Das unbefriedigende Resultat der Diskussion zwischen Landgrebe und Habermas um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer philosophischen Marxismusinterpretation veranlaßt uns, auf den Marxschen Ausgangspunkt zurückzugehen. Wie auch andere Interpretationsversuche zeigen, ist der Marxsche Begriff einer Verwirklichung von Philosophie durch ihre Aufhebung ja keineswegs so eindeutig, wie häufig unterstellt wird. Marx nimmt Philosophie als Konsequenz seiner Anerkennung Feuerbachs als eine Art verkappter und hinterlistiger Theologie und nicht so, wie sie sich selbst verstanden hat. Philosophie ist für Marx Reflex und Ausdruck in ihr unbegriffener realer, im Widerspruch der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in der Gesellschaft begründeter Entfremdung. Sie begreife richtig, aber einseitig die Positivität von Entfremdung; sie unterschlage, kraft der ihr als Philosophie fehlenden Einsicht in die wahre Genesis ihrer selbst und ihres Gegenstandes, die in Entfremdung enthaltene Negativität.
In den Worten von Marx:
»Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie. Er faßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige. Was also überhaupt das Wesen der Philosophie bildet, die Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr Wesen, er kann daher der vorhergehenden Philosophie gegenüber ihre einzelnen Momente zusammenfassen und seine Philosophie als die Philosophie darstellen.«[4]
Entscheidend ist Marxens Feststellung: Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie. Das heißt doch nichts anderes: über Werden, Sein und Vergehen der Philosophie entscheidet die Entwicklung der Nationalökonomie. Welches aber ist der Standpunkt der modernen Nationalökonomie? Es ist der Standpunkt der Produktivität. Der gesellschaftliche Reichtum besteht in der Arbeit, also in der Produktion. Was aber leistet Hegel auf diesem Stanpdunkt als Philosoph? Die philosophische Leistung besteht für Marx darin, daß er die Starre des abstrakt-naturrechtlich gedachten Begriffs der Natur in die Dynamik des geschichtlichen Prozesses verflüssigt und Gesellschaft als entgegenständlichende Vergegenständlichung der menschlichen, sich in der Gesellschaft vermittelnden Gattungsnatur begriffen habe. Worin besteht die Schranke Hegelschen Denkens? Sie besteht nach der Auffassung von Marx darin, daß er die Entäußerung nur abstrakt, denkend, d.h. innerhalb der Entäußerung, aufgehoben und nicht gefordert habe, sie auch real praktisch aufzuheben. Der Mensch kehre in der Philosophie nur innerhalb der Entäußerung, der Entfremdung zu sich zurück, die Hegel nur abstrakt negiere, aber in der Wirklichkeit bestehen lasse. Was als ein Moment Hegelscher Philosophie in das Denken von Marx eingeht und durch welches er sich von Feuerbach unterscheidet, ist die Einsicht in die Positivität bisheriger Geschichte als Prozeß arbeitender Selbsterzeugung des Menschen. Nur der in der entäußernden Arbeit, durch die Selbstobjektivierung der menschlichen Gattungsnatur erzeugte Reichtum, nur die vergegenständlichte, als verdinglichte unterworfene Natur kann angeeignet werden. Konkret bedeutet die Anerkennung der Positivität von Entfremdung, daß die kapitalistisch bürgerliche Gesellschaft als Produkt und Träger weltgeschichtlich gewordener Emanzipation die positive und objektive Bedingung der Aufhebung von Entfremdung darstellt. Der gesellschaftlich-ökonomische Reichtum muß erst kapitalistisch ausgebildet sein, wenn der revolutionäre Akt einen bestimmten und zwar ökonomisch definierbaren Inhalt als Akt einer Selbstverwirklichung durch Aneignung haben soll. Gerade in der Gegenwart scheint es nicht überflüssig zu sein, an das elementare ABC des Marxismus zu erinnern. Wo nichts ist, kann auch nichts revolutionär angeeignet werden. Daran sollten sich diejenigen erinnern, die eine Verwirklichung des wahren Marxismus durch die Revolution in den sogenannten unterentwickelten Ländern der Erde erhoffen.
Aber der voll entwickelte Kapitalismus ist nur eine, die objektive Bedingung, während die subjektive - wenn man einmal undialektisch so voneinander trennen darf - das von dem Genuß dieses Reichtums ausgeschlossene, die Majorität der Individuen einer Gesellschaft bildende Proletariat ist. Was aber ist das Proletariat? Der Erzeuger, der Produzent dieses Reichtums selber, in einer Verfassung totaler, materieller, sittlicher und geistiger Verelendung. Äußerste Verelendung der meisten angesichts eines materiellen gesellschaftlichen Reichtums, der alle befriedigen könnte! So ökonomisch der Begriff von Entfremdung in seinem Kern bei Marx gefaßt wird, so primär ökonomisch die Armut des Proletariats gemeint ist, so evident ist der Marxsche Begriff des revolutionären Aktes der Aufhebung aller Geschichte als Vorgeschichte, und die Theorie der Aufhebung aller die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung übersteigenden Formen des Bewußtseins wird als Ideologie durch die politische Ökonomie bedingt.
Zunächst zum ersten: Marx knüpft in der Tat an den revolutionären Akt der Aneignung vergegenständlichter, entfremdeter Arbeit durch das produzierende Subjekt, das Proletariat, das Versprechen einer Vollendung der Geschichte der Emanzipation. Das heißt marxistisch, Aufhebung aller bisherigen Geschichte, die zur bloßen Vorgeschichte, zur Genesis des wirklichen Subjekts einer wahrhaften Geschichte menschlicher Freiheit und Selbst Verwirklichung herabsinkt.
»Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen, darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus als vollendeter Humanismus=Naturalismus; er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur, und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.«[5]
Der Marxismus muß also, wenn er sich nicht selbst aufgeben will, den Anspruch aufrechterhalten, daß er über die Theorie einer Praxis verfüge, durch welche die Geschichte unter die kontrollierte Herrschaft des Subjekts gebracht werden kann, das die Geschichte, bisher nur bewußtlos und faktisch als ihr Opfer und Objekt erlitten hat. Der Gedanke, die katastrophale Geschichte, das Grauen, wie Adorno sie kurz und umstandslos kennzeichnet, erlittener Entfremdung in die Geschichte einer menschlichen Erfüllung und Befreiung wandeln zu können, ist unter den Bedingungen marxistischer Theorie nur dann sinnvoll, wenn auch alle bisherige Geschichte als das Produkt vergegenständlichter und entfremdeter Arbeit, als bewußtloser Prozeß unaufgehobener Natur und der in ihr begründeten Herrschaft gedacht werden kann.
An diesem Begriff einer Geschichte entfremdeter Arbeit gemessen, müssen alle bisherigen Auslegungen und nicht durch gesellschaftliche Produktion und Reproduktion bedingten Weisen menschlichen Daseins zu Formen falschen, ideologischen Bewußtseins werden. Die ihnen gegenwärtig mit Eifer zugesprochene Wahrheit in der Gestalt ihrer manifesten Unwahrheit besteht aber in nichts anderem als darin, daß sie zwar Entfremdung ausdrücken, aber ohne diese erkennen oder gar beseitigen zu können. Religion, Sittlichkeit, Recht, Staat und Philosophie verfallen der Kritik, insoweit sie den Charakter der Geschichte, Geschichte von ihrem wahren, weil wirklichen Subjekt entfremdeter Arbeit gewesen zu sein, verhüllen und damit die Herrschaftsformen der Unterdrückung im Dienste ihrer Erhaltung fixiert haben. Die für die Geschichte des Marxismus wichtigste Konsequenz der Marxschen Lehre des ideologischen Charakters jedes nicht durch die materielle Produktion gedeckten Bewußtseins ist die Forderung nach Destruktion des Staates, nach Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Verwaltung von Sachen. Wir werden die Bedeutung dieses Postulates noch eingehend bei der Interpretation der Marxismuskritik zu berücksichtigen haben. Darstellung und Kritik der Marxismuskritik werden also folgende Elemente marxistischer Theorie als den ihr immanenten Maßstab zugrunde legen müssen, um eine Position in Zustimmung und Abweichung, in Affirmation und Negation als marxistisch ausmachen zu können.
- Alle bisherige Geschichte ist Geschichte menschlicher Selbstentfremdung. Die Kategorie der Entfremdung hat - in ihrem bei Marx vorausgesetzten Sinn - ihren Ort in der modernen, neuzeitlichen Naturrechtstheorie und nicht, wie uns die theologischen Apologeten glauben zu machen versuchen, in der biblischen Theologie. Marx knüpft unmittelbar an die Nationalökonomie und die in ihr vorausgesetzte Tradition neuzeitlichen Naturrechtsdenkens an. Im Unterschied zur Tradition klassischer politischer Philosophie aber verfährt modernes Naturrechtsdenken nicht geschichtlich hermeneutisch, sondern ungeschichtlich abstrakt. Es ist durch eine Methode bestimmt, die sich am Methodenideal exakter Naturwissenschaft orientiert. So wie der neuzeitliche Naturwissenschaftler die konkrete Natur zerstört, in ihre Elemente auflöst und sie wieder zusammensetzt nach dem Gesetz der Methode und nicht nach dem Zusammenhang erscheinender Natur, so verfährt auch die moderne Naturrechtstheorie. Der ihr zugrundeliegende Begriff des Menschen wurde gewonnen auf dem Wege der Abstraktion. Es handelt sich in ihr also um eine hypothetische Konstruktion einer ungeschichtlich gedachten Natur des Menschen. Ihr Ziel besteht darin, den Menschen in eine Verfassung der Übereinstimmung mit diesem hypothetisch nach dem Gesetz der Methode erzeugten Begriff zu bringen. Im Zusammenhang der den Staat begründen wollenden Vertragstheorie entspringt die Kategorie der Entfremdung in ihrem auch noch für Marx und den Marxismus maßgeblichen, aber im Verhältnis zu ihrem ursprünglichen, bei Augustin entwickelten theologischen Ursprung, abgeleiteten Sinn. Indem der Staat als aus einem Vertrag hervorgehend gedacht wird, entäußert der Mensch sich seiner Natur, partiell bei Hobbes oder total bei Rousseau. Die Geschichte wird also verstanden als Resultat einer Entfremdung, einer Emanzipation von der Natur. Sie kann also im Zustand ihrer Vollendung nur als eine im Akt der Aneignung des Entäußerten, durch das sich in ihr entäußert habende Subjekt, verschwindende und sich aufhebende gedacht werden. Geschichte ist aber im Unterschied zur abstrakten ungeschichtlichen Theorie neuzeitlichen Naturrechtsdenkens nicht nur Geschichte eines Verlustes des Menschen, sondern gleichzeitig Geschichte der Erzeugung der Bedingungen seiner Selbstverwirklichung. Die eminent positive Einschätzung des Kapitalismus durch Marx hat in der im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit Hegel angeeigneten Dialektik ihren bestimmenden Grund. Geschichte der Entfremdung ist also Geschichte, in welcher der Mensch noch nicht für sich geworden ist, was er an sich durch sie wurde: Produzent seiner selbst und seiner Welt.
- Die Bedingungen revolutionärer Aneignung der zu einer konsolidierten Gewalt über den produzierenden Menschen gewordenen Dinge sind für Marx in seiner geschichtlichen Gegenwart in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft darum gegeben, weil die Geschichte der Entfremdung in ihrer äußersten Entfaltung in der Gestalt des Proletariats das Subjekt ihrer eigenen Aufhebung und damit ihres eigenen Endes selbst hervorgebracht hat. In der Existenz des Proletariats hat die Entfremdung alle ihre Hüllen abgeworfen und ihr Subjekt ist im Zustand äußerster Verdinglichung und nackter Faktizität als selber verdinglichtes Objekt offenbar geworden. Kommunismus ist aber nicht das Endziel der Geschichte, sondern das Ziel ihres nächsten Schrittes, der politisch ökonomischen Revolution.
- Was auch immer Marx unter dem Begriff der Revolution gedacht haben mag, Revolution nach ihrem genuin marxistischen Begriff hat zu ihrem Subjekt das revolutionär seine ökonomisch bedingte Entfremdung aufhebende Proletariat. Nur der durch den Kapitalismus total entfremdete Mensch kann sich in ihm praktisch ebenso total befreien.
- Der aus der Revolution resultierende Zustand und die Verfassung zukünftiger Geschichte sind nicht zufällig nur negativ bestimmbar und positiv charakterisiert durch die Rolle der Arbeit in der das Privateigentum und die Klassenstruktur überwindenden Gesellschaft. Dieser Zustand ist negativ bestimmt, weil das alle Entfremdung in der Realität und im Bewußtsein fixierende System in der Aufhebung der kapitalistisch organisierten Gesellschaft verschwindet: also das Privateigentum an den Produktionsmitteln, der Staat als Mittel der Herrschaft einer Klasse über die anderen, die repressive bürgerliche Moral, die Familie, die Religion als eine Form nun überflüssigen, illusionär kraftlosen Protestes, die Philosophie als eine gegenüber der Praxis unabhängige und verselbständigte Form von Theorie.
Weniger eindeutig sind die Aussagen über Gestalt und Notwendigkeit der Arbeit in der kommunistischen Zukunftsgesellschaft. Wird sie ihren Charakter verändern oder wird sie total verschwinden?
1.These: Arbeit wird kein Mittel mehr zur Erzeugung des menschlichen Lebens, sondern die Arbeit wird dem Menschen selbst erstes und ursprünglichstes Lebensbedürfnis sein. Der Zwangs- und Entfremdungscharakter der Arbeit wird aufgehoben. In der Zukunftsgesellschaft wird die Arbeitsteilung verschwinden. Der Mensch wird sich als ein totales Wesen in der Gesellschaft verwirklichen. Er wird sich in der Welt der Sinne zu ihnen verhalten wie ein Theoretiker. Er wird sich zum Produkt seiner Arbeit nicht wie zu einem Mittel verhalten, sondern um willen der dem Produkt inhärierenden Qualitäten. Der romantisch-ästhetische Charakter dieser Konzeption von Arbeit in der technisch industriellen Gesellschaft der Zukunft ist offenkundig.
2.These: Der späte Marx neigte immer mehr dazu, das Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit, also jenseits des Bereichs gesellschaftlich notwendiger Arbeit und nicht durch ihre qualitative Veränderung zu errichten. Daß diese Abwandlung der technologischen Struktur moderner Industriegesellschaften mehr Rechnung trägt, ist evident. Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß die Befreiung vom Druck auferlegter Arbeit zu dem unverzichtbaren Versprechen marxistischer Hoffnung gehört. Doch es liegt ein gewisser Widerspruch zur marxistischen Grundannahme anthropologischer Art insofern vor, als ja das Wesen des Menschen in der Arbeit gesehen wird und somit die Abschaffung der Arbeit einer denkbar radikalen Form von Entfremdung gleichkäme. Aber worauf es uns hier ankommt, ist dies: alle Bestimmungen marxistischer Zukunftsgesellschaft sind negativ. Sie machen das Problem einer positiv inhaltlichen Bestimmung marxistischer Zukunft ebenso dringlich wie unlösbar.
Wenn Habermas erklärt: »Die durchgeführte Dialektik ist die aufgehobene; dann nämlich, wenn alles von Menschenhand Geschaffene auch in die Verfügung der Menschen eingeht, kann erst das wahrhaft Unverfügbare freigesetzt und einer falschen Verwaltung entzogen werden«,[6] so provoziert das die Frage, worin denn das Unverfügbare sein Wesen haben soll. Die für den gegenwärtigen Kommunismus entscheidende Frage, die sich in dem ideologischen Streit um die marxistische Zukunft verbirgt, läßt sich in die Vermutung kleiden, daß die proklamierte Hebung des Lebensstandards und die Entwicklung einer Gesellschaft materiellen Überflusses in der Tat das einzige Ziel ist, das hier konkret gemeint und intendiert werden kann. Auch die weltpolitische Konstellation der Gegenwart und die Erscheinungsformen kommunistischer Praxis geben Anlaß zu dem Verdacht, daß Kommunismus unter den Bedingungen seiner praktischen Verwirklichung nichts anderes ist als ein konsequenterer, seiner Fesseln und Schranken entledigter Kapitalismus. Der weltpolitische Gegensatz ließe sich als der Kampf um die Durchsetzung zweier Organisationsprinzipien derselben, in sich homogenen, emanzipativen Gesellschaft begreifen. Wir müssen diese Möglichkeit ernsthaft unterstellen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß die als stur und orthodox verschrieenen Techniker kommunistischer Herrschaft den einzig möglichen Marxismus vertreten gegenüber dem von den revisionistischen Theoretikern nur immer wieder postulierten.
Das Argument, daß der sowjetische Kommunismus allen anderen Formen der Verwirklichung des Marxismus dadurch überlegen sei, daß es ihn wirklich gibt, ist dann nicht nur als zynisch zu bewerten, sondern spricht eine schlichte Wahrheit aus, wenn die beschleunigte Entwicklung einer Überflußgesellschaft das Ziel ist, das die hungernden Völker und Rassen der Welt einzig zu faszinieren vermag. Denn was könnte oder sollte das Reich jenseits der Notwendigkeit, nachdem der Mensch den Stoffwechsel mit der Natur unter seine technische und rationale Kontrolle gebracht hat, eigentlich positiv beinhalten, wenn Aufhebung der Entfremdung mit der Vollendung der Emanzipation zusammenfallen soll? Ist alle bisherige Geschichte Geschichte unüberwundener Natur, dann ist in allen Weisen des menschlichen Lebens, wie Sittlichkeit, Familie, Kunst, Religion und Philosophie der Zusammenhang gesellschaftlich sich vermittelnder Selbstproduktion nur verdeckt und verzerrt worden. Sie sind dann ideologische Formen, Formen falschen Bewußtseins, von denen der Mensch in der kommunistischen Zukunftsgesellschaft befreit wird.
Entweder ist Religion und Kunst Derivation und Verdeckung der Entfremdung, dann bedeutet Aufhebung der Entfremdung ihr geschichtliches Ende, oder sie sind nur entfremdete Formen eines Inhalts, der in der Zukunft rein und unverstellt verwirklicht werden soll. In der Auseinandersetzung mit der Marxismuskritik kommt der Entscheidung dieser Frage eine wesentliche Bedeutung zu. Man wird sagen können, daß Marx auch hier nicht immer eindeutig gewesen ist, und der Streit um das Verhältnis des jungen zum späten Marx lebt von dieser Zweideutigkeit. Gefragt werden aber muß, ob die marxistische Theorie des Proletariats als des geschichtlich hervorgetretenen wahren Menschen nicht den unabweisbaren Schluß nahelegt, daß mit den ideologischen Formen auch der in ihm sich verzerrt ausdrückende Inhalt selber verschwinden wird.
»Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst vom Schein der Menschlichkeit im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben.«[7]
Habermas stellt an diese Theorie von Marx die Frage:
»Die Vollendung des Selbstbewußtseins der Menschheit in den Köpfen der erniedrigtsten, ausgehungertsten und dumpfesten Individuen ist fragwürdig: läßt sich die Vernunft in Parolen umsetzen und durch Parolen verwirklichen? Sollte sich nicht das Selbstbewußtsein der Gattung als eine Reaktion gegen die Unwahrheit des Reichtums innerhalb einer ohnehin auf hohes Bewußtsein gespannten Gesellschaft eher herstellen, denn als eine Reaktion gegen die Unwahrheit eines Elends innerhalb einer Klasse, deren körperliche Ausbeutung alle Anstrengungen des Bewußtseins von vorneherein zu einer gesellschaftlich zufälligen macht?«[8]
Die Frage ist zwar vernünftig, aber die Abweichung von Marx, die sie empfiehlt, hebt das Zentrum der Marxschen Theorie auf. Denn nicht nur weil das Proletariat ausgehungert und aller Mittel beraubt ist, ist es zum Vollzug der Revolution prädestiniert, sondern weil sich die wirklichkeitslose Wahrheit des Menschseins in ihm sozusagen inkarniert hat, ist es zur Revolution berufen. Der Proletarier ist für Marx der wahre Mensch, weil er alle Illusionen über die Wirklichkeit verloren und die bisherige Weltordnung in seiner Existenz sich praktisch aufgelöst hat. Die Beraubung von allem Genuß des von ihm produzierten Reichtums ist selber die gesellschaftlich-praktisch erzeugte Bedingung für die Einsicht in die Notwendigkeit der Revolution. Marx war von dem Wahn der ihm nachfolgenden Intellektuellen, Berufsrevolutionäre und Berufskritiker frei, die glauben, auch nur die Einsicht in die Notwendigkeit fundamentaler gesellschaftlicher Veränderung durch Vermittlung von Theorie erzeugen zu können. Marx hat nicht gefordert, daß die Aufklärung praktisch werden müsse, sondern er geht davon aus, daß sie es in dem Faktum der bloßen Existenz des Proletariats schon geworden sei. Der Nachweis der Nichtigkeit von Religion, Philosophie, Sittlichkeit, politischer Gleichheit, also der sich der emanzipierenden Gewalt der Gesellschaft entgegensetzenden Tradition, ist in der Existenz des Proletariats praktisch durch die Gesellschaft erbracht worden. Marx ist in einem partiellen Sinn Hermeneut eines Resultats geschichtlicher Bewegung, das in der vorliegenden Form von keinem Subjekt, sei es einem individuellen oder kollektiven, zurechenbar gewollt wurde. Marx sagt, was ist, und offenbart ein Stück negativer Dialektik des Geschichtsprozesses.Die List der Vernunft arbeitet, so schien es, nicht mehr im Dienste des Hegelschen Gottes, sondern eher seines Gegenparts. Das hat mit Säkularisation christlicher Eschatologie oder gar mit einem nur metaphysisch begreifbaren Aufstand gegen das Sein, oder mit einem die Geschichte utopisch unter das Gesetz eines Totalentwurfs zwingenden Denken gar nichts zu tun.
Es ist ein Indiz von großer heuristischer Bedeutung, daß sich der Marxismus immer mit der Wiederkehr der von Marx am Proletariat entwickelten Struktur geschichtlich wieder hergestellt und durchgesetzt hat. Wenn das zutrifft, dann kann er, von den durch die Geschichte produzierten Bedingungen seiner Reaktualisierung legitimiert, weder ideologisch noch militärisch mit Erfolg bekämpft werden. Kritikfähig- und auch bedürftig ist vielmehr die sich dann nur noch so nennende marxistische Theorie, die ihn, in der Ablösung von der den Marxismus geschichtlich rational motivierenden Bedingung, zu formulieren versucht, sowie die sich dann nur noch so nennenden Formen seiner praktischen Verwirklichung, die zur Bedingung der Aufhebung ökonomischer Entfremdung die terroristische Praxis erheben, durch die erst die von Marx als von der Geschichte geleistet unterstellte Befreiung von allen Gestalten falschen Bewußtseins hergestellt werden soll.
Es muß mit einer gewissen Hartnäckigkeit der Marxsche Entwurf einer revolutionären Praxis mit dem Ziel, die Emanzipation zu vollenden, nachgezeichnet werden, um sich seiner inneren Kohärenz und rationalen Motivation zu vergewissern und um die Konstellation der Probleme umreißen zu können, mit denen sowohl implizite als explizite Marxismuskritik konfrontiert ist. Durch diese Kritik ist kein wesentliches Moment des Marxschen Entwurfes unverändert geblieben, weder die Gleichsetzung von Geschichte mit Geschichte der Emanzipation, noch der abstrakte Naturbegriff, der Natur auf die Bedingungen vergegenständlichender Praxis beschränkt, noch die Kategorie der Entfremdung in ihrem für Marx essentiell ökonomischen Gehalt, noch die Theorie des Proletariats, noch die Theorie der Revolution und am wenigsten die Theorie kommunistischer Zukunftsgesellschaft und die in ihr eingeschlossene Theorie vom Absterben des Staates und dem Vergehen des Prinzips politischer Herrschaft. Es entbehrt vielmehr nicht einer gewissen Ironie, daß alle diese, die Struktur des Marxismus fundamental verändernden Eingriffe durch den Eindruck provoziert wurden, den man vom Marxismus in der Gestalt seiner versuchten praktischen Verwirklichung empfing. Doch nicht nur die Revision, ja Transformation der marxistischen Theorie ist durch den Versuch seiner praktischen Verwirklichung erzwungen worden, sondern es hat sich das nichtmarxistische Denken durch seine Voraussetzungen in einer Epoche entscheidend bestimmen lassen, in der eben diese Voraussetzungen durch die Geschichte fragwürdig wurden. Es ist also in unserer Kritik der Kritik ebenso die implizite Marxismuskritik einzubeziehen und daraufhin zu befragen, von welchem Begriff von Marxismus sie sich leiten ließ und wieweit sie imstande war, der durch den Marxismus artikulierten und produzierten geschichtlichen Erfahrung gerecht zu werden.
Von grundlegender Bedeutung für Richtung und Problemstellung aller impliziten und expliziten Marxismuskritik wurde aber die Konstellation der Bedingungen, unter denen im Zeitalter nach Marx der Kommunismus gezwungen wurde, revolutionäre Praxis zu verwirklichen. Die bolschewistische Revolution ereignete sich in einem Lande, das den Kapitalismus und damit die emanzipativ bürgerliche Gesellschaft noch nicht in dem Maße entwickelt hatte, wie das die marxistische Theorie für das Gelingen der Revolution voraussetzte. Paradoxerweise konnte es sich nicht um die Aktion der revolutionären Selbstbefreiung des Proletariats handeln, sondern erst um seine Erzeugung. Die Revolution konnte unter diesen Voraussetzungen daher auch nicht die kollektive Handlung desselben sein, sondern mußte sich als Aufgabe für eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Berufsrevolutionären stellen. Nicht um die Freisetzung der bereits in der Gesellschaft entwickelten Bedingungen revolutionärer Befreiung konnte es sich handeln, sondern erst um ihre Erzeugung. Wenn sich das Problem einer kommunistischen Veränderung in einem sogenannten unterentwickelten Lande stellt, wiederholt sich in abgewandelter Form die Grundkonstellation der Revolution in Rußland, daß nämlich eben die Bedingungen, die eine Revolution zu fordern scheinen, ihre Verwirklichung im genuinen Sinn des ursprünglichen Gedankens von Marx auch gleichzeitig ausschließen und unmöglich machen.
Daß der Kommunismus in einem industriell vollentwickelten Lande nie eine ernsthafte Chance hatte, ja selbst unter Verhältnissen der Zerstörung eines bereits erreichten Fortschritts der Faschismus eher zum Zuge kam als der Kommunismus, ist das, was zwar im marxistischen Revisionismus als ein beunruhigendes, der Aufklärung bedürftiges Rätsel empfunden wurde, was aber, von Marx selber aus gesehen, nichts Mysteriöses in sich birgt. Erklärungsbedürftig ist vielmehr die Frage, wie unter den so grundlegend von den von Marx angenommenen, abweichenden Bedingungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts das Suchen nach dem ursprünglichen und wahren Sinn des Marxismus solange aktuell bleiben konnte, ja in unseren Tagen es erst geworden ist. Um die Frage beantworten zu können, ist es notwendig, von der größten theoretischen Leistung des marxistischen Gedankens nach Marx, von Lukács' >Geschichte und Klassenbewusstsein<[9] auszugehen.