christliche Religion begreifen will als etwas, was seinem Ursprung nach nicht zu dieser modernen Welt gehört.
- Man läßt den dialektischen Zirkel stehen und sagt: Da er als Religionsphilosophie nicht zu lösen ist, müssen wir eine neue Voraussetzung suchen, durch die die Bedingung einer Aufhebung dieses ruinösen Zirkels gegeben wird; denn sowohl für den Glaubenden wie auch für die Religionsphilosophie ist dieser Zirkel ruinös. Das bedeutet ein Hinüberwechseln in das Feld der Geschichtsphilosophie. Diese Herkunft der modernen Geschichtsphilosophie aus der Religionsphilosophie, die ihre Probleme auf ihrem eigenen Boden nicht lösen konnte, ist heute fast völlig unberücksichtigt und vergessen.
- Man kritisiert die geschichtliche Voraussetzung, unter der sich das Problem der Religionsphilosophie und auch seine Unlösbarkeit gestellt hat - nämlich den grundlegenden Anspruch der modernen geschichtslosen Ratio. Es wird gefragt: Mit welchem Recht wird der sich selbst setzenden und insofern geschichtslosen Ratio die Auslegung des grundlegenden Bezuges des Menschen zur Wirklichkeit überlassen? Diese Möglichkeit ist - zusammen mit dem Versuch des selbst vernünftigen Begreifens der verständigen Abstraktion der Aufklärung - nur von Hegel vollzogen und als das entscheidende Problem der Religion und des Christentums in ihrem Verhältnis zur modernen Welt begriffen worden.
Das kritische Moment der aufgeklärten Vernunft als Verstand besteht in der Forderung, die gründende Wahrheit der Religion methodisch einzuklammern. Den Anspruch der Religion, daß niemand einen Grund legen kann als den, der schon gelegt ist, setzt die Vernunft als methodische in Klammern. Sie läßt diesen Anspruch dahingestellt sein, um erst die Bedingungen aus sich selbst als Verstand zu ermitteln, an denen dieser Anspruch auf seine Berechtigung und Gültigkeit geprüft wird. Entweder erweist er sich dann unter diesen Bedingungen des Verstandes als zu recht bestehend, also als mit diesem Verstände vereinbar oder durch ihn verifizierbar, oder er weist sich als nicht mit ihm vereinbar, dann muß diese Wahrheit ihren Anspruch, grundlegend zu sein, aufgeben.
Es soll nun an einem Beispiel gezeigt werden, wie das Zusammenspiel von Religionskritik und Religionsbegründung auf dem Boden der Lessingschen Religionsphilosophie zu verstehen ist. Folgende Fragen sind dabei zu stellen:
- a)Worin besteht die Religionskritik Lessings?
- b)Worin besteht die Religionsbegründung Lessings?
- c)Worin und wodurch sind beide miteinander vermittelt?
Bisher versuchte man, Lessing einseitig festzulegen. Es gibt auch die These, daß Lessings Religionsphilosophie als Kritik wie als Begründung nur die exoterische Form seiner Religion sei, die als esoterische von Lessing nicht mitgeteilt werde.
Worin besteht die Religionskritik Lessings, wogegen ist sie gerichtet? In der Schrift >Über den Beweis des Geistes und der Kraft< heißt es:
»Wenn keine historische Wahrheit demonstriert werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriert werden. Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.«
Diesen Satz wendet Lessing dann in der Diskussion der historischen Glaubwürdigkeit des überlieferten Christentums an und entwickelt folgenden Gedankengang:
»Wenn ich folglich historisch nichts dawider einzuwenden habe, daß Christus einen Toten erweckt, muß ich darum für wahr halten, daß Gott einen Sohn habe, der mit ihm gleichen Wesens sei? In welcher Verbindung steht mein Unvermögen, gegen die Zeugnisse von jenem etwas Erhebliches anzuwenden, mit meiner Verbindlichkeit, etwas zu glauben, wogegen sich meine Vernunft sträubet? Wenn ich historisch nichts dawider einzuwenden habe, daß dieser Christus selbst von dem Tode auferstanden, muß ich darum für wahr halten, daß eben dieser auferstandene Christus der Sohn Gottes gewesen sei? ... Das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüberhelfen? Der tue es. Ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet einen Gotteslohn.«[3]
Welcher Graben ist gemeint? Der, der zufällige historische Wahrheiten und nur historisch verifizierbare Wahrheiten von den notwendigen, der Vernunft unmittelbar eingestifteten und ihr innewohnenden Wahrheiten trennt. Damit ist das Grundproblem der Lessingschen Religionsphilosophie gestellt. Geschichtlich gesehen bedeutet es, daß zwischen heute und dem damaligen Ereignis des Lebens und Sterbens Christi eben achtzehnhundert Jahre liegen. In der unmittelbaren Erfahrung des historischen Ereignisses konnte geglaubt werden. Was aber bedeutet dieser Glaube für die Gegenwart Lessings? Man hat nicht das Ereignis, sondern nur einen Bericht davon. Das ist das Problem. Jede neuzeitliche Religionsphilosophie versteht sich in bezug auf dieses Problem. Religionsphilosophie treiben heißt sagen, wie diese Vermittlung möglich ist. Das Problem der Vermittlung ist das Problem der Religionsphilosophie schlechthin.
Von woher hat sich Lessing dieses Problem so gestellt? Die allgemeine Voraussetzung ist die Konstitution der Methodenvernunft bei Descartes in Hinsicht auf das Problem von Geschichte und Offenbarung, von Vernunft und Glaube. Denn diese Vernunft schaltet aus sich das Geschichtliche aus und setzt es damit als zufällig. Das Problem des Verhältnisses von Geschichte und Vernunft ist das Produkt der Abstraktion dieser Vernunft auf den Verstand. Der Abfall, der aus der Setzung der cartesischen Methodenvernunft herausfällt, ist die Geschichte, die als faktisch-zufällig gesetzt wird. Der andere, konkretere Grund der Lessingschen Problemstellung ist sein Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze, d.h. es sind die Vorgänge, die den Streit entfesselt haben. Zugrunde lag diesem Streit eine Veröffentlichung der >Papiere des Wolfenbütteler Unbekannten< Reimarus.
Mit dieser Veröffentlichung hat Lessing ganz bewußt einen Streit provoziert. Mit dem Inhalt des von Lessing Veröffentlichten darf Lessing nicht identifiziert werden. Für Lessing waren diese Schriften nur die Lunte, die das Pulverfaß der damaligen Ansichten über das Christentum zur Explosion bringen konnte. Reimarus behauptet: 1. Die Schriften des Alten Testamentes enthalten keine Religion, sondern sie sind der Versuch des jüdischen Volkes, sich mit Hilfe der Religion eine politisch-staatliche, eine geschichtsmächtige Existenz zu geben. Das Alte Testament ist nur ein Gesetzgebungswerk, durch das sich ein Volk eine staatliche Existenz geben will. Die Frage einer Offenbarung war damit völlig hinfällig geworden. - 2. Das Neue Testament ist nach Reimarus der Versuch Christi, das zu leisten, was ihm unter der Voraussetzung des Alten Testaments zugedacht war: ein irdisches Reich als Messias zu begründen. Das Neue Testament ist der Ausdruck eines gescheiterten politischen Thronprätendenten. - 3. Die Verfasser des Neuen Testamentes schrieben in der Absicht des Betruges; denn die ersten Jünger konnten sich mit dem faktischen Scheitern ihres Meisters nicht abfinden. Sie verfälschten die politische Niederlage in einen religiös-heilsgeschichtlichen Sieg um und erfanden die Auferstehung. Reimarus glaubt, diese Fälschung entdeckt zu haben.
Man muß sich klarmachen, was die Veröffentlichung dieser Schriften für die damalige Zeit bedeutete. Die gesamte europäische Geschichte der letzten achtzehnhundert Jahre bezog sich auf einen Grund, der keiner war. Die gesamte Geschichte ist eine sich auf einen Betrug, der nun an den Tag gekommen ist, beziehende Geschichte und ist damit hinfällig geworden.
Reimarus wollte den Offenbarungsbegriff als Betrug destruieren. Er wollte jedoch nicht die Religion zugunsten eines Atheismus destruieren, sondern die Notwendigkeit der Überführung der christlichen Religion in eine Naturreligion erweisen. Das setzt freilich voraus, daß die natürliche Vernunft des Menschen in sich einen Begriff von Gott hat und gemäß diesem Begriffe den Menschen zu einem Handeln bestimmen kann, das dann ein gottgemäßes Handeln wäre.
Wenn von Gefahr für die Orthodoxie im 18. Jahrhundert die Rede gewesen ist, dann kann es sich nur um den von Reimarus am konsequentesten formulierten Versuch handeln, das Christentum als Offenbarungsreligion zu wiederlegen. Wieso wird nach der Meinung Lessings durch den Angriff des Reimarus die christliche Religion nicht betroffen? Für Lessing können zufällige Geschichtswahrheiten nie der Beweis allgemeiner Vernunft Wahrheiten sein. Nicht die Thesen im einzelnen, sondern die Anwendung der Methode, auf Grund derer Reimarus zu seinen Ergebnissen kam, sind das Entscheidende dieses Angriffes. Das Problem ist die Methode, von der Reimarus meinte, daß sie in der Lage sei, die christliche Religion zu zerstören. Die Methode ist die historisch-kritische, die sich in allen historischen Geisteswissenschaften durchgesetzt hat.
Reimarus geht von folgender Prämisse aus: Die Orthodoxie nimmt für sich in Anspruch, daß die christliche Offenbarung eine Geschichtswahrheit darstellt, daß ihr geschichtliche Ereignisse zugrunde liegen, die in der Bibel berichtet werden. Dazu behauptete die Orthodoxie, daß diese Schriften in ihrer Wahrheit durch die Inspiriertheit der Verfasser bestätigt werden.
Die theologische Voraussetzung der Orthodoxie ist also folgende: 1. Der Anspruch der christlichen Religion, Offenbarungsreligion zu sein, beruht auf Ereignissen geschichtlicher Art, auf die sie zurückgeht. - 2. Von diesen die christliche Offenbarung beglaubigenden geschichtlichen Ereignissen ist eine Dokumentation greifbar in den Schriften des Alten und des Neuen Testaments. - 3. Die Authentizität, die Wahrheit dieses Dokumentes ist begründet in der Inspiriertheit der Autoren, die das Alte und das Neue Testament verfaßt haben. Die Orthodoxie ist bei Lessing der Palast, der Feuer gefangen hat. Angriffen gegen Lessing, dem vorgeworfen wird, die Schriften des Reimarus gegen diese Orthodoxie veröffentlicht zu haben, erwiderte Lessing: Man dürfe den, der ein umschleichendes Gift den Gesundheitsbehörden zur Kenntnis bringt, nicht mit dem verwechseln, der es in Umlauf setzt. Lessing will der Orthodoxie also durch die Veröffentlichung der Schriften des Reimarus ihre Gefährdung zum Bewußtsein bringen.
Wenn der christlichen Offenbarung gemäß dem Anspruch der Orthodoxie geschichtliche Ereignisse zugrunde liegen sollen, dann ist es ein möglicher Gedanke, sich unabhängig von der Offenbarungsthese diesen Ereignissen zuzuwenden und sich ihrer Faktizität voraussetzungslos zu bemächtigen, um dann ihren Offenbarungscharakter zu überprüfen. Reimarus' Methode ist voraussetzungslos, insofern sie vom Offenbarungsanspruch des der Methode Unterworfenen absieht. Er will der Tatsachen, auf die sich die Offenbarung stützt, unter Abstraktion vom Offenbarungsanspruch habhaft werden. Kritisch ist diese Methode, indem sie zwischen dem Ereignis und dem Bericht, zwischen dem Hergang und seiner Reproduktion trennt. Das hat seine Konsequenzen bis zum heutigen Tag; denn der Wissenschaftscharakter der Theologie beruht gerade auf der Anwendung dieser voraussetzungslos-kritischen Methode.
Eine zur Destruktion der christlichen Theologie entwickelte und auf sie angewandte Methode ist heute zum Selbstvollzug der Theologie als Wissenschaft in die Theologie mit hineingenommen. Wissenschaftlich sein heißt heute in der Theologie, voraussetzungslos gewonnene und durch die methodische Kritik hindurchgegangene Ergebnisse zu liefern. Hier liegt die aktuelle Bedeutung des Streites, den Lessing damals in Gang brachte. Die Veröffentlichung der »Schriften eines Ungenannten« entspringt einer weisen, fast divinatorischen Voraussicht. Denn Lessing sah die Unausweichlichkeit, mit der die christliche Theologie und damit die christliche Religion gezwungen sind, sich dem Anspruch dieser Methode zu stellen, ihm standzuhalten oder den Anspruch, Wissenschaft zu sein, preiszugeben. Darüber hinaus hat Lessing erkannt, daß die konsequente Anwendung dieser Methode, die ja die methodische Voraussetzung aller historischen Geisteswissenschaften ist, eine Zerstörung des Christentums bedeutet, wenn der Grund der Glaubwürdigkeit und Wahrheit christlicher Religion zufällige historische Ereignisse sind. Wenn Lessing der Meinung ist, daß Reimarus den Grund der religiösen Gewißheit des Christentums nicht zerstört hat, dann muß dieser Grund ein anderer sein, als in diesem Angriff des Reimarus unterstellt wird.
Lessing geht dabei von zwei Voraussetzungen aus: Abgesehen davon, ob die Resultate des Reimarus stimmen oder nicht, steht von vornherein fest, daß diese voraussetzungslose, kritische Methode nicht in der Lage ist, die christliche Glaubensgewißheit in Frage zu stellen. Deshalb nicht, weil es in der Struktur geschichtlich-zufälliger Tatsachen als solcher liegt, daß es von ihnen eine unbedingte Gewißheit und Vergewisserung nicht gibt. Diese Einsicht Lessings ist von großer methodischer Bedeutung, nicht nur für die Theologie, sondern für alle historischen Disziplinen der modernen Geisteswissenschaften. Lessing limitiert die Möglichkeiten der kritisch-voraussetzungslosen Methode aus einer prinzipiellen Reflexion auf die Struktur des Gegenstandes, auf den diese Methode angewandt werden soll, denn der Gegenstand ist dadurch strukturiert, daß es sich um historische Tatsachen handelt, die zufällig sind. Sind sie aber zufällig, dann kann es von Tatsachen dieser Art keine unbedingte Gewißheit geben, weder im positiven noch im negativen Verstände. Von hier aus wird der Schlußsatz der Lessingschen Parabel deutlich: daß ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten wurde. Diese Verwechslung ist schon zu konstatieren, ehe man überhaupt in diesem Kampf irgendwo Partei ergreift; denn es folgt aus der Struktur historischer Tatsachen, daß durch sie eine absolute Gewißheit prinzipiell unmöglich ist. Ein Glaube wird durch eine solche Methode überhaupt nicht betroffen, weil sie nur approximative Ergebnisse erzielen kann. Gibt es Glauben, und zwar an eine Offenbarung, die in geschichtlich zufälligen Tatsachen begründet ist, und versteht sich der Glaube richtig, dann ist er nicht zu erschüttern, dann kommt es auf die Gegenwärtigkeit dieses Glaubens an. Insofern der Glaube als Glaube vorausgesetzt werden kann, ist die Orthodoxie für Lessing im Recht, d.h. nicht durch die kritische Methode in Frage zu stellen.
Wie aber ist der Glaube positiv zu bestimmen, wenn er nicht auf historisch zufällige Tatsachen reduzierbar ist?
Der Glaube kann von seinem Gegenstand ebensowenig wie die kritische Methode eine positive Gewißheit geben. Der Glaube als Glaube an zufällige Geschichtstatsachen muß aufhören, sich seines eigenen Grundes gewiß zu sein.
Warum muß es aber dennoch für Lessing eine unbedingte Gewißheit für den Glauben geben? - Weil es bei der Entscheidung über die Gewißheit um die Entscheidung seines Schicksals geht. Die Entscheidung des Glaubens entscheidet sich nach Lessing prinzipiell von allen anderen Entscheidungen, die der Mensch sonst noch in seinem Leben fällen muß. Denn es geht in ihr um das absolute Geschick des Menschen als Menschen, es geht um seine ewige Seligkeit, wie man damals sagte. Soll ich ein Prinzip annehmen, bei dem es um meine ewige Seligkeit geht, dann müssen die Gründe, die mich zu einer solchen Entscheidung bewegen, mir unbedingt gewiß sein. Und wenn der christliche Glaube seine Zuversicht aus einem kontingenten Ereignis in der Geschichte bezieht, dann ist dieser Glaube nicht in der Lage, dem Glaubenden eine unbedingte Gewißheit zu vermitteln, die es weder im positiven noch im negativen Verstände geben kann.
Die bisherige Theologie hat sich die Einsicht in diesen Zusammenhang dadurch verstellt, daß sie auf Grund einer willkürlichen Entscheidung dem Zufälligen den Index des Absoluten gegeben hat. Das geschah durch die Lehre von der Verbalinspiration der Schrift. Diese Voraussetzung wird durch die moderne kritische Methode in Frage gestellt. Die Methode zeigt, daß dieses Verbalinspirationsdogma über die Schrift Aussagen macht, die vom Standpunkt und in der Weise der Anwendung dieser Methode auf die Schrift nicht zu halten sind. - Der Grund dieses Verschwindens des christlichen Glaubens in der Aufklärung geht für Lessing auf diese unzulässige Verbindung von Zufälligem und Absolutem zurück, wobei über diese Unzulässigkeit die Philosophie zu entscheiden hat. Religionsphilosophisch gesehen, liegt hier bei Lessing eine positive Wertung der Aufklärung vor. Die Aufklärung ist ein Ereignis, das Lessing um der Eigenart des Glaubens willen bejaht hat, während wir heute geneigt sind, auf der Unvereinbarkeit von Glauben und Aufklärung zu bestehen. Lessing war demgegenüber der Meinung, daß um des Glaubens selbst, um der Reinheit des Glaubensverständnisses willen die
moderne emanzipative Aufklärung positiv zu beurteilen sei. Insofern die Aufklärung für den Glauben den Zwang bedeutet, sich selbst durchsichtiger zu werden und zu reinigen, ist die Aufklärung für die Ausbildung eines reineren Verständnisses der Offenbarung und des Glaubens von der Offenbarung und dem Glauben her notwendig. Die Gründe dieser Anerkennung der Aufklärung liegen in dem von Lessing religionsphilosphisch gewonnenen Verständnis des Glaubens selbst. Das Motiv Lessings ist selbst ein Glaubensmotiv. Er bejaht die Aufklärung, insofern sie Anteil daran hat, eine bestimmte Form eines geschichtlich wirklich gewordenen Selbstmißverständnisses des Glaubens zu beheben. Das muß gegenüber der herrschenden Meinung in der Theologie festgehalten werden, die meint, hier werde der Aufklärung ein zu großes Zugeständnis gemacht. Dieser Zusammenhang bei Lessing hält sich durch bis zu Hegel hin. Ja man kann die Religionsphilosophie immanent danach beurteilen, inwieweit es ihr gelungen ist, die abstrakte Antithetik von Aufklärung und Glaube zu überwinden. Es muß die Religionsphilosophie den Einspruch erheben, daß eine sich in der Antithetik zum Glauben bestimmende Aufklärung über sich selbst nicht genug aufgeklärt ist.
Damit der Glaube durch den Glaubenden rein ergriffen werden kann, bedarf er der Aufklärung. Aber umgekehrt bedarf auch die Aufklärung des Glaubens, wenn das Werk der Durchführung der Aufklärung das Pathos, den Index der Unbedingtheit bekommen soll, die die Aufgeklärten daran hindert, an der Langeweile und Trivialität der eigenen Existenz zu ermüden. Zu ihrer vorrationalen Grundlegung bedarf die Aufklärung des Glaubens. Denn die Vernunft ist ja nicht eine Größe an sich und überhaupt, die sich irgendwo und irgendwie in der Welt durchsetzt, sondern Lessing wußte: wenn es zum Durchbruch der Vernunft kommt, dann bedarf es eines Subjektes, das diesen Durchbruch zur Vernunft vollzieht. Handelt es sich aber um einen Vernunftgebrauch, dann untersteht er - wie alle Formen menschlicher Praxis - selbst der Direktive eines Grundes, der offenbar nicht erst aus der zu gebrauchenden Vernunft hervorgeht, sondern dieser zu gebrauchenden Vernunft vorausgeht. Dies gesehen und bestimmt zu haben, ist das große Verdienst der Religionsphilosophie Lessings.
Aus dem Charakter der Zufälligkeit historischer Tatsachen schließt Lessing: Wenn es eine unbedingte Glaubensgewißheit geben soll (und da es um die ewige Seligkeit geht, muß es sie geben), dann muß die Begründung dieser Glaubensgewißheit geschichtsunabhängig sein. Und insofern das Alte und das Neue Testament die Dokumente von geschichtlichen Vorgängen sind, müssen sie in ihrer Kompetenz der Glaubensbegründung bestritten werden. In dieser Krisis, in dieser Scheidung zwischen dem Grund der Gewißheit und der Geschichtsunterworfenheit der Tatsachen und Zusammenhänge, die als für den Glauben relevant selbst einer Begründung bedürfen, besteht der kritische Teil der Lessingschen Religionsphilosophie. Relevant sind die Dokumente geschichtlicher Ereignisse dann, wenn bereits der Grund der Gewißheit gegeben ist. Nicht die Geschichte begründet die Gewißheit, sondern die Annahme eines geschichtsunabhängigen Prinzips. Das ist der Sinn der Lessingschen Unterscheidung von Schrift und Religion.
Woher aber nimmt Lessing einen solchen geschichtsunabhängigen, eine unbedingte Gewißheit verbürgenden Grund? Auf diese Frage gibt es bei Lessing keine präzise Auskunft. Als unmittelbar gefühlte trägt die Religion den Grund ihrer Gewißheit in sich selbst. Wenn keine die Offenbarung begleitenden äußeren Umstände die Wahrheit des Offenbarten garantieren können, dann muß der Grund der Überzeugung von der Wahrheit der Offenbarung in dem Inhalt, in der Wahrheit selbst liegen, die offenbart wird. Die Wahrheit selbst muß die Kriterien für ihre Annahme in sich tragen. Wo und wie aber ist diese Wahrheit zugänglich?
Nur wenn es zu einer unmittelbaren Begegnung mit der Offenbarungswahrheit kommt, kann es diese Gewißheit geben. Denn welche Wahrheiten genügen sonst noch dem Kriterium, unbedingt gewiß zu sein? Es gibt noch die abstrakten, der Vernunft apriorisch innewohnenden Wahrheiten. Von diesen Wahrheiten kann sich der Mensch unmittelbar überzeugen.
Von welcher Art muß die Offenbarungswahrheit sein, wenn sie weder abstrakte Vernunftwahrheit (wäre sie es, dann wäre sie keine Offenbarungs-Wahrheit mehr) noch zufällige Geschichtswahrheit ist? Diese Frage versuchte Lessing in seiner >Erziehung des Menschengeschlechtes< zu beantworten: »Die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll.« Wie aber geschieht die Überführung von geoffenbarter Wahrheit in Vernunftwahrheit?
Lessings erster Schritt bestand in der Beschränkung des Anspruchs der reinen Vernunft. Ebenso limitierte er den Anspruch der Offenbarung, nur auf Grund ihrer Faktizität - und das bleibt ja bei der existenzialen Theologie allein übrig - verbindlich zu sein. Beide limitierten Größen versuchte er dann in ein korrelatives Verhältnis zu setzen. Das Medium der korrelativen Beziehung ist die Geschichte. Damit hat Lessing das Tor zu einer neuen geschichtlichen und philosophischen Entwicklung aufgestoßen.
Was ist Geschichte? Für Lessing bedeutet Geschichte Entwicklung. Aus der faktischen Offenbarungswahrheit entwickelt sich eine allgemein notwendige Vernunft. Der Autor, der Beweger dieses Prozesses ist Gott selbst. Damit wurde die Offenbarung zu der Geschichte, in der sich unter der regulativen Leitung Gottes diese Entwicklung vollzieht. Es muß nun gezeigt werden, warum diese Antwort im Grunde eine Verlegenheit geblieben ist.
Lessing stellt seiner Erziehung des Menschengeschlechts das Zitat aus Augustins Soliloquia voran: »Haec omnia inde esse in quibusdam vera unde in quibusdam falsa sunt.« (All dies ist aus denselben Gründen in gewisser Hinsicht wahr, aus denen es in gewisser Hinsicht falsch ist.) Dieses Zitat muß bei der Interpretation berücksichtigt werden.
Es ist im Grunde unmöglich, aus etwas an sich Zufälligem ein Notwendiges werden zu lassen. Das wird auch in der >Erziehung des Menschengeschlechtes< nicht möglicher gemacht. Aber warum soll nun eigentlich aus einem Zufälligen ein Notwendiges werden?
Aus Offenbarungswahrheit soll Vernunftwahrheit werden. Das gelingt, weil Lessing an der Offenbarung zwischen Inhalt und Form unterscheidet. Die Zufälligkeit bezieht sich dann nur auf die Form der Offenbarung. Das inhaltlich Offenbarte ist an sich ein immer schon Notwendiges gewesen. Geschichte ist nichts anderes als der sukzessive Fortfall der zufälligen Form. Inhalt der Schrift Lessings ist die Entwicklung des Menschengeschlechtes gemäß dem, was ihm als Möglichkeit innewohnt. Die Anlagen des Menschengeschlechtes müssen in die Wirklichkeit überführt werden. Welchen Anteil hat die Offenbarung an dieser Entwicklung des Menschengeschlechtes? Da es in der Erziehung des Menschengeschlechtes um die Realisierung seiner Vernunft geht, muß auch die Offenbarung als vernünftig verstanden werden, d.h. auf die Funktion hin, die sie innerhalb der Selbstentwicklung der Vernunft gehabt hat. Der in die Zukunft weisende Durch- und Vorgriff der Lessingschen Problembestimmung liegt in der Frage, wie aus an sich Unvernünftigem Vernünftiges wird; es gilt die Vernunft des Unvernünftigen zu begreifen. Hegels Begriff der »Vernunft in der Geschichte« wird also im Prinzip von Lessing vorweggenommen. Es geht um die Rechtfertigung des Unvernünftigen als ein für die Vernunft in der Geschichte sich entwickelndes notwendiges Moment. »Gott hätte bei allem seine Hand im Spiele und nur bei unsern Irrtümern nicht?« Es handelt sich also hier um eine Abwandlung des Theodizeeproblems des 18. Jahrhunderts bei Lessing. Es geht um die Rechtfertigung Gottes als des Erziehers des Menschengeschlechtes. Der Mensch ist es, der erzogen wird, und zwar zur Verwirklichung seiner Vernunft und aller in ihn gelegten Vernunftanlagen. Der Erzieher ist Gott. Es kommt Lessing darauf an zu zeigen, welche Gründe vernünftiger Art Gott dazu bewogen haben können, in der Erziehung des Menschengeschlechtes sich des Unvernünftigen, des nur Positiven zu bedienen.
Wie vermittelt Lessing Erziehung und Offenbarung? Für ihn sind Erziehung und Offenbarung auswechselbare Bestimmungen. Für den Einzelnen bedeutet Erziehung Offenbarung, und für das Menschengeschlecht bedeutet die Offenbarung Erziehung. Ist das eine sinnvolle Bestimmung? Die Relation von Erziehung und Offenbarung beruht darauf, daß die Entwicklung des Einzelnen und die des Menschengeschlechtes in eine analoge Beziehung gebracht werden. Ist das aber überhaupt analogisierbar?
Lessing hat diese Schwierigkeit gespürt, und am Schluß seiner Schrift versucht er zumindest die Möglichkeit ihrer Überwindung aufzuzeigen, indem er die Lehre von der Wiedergeburt des Menschen interpretiert. Lessing sieht, daß bereits in der Parallelisierung von Erziehung und Offenbarung die Möglichkeit der Reinkarnation des Einzelnen in verschiedenen Leben notwendig ist. Lessing stellt anheim, es mit dieser Hypothese zu versuchen.
»Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte.« Erziehung, d.h. Offenbarung gibt dem Menschen die wichtigsten Dinge nur eher, als er mit seiner Vernunft auf sie gekommen wäre. Darin ist also die Vernünftigkeit einer durch göttliche Erziehung erfolgenden Entwicklung des menschlichen Geschlechtes auf dem Wege der einander sukzessiv ablösenden, positiven Offenbarungen gerechtfertigt.
Hier liegt die Notwendigkeit von Positivität und Tradition für den Menschen. Die Tradition ist die konstitutive Voraussetzung der Aktualisierung des geschichtlichen Wesens des Menschen. Eine Erziehung, bei der die Tradition ausfällt, muß diese durch Prothesen ersetzen: dies leistet die Pädagogik.
Darüber hinaus: Ist Offenbarung nur die Beschleunigungsform der Aktualisierung eines Inhalts, den die Vernunft selbst hat? Dann muß die Offenbarung streng vernunftimmanent gedacht werden. Die Offenbarung ist bei Lessing nur die Form des Äußerlichgesetztwerdens eines Inhaltes, der der Vernunft innewohnt.
Man vergleiche aber damit die Formulierung, wie sie sich in § 36 findet: »Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung.« Die so durch die Offenbarung entwickelte Vernunft bestimmt nun ihrerseits die Offenbarung. Hier findet sich ein weiterer Grundgedanke moderner Religionsphilosophie: die Dialektik. Vgl. auch § 77: »... auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre.« Es soll also plötzlich etwas durch die Offenbarung in die Vernunft gebracht worden sein, was ohne diese Offenbarung nicht in sie gekommen wäre.
Was bewog Gott, sich bei der Entwicklung der Vernunft der Positivität und Zufälligkeit als Form der Vermittlung der Wahrheit zu bedienen? Ursprünglich, d.h. hier: vorgeschichtlich, hat Gott der Vernunft einen Begriff von sich selbst eingestiftet. Da die Vernunft ihm aber nicht gewachsen war, hat sie ihn zerteilt und preisgegeben. Diese Preisgabe zwang Gott dazu, die Vernunft von neuem mit Inhalten zu begaben, die sie haben könnte und sollte, aber nicht hat.
Im Alten Testament eignet sich das jüdische Volk den Satz von der Einzigkeit Gottes an. Jesus war ein universeller und praktischer Lehrer der Unsterblichkeit der Seele. Die letzte zu erwartende Offenbarung besteht darin, daß alle Offenbarung sich nicht mehr an geschichtlich Zufälliges zu binden und sich durch es nicht mehr vermitteln zu lassen braucht. Bei Lessing verbindet sich aber dieser - durchaus auch der Vernunft immanente Inhalt - mit einem praktischen, sittlichen Vernunftinhalt. Mit ihm sind regulative Sätze für die menschliche Praxis verbunden. Der Gedanke des einen Gottes verbindet sich mit der Forderung sittlichen Handelns, das mit dem Dogma der Vergeltung begründet wird, mit dem Dogma des Ausgleichs der guten und bösen Taten noch in diesem Leben.
Das die Sittlichkeit konstituierende Motiv, das mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele sich verbindet, ist eine »Reinheit des Herzens« in bezug auf das jenseitige Leben, aus dessen Erwartung heraus der Mensch handeln soll. Und die dritte Gestalt, die - gestaltlose - Gestalt der Offenbarung, die letztere ablöst, soll darin bestehen, daß der Mensch sich erfaßt als einer, der das Gute tut nur um des Guten willen, ohne dazu eines Motivs im Hinblick auf die Zukunft zu bedürfen.
Lessing sagt also: Der Mensch kann nur eine gute Zukunft herbeiführen, wenn der diese Zukunft herbeiführende Mensch gut ist, und der Sinn aller bisherigen Geschichte bestand darin, ihn gut werden zu lassen der Möglichkeit nach.
Der Gedanke der »Erziehung« des Menschengeschlechtes ist ein altes Motiv der Philosophie. Er findet sich z.B. schon bei Clemens von Alexandrien, der versuchte, die verschiedenen Stadien des Heilsweges, den Gott mit den Menschen eingeschlagen hat, die heilsgeschichtliche Ökonomie Gottes von einer Heilspädagogik her zu begründen und zu verstehen. Gott als der Erziehende paßt sich der Menschheit an, um sie zu dem Ziel hinzuführen, das er selbst ist. Offenbarung ist eine nachträglich als vernünftig zu verstehende unvernünftige Anpassung Gottes an die Menschheit in einem nun überwundenen Stadium ihrer geschichtlichen Entwicklung. Gemäß dieser Gottesökonomie unterscheidet Lessing zwischen Offenbarungsinhalt und Offenbarungsform, wobei die Dignität der Offenbarung auf die Seite der Form rückt.
Wie aber ist der Eingangsanspruch zu verstehen? Die Verschiedenheit der Hinsicht, unter der dasselbe einmal wahr und einmal falsch sein kann, ist abhängig von dem Standort des Betrachters. Der Standpunkt des Betrachters, von dem her die Theodizee geleistet wird, ist der Lessingsche. Was aber ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Lessing die Geschichte von ihrem Ende her als vernünftig begreifen kann. Der als vernünftig zu begreifende Prozeß muß abgeschlossen vorliegen, die Resultate des Prozesses müssen vorliegen, im Hinblick auf sie muß dann auch der Weg zu ihnen als ein prinzipiell vernünftiger begriffen werden. Trifft die Voraussetzung bei Lessing überhaupt zu? Zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Schrift glaubte Lessing die Geschichte an einen Punkt nach dem zweiten und vor dem dritten Stadium angelangt. Nachdem die Notwendigkeit einer kontingenten Offenbarung überwunden ist, ist für Lessing die Offenbarung als solche nicht überflüssig geworden, sondern im Vollendungsstadium der Geschichte wird der Mensch unmittelbar durch Gott erleuchtet. Nur die in sich zufällige Gestalt der Vermittlung von Offenbarung wird hinfällig, während der Offenbarungsinhalt erhalten bleibt. Bisher hatte die Offenbarung die Erleuchtung der menschlichen Vernunft auf unvernünftige Weise erreicht. In der Zukunft aber wird der Mensch unmittelbar erleuchtet. Für Lessing ist das die große Chance, die die Menschheit hat, wenn sie eine Menschheit sein will, die sich selbst und ihre Welt auf dem Boden der Vernunft erfaßt und organisiert und darin menschlich sein will. Das kann sie nur erreichen, wenn sie die Erleuchtung durch Gott behält, ohne einer geschichtlich zufälligen Offenbarung zu bedürfen.
Lessing nimmt im Grunde für sich eine unmögliche Situation in Anspruch. Er unterstellt das Vollendetsein der Geschichte (der Mensch tut das Gute nur ausschließlich um des Guten willen). Und hier liegt die Hinsicht, unter der alles Dargelegte falsch ist. Wahr ist alles von dem Standpunkt aus gesehen, der entweder am Ende der Geschichte steht oder der in einem noch nicht beendeten Stadium einen un- oder übergeschichtlichen Standort für sich usurpiert. In dieser Verschiedenheit liegt auch der Sinn von Lessings Rede vom esotorischen und exotorischen Bewußtsein. Diese Unterscheidung ist nur von einem außergeschichtlichen Standort aus möglich.
Wodurch aber kann Lessing seinen übergeschichtlichen Standort legitimieren? Lessing ist selbst einer solchen Offenbarung teilhaftig geworden, von der er erwartet, daß auch in Zukunft alle ihrer teilhaftig werden. Wie aber kann Lessing beweisen, daß er einer solchen Erleuchtung teilhaftig wurde? Er kann es nur indirekt, nämlich durch seine Schrift. Einen unmittelbaren Beweis seines Erzogenseins durch Gott kann Lessing nicht erbringen. Die anderen Menschen aber stehen in der Hinsicht, unter der alles hier entwickelte falsch ist, da sie an dieser Offenbarung nicht teilhaben. Ist der Mensch nicht jemand, der das Gute bloß um des Guten willen tut, dann ist die Offenbarung und damit die Faktizität der geschichtlich zufälligen Gestalt die einzig verbindliche und maßgebende, der er sich stellen und unterwerfen muß, gerade, wenn er verantwortlich an dem Fortschrittsprozeß der Geschichte teilnehmen will.
Es wird klar, daß sich Lessing auf eine primitive Alternativformel - Aufklärer oder Christ - nicht festlegen läßt. An welchen Kriterien soll diese Alternative eigentlich entscheidbar sein? Denn die Vernunft erfordert einen bisher in der Geschichte noch nicht entwickelten Vernunftgebrauch. Aber das über sich selbst unaufgeklärte Wesen der Aufklärung besteht darin, daß sie einen bestimmten Gebrauch der Vernunft fordert und die Bedingung der Erfüllung dieses Gebrauchs als bereits durch die Vernunft gewährleistet unterstellt. Das ist die Selbsttäuschung der Aufklärung über sich selbst. Aus dieser Aporie zieht Lessing die entscheidende Konsequenz mit seiner Frage: Wo und wie kann das geschichtliche Subjekt der Vernunft als ein sittliches konstituiert werden, so daß es den ihm zugemuteten Gebrauch der Vernunft realisiert?
Einen Versuch, die gleiche Frage in Form eines dramatischen Gedichtes zu beantworten, unternimmt Lessing in >Nathan der Weise<.[5]
In der Ringparabel des >Nathan< wird thematisch auf die Wahrheit der Religionen, die Rolle, die sie im Prozeß der Menschheit gespielt haben, und auf ihre konkrete und bleibende Bedeutung Bezug genommen. Weist uns die Parabel in die Vergangenheit, indem sie die natürliche Einheit des menschlichen Geschlechts im Ursprung neu erschließt, so stellt die Ringparabel die Frage, wie der Mensch seine Bestimmung noch erreichen kann, nachdem die Geschichte, deren trennende Gewalt sich in dem Kampf der Religionen gegeneinander nur zusammenfaßt, ihn sich selbst und seiner Natur entfremdet hat. Entscheidend ist, daß Lessing nicht für eine direkte Aufhebung und Beseitigung der Religionen plädiert, um den von ihm befreiten Menschen wieder in eine unmittelbare abstrakte Einheit mit seinem natürlichen, von aller Positivität gereinigten Wesen zu setzen. Das Problem ist nicht Emanzipation von jeglicher Religion, nicht einmal Destruktion der Momente vernunftloser Positivität in ihr, sondern Neubestimmung des Sinnes gerade der Positivität ihrer Gestalt selbst.
Bereits die wichtigste Veränderung, durch die sich Lessings Erzählung von den drei Ringen von der bei Boccaccio unterscheidet, weist in die Richtung, auf die es uns ankommt. Der Ring wirkt nicht aus sich selbst und automatisch, sondern übt seine Wirkung nur an dem, der ihn in einer bestimmten Zuversicht trägt. Damit hat Lessing einen entscheidenden Schritt zur spekulativen Deutung des Kultus vollzogen. Das Wahrheitsproblem der Religionen ist dem Verfügungsbereich der theoretischen Vernunft entzogen und der praktischen Vernunft zur Entscheidung vorgelegt. Das heißt aber, daß die Subjektivität als bewegende und lebendige Mitte gelebter Religion hervortritt. Der neutestamentliche Satz, von den Früchten, an denen man sie erkennt, wird mit einer bedrängenden Aktualität von Lessing auf der Höhe des aufgeklärten 18. Jahrhunderts wiederentdeckt. Gleichzeitig wird er auch von Lessing in einer dem Neuen Testament widersprechenden Weise auf die Entscheidungsfrage der Vernunft in ihrem Verhältnis zur Religion bezogen. Die sittliche Praxis wird zum Kriterium der Beantwortung der Frage nach der wahren Religion.
Die vielberufene Toleranz erwächst bei Lessing, wenn sie bei ihm überhaupt eine Rolle in dem Sinne spielt, wie wir sie im allgemeinen verstehen, nicht einer Haltung der Indifferenz, die den Glauben in seiner innerweltlichen Wirksamkeit durch die aus taktischen Gründen empfohlene Toleranz neutralisieren will, sondern gerade einem leidenschaftlichen Interesse an den Wirkungen eines lebendigen Glaubens, bei dem allein die Wirksamkeit und Lebendigkeit für seine Wahrheit zeugen. Die positiven Religionen verkörpern nicht die Wahrheit an sich; so verstanden stellen sie vielmehr ein ernsthaftes Hindernis gerade für die Realität der Wahrheit in der Welt dar, aber sie können dem in sie hineingeborenen und durch sie erzogenen Menschen zu einer Chance seiner wahren Selbstverwirklichung werden.
Toleranz ist für Lessing ein Begriff, der es ihm ermöglicht, eine Situation theologischer Sterilität aufzubrechen und ins religiös Produktive zu wenden.
Wieweit allerdings Lessing selbst den Rückgriff auf die positiven Religionen für unabdingbar hielt, um eine sittliche Praxis unzweifelbar zu begründen, ist aus der Parabel nicht mehr zu entnehmen. Nathan nennt sie sehr betont ein Märchen: »Nicht Kinder bloß speist man mit Märchen ab.«
Es ist doch zu fragen, ob nicht die Bezugnahme auf die Religionen Nathan - und darin dürfte er mit Lessing übereinstimmen - nur als Medium dient, um eine Wahrheit zu artikulieren, die sich selbst der lehrhaft unterweisenden Mitteilbarkeit entzieht. Wir kommen noch einmal auf die Stelle zurück, in der Nathan über sein Hiobschicksal berichtet:
Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimme: »und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast;
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf! - Ich stand! und rief zu Gott: Ich will!
Willst du nur, daß ich will!
Wenn die Offenbarungreligion für Nathan auch nur die geringste Bedeutung hätte, dann wäre es in dieser Situation deutlich geworden. Das Organ, mit dem Nathan das Vernehmen Gottes vollzieht, ist die Vernunft und keine Anrufung einer geschichtlichen Stifter-, Erlöser- oder Heilandsgestalt. Was vernommen wird ist nichts anderes als die Annahme des Geschicks als Fügung Gottes. Dies geschieht mit der merkwürdigen Feststellung: »Ich will, willst du nur, daß ich will!« Die Hinwendung zu Gott behält also den Charakter persönlicher Anrede, Gott wird aber nicht zugunsten von irgendwem oder irgend etwas angerufen, vielmehr übereignet sich Nathan selbst an Gott mit der demütigen Bitte, das Opfer seiner selbst anzunehmen. Die hier von Nathan vollzogene totale Selbstaufhebung als unbedingtes Sichanheimstellen unter den Willen Gottes, der in allem auch noch so begreiflichen und grauenvollen Geschehen in Natur und Geschichte als waltende Macht anerkannt und hingenommen wird, dürfte die wirkliche Aussage Lessings zum Problem der Religionen sein.
Vor dem Blick, den Lessing in seinem >Nathan< auf das geschichtliche Dasein des Menschen wirft, hebt sich die irdisch menschliche Welt im ganzen in den Schein eines letztlich bedeutungslosen Spiels des Wahns und der Verblendung auf, einer wahren Komödie der Irrungen und Verwirrungen. Durchschaubar wird dieser Schein erst von der Höhe eines esoterischen Bewußtseins, auf der Lessing sich in seinem Zeitalter allein wußte. »Nicht Kinder bloß speist man mit Märchen ab.«
Dramatisch ist das Gedicht >Nathan der Weise< trotzdem als Ausdruck des redlichen Bewußtseins Lessings, der, selbst noch auf dem Wege, weiß, daß das Ziel nicht erreicht ist. Für ihn ist die Vorsehung mehr als eine Chiffre für die Totalität der Vernunft, sie ist vielmehr eine göttliche Garantie dafür, daß die Vernunft sein wird, was sie sein kann: eine die Positivität bestimmende und verwandelnd in sich aufhebende Wirklichkeit.
Durch Lessings Erläuterung des Ortes der Religionsphilosophie im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der Infragestellung einer geschichtlichen Offenbarungsreligion durch die Aufklärung wurde die Zukunft als der Ort ausgemacht, an dem erst definitiv über das Schicksal der christlichen Religion entschieden werden kann. Diesem Verweis auf die Zukunft als dem Ort einer endgültigen Entscheidung des geschichtlichen Sinnes von Religion hat nicht nur Kant, sondern die gesamte nachidealistische Theologie entsprochen. Auch die gegenwärtige Theologie versucht ihrer Infragestellung durch die sich in Nietzsches These vom Tode Gottes ausdrückende geschichtliche Erfahrung in die Zukunft auszuweichen. Die Bestimmung der christlichen Religion als eine Religion absoluter Zukunft soll einem Bewußtsein und einer Welt Rechnung tragen, die sich fast ausschließlich von der Zukunft her versteht und sich auf sie hin entwirft. Die revolutionären Prozesse praktizierter Aufklärung haben sich in der Gestalt eines Verlustes der Gegenwart in der Theologie ausgeprägt. Angesichts der katastrophalen Möglichkeiten, die zum Bestand unserer Zeit ebenso gehören wie die Perspektiven auf eine bessere und freie Welt, ist das Bedürfnis nach einer Begründung menschlicher Hoffnung zu einem zentralen Gegenstand theologischer und philosophischer Besinnung geworden. Die Frage: was dürfen wir hoffen, wurde zu einem bewegenden Impuls theologischen und philosophischen Denkens. Der Überzeugung intellektualistischen Bewußtseins, daß Gott tot ist, stellt die Theologie den Satz entgegen, daß Gott kommt. Die Zerstörung metaphysischer Gotteserkenntnis soll durch die Flucht nach vorn, durch die totale Eschatologisierung aller Inhalte religiösen Bewußtseins aufgefangen werden. Gott steht nicht mehr am Anfang, sondern am Ende. Die Bewegung weltflüchtigen Transzendierens soll in die Richtung eines ein gutes Ende erwartenden Hoffnungsaffektes auf die offene Zukunft hin gebrochen werden. Aber kein geringerer als im Immanuel Kant hatte bereits im 18. Jh. als Thema seiner Religionsphilosophie die Antwort auf die Frage angegeben: Was dürfen wir hoffen?
Worauf für Kant alles menschliche Hoffen aus ist, was also die höchste und letzte Bestimmung des Menschen in der Geschichte ausmacht, das nennt Kant in Übereinstimmung mit der metaphysischen Tradition ein Ideal. Im Begriff des Ideals denkt also Kant den Endzweck des Menschen überhaupt und erläutert ihn in der Form einer Lehre vom höchsten Gut. Für Kant ist mit der menschlichen Natur von ihr selbst her die Richtung des menschlichen Daseins auf die Verwirklichung eines Endzwecks gegeben. In seiner Vorlesung über die Logik hat Kant die Aufgabe der Philosophie als den Versuch bestimmt, folgende Fragen zu beantworten:
- Was kann ich wissen?
- Was soll ich tun?
- Was darf ich hoffen?
Alle diese Fragen lassen sich nach der Meinung Kants auf die eine Grundfrage ebenso zurückführen wie von ihr herleiten: was ist der Mensch? Kant ist also der Auffassung gewesen, daß die drei Fragen nach dem Wissen, nach dem Sollen und nach dem Dürfen in der Natur des Menschen begründet seien und daß es daher für die Philosophie unausweichlich sei, diese Fragen zu stellen.
Aber in allen diesen Fragen geht es für Kant letztlich um den Menschen selbst. Kant bahnt durch diese Bestimmung die folgenreiche Wendung der Philosophie zur Anthropologie an. Nach der Kantischen Deutung ist dem Menschen alles dieses zu wissen notwendig, weil er das Wesen ist, dem seine eigene Selbstverwirklichung als Leistung aufgegeben ist. Die Frage nach dem Wesen des Menschen ist also nur dann zu beantworten, wenn man den Endzweck des menschlichen Daseins kennt. Denn auf die Verwirklichung dieses Endzwecks seien alle menschlichen Handlungen und Unternehmungen letztlich ausgerichtet und nur nach der Tauglichkeit, diesen mit der menschlichen Natur aufgegebenen Endzweck zu fördern, sind sie zu beurteilen. Doch worin besteht die letzte Bestimmung des Menschen oder was ist für ihn das höchste Gut? Als das höchste Gut und als Endzweck begreift Kant die Verfassung des menschlichen Daseins, in welcher der Mensch in den Besitz der Einheit von Glückwürdigkeit und Glückseligkeit gelangt. Dieser Besitz macht die Eudaimonia für den Menschen aus. Also in der Selbstverwirklichung, in der Totalität seines Wesens findet Kant den Endzweck, den der Mensch allen anderen Zwecken, die jeweils er in der Welt verfolgen mag, als Mittel ein- und unterordnen muß.
Unter dem Begriff der Frage nach dem höchsten Gut denkt also Kant eine Verfassung des menschlichen Daseins, in welchem sich dieses ganz und unbedingt innehat, es also zu dem geworden ist, was es seiner höchsten Möglichkeit nach, nämlich der Vernunft, werden und sein kann. Der Philosoph ist für Kant in diesem Sinne ein Lehrer des Ideals, weil er seine Aufgabe darin findet, diesen Zustand zu ermitteln und den Weg und die Folge der Schritte anzugeben, durch die das höchste Ziel erreicht werden kann. Durch den Vollzug und die Leistung einer Praxis, durch die der Mensch auf sich selbst und die Verwirklichung seines höchsten Gutes gerichtet ist, begründet sich für Kant erst das Menschsein des Menschen. Doch dann entdeckt Kant, daß der Mensch bei dem Versuch, seinen Endzweck zu erreichen, sich in einer faktischen Lage in der Welt und damit als ein Wesen vorfindet, das in unüberwindbare Schranken eingeschlossen ist. Sowohl als Erkennender als auch als Handelnder nach dem Gesetz praktischer Vernunft ist der Mensch in solche für ihn nicht übersteigbare Schranken eingeschlossen. Der Mensch muß also aus dem Grund einer inneren Notwendigkeit seiner eigenen Vernunftnatur heraus ein Ziel anstreben, von dessen Erreichen ihn die faktische Lage gleichzeitig ausschließt, in welcher er sich in der Geschichte vorfindet. Es berührt merkwürdig, daß der als Gipfel der Aufklärung gefeierte Kant offensichtlich die faktische Situation des Menschen als ebenso tragisch empfunden hat wie Pascal. Zwar hat Kant das Ziel der Aufklärung unverkürzt in den Ansatz seines Denkens aufgenommen, er hat aber auch gleichzeitig die Schranken entdeckt, die der Verwirklichung eines auf den totalen Selbstbesitz des Menschen in seinem Wesen gerichteten Entwurfs entgegenstehen. Kant setzt das Werk Lessings radikal fort. Er ist Vollender und zugleich schärfster Kritiker der Aufklärung. Nur weil sich Wesensentwurf und faktische Lage des Menschen so scharf widersprechen, kann der Mensch hoffen, ja er muß es sogar. Denn in der Kritik der reinen und in der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant erwiesen, daß der Mensch einer Einheit von Theorie und Praxis nicht fähig ist. Die Frage, was darf ich hoffen, mit der es die Kantische Religionsphilosophie zutun hat, richtet sich also auf die Frage nach einer möglichen Vermittlung, d.h., kantisch gesprochen, nach den Bedingungen, unter denen die Herstellung eines unentzweiten und unzerrissenen Zustands des menschlichen Daseins möglich ist.
Unter den Bedingungen der modernen neuzeitlichen Welt der Aufklärung tritt die natürlich endliche und die absolute Bestimmung für den Menschen heillos auseinander. In der Religionsphilosophie stellt Kant also die Frage nach einer Ermöglichung der Einheit dessen, was Gefahr läuft, auseinanderzubrechen, nämlich die Einheit der Vernunft. Kant befindet sich bereits mit dem Ansatz seiner Religionsphilosophie im ausdrücklichen Widerstand zu einer These, die der Religionskritik seit Feuerbach zugrunde liegt und die besagt, daß die Religion den Menschen sich selbst entfremdet habe und daß nur ihre Vernichtung ihn mit sich selbst zu versöhnen vermöchte. Der von Pascal geführte Kampf mit dem rationalen Dogmatismus und dem sensualistischen Skeptizismus wird von Kant in einer Auseinandersetzung mit den Stoikern und den Epikureern in der praktischen Philosophie wieder aufgenommen und fortgeführt. Für die Stoiker vermag der Mensch nur auf den Erwerb des höchsten Gutes hinzuwirken, wenn er sich um die Würde bemüht, die ihn erst tauglich macht, auf menschliche Weise glücklich zu sein. Die Epikureer sagten demgegenüber, daß es darauf ankäme, nach den Maximen pragmatischer Klugheit aus den jeweilig faktischen Verhältnissen ein Optimum an Lustbefriedigung herauszuholen. Beide, die Stoiker und die Epikureer haben nun nach Kant darin geirrt, daß sie jeweils nur einen Teil aus dem Ganzen des höchsten Gutes herausgelöst, für sich gesetzt und für das Ganze genommen hätten. Die Stoiker hätten nur auf die Würdigkeit geachtet und die Epikureer sich für die jeweilig mögliche Befriedigung interessiert. Stehen aber nun nach Kant der Verwirklichung der Totalität des höchsten Gutes als der Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit für den Menschen unüberwindbare Schranken entgegen, dann muß die Frage gestellt werden, welchen Sinn das menschliche Dasein hat, wenn es seine Bestimmung aus und durch sich selbst nicht zu verwirklichen vermag. Der tragische Charakter der Lage des Menschen auch unter den Bedingungen der Aufklärung konstituiert sich also für Kant aus der gleichen Notwendigkeit, mit welcher der Mensch wollen muß, was er faktisch nicht kann. Im Gegensatz zu der atheistischen Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts geht es also in der Bewegung der Philosophie von Kant bis Hegel um die Begründung des Glaubens an Gott als einer unerläßlichen Bedingung der Einheit und der Verwirklichung menschlichen Seins in der modernen, durch Entfremdung bestimmten Welt.
Denn nach Kant muß der Mensch in der Lage einer Entzweiung mit den unaufgebbaren Bedürfnissen seiner Vernunftnatur die Existenz Gottes als die Bedingung postulieren, durch die allein eine Verwirklichung des dem Menschen in der Geschichte aufgetragenen Endzwecks grundsätzlich möglich ist. In der Grundfrage der kantischen Religionsphilosophie nach der Begründung einer vernünftigen Hoffnung geht es ganz allgemein um die fundamentale Frage, unter welchen Bedingungen es für den Menschen möglich ist, an dem Sinn seines eigenen Vorkommens in der Welt und an der Möglichkeit einer Aktualisierung seines Wesens festzuhalten. Besteht das höchste Gut für den Menschen, wie es Kant in der Sprache des 18. Jahrhunderts formuliert hat, in der Einheit von Glückseligkeit und durch sittliches Handeln begründeter Glückswürdigkeit, dann muß der Mensch sich eingestehen, daß zwar der Wille sich selbst, aber nicht die Natur außerhalb seiner zu bestimmen vermag, von der doch seine Glückseligkeit ebenso entscheidend abhängt wie von seinem eigenen moralischen Willen.
Für diese Einschränkung der Reichweite praktischer Vernunft ist die in der Kritik der reinen Vernunft gewonnene Einsicht maßgebend, daß die rationale und exakte Wissenschaft der Neuzeit nicht die Dinge selbst, sondern nur die gesetzmäßige Verknüpfung der Natur als Erscheinung in Raum und Zeit zu erkennen vermag. Der Mensch ist nicht Herr der Natur selbst, sondern nur ihres Erscheinungszusammenhanges, den das rationale Ich aus dem Verstand eingeborenen Prinzipien hervorbringt. Einer strengen Erkenntnis des Unbedingten ist der Verstand nicht fähig. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit können nach den Prinzipien exakter, und d.h. jetzt wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht erkannt werden. Die Vernunft aber kann auf eine Teilhabe an unbedingtem Sein nicht verzichten, wenn sie sich nicht selbst preisgeben will. Auch für Kant ist Vernunft nichts anderes als ein Vermögen des Unbedingten. Die Unverzichtbarkeit einer vernünftigen Erkenntnis des Unbedingten zwingt daher Kant, gerechtfertigt durch die Resultate transzendentaler Dialektik, die Grundthemen der Metaphysik von der reinen theoretischen Vernunft zur Entscheidung der praktischen Vernunft vorzulegen.
Ehe man die Frage nach der Hoffnung und ihrer vernünftigen Begründung stellen kann, muß geklärt sein, was der Mensch selber tun soll und was er tun kann. Das Prinzip, nach dem der Mensch sich in seinem Handeln bestimmen soll, muß er in sich selbst haben, wenn er für seine Handlungen verantwortlich sein soll. Das Gesetz der praktischen Vernunft oder das Gesetz der Freiheit besagt ja nach Kant, daß der Mensch entgegen seiner Affektion durch die Natur sich in Freiheit durch sich selbst bestimmen kann. Der Mensch ist frei, weil die Vernunft als praktische Vernunft sich selbst bestimmen kann. Der Mensch kann der Forderung nach Autonomie genügen. Für das Prinzip seiner Moralität kommt also für Kant weder die Natur noch die Geschichte, noch Gott selbst auf, sondern für die Verwirklichung seiner selbst als eines autonomen Wesens hat der Mensch selber aufzukommen. Nur in dem Maße, in dem sich der Mensch an die Verwirklichung der geforderten Autonomie wagt, wird für Kant der Mensch erst zum Menschen, geht er über die Rolle eines bloßen, durch den Kausalmechanismus bestimmten und bedingten Wesens hinaus. Abgesehen davon ist er ein bloßes Naturwesen. Ist er ein Wesen, das mit einem Inbegriff von sinnlichen Bedürfnissen von Natur ausgestattet ist und das den Zweck seines Daseins darein setzt, diese seine natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Alles was er dann ist und was er tut, geschieht kraft einer Notwendigkeit, mit der die Natur über ihn verfügt und über ihn bestimmt. Er ist dann ein bloßes Naturprodukt. Kant hat nicht daran gezweifelt, daß es dem Menschen möglich sei, den Überschritt über sein bloßes Bedingtsein durch Natur zu vollziehen. Zur Konstitution der Freiheit bedarf der Mensch keines Gottes. Er kann sich zum Produkt seiner eigenen Freiheit machen. Jede auch göttliche Intervention im Vollzug moralischer Freiheit würde für Kant wie für die Aufklärung Heteronomie bedeuten. Doch Verwirklichung der Moralität bedeutet noch nicht Verwirklichung des Endzwecks. In und trotz aller Moralität bleibt der Mensch ein durch Naturabhängigkeit bedingtes Wesen.
Moralität ist nur die Bedingung, durch die der Mensch berechtigt ist, glückselig zu werden, aber die Moralität ist nicht die Eudaimonia selber. Die Moralität bewirkt nur, daß der Mensch seine Glückseligkeit so betreibt, daß er durch die Art, wie er sein Glück besorgt, nicht die Achtung vor sich selbst zu verlieren braucht. Wenn man von seiner Freiheit im Sinne der Autonomie faktisch Gebrauch macht, ist für Kant noch in keiner Weise darüber entschieden, daß es auch einen Sinn hat, in der Welt, wie sie beschaffen ist, sich um Verwirklichung der Moralität zu bemühen. Moralität verbürgt nicht den Sinn menschlichen Daseins. Auch nicht für Kant. Denn wie weit reicht die moralische Freiheit? Sie bestimmt nichts anderes als den Willen selbst. Seine Abhängigkeit von der Natur bleibt von dem Gebrauch und den Akten intelligibler Freiheit unberührt.
So eingeschränkt der Mensch als erkennendes Wesen ist, so unüberschreitbar sind aber auch die Grenzen der praktischen Vernunft und so begrenzt ist die verändernde Kapazität moralischen Willens. »Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen
Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhangs, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit enthalte, postuliert.«[6] Der Mensch muß also die Existenz Gottes postulieren, da nur Gott als Herr der Natur selbst über die Bedingungen verfügt, die eine Verwirklichung des höchsten Gutes, also eine Verwirklichung des Menschen in der Totalität seines Wesens ermöglichen. Gott ist für Kant die Bedingung, unter der ein vernünftiger Vollzug der Freiheit erst sinnvoll wird. Da Kant das Postulat der Existenz Gottes als eine Konsequenz des moralischen Gebrauchs der Freiheit entwickelt hat, konnte der Eindruck entstehen, als hielte die kantische Philosophie den Menschen für autark und den Glauben an Gott für eine unerträgliche Einschränkung selbst zu verantwortender Freiheit. Aber Kant ist kein Existenzialist. Die Bestimmung lautet also nicht: Autonomie um ihrer selbst willen, sondern es ist die Bestimmung des Menschen, das höchste Gut - als ihm mit seiner Vernunftnatur aufgetragenen Endzwecks - zu verwirklichen. Die Forderung nach autonomer Selbstbestimmung soll für Kant nicht den Gottesglauben ersetzen, sondern es ist vielmehr die Freiheit selber sinnlos, wenn der Mensch nicht hoffen darf, daß Gott existiert und der allein durch den Menschen realisierbaren Würdigkeit, glückselig zu sein, die Eudaimonia selber hinzufügt. »Es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.«
Es kann also keine Rede davon sein, daß Kant autonome Moralität und heteronomen Gottesglauben als völlig unvereinbare Größen einander entgegengestellt hätte. Es ist für Kant vielmehr so, daß nur dann, wenn sich der Mensch als ein bloßes Natur- und Gesellschaftswesen überschreitet, wenn er sich also der Forderung unbedingter Freiheit unterwirft, er erst dann unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft, die ihn nur als ein Trieb- und Bedürfniswesen beansprucht, begreifen kann, welchen möglichen Sinn die Rede von Gott überhaupt für ihn haben kann. Wenn der Atheismus als theoretische und praktische Konsequenz über sich selbst unaufgeklärter Aufklärung akzeptiert wird, dann bedeutet das real, wie schon Kant gesehen hat, daß der Totalitätsanspruch der Gesellschaft mit allen Folgen, die er für die Freiheit des Menschen hat, anerkannt wird. Der christliche Glaube, der dann als eine Ermöglichung eines realen, d.h. im marxistischen Sinne eines gesellschaftlichen Humanismus interpretiert wird, vermag dann nur unzulänglich seine Kapitulation vor den Grundthesen marxistischer Religionskritik zu verhüllen. Wenn der Glaube an Gott nicht mehr vernünftig einsichtig gemacht werden kann, dann ist das Menschsein, wie Kant bereits deutlich sieht, die nutzlose Leidenschaft, als die es im Strategen Atheismus nicht grundlos nach der existentialistischen Uminterpretation des kantischen Imperativs erscheint. Nach Kant muß der Mensch eine höchste und letzte Erfüllung seines Seins durch Gott selber erhoffen können, wenn er am Gebrauch und der Verwirklichung von Freiheit in der Welt nicht verzweifeln soll.
Die höchst praktische und gesellschaftlich politische Bedeutung des von Kant postulierten Glaubens kann heute vielleicht unmittelbarer eingesehen werden als es zur Zeit Kants möglich war. Denn der geschichtliche Sinn menschlichen Daseins - einen anderen kennen wir heute nicht mehr - hängt davon ab, daß der Mensch hoffen darf, daß der mit seiner Vernunftnatur gegebene und seiner Freiheit aufgegebene Endzweck prinzipiell erreicht werden kann. Der Mensch muß seine eigene Glückseligkeit, er muß seine Eudaimonia wollen, und er muß hoffen können, daß diesem Willen grundsätzlich eine Realität entsprechen kann. Die Preisgabe dieses Willens, die Überzeugung, daß ihm grundsätzlich nicht und in keiner Beziehung je, d.h. in Zeit und Ewigkeit, eine Realität entsprechen wird, und zwar in keinem Status seines Daseins, würde nach Kant allerdings bedeuten, daß das Menschsein selber keinen Sinn hat. Erst wenn man sich die Tragweite der Lehre vom höchsten Gut klargemacht hat, wird man voll ermessen können, was es für die Aufklärung und die geschichtliche Rolle, die sie bis zum heutigen Tag spielt, eigentlich bedeutet, daß Kant, der das Prinzip kritischen Denkens zur Vernunft gebracht hat, die Möglichkeit verneint, daß der Mensch aus sich selbst die Entzweiung seines Daseins überwinden kann. Unwillkürlich stellt sich angesichts dieser These Kants die Erinnerung an den Satz des Apostels Paulus ein, der besagt, daß es dem Menschen zwar nicht am guten Willen, aber am Vermögen zu einer ihm entsprechenden Tat fehle. Kant sieht den Menschen auf dem Höhepunkt der Aufklärung in einer Lage, die sich nicht wesentlich von der Sicht des Apostels unterscheidet. Ein sehr bedenkenswerter Tatbestand. Die Notwendigkeit, am Entwurf eines Zieles festzuhalten, bei gleichzeitigem Eingeständnis der Unfähigkeit, es auch verwirklichen zu können, bestimmt die Lage des Menschen im Zeitalter der Aufklärung, wie Kant sie gesehen hat.
Die Frage nach Gott hat also für Kant den Sinn, nach der Bedingung zu fragen, unter der es für den Menschen einen vernünftig ausweisbaren Sinn hat, in der Welt zu sein. Er muß hoffen können, daß es einen Gott gibt, der ihm den Vollzug seines Seins unter der Bedingung ermöglicht, daß er das in ihm angelegte Ziel auch erreichen kann. Um die Begründung dieser Hoffnung geht es in der kantischen Religionsphilosophie. Kant hat damit die Wendung der Philosophie zum Prinzip Hoffnung, aber auch ebenso die gegenwärtiger Theologie vorbereitet und in gewissem Sinn vorweggenommen. Aber es muß hinzugefügt werden, daß Kant mit großer Entschiedenheit den Tendenzen widersprochen hätte, die in der Gegenwart aus dem Verlust gegenwärtiger göttlicher Weltpräzens Philosophie und Theologie gezogen haben. Der Blochschen Erneuerung marxistischen Denkens im Zeichen des Prinzips Hoffnung hätte er widersprochen, weil Kant völlig unmißverständlich dem Menschen die Möglichkeit zu einer alle bisherige Geschichte überholenden und sie überbietenden Vollendung abgesprochen hat. Der Mensch ist nicht im unmittelbaren Besitz der Möglichkeit zu einem die Realität in sich einbegreifenden und sie total verändernden Vollzug intelligibler Freiheit. Kant lehrt das radikal Böse, d.h., Kant läßt das Böse nicht aus der Sinnlichkeit oder aus dem unentwickelten Stand gesellschaftlicher Produktivkräfte hervorgehen, sondern aus demselben Ursprung, dem auch alles moralische Handeln entspringen soll, aus dem Prinzip intelligibler Freiheit. Der böse Gebrauch dieser Freiheit, von dem der Mensch nach Kant - unausweichlich durch seine Vergangenheit bestimmt - immer schon herkommt, schließt auf jeden Fall aus, daß der Mensch es je zu einem eindeutig guten Ende der Geschichte bringen könnte, durch das er auch das Böse zu rechtfertigen vermöchte, das in ihr geschehen mußte. Die Erinnerung an das Grauen, das geschichtlich wirklich wurde, kann und darf nicht vergessen werden, wenn der Mensch sein Glück nicht illusionärer Selbstvergessenheit verdanken will. Moderner theologischer Eschatologie träte Kant entgegen, weil das als Zukünftigkeit geglaubte Kommen Gottes als die Geschichte bloß beendend und nicht als vollendend gedacht wird. Gottes Kommen, für Kant nur als das Gericht Gottes denkbar, negiert nicht alle Anstrengungen menschlicher Freiheit, das Gute geschichtlich zu verwirklichen, sondern bringt die geschichtlich gebrochenen Intentionen zu ihrem Ziel und zu ihrer Erfüllung. Aber noch in einem anderen Punkt kommt der kantischen Religionsphilosophie eine große Bedeutung zu, und zwar ihre Deutung der geschichtlichen Rolle der christlichen Kirche. Die kantische philosophische Theologie denkt, ohne die Notwendigkeit einer individuellen Bemühung um die Wahrheit zu verneinen, die Kirche als eine Gestalt kollektiven und solidarischen Handelns von Menschen, in welchem die Entzweiung von Legalität und Moralität überwunden wird. Eine solche Gestalt sittlicher und vernünftiger Praxis, die auf das Kommen des Reiches Gottes hinwirkt, kann aber nur von Gott selbst konstituiert werden. Die geistesgeschichtliche Bedeutung dieses auf Augustins Lehre von der civitas dei zurückgehenden Gedankens geht daraus hervor, daß Kant in seiner Lehre von der Kirche als der Herrschaft des Tugendgesetzes das Prinzip des Hegelschen Staates als Wirklichkeit der sittlichen Idee und den Marschen Entwurf einer unentfremdeten Form menschlichen Zusammenhandelns als Ziel und Bestimmung gesellschaftlichen Prozesses gedacht hat, der allerdings zu seinem Subjekt bei Kant die christliche Kirche als eine von Gott gestiftete Gemeinschaft hatte.
Weder Revolution noch Eschatologie können Kant für sich in Anspruch nehmen. Weder Utopie noch existentialistische Theorie der Absurdität menschlichen Existierens werden der Stellung und dem Sinn des Gottesglaubens im Zusammenhang kantischen Denkens gerecht. Was in der Propädeutik kantischer Kritiken an dritter Stelle vorkommt, steht in der Ordnung menschlichen Daseinsvollzugs am Anfang, nämlich das Postulat der Existenz Gottes. Goethe glaubte, daß Kant seinen Philosophenmantel durch die Lehre vom radikal Bösen beschlabbert habe. Aber die kantische Überzeugung, daß der Mensch aus so krummen Holz geschnitzt sei, daß aus ihm Gerades nicht mehr werden könne, hat doch durch geschichtliche Erfahrung an Evidenz gewonnen. Die Vernunft des Gottesglaubens befähigt den Menschen nach Kant in der geschichtlichen Welt der Aufklärung, weder über noch unter seinen Verhältnissen leben zu müssen. Nicht daß der Mensch hoffen muß, nicht daß er es kann, sondern allein ob er es darf, war die bewegende Frage kantischer Religionsphilosophie. Nicht zur blinden Zuversicht ruft also Kant den Menschen auf, sondern zu einem Verhalten, daß ihn auch vor sich selbst würdig erscheinen läßt, daß ihm die Nähe eines ebenso allmächtigen wie gerechten und barmherzigen Gottes zuteil wird. Der erneute Durchbruch der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist mit ihrem Willen, eine Welt ohne Entfremdung revolutionär herzustellen, über die von Kant errichtete Schranke und damit über die Notwendigkeit eines Glaubens an einen gerechten und gnädigen Gott hinweggegangen.
In dem Versuch einer Erneuerung der Aufklärung im nachrevolutionären Zeitalter der Gegenwart im Rückgang auf die subjektive, transzendentale Reflexion bei Kant bleibt die Kritik am Prinzip der Aufklärung unberücksichtigt, die Kant in die Religionsphilosophie führte. Die Hoffnung auf eine vernünftige Bemühung um die Begründung einer Hoffnung für die Zukunft der Aufklärung kann allerdings nur enttäuscht werden, wenn ihren großen Traditionen nur der Rang von Illusionen zugebilligt wird. Kants Schritt in die Religionsphilosophie wurde von der Überzeugung erzwungen, die auch Lessing teilte, daß ohne eine vernünftige Rechtfertigung des geschichtlichen Offenbarungsglaubens es dahin kommen kann, daß man in der Aufklärung als einem Entwurf geschichtlicher Praxis nichts anderes als eine Illusion zu sehen vermöchte.