Die Kontroverse Landgrebe-Habermas

Die Frage nach der Möglichkeit einer philosophischen Interpretation des Marxismus ist in der Kritik in einer Kontroverse zwischen Landgrebe und Habermas diskutiert worden.[1] Ihre Möglichkeit ist von Landgrebe ebenso entschieden bejaht worden wie das Recht aller bisherigen ernsthaften Marxismuskritik von Habermas mit dem Argument in Frage gestellt wurde, daß diese philosophisch gewesen sei und die von Marx intendierte Aufhebung von Philosophie unterschlagen habe. Das Recht und die Notwendigkeit einer philosophischen Marxismusinterpretation ist von Landgrebe wie folgt begründet worden[101]

  1. Marx habe seinen Ansatz im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit Hegel entwickelt und gewonnen und sei daher durch diesen, also durch seine philosophische Herkunft, bedingt.
  2. Es gehöre grundsätzlich zur Form einer menschlichen Praxis, daß sie durch ein Prinzip bestimmt und getragen sei, durch das ausgemacht und festgelegt werde, von woher und woraufhin gehandelt werden solle. In jedem faktischen Vollzug menschlichen Handelns sei ein solches Prinzip impliziert, durch welches über Struktur und Richtung des Handelns vorweg entschieden sei. Im marxistischen Denken nehme die Philosophie die Stelle eines solchen Vorentwurfs der Praxis ein.
  3. Es sei aber nicht konstitutiv für menschliches Handeln schlechthin, durch einen theoretisch vorausgebildeten Horizont bedingt zu sein, sondern dies gelte nur für den Umkreis der Metaphysik und ihrer Tradition, von der auch noch Marx in der Form seines Versuches ihrer Destruktion abhängig sei.

Aus Landgrebes Ansatz ergibt sich der bedeutsame Schluß, daß die Metaphysik als eine mögliche kritische Instanz in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus, infolge des noch selbst metaphysischen Wesens des Marxismus, überholt und auszuscheiden sei. Der Marxismus sei von der Metaphysik viel zu abhängig, als daß es möglich sei, aus ihr entscheidende Argumente gegen den Marxismus zu gewinnen. Nur ein Denken, das den Umkreis der im Wesen der Metaphysik beschlossenen Möglichkeiten überschritten habe, verfüge über eine begründete Aussicht, den Marxismus kritisieren und überwinden zu können. Der Marxismus scheitert nach dieser Position nicht an sich selber, sondern an der Metaphysik und diese mit ihm. Aus dem Scheitern des Marxismus durch seine Verwandlung in eine Form totalitärer Herrschaft wiederum wird der Schluß gezogen, daß es an der Zeit sei, den Bann metaphysischer Herrschaft über das Denken zu brechen.
Es ist offenbar, daß Langrebe in seiner Marx-Interpretation mit gutem Grund den Schwerpunkt auf den Anspruch des Marxismus legt, die Philosophie verwirklichen zu können. Es ist aber ebenso deutlich, daß bei Landgrebe das in der marxistischen Form der die Philosophie verwirklichenden Praxis eingeschlossene Moment ihres Willens, sie aufzuheben, zu kurz kommt. Man könnte doch auch aus dem Scheitern des Marxismus - das hier einmal unterstellt werden soll -im Duktus von Landgrebe den entgegengesetzten Schluß einer Rechtfertigung der Metaphysik durch den Marxismus ziehen. Es ist ja schwer einzusehen, wie das vom Marxismus konsequent praktizierte Prinzip der permanenten Revolutionierung aller Verhältnisse ohne die in der Metaphysik bedachte Wahrheit des Moments von Ständigkeit in allem Sein restringiert werden könnte.
Wenn nun Landgrebe in der Verwirklichung die Forderung ihrer Aufhebung verkannt hat, so tritt in der Interpretation von Habermas das Moment ihrer Verwirklichung und damit der Bewahrung philosophischer Wahrheit in seiner Interpretation zu sehr zurück. Nach Habermas führt eine philosophische Interpretation des Marxismus diesen auf einen Standpunkt zurück, der durch Marx grundsätzlich überwunden worden sei. Habermas sieht zwar das Problem einer im Marxismus gewollten und betriebenen Aufhebung der Philosophie sehr deutlich. Habermas will den Marxismus im Lichte der Erfahrung fortgeschrittener Geschichte erneuern. Wie kann er das eigentlich? Nur durch eine in ihren Konsequenzen nicht übersehbare Kritik an Marx selbst und durch eine wesentliche Preisgabe eines wesentlichen Moments der marxistischen Theorie, die in der These ihren Niederschlag findet, daß die Verwirklichung des Marxismus prinzipiell noch nicht begonnen habe. Habermas ist gezwungen, den Sinn und den Charakter marxistischer Theorie, indem er über alle ihre bisherigen Gestalten hinausgeht, neu zu formulieren. Wie bestimmt Habermas die durch den Marxismus der Theorie gestellte Aufgabe? »Es ist das Problem einer empirisch gesicherten Geschichtsphilosophie und zugleich Theorie der Gesellschaft in Gestalt einer >letzten< Philosophie überhaupt.«[2]
Was Habermas also als spezifischen Charakter marxistischer Theorie ausmacht, ist ihre Absicht, Geschichtsphilosophie sein zu wollen. Sie gehört dann als ein abschließendes Glied in die seit Vico ausgebildete Bewegung neuzeitlicher Geschichtsphilosophie hinein, von der sie sich allerdings gleichzeitig durch ihren Anspruch, empirisch gesichert zu sein, also auch den Kriterien modernen Sozialwissenschaften genügen zu können, unterscheidet. Die These, daß der Marxismus empirisch fundiert werden müsse, genauer formuliert, daß die Feststellung objektiver Bedingungen der Revolution einer empirischen Kontrolle unterliegen müsse, ist angesichts geschichtlicher Erfahrung mit dem Marxismus so überraschend, daß Habermas sie nur aufrechterhalten kann, indem er glaubt, Marx selber einen fundamentalen Irrtum nachweisen zu können. Marx täuschte sich - nach Habermas - wenn er meinte, dem Proletariat die revolutionäre Vollendung der Geschichte und ihrer Befreiung aus menschlicher Selbstentfremdung zutrauen zu können. Damit aber hat Marx sich in seiner Analyse grundsätzlich getäuscht, auch dann, wenn ihm konzediert würde, wenigstens die objektiven Bedingungen richtig erkannt zu haben. Denn daß es nur eine Frage der Erkenntnis von Struktur, Entwicklung und Zustand des gesellschaftlichen Gesamtprozesses sei, daß die in ihm ausgebildeten objektiven mit den ebenso in ihm ausgebildeten subjektiven Bedingungen zusammentreffen können, so daß praktische Aufhebung der Selbstentfremdung möglich wird, ist eine zentrale These des Marxismus. Ist der Anspruch von Marx, die Geschichte habe das Subjekt ihrer möglichen Aufhebung und Vollendung selbst erzeugt, nicht länger zu halten, weil die Geschichte selber ihn dementierte, dann sind die Schwierigkeiten für eine marxistische Theorie unlösbar geworden, es sei denn, sie vermöchte ein anderes Subjekt zu entdecken, das bereit und fähig wäre, an die Stelle des als Subjekt der Revolution ausgefallenen Proletariats zu treten.
Bei Habermas heißt es: »Die marxistische These, daß die existente Unwahrheit der antagonistischen Gesellschaft, mit einem Wort: Entfremdung, praktisch aufzuheben sei und aufgehoben werden könne, unterliegt demnach einer doppelten Kontrolle. Die These ist richtig, wenn sich die objektiven Bedingungen der Möglichkeit solcher Aufhebung historisch-soziologisch nachweisen lassen; die These ist wahr, wenn zu diesen objektiven Bedingungen die subjektiven hinzutreten, und nach kritischer Vorbereitung die Aufhebung praktisch durchgeführt wird. Über die objektive Unmöglichkeit der Revolution entscheidet allein Wissenschaft, nicht aber schon deren Ausbleiben oder gar ihre falsche Verwirklichung.«[3]
In diesem Zitat tritt deutlich die Konsequenz hervor, vor die sich eine, den Marxismus an sich richtig als Revolutionslehre interpretierende, aber ihn um die Lehre vom Proletariat als dem Subjekt revolutionären Handelns amputierende, also revisionistische marxistische Theorie in der Gegenwart gestellt sieht. Der die geschichtlich fällig gewordene Aufhebung der Philosophie vollziehende Sozialwissenschaftler analysiert die gegenwärtige Gesellschaft auf den Grad der Reife hin, den die objektiven Bedingungen ihrer revolutionären Umwälzung erreicht haben und sucht dann das Subjekt, das nun nicht nur willens, sondern auf Grund seiner Stellung im gesellschaftlichen Prozeß fähig ist, sie ins Werk zu setzen. Sollte dieses Subjekt wenigstens in den ökonomisch fortgeschrittenen westlichen Industriegesellschaften nicht mehr auszumachen sein, dann stellt sich das Problem, es in der Vermittlung von Theorie, also durch Aufklärung erst zu erzeugen. Diese Verwandlung der Struktur und Aufgabe marxistischer Theorie in einer nichtrevolutionierten Welt bedeutet aber bestenfalls die Wiederherstellung der Position der Linkshegelianer, aber nicht die von Marx. Das von Habermas angemerkte Ausweichen Adornos in Ästhetik und negative Dialektik ist, gemessen an Marxens Theorie der Revolution, zwar inkonsequent, zumal wenn die politische Ökonomie so sorgfältig ausgespart wird. Adornos Rousseauismus entspricht mehr einer Lage, in welcher revolutionäre Praxis subjektlos wurde. Es ist daher nicht erstaunlich, daß Habermas durch diesen Befund und seine Forderung, empirische Sozialwissenschaft wie geistesgeschichtliche Hermeneutik in die Theorie des Marxismus als einer letzten Philosophie überhaupt zu integrieren, gezwungen ist, sich in die Formalismen und Subtilitäten eines wissenschaftsmethodologischen Streites mit den Positivisten zu verstricken, da diese ja die Möglichkeit entschieden bestreiten, objektive Bedingungen für eine revolutionäre Totalumwälzung der Gesellschaft empirisch wissenschaftlich feststellen zu können.
Auch die Integration hermeneutischer Methoden in den Begründungszusammenhang moderner Sozialwissenschaften kann, wenn überhaupt, zu einer Veränderung in der Interpretation des hier maßgebenden Wissenschaftsbegriffes führen, aber sie kann nicht den objektiven Charakter der Bedingungen garantieren, die mit dem Ziel revolutionär verändernden Handelns gesucht werden. Wenn Marx noch meinen konnte, man brauche den versteinerten Verhältnissen nur ihre eigene Melodie vorzuspielen, damit sie zu tanzen begännen, so dürfte die heutige Wissenschaft wohl für die Übernahme eines Soloparts in diesem Konzert nicht zu gewinnen sein.