Neuzeit und Emanzipation

In der Gegenwart ist die, mit dem Beginn der Neuzeit ausdrücklich und bewußt einsetzende Grundbewegung der Geschichte als Emanzipation in eine neue Phase eingetreten. Die realen und geschichtlichen Konsequenzen gelungener Emanzipation richten sich kritisch und destruktiv gegen den traditionalen Begriff geschichtlicher Emanzipation ebenso, wie sie den Versuch einer Erneuerung eben dieses Begriffes in der Gegenwart provozieren. Die in der kritischen Theorie artikulierte Problematik einer revolutionär praktischen Aufhebung der Philosophie steht in einer nicht mehr diskutierten Abhängigkeit von einer geschichtsphilosophischen These, nach der das Wesen der neuzeitlichen Welt im Prinzip einer emanzipativen Geschichte gründet, an der alle nicht durch dieses Prinzip gesetzte und durch es definierte Geschichte zur Vorgeschichte herabsinken soll. Dieses geschichtsphilosophische Selbstverständnis der kritischen Theorie bedürfte nicht einer erneuten Überprüfung, wenn nicht am Ende der Neuzeit der den Fortschritt der Emanzipation tragende Begriff sich als unvereinbar mit dem Verständnis von Humanität erwiesen hätte, um deren Verwirklichung willen Emanzipation doch gefordert wird. Der geschichtliche Stand der emanzipativen Geschichte in der Gegenwart ist daher theoretisch wie praktisch nur bestimmbar, wenn die Frage nach dem Verhältnis von Neuzeit und Emanzipation gestellt wird. Erschöpft sich Emanzipation im Umkreis der Möglichkeiten, die ein am Resultat emanzipativer Geschichte gewonnener Begriff ihrer geschichtlichen Bestimmung allein zu konzedieren vermag, dann verzichtet Philosophie auf ihr Recht zum Einspruch gegen den drohenden Rückfall der Moderne in eine nun barbarisch gewordene Remythologisierung. Geschichte verschwindet an ihrem in der Gegenwart drohenden Ende in den kreisförmig ablaufenden Prozeß indifferenter Natur, gegen die sich der Mensch entweder im Postulat abstrakter Selbstbehauptung wendet oder in die er als ein nun selbst unerheblich gewordener Zwischenfall zurücksinkt. Undurchschaut bleibt die Dialektik der Identität ohnmächtiger Selbstbehauptung und blinder Ermächtigung der Natur, zu deren Gunsten der Mensch als ein geschichtliches Wesen abdankt. Die als religionsphilosophische Auflösung der Substanz christlichen Glaubens interpretierte neuzeitliche Philosophie von Pascal bis Kierkegaard bestimmte sich demgegenüber durch den Willen, diese Dialektik dem emanzipativen Bewußtsein zu vergegenwärtigen. In der Gegenwart hängt die Wiederholung dieser Einsicht davon ab, die geschichtsphilosophische Theorie der Neuzeit im Verhältnis zu ihrer ungeschichtlich abstrakten Auslegung als Emanzipation von den Voraussetzungen her zu gewinnen, welche die Neuzeit als ihre eigenen anerkannt hat. In der hermeneutischen Aufhebung eines historistischen Begriffs von Geschichte verschwinden diese Voraussetzungen, weil sich die Dialektik begriffener Geschichte im Hegelschen Sinn in der undurchschauten Abstraktion von emanzipatorischem Entwurf und hermeneutischer Erfahrung der Geschichte auflöst. Wie sehr dieser Dialektikverlust die Einsicht in das Wesen neuzeitlichen Selbst- und Geschichtsverständnisses verstellt, kann an den maßgeblich gewordenen Darstellungen dieses Zusammenhangs durch Hans Blumenberg und durch Karl Löwith gezeigt werden.
In seinem bedeutenden Werk >Legitimität der Neuzeit< stellt Hans Blumenberg die Kategorie der Säkularisation erneut zur Diskussion.[1] Insofern mit ihr über die Neuzeit ein theologisches Schuldurteil gefällt werden soll, geht es Blumenberg um eine Destruktion des Begriffs der Säkularisation als einer geschichtsphilosophischen Kategorie. In dem Prozeß, der um die geschichtliche Herkunft der Neuzeit und ihrer Abhängigkeit von der Theologie geführt wurde, will Blumenberg den Verdacht einer Illegitimität der Neuzeit abweisen und in der Umkehrung eingeübter Frontbildungen die Theologie mit der Schuld für die Emanzipation der neuzeitlichen Welt belasten. Diese Absicht Blumenbergs stellt eine vollständige Umkehrung der Voraussetzungen dar, unter denen die Diskussion um das Wesen der neuzeitlichen als einer säkularisierten Welt bisher geführt wurde. Diesen Voraussetzungen entsprechend wurde die Neuzeit als das Produkt eines Abfalls oder eines Aufstandes gegen die ihr vorausgehende, vom Christentum bestimmte und geprägte mittelalterliche Welt verstanden. Auch in der Deutung Martin Heideggers steht der Mensch in die absolute Subjektivität auf und beginnt sich von der religiösen Welt seines Herkommens zu lösen. Für die Diskussion der geschichtlichen Funktion der Neuzeit kommt daher der Untersuchung von Blumenberg größte Bedeutung zu.
Die von Blumenberg vollzogene Verlagerung der Akzente ist umso erstaunlicher, als der evangelische Theologe Gogarten schon vor ihm die These aufgestellt hatte, daß die moderne aufgeklärte, autonome Welt eine legitime Folge des christlichen Glaubens sei.[2]
Sie ist es darum, weil nach der Deutung Gogartens durch den christlichen Glauben die Herrschaft des Mythos über die menschliche Welt gebrochen worden sei. Die Welt habe ihren göttlichen Charakter verloren und sei zu einem Gegenstand der Bemächtigung für den Menschen geworden. Auf dem Boden des christlichen Glaubens habe der Mensch selber mit seiner Vernunft für seine Welt aufzukommen. Von der Säkularisation als einer legitimen Folge christlichen Glaubens unterscheidet Gogarten den Säkularismus als seine Verfallsform, weil die durch den Glauben eröffnete Freiheit des Menschen zur Welt in Anspruch genommen wurde unter gleichzeitiger Verneinung des sie ermöglichenden Glaubens.
Gegenüber dieser Differenzierung Gogartens, die die einseitige Orientierung der geschichtlichen Auslegung des Glaubens an dem Modell der Geschichte als Verfallsprozeß überwunden hat, bedeutet das Buch von Blumenberg einen Wendepunkt der gesamten bisherigen Diskussion. Die Kategorie der Säkularisation und die mit ihr gemeinte Behauptung einer indirekten Abhängigkeit der Neuzeit im Sinne eines Schuldverhältnisses zur Theologie soll grundsätzlich in Frage gestellt werden. Das soll geschehen, indem Blumenberg von der Frage nach den Kriterien ausgeht, nach denen es überhaupt einen Sinn hat, von Säkularisation zu reden. Drei Bedingungen müssen erfüllt werden:

  1. zwischen den beiden Polen, die im Säkularisationsvorgang angesprochen werden, muß eine Identität feststellbar sein;
  2. die Legitimität des ursprünglichen Eigentümers muß erweisbar sein;
  3. schließlich muß ein einseitiger Entzug vorliegen.

Nachdem Blumenberg die drei Bedingungen der Identifizierbarkeit, der Legitimität des ursprünglichen Eigentümers und die Einseitigkeit des Entzuges ausgemacht hat, handelt es sich für ihn nur noch darum zu prüfen, ob diese Bedingungen am Beginn der Neuzeit erfüllt worden sind. Die Antwort ist negativ. Die These lautet: die Neuzeit ist zu einer von der Theologie unabhängigen Selbstbehauptung von der Theologie selber gezwungen worden. D.h.: wenn hier überhaupt von Schuld gesprochen werden soll, dann trifft sie nicht die sich emanzipierende Neuzeit, sondern die Theologie. Die Neuzeit hat ihr Wesen darin, daß sie gezwungen wurde, sich gegen die Theologie und ihre illegitim gewordenen oder als solche durchschauten Ansprüche zu behaupten und durchzusetzen. Welche Art von Theologie hat sie zu dieser von der Theologie unabhängigen Selbstbehauptung provoziert?
Es ist die spätmitlelalterliche Theologie des Nominalismus, die eine Form von theologischem Absolutismus ausbildete. Theologischer Absolutismus besagt, daß alles einem ebenso unvordenklichen wie unbegreiflichen Willensdekret unterworfen wird. Wenn es also keine vernünftige, dem Sinn der Dinge innewohnende Ordnung mehr gibt, dann bleibt dem Menschen nur noch die Unterwerfung unter den absolut unbegreiflichen Willen Gottes.
Die erste Gestalt der Auflösung der Metaphysik stellt also ein innertheologisches Ereignis dar. Damit hat Blumenberg auch völlig recht. Die Theologie schaltet für sich eben die Metaphysik aus, die sie am Beginn ihrer Geschichte in einem Vorgang rezipierte, der im Denken Augustins abgeschlossen wurde. Beginn der Säkularisierung ist also für Blumenberg nicht am Anfang der Neuzeit, sondern fällt mit der Ausbildung der christlichen Theologie zusammen. Christliche Theologie ist selber ein Produkt der Säkularisation der Wahrheit christlichen Glaubens. Denn der christliche Glaube auf dem Boden des Neuen Testaments geht von der Erwartung des geschichtlichen Endes der Ordnungen dieser Welt aus. Nach Blumenberg ist christliche Existenz die Form des menschlichen Daseins, in welcher sich dieses aus der Welt herausnimmt, alle Bezüge zur Welt abbricht und sich auf das geglaubte und erwartete Ende dieser Welt richtet. Ist aber die erwartete oder als unmittelbar bevorstehend geglaubte Auflösung der Ordnungen dieser Welt eine unabdingbare Voraussetzung des Glaubens, dann ist dieser Glaube durch die Geschichte enttäuscht worden, und die Geschichte christlichen Glaubens ist das Resultat der Weigerung, mit der Enttäuschung sich selbst aufzugeben. Damit ist sie die Geschichte ständig einander überholender und überbietender Enttäuschungen, die in der totalen Entchristlichung der Welt in der Gegenwart ebenso konsequent wie legitim enden. Ist Metaphysik eine Überschwenglichkeit, in der sich der Mensch über die Bedingungen seiner Selbsterhaltung selbst täuschte und der christliche Glaube eine Sache, durch die er - von wem? -getäuscht wurde, dann ist die funktional und pragmatisch verfaßte neuzeitliche die einzig mögliche Welt, nach deren Recht zu fragen selber jeden ausweisbaren Sinnes entbehrt. Ja, die Frage nach dem Sinn ist selber ohne Sinn. Es bleibt nur die Selbstbehauptung.
Es geht Blumenberg also um mehr als eine bloße Korrektur des Säkularisationsbegriffes. Seine Position stellt eine Wiederkehr Nietzsches dar - ohne dessen Hoffnungen. Geblieben ist der blanke Nihilismus. Auch Nietzsche ging bei seinem Versuch, den Prozeß, der in dem Tode Gottes endete, geschichtsphilosophisch zu begreifen, auf Kopernikus, also auf den Beginn der Neuzeit, zurück. Seit Kopernikus befindet sich der Mensch nach Nietzsche in einer unaufhaltsamen exzentrischen Bewegung, die ihn aus dem Mittelpunkt der Welt als Schöpfung vertrieben und ihn unter das Tier herabgesetzt hat. Während aber Nietzsche diese exzentrische Bewegung im Nihilismus enden sah und nach dem Grund einer zukünftigen, neuen, umfassenderen, auch noch die Verneinung umgreifenden Bejahung fragte, ist für Blumenberg mit dem Fortfall der Metaphysik die Frage nach einem die Selbsterhaltung übersteigenden Sinn, einer die bloße Faktizität überfragenden Rechtfertigung, hinfällig geworden, Blumenberg läßt die Metaphysik, die Theologie und die moderne, funktionale, in einem endlosen Prozeß sich fortbewegende Wissenschaft die Metaphysik liquidieren. Wie es bereits Auguste Comte in seinem Drei-Stadien-Gesetz gesehen wissen wollte, daß nämlich die Theologie in die Metaphysik und die Metaphysik in die Ausbildung der positiven Wissenschaften verschwunden ist, so vollstreckt Blumenberg diesen Willen Auguste Comtes, indem er auch noch die Idee des Fortschritts als mythologischen Rest eliminiert.
Die Polemik gegen die Vergewaltigung der Historie durch Heidegger sollte nicht übersehen lassen, daß die nackte Faktizität dessen, was als Resultat enttäuschender Geschichte immer schon ist, von Blumenberg als die Instanz ausgemacht wird, welche die Neuzeit vor einem jeden möglichen Verdacht ihres Rechts schützen soll. Der Titel des Buches von Blumenberg wird mißverstanden, wenn er anders als polemisch interpretiert wird. In der Preisgabe von Philosophie und Theologie durch Blumenberg in der Form ihrer historisierenden Distanzierung ist die Unterscheidung einer Sache oder geschichtlichen Epoche nach dem Gesichtspunkt von Legitimität und Illegitimität unbegründbar geworden. Natürlich richtet sich gegen Blumenbergs in rein ideengeschichtlicher Immanenz verbleibender Darstellung der begründete Vorwurf auf Ideologie. Die politisch-gesellschaftliche Realität löst sich in den Weisen auf, wie sie genommen und verstanden wird. Der verzweifelte Kampf Husserls, der naiven Substruktion des Positivismus auf dem Boden seiner eigenen Voraussetzungen Herr zu werden, wird bei seinem Schüler Blumenberg geschildert, indem er jede, die bloße Faktizität übersteigende Intentionalität als durch die Geschichte dementiert zum Schweigen bringt. Was der Positivismus seit dem großen Versuch von Auguste Comte so lange entbehren mußte, ist ihm durch Hans Blumenberg wieder zuteil geworden: eine geschichtsphilosophische Legitimation, die ebenso indirekt wie wirksam ist. Nimmt man dagegen Blumenberg bei seinem ausdrücklichen Selbst Verständnis, nämlich bei seinem Anspruch, eine belegbare These über das Wesen der neuzeitlichen Welt aufgestellt zu haben, dann ist sein Konzept von der theologiefreien, nur auf säkulare Selbstbehauptung gerichteten Neuzeit unhaltbar. Es dürfte nicht zufällig sein, daß die Philosophie des deutschen Idealismus, die ebenso philosophisch wie christlich sein wollte, ebenso ausgeklammert wird wie die Position Luthers, zu der man eine Stellungnahme und Auseinandersetzung durch Blumenberg vermißt. Vor allem hätte man erwarten können, daß auch die Frage gestellt worden wäre, wie der Versuch bloßer Selbstbehauptung der Neuzeit an ihrem eigenen Ende in der Gegenwart sich darstellt. Es kann doch nicht mehr übersehen werden, daß unbedingte Selbstbehauptung heute gesellschaftlich, politisch, geistig und vielleicht auch biologisch mögliche Selbstvernichtung bedeutet.
Wenn Geschichte als Emanzipation und nur als Emanzipation gedacht wird, ist die Geschichte als Folge des vorausgesetzten Begriffs nichts anderes als die durch Wissenschaft und Technik vollzogene Überwindung der Naturabhängigkeit des Menschen, die ihrerseits in der unvordenklichen Natur begründet ist. Das substantielle Nicht-Sein der Geschichte ist nun am Ende der Emanzipation in dem Denken von Heidegger und Adorno manifest geworden. In ihrer Bestimmung des gegenwärtigen Zeitalters als absoluter Negativität zeichnet sich das Scheitern eines Denkens ab, das Geschichte nur als Herstellung emanzipativer Welt durch Herrschaft zu denken vermag. Umso wichtiger ist es, sich in diesem Zusammenhang an die Herkunft des Emanzipationsmodells in der Theologie der Geschichte bei Augustin zu erinnern. Geschichte als Weltgeschichte ist bei Augustin eine Folge der Freiheit des Menschen. Geschichte als Produkt endlicher Freiheit währt nur so lange, solange sich der Mensch als endliche Freiheit geschichtlich verwirklichen kann. Doch der Akt der Freiheit, in welchem die Geschichte bei Augustin ermöglicht wurde, war ein Akt des Mißbrauchs der Freiheit. Er wird als das Wesen von peccatum theologisch bestimmt, als der Akt, in welchem sich der Mensch in der Abwendung von seinem Grund und in der Hinwendung zur Welt sich selbst als unabhängig setzte. Das Grundthema der Geschichte bei Augustin ist daher die Aufgabe, aus Freiheit mit den Konsequenzen des Mißbrauchs der Freiheit fertig zu werden. Es war aber Augustin als Theologe noch bewußt, daß die Lösung der Aufgabe, in Freiheit mit den durch ihren Mißbrauch geschaffenen Tatbeständen fertig zu werden, in der Geschichte selber unmöglich ist. Daher geht die Geschichte des Menschen in der Weltgeschichte nicht auf, und die Theologie bleibt aktuell, so lange der Mensch nicht in der Rolle eines bloßen Objekts der von ihm veranstalteten Weltgeschichte resigniert.
Der Wille, die Geschichte aus und durch sich selbst zu vollenden, muß vielmehr zu einer Potenzierung ihrer Negativität führen. Das Grundthema einer Dialektik der Emanzipation ist daher so alt, wie der Versuch eines die Emanzipation grundsätzlich um willen der Freiheit bejahenden theologischen Denkens. Wird die theologische Bestimmtheit der Emanzipation verneint, dann nimmt sich die total gewordene Emanzipation als Herrschaft nun unbedingt gewordener Negativität in die Ermächtigung der Natur zurück. Dieser auch geistesgeschichtlich verifizierbare Zusammenhang wird deutlich an der Destruktion aller dem mythischen Denken entstammenden geschichtlichen Kreislaufmodelle und ihrer Überwindung durch das Modell der Geschichte als gerichteten Prozeß bei Augustin auf der einen und durch die Wiederkehr der von Augustin geschichtstheologisch destruierten mythologischen Modelle im Geschichtsdenken der Gegenwart auf der andern Seite. Die schon von der Romantik vorausgesetzte, aber nur spekulativ behauptete Identität von Archäologie und Teleologie ist dann unvermeidbar, wenn Natur Subjekt der Geschichte wurde und Geschichte gleichzeitig weiterhin so gedacht werden soll, daß in ihr etwas herauskommen kann.

Eine besonders wirksame Gestalt hat die durch historische Bildung sublim gewordene Destruktion der Geschichte im Andenken an die ungeschichtliche Kosmosnatur im Denken Karl Löwith angenommen.[3] Die Notwendigkeit einer Wendung der Philosophie gegen die Geschichte wird begründet mit dem die Philosophie beherrschen Historismus und Pragmatismus. In Heidegger kulminiert für Löwith eine seit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus das Denken beherrschende Tendenz totaler Vergeschichtlichung. Wogegen sich Löwith wendet, ist also die Herrschaft des Historismus und des Pragmatismus über die Philosophie. Sie zu brechen ist das Ziel. Löwith muß den Anschluß an Traditionen wiedergewinnen, in denen das Denken noch nicht so historistisch und pragmatistisch bestimmt war. Liegt der Höhepunkt des pragmatistischen und historistischen Verfalles des Denkens im Marxismus und bei den Linkshegelianern des 19. Jahrhunderts, dann beginnt der Verfallsprozeß für Löwith mit dem Christentum, seiner inneren Ermöglichung nach schon mit dem Schöpfungsglauben des Alten Testaments. Löwith nimmt damit in einer radikalisierten Form die Ergebnisse der Religionskritik von Feuerbach wieder auf. Es geht dem neuzeitlichen, im 19. Jahrhundert revolutionär und historisch gewordenen Denken nach Löwith also ein ungeschichtliches Denken voraus, die ungeschichtliche Anschauung der ewigen Kosmosnatur. Es wird antithetisch einander entgegengesetzt: geschichtliches Denken und natürliche Anschauung. Die von den Vorsokratikern bis zur Stoa und Plinius dauernde Tradition der Kosmologie ist der Boden, auf den Löwith das Denken wieder zurückbringen will.
Wodurch ist nun die Tradition kosmologischen Denkens bestimmt? Nach Löwith durch seine Ungeschichtlichkeit, positiv durch die Anschauung einer Gesamtordnung der Natur, in welcher das Sein des Menschen und seine politische Welt noch einbehalten waren. Die Natur, sagt Löwith, ist immer sie selbst. In allen Prozessen des Werdens, des Reifens und des Vergehens, in allen Veränderungen hält sich die Natur als die eine und dieselbe durch. Der Mensch ist ein Naturgewächs. Auch er unterliegt den ewigen Gesetzen, nach denen die Sonne auf und unter geht, die Nacht auf den Tag, der Winter auf den Sommer folgt und nach denen der Mensch gezeugt und geboren wird, heranwächst, altert und stirbt, um wieder in den Schoß der Natur zurückzusinken. Es kommt also darauf an, den Wahn und die Illusion einer geschichtlichen Weltansicht loszuwerden. Denn die Geschichte an sich, die gibt es gar nicht. Geschichte ist nur eine Ansicht, eine Auslegung, dazu noch eine falsche, der an sich natürlichen Welt und ihrer Ordnung. Jürgen Habermas hat richtig gesehen, daß der bisher radikalste Angriff gegen den Historismus von einem Denker vorgetragen wird, der mit den subtilsten Argumenten des Historismus vertraut ist wie kaum einer sonst.[4]
Bereits durch den biblischen Schöpfungsglauben setzt der Prozeß der Depotenzierung der natürlichen Welt ein, der im Historismus und Pragmatismus der Gegenwart endete. Die geschichtliche Offenbarung des Neuen Testamentes hätte die Herrschaft eines geschichtlichen, der Aktualität und dem Augenblick und seiner Forderung sich unterwerfenden Denkens ermöglicht. Hier sei einem vergänglichen Augenblick im Ablauf des Geschehens eine absolute Bedeutung für die Geschichte im Ganzen zugebilligt worden. Daß die Aktualität etwas ist, was das Denken angehen und betreffen kann, das sieht Löwith in nüchterner Distanz richtig, ist ein spezifisch christliches Erbe. Das Wichtignehmen des Aktuellen, dessen was jeweilig und augenblicklich ist, ist säkularisiertes christliches Erbe, da die Christen als erste auf den unphilosophischen Einfall gekommen seien, einem flüchtigen Augenblick absolute Bedeutung zuzusprechen. Hegel hätte zum letzten Mal versucht, den Gedanken des ewigen Seins, den Entwurf einer durch die Technik machbar gewordenen Geschichte und die absolute Bedeutung geschichtlicher Gegenwart in unaufgehobener atheistisch spekulativer Zweideutigkeit zusammenzudenken. Dieser Versuch ist nach Löwith gescheitert, aus dem historischen Grund, weil er faktisch nicht akzeptiert wurde und aus einem, erst Löwith selber voll einsichtigem Grunde, weil dieser Versuch in sich unmöglich war.
Im Marxismus und bei den Linkshegelianern hätte sich der epochale, neuzeitliche Druck auf das Denken als Beherrschung durch die jeweiligen zeitlichen Aktualitäten vollends durchgesetzt und die Philosophie entmächtigt und aller Funktionen beraubt, so daß es jetzt nur noch Journalisten und Täter gäbe. Doch in der Erneuerung stoischen Gleichmuts zieht der Philosoph Löwith Trost aus dem Anblick der Gestirne, die unbeeinflußbar durch menschliche Machenschaften ihre ewigen Kreise ziehen. Drohende geschichtliche Katastrophen vermögen das philosophische Gemüt nicht mehr ernsthaft zu beunruhigen, das den unvermittelten Anblick der Natur wiedergewonnen hat. Es handelt sich um das seltsame Paradox im Denken Karl Löwiths, daß er unentwegt von der Geschichte redet, und dies in der Absicht, sich von ihr zu befreien. Von dieser Befreiung verspricht sich Löwith eine bedeutsame Konsequenz für das menschliche Selbstverständnis. Der wiederhergestellte Anblick der Natur soll den Menschen seiner Unerheblichkeit und Bedeutungslosigkeit im Ganzen der natürlichen Welt vergewissern. In der Mahnung an die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der sterblichen Menschen kehrt die Weisheit des Predigers wieder, daß alles menschliche Treiben eitel sei: das Urgestein alttestamentlicher Weisheit, des jüdischen Skeptizismus. Aber die ungeschichtliche, von einem jeglichen Interesse am menschlichen Eingriff befreite Natur, ist faktisch nur zugänglich durch die destruierende Aufhebung dessen, was Löwith das Denken des Historismus nennt. Die wiederzugewinnende Unmittelbarkeit ist das Resultat einer Vermittlung, die vergessen werden soll. Wir müssen uns dümmer stellen, als wir sind, so hat Löwith die Maxime für die philosophische Bestimmung unseres Verhältnisses zu Hegel formuliert. Doch hinter der Destruktion begrifflich dialektischer Vermittlung steht die These, daß es die Sache Geschichte im Grunde gar nicht gibt. Gibt es aber die Geschichte gar nicht, wie war dann die Herrschaft des Historismus möglich? Hinter der »Geschichte« verbirgt sich für Löwith nicht anderes als der Wechsel des Selbstverständnisses des Menschen und seiner natürlichen Weltauslegung. Geschichtliche Wandlungen und Veränderungen müssen auf den Wandel menschlichen Welt- und Selbstverständnisses zurückgeführt werden. Geschichtlich ist das Verstehen von Mensch und Welt, aber nicht Mensch und Welt selber. Warum aber hat sich das menschliche Welt- und Selbstverständnis so geändert, daß die natürliche Weltansicht so zugedeckt und verdeckt wurde, daß sie nur im Vollzug einer Heidegger analogen Destruktion der Geschichte wiedergewonnen werden kann?
Worauf es ankommt, ist der Versuch Löwiths, Geschichte der Emanzipation als bloßen Schein zu entlarven. Emanzipation hat es nicht gegeben und kann es gar nicht geben. Der Mensch ist immer derselbe geblieben, die Welt selber hat sich im Grunde nicht geändert. Der Emanzipation entspricht keine Wirklichkeit, sondern nur der Schein, durch den die ursprüngliche und geschichtslose Welt der Natur verdeckt wurde. Indem aber die Negation eines Begriffs der Geschichte als Emanzipation mit der von Geschichte überhaupt zusammenfällt, ist und bleibt Löwith abhängig und bestimmt davon, wogegen er sich wendet. Emanzipation ist ein Wahn, daher gibt es keine Geschichte. Das ist ein Schluß, der nur einsichtig wird, wenn ich schon davon ausgehe, daß Geschichte nichts anderes als die prätendierte Befreiung aus der Natur ist. Löwith, einer der schärfsten Kritiker Heideggers, bleibt einer seiner treuesten Schüler. Ob Heidegger vom schickenden Geschick redet, oder Karl Löwith von der Ordnung der Natur, in die sich der Mensch schicken müsse, in beiden Fällen führt die Preisgabe einer Theorie der Dialektik der Emanzipation als eines innergeschichtlichen Ereigniszusammenhangs, welcher der Kausalität menschlichen Handelns unterliegt, zur Verdinglichung der Geschichte, vor der man sich ins anfängliche und unvordenkliche Sein als Geschick oder als Natur retten muß.
Die Konfrontation von Blumenberg mit Löwith sollte in unserem Zusammenhang den Sinn haben, die Bedeutung herauszustellen, die Pascal als einer Gestalt zukommt, welche die im Prinzip der geschichtlichen Voraussetzungslosigkeit des neuzeitlichen Entwurfs der Geschichte als Emanzipation eingeschlossenen Konsequenzen so radikal durchdacht hat, daß er die durch die Konstellation von »natürlichem« Atheismus und absoluter Kontingenz bestimmte Endposition dieses neuzeitlichen Entwurfes vorwegnahm. Indem Pascal die der rational geschichtlosen Aufklärung innewohnende Blindheit aufdeckte, wurde er faktisch zu dem Denker, mit dem die Dialektik der Aufklärung zum erstenmal auf ihren folgenreichen Begriff gebracht wurde. Für Pascal ist die These des Atheismus eine ebenso notwendige Konsequenz der nominalistischen Auflösung der Traditionen natürlicher Theologie wie der Versuch einer abstrakten Selbstbehauptung des Menschen im unendlichen Prozeß wissenschaftlicher Unterwerfung und Kontrolle natürlich-gesellschaftlicher Realität illusorisch. Aus der Tatsache, daß Gott unter den Bedingungen des die Neuzeit bestimmenden Methodenideals exakter Wissenschaft unbegreifbar geworden ist, folgt jedoch für Pascal nicht, daß die Fragen der natürlichen Theologie für den Menschen der emanzipativen Welt ihre Aktualität verloren haben.

»Keine sonderlich erhabene Seele ist nötig, um zu begreifen, daß es auf Erden kein wahrhaftes und beständiges Glück gibt und daß all unsere Vergnügungen nur eitel sind, daß unsere Leiden unzählbar sind und daß zum Schluß der Tod, der uns ständig bedroht, uns unaufhebbar in wenig Jahren vor die entsetzliche Notwendigkeit stellen wird, daß wir entweder auf ewig vernichtet oder ewig elend sind.
Nichts Wirklicheres, nichts Furchtbareres als das gibt es. Man spiele, so viel man will, den Heldischen, das ist der Schluß, den das glänzendste Leben erwartet. Darüber denke man nach, und dann antworte man, ob es nicht unzweifelbar ist, daß in diesem Leben das Gut nur in der Hoffnung auf ein anderes Leben besteht, daß man nur glücklich ist in dem Maße, in dem man sich ihm nähert, und daß, da es für die, die von der Ewigkeit völlig überzeugt sind, kein Unglück mehr geben wird, es auch für die kein Glück gibt, die davon nichts wissen.«[5]

Allerdings können auf dem Boden einer Anerkennung der für das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen konstitutiven Bedeutung der modernen, durch einen methodischen Atheismus bestimmten Wissenschaft die Fragen der Theologie nur noch im Horizont der Anthropologie gestellt werden.
In seinem berühmten Argument der Wette hat Pascal zum erstenmal in der Geschichte des neuzeitlichen Bewußtseins den paradoxen, auf die Strukturen einer negativen natürlichen Theologie verweisenden Versuch gemacht, zu zeigen, daß es vernünftig sei, an die Existenz Gottes zu glauben, obwohl dieser Glaube nicht mehr durch die Vernunft nach ihrer Angleichung an die methodischen Wissenschaften gerechtfertigt werden kann.

»Wer also wird die Christen tadeln, wenn sie keinen Beweis ihres Glaubens erbringen können, sie, die einen Glauben bekennen, den sie nicht beweisen können? Sie erklären, wenn sie ihn der Welt darlegen, daß er ein Ärgernis der Vernunft sei, stultitiam; und da beklagen Sie sich darüber, daß sie ihn nicht beweisen! Bewiesen sie ihn, so hielten sie nicht Wort: gerade da ihnen Beweise fehlen, fehlt ihnen nicht der Sinn. - Zugegeben, das mag sie entschuldigen, die ihn derart lehren, und sie von dem Vorwurf entlasten, keine Gründe aufzuführen, es entschuldigt nicht die, die ihn ohne Beweise annehmen.« - Prüfen wir das also, nehmen wir an: Gott ist oder er ist nicht. Wofür werden wir uns entscheiden? Die Vernunft kann hier nichts bestimmen: ein unendliches Chaos trennt uns. Am äußersten Rande dieser unendlichen Entfernung spielt man ein Spiel, wo Kreuz oder Schrift fallen werden. Worauf wollen sie setzen. Aus Gründen der Vernunft können sie weder dies noch jenes tun, aus Gründen der Vernunft können sie weder dies noch jenes abtun. Zeihen Sie also nicht die des Irrtums, die eine Wahl getroffen, denn hier ist nichts zu wissen. - Nein, aber ich werde sie tadeln gewählt zu haben, nicht diese Wahl, sondern eine Wahl, denn mögen auch beide, der, der Kreuz wählte und der andere den gleichen Fehler begehen, so sind doch beide im Irrtum, richtig ist überhaupt nicht auf eines zu setzen.« Ja, aber man muß auf eines setzen, darin ist man nicht frei, Sie sind mit im Boot. Was werden sie also wählen? Sehen wir also zu, da man wählen muß, wobei Sie am wenigsten wagen? Zwei Dinge haben Sie zu verlieren: Die Wahrheit und das höchste Gut; und zwei Dinge haben Sie einzubringen: Ihre Vernunft und Ihren Willen, Ihr Wissen und Ihre Seligkeit, und zweierlei haben Sie von Natur zu meiden: den Irrtum und das Elend. Ihre Vernunft ist nicht mehr betroffen, wenn sie sich für das eine oder das andere entscheidet, da man sich mit Notwendigkeit entscheiden muß. Das ist ausgemacht, wie ist es dann mit ihrer Seligkeit? Wägen wir Gewinn und Verlust für den Fall, daß wir auf Kreuz setzen, daß Gott ist. Schätzen wir diese beiden Möglichkeiten ab. Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles, wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts. Setzen Sie also, ohne zu zögern, darauf, daß er ist. - Das ist wunderbar. Gewiß, ich muß setzen, aber vielleicht setze ich zu viel. - Nun wir sehen zu. Da die Wahrscheinlichkeit für Gewinn und Verlust gleich groß ist, könnte man den Einsatz noch wagen, wenn es nur zwei für ein Leben zu gewinnen gibt. Gibt es aber drei zu gewinnen, dann muß man, denn Sie sind ja gezwungen zu setzen, das Spiel annehmen; Sie würden unklug handeln, wenn Sie, da Sie einmal spielen müssen, Ihr Leben nicht einsetzen wollten, um es dreifach in einem Spiel zu gewinnen, wo die Chance für Gewinn und Verlust gleich groß ist. Es gibt aber eine Ewigkeit an Leben und Glück zu gewinnen; und da das so ist, würden Sie, wenn unter einer Unendlichkeit von Fällen nur ein Gewinn für Sie im Spiel läge, noch recht haben, eins gegen zwei zu setzen, und sie würden falsch handeln, wenn Sie sich, da Sie notwendig spielen müssen, weigern wollten, wenn es unendliche und unendlich glückliche Leben zu gewinnen gibt, ein Leben für drei in einem Spiel zu wagen, wo es für Sie unter einer Unendlichkeit von Fällen einen Gewinn gibt. Es gibt aber hier unendlich viele, unendlich glückliche Leben zu gewinnen, die Wahrscheinlichkeit des Gewinns steht einer endlichen Zahl der Wahrscheinlichkeit des Verlustes gegenüber, und was sie ins Spiel einbringen, ist endlich. Das hebt jede Teilung auf: Überall, wo das Unendliche ist und keine unendlich große Wahrscheinlichkeit des Verlustes der des Gewinns gegenübersteht, gibt es nichts abzuwägen, muß man alles bringen. Und so, wenn man notwendig setzen muß, hieße es, auf die Vernunft verzichten, wollte man das Leben lieber bewahren, statt es so dicht vor dem Erfahren des Verlustes, des Nichts, für den unendlichen Gewinn zu wagen.«[6]

Die in sich paradoxe Struktur, die der Pascalschen Argumentation zugrunde liegt, zielt darauf, eine nicht mehr durch die Vernunft zu begründenden Glauben an Gott als vernünftig zu motivieren. Die Bedeutung der Pascalschen Frage besteht nun darin, daß der für die Metaphysik eigentümliche Entwurf einer natürlichen Theologie in ihrer mittelalterlich christlichen Rezeption nicht aufgehoben wird, sondern daß sich die Strukturen der natürlichen Theologie von neuem durchsetzen und damit für die Religionsphilosophie der Neuzeit die Fragestellungen nachhaltig bestimmen. Die natürliche Theologie nimmt unter den veränderten durch die rationelle Wissenschaft veränderten Voraussetzungen die Gestalt ihrer Negativität an. Es kann also keine Rede davon sein, daß die Neuzeit bei dem Versuch ihrer gegentheologischen Selbstbehauptung die Theologie einfach eliminiert hätte. Ganz im Gegenteil. Es heißt bei Pascal: Wer also wird die Christen tadeln, wenn sie keinen Beweis für ihren Glauben beibringen können, daß sie also einen Glauben bekennen, den sie nicht beweisen können. Die Voraussetzung Pascals ist also die Unbeweisbarkeit des christlichen Glaubens. Es geht aber um die Bestimmung des Sinnes, den die Frage nach Gott unter der Voraussetzung seiner Unbeweisbarkeit hat. Es wird von Pascal eine für die neuzeitliche Welt grundlegende Differenz zwischen dem angenommen, was wissenschaftlich beweisbar ist und dem, was Sinn hat. Das neue Moment besteht im Gegenteil in der radikalen These, daß das, was durch die voraussetzungslose rationale Theorie beweisbar ist, eben weil es beweisbar ist und insofern es beweisbar ist, gerade sinnlos ist. Nun hat aber, was Sinn hat, auch Vernunft. Wenn es sinnvoll ist, an den durch die wissenschaftliche Vernunft nicht mehr zu beweisenden Gott zu glauben, dann muß der nicht rational erweisbare Sinn doch einer vernünftigen Auslegung fähig sein. Nur wenn das möglich ist, ist eine Wette auf die Existenz Gottes möglich. Bereits Pascal geht von der These aus, die sich von Kierkegaard her als Voraussetzung alles theologischen Denkens in unserem Jahrhundert durchgesetzt hat, daß Gott und Welt, Vernunft und Glauben durch eine unendliche qualitative Differenz getrennt seien. Er geht von der Annahme eines unendlichen Unterschieds von Vernunft und Glauben, von Welt und Gott aus. Da aber Gott nicht positiv als existierend bewiesen werden kann, kann andererseits auch ebenso wenig bewiesen werden, daß er nicht existiert. Behauptung steht hier gegen Behauptung, Notwendigkeit gegen Notwendigkeit. Die wissenschaftliche Vernunft würde sich übernehmen, wenn sie für sich in Anspruch nehmen würde, für die These aufzukommen, daß Gott ist oder daß Gott nicht ist. Pascal stimmt mit Kant darin überein, daß die Methodenvernunft der Wissenschaft sich zu dem Bereich möglicher metaphysischer und theologischer Fragen indifferent verhält. Wo sie zur Entscheidung der Fragen der Metaphysik und Theologie bemüht wird, dort wird sie entgegen ihrem eigenen methodischen Sinn ontologisiert. An die Stelle des Glaubens an Gott tritt dann der Glaube an die Wissenschaft. Der Glaube an die Wissenschaft auf dem Grunde und der Voraussetzung ihrer substituierten Ontologisierung ist aber selber nur eine neue Form des Aberglaubens. Die von Kant in der transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Antinomie zeichnet sich also bei Pascal deutlich ab. Die Pascalschen Auseinandersetzung mit dem Empirismus bzw. Skeptizismus auf der einen und dem rationalen Dogmatismus auf der andern Seite folgt der Logik der von Kant auf ihren Begriff gebrachten Antinomie neuzeitlicher Vernunft. Die Antinomie besteht darin, daß sie auf Fragen stößt, die sie nicht abweisen, die sie aber auch nicht entscheiden kann. Sie gerät in einen Widerspruch mit sich selbst. Kraft einer Notwendigkeit, die in ihrem voraussetzungslosen Prinzip begründet ist, stößt sie auf die Grundlagen der traditionalen Metaphysik, die sie nicht abweisen und auch nicht beantworten kann. Der Widerspruch, in den sie bei diesem Versuch gerät, ist für sie selber unaufhebbar. Der Streit der Vernunft mit sich selbst muß also zu seiner Entscheidung vor eine andere Instanz gebracht werden.

»Wenn ich sehe, wie blind und elend die Menschen sind, wenn ich bedenke, daß das ganze Weltall stumm und der Mensch ohne Einsicht sich selbst überlassen ist wie ein Verirrter in diesem Winkel des Weltalls, ohne daß er wüßte, wer ihn dorthin gebracht, was da zu tun ist, noch was ihm widerfahren wird, wenn er stirbt, und bedenke, wie unfähig er ist, irgend etwas gewiß zu wissen, dann überkommt mich ein Grauen, wie es einen Menschen überkommen müßte, den man im Schlaf auf einer wüsten und schreckvollen Insel ausgesetzt und der erwachend weder weiß, wo er ist, noch wie er entkommen kann. Bedenke ich das, dann wundere ich mich, wie es möglich ist, daß man ob solch elender Lage nicht verzweifelt. Ich finde andere Menschen in meiner Nähe, deren Natur meiner gleicht: ich forsche sie aus, ob sie mehr wissen als ich; sie erwidern mir, nein. Und trotzdem haben sich diese elend Verirrten, nachdem sie sich umgeschaut und einiges fanden, was sie freute, diesem, das sie freute, ergeben und sich daran gebunden. Ich aber, ich habe mich an nichts binden können, und da ich bedachte, wie sehr der Anschein dafür spricht, daß es anderes gibt, was ich nicht sehe, bin ich auf die Suche gegangen, ob dieser Gott keinerlei Zeichen von sich hinterlassen haben sollte.«[7]

Ist die Frage nach Gott, also für die Ratio, offen, dann erst ergibt sich die Möglichkeit, sie durch einen Einsatz zu entscheiden, der den Charakter des Wagnisses und des Risikos trägt. Weil die Vernunft aus sich selber nicht vernünftig einen Streit entscheiden kann, dem sie mit innerer Notwendigkeit unterworfen ist, kommt die in der voraussetzungslosen Fassung der modernen Wissenschaften ausgeklammerte unmittelbare Subjektivität wieder ins Spiel. Ja, sie wird als solche sich erst selber thematisch.

»Das Volk beurteilt die Dinge richtig, denn es befindet sich in der natürlichen Unwissenheit, und das ist die naturgemäße Lage des Menschen. Die Wissenschaften haben zwei Entgegengesetzte, die sich berühren, die erste ist die reine, natürliche Unwissenheit, in der sich alle Menschen von Geburt an befinden, die andere ist die, wohin die wahrhaft großen Seelen gelangen, die, nachdem sie alles, was Menschen wissen können, durchlaufen haben, erkennen, daß sie nichts wissen, und sich so in der gleichen Unwissenheit wiederfinden, von der sie ausgingen; das aber ist eine wissende Unwissenheit, die von sich weiß. Die, die dazwischen bleiben, die die natürliche Unwissenheit aufgaben und die die andere nicht erreichten, färbten sich mit jener selbstgefälligen Wissenschaft und spielen die Wissenden. Sie sind es, die die Welt beunruhigen und die falsch über alles urteilen.
Das Volk und die Weisen bestimmen den Gang der Welt, jene verachten es und werden verachtet. Sie urteilen über alles falsch, und das Volk urteilt richtig.«[8]

Die Unentscheidbarkeit der Vernunftantinomie erzwingt eine Entscheidung durch den Glauben, der sich aber nicht auf absolut evidente Prinzipien stützen kann. Weil der Streit durch absolut evidente Prinzipien nicht geschlichtet werden kann, darum wird eine Entscheidung notwendig. Die Pascalsche Theorie einer Logik des Herzens, also der unmittelbaren Subjektivität, die ihren eigenen, durch den Verstand nicht zu widerlegenden Gründen folgt, gründet selber in der Struktur einer formalen und negativ bleibenden Transzendenz. Alles Transzendieren des Menschen auf Gott hin bleibt unter dem Postulat der Voraussetzungslosigkeit, der Ungeschichtlichkeit wissenschaftlicher Vernunft formal und negativ. Es kann daher auf die Existenz Gottes gewettet werden. Die rational unentscheidbare Gottesfrage läßt die Möglichkeit zu, die Wette zu gewinnen oder auch zu verlieren. Es hat ja nur dann einen Sinn zu wetten, wenn man gewinnen wie verlieren kann. Nur wenn es eine solche Alternative gibt, hat es einen Sinn, in einem Spiel etwas einzusetzen und zu riskieren. Das Spiel verliert seinen Reiz, wenn man sicher sein kann, daß man gewinnt. Man spielt aber auch nicht, wenn es feststeht, daß man verliert. Es ist in der Struktur des Spielens selber begründet, daß der Ausgang des Spieles durch den Einsatz des Spielenden mit entschieden werden kann. Oder sollte es noch eine dritte Möglichkeit geben, nämlich die, überhaupt nicht zu spielen, die Teilnahme zu verweigern? Pascal hat also bereits am Beginn der Neuzeit die in ihr liegende Konsequenz gesehen und vorweggenommen, daß man die Frage nach Gott damit abweist, daß es sich um hier nicht um eine Frage handelt, die den Menschen überhaupt angehen und betreifen könnte. Je entschiedener die Neuzeit sich in ihrem Willen zur geschichtslosen Autonomie verwirklicht, umso bestimmender setzt sich die Möglichkeit der Indifferenz gegenüber allen Fragen durch, die das Interesse an der natürlichen Reproduktion des Lebens in der Gesellschaft übersteigen. Pascal hat den Entschluß zur Neutralität als das begriffen, was er ist, nämlich als eine Entscheidung. Auch die Nichtentscheidung ist für Pascal noch die Form einer Entscheidung.
Auf die Tendenz der modernen Gesellschaft, die Gottesfrage durch ihre Neutralisierung zu lösen, fällt von Pascal her ein eigentümliches Licht. Pascal antwortet seinem Gesprächspartner: Aber man muß auf eins setzen, darin ist man nicht frei. Sie sind mit im Boot. Darin, daß wir wählen oder nicht wählen, sind wir gerade nicht frei. Zwei Dinge haben wir zu verlieren: die Wahrheit und das höchste Gut. Einzubringen haben wir die Vernunft und unseren Willen. Zu erstreben sind Wissen und Seligkeit. Und zweierlei haben wir von der Natur zu meiden: den Irrtum und das Elend. Pascal glaubt also noch, davon ausgehen zu können, daß der Mensch natürlicherweise daran interessiert ist, den Irrtum und das Elend zu vermeiden. Das heißt also; bei Pascal ist der Mensch an sich selbst interessiert. Am Ende der Neuzeit ist diese Voraussetzung fraglich geworden. Man kann aber den Sinn der Frage nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nur unter der Voraussetzung erweisen, daß der Mensch an dem Gelingen seines Seins interessiert ist. Auch die radikalatheistische Voraussetzung Sartres trägt die Konsequenzen nicht mehr, die Sartre aus ihnen zieht, wenn man davon ausgeht, daß der Mensch kein Interesse am Gelingen seines Seins hat. Wenn es sich nur noch darum handelt, den Menschen in der geschichtslosen Naturgesellschaft zu stabilisieren, dann sind die Fragen der Theologie gegenstandslos geworden. Dann kann man nur noch die Frage stellen, was die Stabilisierung des Menschen, oder seine Selbstbehauptung selber für einen Sinn haben sollen.
Die Notwendigkeit einer Entscheidung ergibt sich für Pascal aus der Struktur eines auf das Handeln angelegten und angewiesenen Wesens, wie es der Mensch ist. Theoretisch wäre es durchaus denkbar, auf eine Teilnahme an der Pascalschen Wette zu verzichten. Doch Pascal meint, jede einzelne Handlung des Menschen würde anders ausfallen, je nachdem, ob er an die Existenz Gottes glaubt oder nicht. Ob er davon ausgeht, daß mit dem Tode alles aus ist oder nicht. Die Handlungen und die Gerichtetheit des Handelnden selber hängen für Pascal im letzten Grunde davon ab, ob der Mensch glaubt, daß seine Zukunft die absolute Vernichtung ist oder ob er in seinem Selbstentwurf mindestens die Möglichkeit einbezieht, daß er nicht auf seine absolute Vernichtung zugeht. Die Frage nach der ewigen Zukunft des Menschen wurde von Pascal in ihrer eminent praktischen Bedeutung für die Zukunft der emanzipativen Gesellschaft erkannt. In einer Welt, in der eine totale Vernichtungspraxis zu einer realen Möglichkeit wurde, kann die Frage nach dem Telos alles menschlichen Seins und Handelns keine gleichgültige Frage sein und sie kann in ihrer Bedeutung auch nicht auf das private Individuum eingeschränkt werden. Schon für Platon war die theoretische Praxis der Philosophie selber sinnlos, wenn die Sterblichkeit auch der Seele zwingend erwiesen werden könnte.
Wie soll eine ethische Motivation philosophisch einsichtig gemacht werden können, wenn die Grundüberzeugung der absoluten Vernichtung als der einzig wirklichen und das Individuum unmittelbar betreffenden Zukunft zur selbstverständlichen Voraussetzung des Menschen in der Welt geworden ist? Indem der Marxismus die Sinnfrage für das Individuum neu gestellt hat, hat er sich von seinen eigenen Voraussetzungen her an den Ausgang der Pascalschen Frage herangetastet und ist damit einem großen Teil der westlichen Philosophie überlegen. Der Einsatz, der dem Menschen in der Wette Pascals zugemutet wird, ist der Lage des Menschen in der Welt überhaupt eigentümlich. Pascal, der selber ein großer Mathematiker und Naturwissenschaftler war, hat klarer als Descartes die Konsequenzen begriffen, die sich aus dem Zusammenbruch der natürlichen Theologie durch die rationale Wissenschaft am Beginn der Neuzeit ergaben. Für die natürliche Theologie war die Voraussetzung einer Theorie grundlegend, welche die Welt als einen Kosmos auszulegen vermochte. Die Vernunft war durch sich selber einer natürlichen Erkenntnis Gottes fähig, weil sie im Vernehmen einer der Welt immanenten Ordnung an der Welt den Zusammenhang erfaßte, durch den sie von sich weg auf Gott als den beständigen Grund von Wahrheit und Sein verwies. Indem der Mensch den ihm im Grundriß und Grundplan der Welt vorbehaltenen Ort einnahm, durch den er mit sich selbst in Gott gründete, war er der Welt und ihres bleibenden Grundes gewiß. Die Bedeutung des Atheismus in der Neuzeit kann von Pascal her als eine Folge des Zusammenbruchs der Kosmostheorie und ihrer Ersetzung durch ein unendliches, grenzenloses Universum begriffen werden, das die neuzeitliche Wissenschaft im Überschreiten ihrer Möglichkeiten setzte. Es handelt sich dabei um eine weltanschauliche Hypothese, die wissenschaftlich nicht begründbar ist. Mit der in der Vernunft erschlossenen und in Gott gründenden Ordnung der Welt verliert der Mensch seinen Ort. Er wird ortlos. Es gibt in der Welt keinen Ort mehr, an welchem der Mensch vorgesehen war. Indem das Sein des Menschen ortlos wird, wird es grundlos. Er wird sich selbst das abgründige Wesen. Der Mensch als ein Wesen ohne vorgegebenen Ort und ohne einen, ihn in seinem Dasein ermächtigenden Grund: das macht die durch keine Anthropologie mehr überholbare Voraussetzung der neuzeitlichen Erfahrung des Menschen mit sich selbst aus. Der Mensch muß, um eine Formel neuzeitlicher Anthropologie zu verwenden, die Bedingungen seines Seins erst herstellen. Aus dem Kosmos herausgefallen, fällt er, wie es Pascal gesehen hat, auf die bloße Kontingenz, d.h. auf die Zufälligkeit und Faktizität seines Daseins zurück. Als das Wesen, dem kein Wesen zukommt und dessen Los zufällig und faktisch ist, und das aus dem Zwang seiner kontingenten und faktischen Konstitution gezwungen ist, sich handelnd selbst zu übernehmen und herzustellen, wird der Mensch von Pascal am Anfang gesichtet. Bei Pascal also bereits ist der Mensch das Wesen geworden, das in einer Welt, die sich gleichgültig gegenüber der Frage seiner eigenen Ermöglichung verhält, zur Freiheit verurteilt ist. Das heißt aber, daß der Mensch immer schon, insofern er lebt, von einer positiven Entscheidung und einem positiven Entschiedensein zur Übernahme seines Seins herkommt. Er ist immer schon bestimmt durch einen ausdrücklichen oder unausdrücklichen Akt der Affirmation seines Seins. Denn er könnte ja auch nicht sein. Der totale Skeptizismus ist also nur in der Form des praktizierten Selbstmordes möglich. In diesem Akt der Selbstaffirmation ist aber für Pascal immer schon die Frage mitentschieden, ob Gott ist oder nicht. Aus Gründen der faktischen Selbstkonstitution des Menschen ist es unmöglich, die Gottesfrage zu neutralisieren oder ihre Entscheidung von dem Ausgang eines rationalen Kalküls abhängig zu machen. Die Voraussetzungen einer Neutralisierung der Gottesfrage, die in der gegenwärtigen Gott-ist-tot-Theologie gemacht werden, sind für Pascal illusionär und fiktiv. Sie sind das undurchschaut bleibende Produkt einer Flucht des Menschen vor sich selbst, durch die er sich die Einsicht in seine faktische Lage verstellt.

»Die Unsterblichkeit der Seele geht uns dermaßen an, berührt uns derart im tiefsten, daß, wer bei der Frage, was damit ist, gleichgültig bleibt, jegliches Gefühl eingebüßt haben muß. Je nachdem, ob ein ewiges Gut zu erhoffen oder nicht zu erhoffen ist, müssen all unsere Handlungen und Gedanken verschiedene Richtung einschlagen, so daß es unmöglich ist, irgendeine Entscheidung mit Vernunft und Überlegung zu treffen, die man nicht in Hinblick auf diesen Punkt, der unser letztes Ziel sein soll, leiten müßte.«[9]

In der alltäglichen und konkreten Daseinsanalyse Pascals wird der Mensch als ein Wesen bestimmt, das schon immer auf der Flucht vor der Einsicht in die ungegründete Faktizität seines Daseins ist. Der nicht gesellschaftliche Grund der Selbstverdinglichung des Menschen wird damit von Pascal als der Zwang aufgedeckt, sich an die Dinge zu verlieren, da es der Mensch bei sich selbst allein nicht aushalten kann. Gerade die Erfahrungen des gegenwärtigen Marxismus geben Anlaß zu der Frage, ob das bloß gesellschaftlich verfaßte und ausgelegte Dasein des Menschen nicht die Form einer radikalen, wurzelhaft bestimmten Selbstverstellung und Verfehlung des Menschen ist. Die aus dem Verfall des Kosmos des Mittelalters resultierende prinzipielle Ungeborgenheit und Zufälligkeit des Menschen wollte ja der Marxismus wieder in die Totalität seiner gesamt gesellschaftlichen Existenz hineinholen und in die Immanenz des gesellschaftlichen Systems aufheben. Schon für Pascal reichen die Mittel moderner Wissenschaft nicht aus, um die Selbstverfehlung des Menschen in ihrem Grund zu erkennen, geschweige denn zu überwinden. Es ist im Wesen und Prinzip moderner Wissenschaft begründet, daß sie vom Menschen in seinem alltäglichen und geschichtlichen In-der-Welt-Sein abstrahiert.
Unter der Voraussetzung der voraussetzungslosen Wissenschaft wird daher der Glaube für Pascal zu einer Bedingung der Vernunft selber. Die für das Mittelalter kennzeichnende Struktur, daß die Vernunft den Glauben bedingt, kehrt sich in der Konstellation der Neuzeit nach Pascal dahingehend um, daß der Glaube selber zu einer Bedingung der Vernunft wird, insofern die Vernunft in sich selbst durch evidente Prinzipien nicht begründet werden kann, da zu dieser Begründung die Vernunft immer schon vorausgesetzt werden muß. Daher geht es im Argument der Wette nicht um den Nachweis, daß es für den Menschen angesichts der Zufälligkeit seines Daseins unausweichlich sei, sich zu entscheiden, also um einen blinden Dezisionismus, sondern es geht Pascal darum, daß es vernünftig ist, auf die Existenz Gottes zu setzen. »Nur der Tor spricht in seinem Herzen, es ist kein Gott.« Doch warum ist es vernünftig, an die Existenz Gottes zu glauben? Weil die Struktur, die dem Argument der Wette zugrunde liegt, sich qualitativ von der unterscheidet, die den Menschen sonst in den alltäglichen Entscheidungen seines Lebens bestimmt. In allen anderen Fällen geht es nur um einen endlichen Gewinn oder einen endlichen Verlust.

»Das Vernunftloseste auf der Welt wird das Vernünftigste, weil es bei den Menschen keine natürliche Ordnung gibt. Gibt es etwas, das weniger vernünftig schiene als die Wahl des erstgeborenen Sohnes einer Königin zur Regierung eines Staates? Zur Führung eines Schiffes wählt man doch nicht denjenigen unter den Reisenden, der aus dem besten Hause stammt. Solch Gesetz würde lächerlich und ungerecht sein. Aber weil sie so sind und es immer sein werden, werden sie vernünftig und gerecht, denn wen sollte man wählen? Den Tugendhaftesten und Geschicktesten? Sofort sind wir unweigerlich im Handgemenge, jeder wird behaupten, der Tugendhafteste und Geschickteste zu sein. Binden wir also diese Eigenschaft an irgendein unbestreitbares Faktum. Das ist der älteste Sohn des Königs; das ist eindeutig, da gibt es keinen Streit. Die Vernunft könnte es nicht besser machen, denn der Bürgerkrieg ist das größte Übel.«[10]

Im Falle der Gottesfrage aber steht nach Pascal der Möglichkeit eines endlichen Verlustes ein unendlicher Gewinn gegenüber. Bei gleichen Chancen verliere ich nichts, wenn Gott nicht ist, ich gewinne aber alles, wenn er existiert. Die Zumutung einer positiven Entscheidung kann von der Vernunft angenommen werden, da sie als Vernunft einer Einsicht in die eigenen Grenzen fähig ist. Sie kann ihr eigenes Nicht-Wissen selber wissen. Die Vernunft kann dem Glauben zustimmen, weil durch ihn zwar der Wahn absolut und voraussetzungslos anfangender Wissenschaft zerstört wird, aber die Vernunft gleichzeitig neu begründet wird. Pascal hat unter den Bedingungen der Neuzeit den Glauben nicht dezisionistisch oder individualistisch gefordert, sondern als die Form der Versöhnung der mit sich selbst auf dem Boden des Postulats der Voraussetzungslosigkeit zerrissenen Vernunft bestimmt. Die Vernunft, die sich zutraut, eines absoluten Prinzips und Anfangs durch sich selber mächtig zu sein, wird durch den Glauben nach Pascal ebenso in ihre Schranken gewiesen wie gerechtfertigt und der Wirklichkeit faktischen und geschichtlichen Seins erschlossen. Es geht nicht in der Position des Glaubens um die Negation der Wissenschaft, sondern es geht schon bei Pascal, wie bei Kant in radikalisierter Form, auch um die Rechtfertigung des durch die Wissenschaft bestimmten geschichtlichen Daseins des Menschen durch den Glauben. Es heißt bei Pascal, der Mensch übersteigt unendlich den Menschen. Der Mensch übersteigt, wenn auch in einer formalen und leeren Transzendenz, immer schon unendlich sich selbst. Ohne ein wie immer geartetes Wissen um die Existenz unendlichen Seins vermöchte nach der Meinung Pascals der Mensch nicht einmal seine Endlichkeit erfahren, und es würde vollends unbegreiflich, wie er unter ihr zu leiden vermöchte. Denn wie sollte Leiden selber möglich sein, wenn der Mensch so unbedingt und total endlich wäre, wie im neuen Naturalismus versichert wird. Der Mensch, dem Blumenberg im Zusammenhang der Neuzeit eine Theologie unabhängiger Selbstbehauptung zumutet, ist nicht der wirkliche Mensch. Was bei Pascal am Anfang der Neuzeit sichtbar wird, ist das Gegenteil. Absolute Selbstbehauptung produziert die absolute Blindheit um den katastrophischen Charakter der Geschichte, der sich der absolut mächtig werdende Mensch dann umso ohnmächtiger ausgeliefert ist. Die Metaphysik geht nicht einfach am Beginn der Neuzeit unter, sondern es wird geradezu die Sache des Glaubens, die Zusammenhänge und Inhalte der in der Metaphysik ausgelegten Welt geschichtlich zu vergegenwärtigen. Der Glaube wird durch die doppelte Restriktion der Vernunft durch methodisch exakte Wissenschaft und kontingent faktische Verfaßtheit des geschichtlichen Daseins zu der Bedingung der Einheit des menschlichen Daseins in der emanzipativen Entzweiung von Natur und Geschichte. In der Gestalt einer Kritik der Vernunft durch sich selbst wird der Sinn geschichtlichen Heilsglaubens als die Bedingung aufgewiesen, unter der der Mensch in der Entzweiung eins mit sich selbst sein kann. Im Postulat des moralisch begründeten Glaubens an die Existenz Gottes hat Kant die Frage Pascals wiederholt und erneuert, indem er die Notwendigkeit der philosophischen Frage nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit durch die in der Natur des Menschen liegende Notwendigkeit begründet hat, auf die Totalität seines Daseins in der Welt nicht verzichten zu können.