1943 - die Atlantikküste, Russen und eine Einquartierung

Was tat sich an unserer normannischen Atlantikküste? Wir fuhren im Sommer 1943 dorthin. Plötzlich hatte uns die Sehnsucht nach dem Meer gepackt. Wir wollten wie früher nach Vierville fahren, bevor man es uns endgültig verbot. Wir besaßen, als Bewohner einer Gemeinde, die sich zur Hälfte in den Sperrbezirk erstreckte, Ausweise, die uns zur Einreise in die Küstensperrzone des Departements Calvados berechtigten. »Erlaß der Feldkommandantur 723 vom 23. Oktober 1941 und vom 22. Mai 1942 TGB Nr. 547741« stand darauf. Wir hatten uns schlecht daran gewöhnt, mit Zahlen, Vorschriften, Bescheinigungen, Verwarnungen und Bittschriften zu leben. Vor allem schien sich dieses ungemütliche Netz nach und nach zu verdichten.
Wir fuhren los, voller Freude. Die abwechslungsreiche, hügelige Landschaft war uns vertraut. Wir überquerten zunächst die Tortonne, ein mitten ins Grüne gebettetes Flüßchen, halb versteckt in der üppigen Vegetation seiner Ufer. Dort hatten früher unsere Eltern gelegentlich Forellen geangelt. Das Wasser der normannischen Bäche war damals so rein, daß die Aale, vom Saragossameer kommend, regelmäßig durch die Gewässer aufwärts wanderten, um dort zu Weibchen zu reifen. Der Anblick dieser dichtgedrängten, schlangenförmigen, durchschimmernden Aalkörper, die einem zwingenden Instinkt folgend vorbeischwammen, ist mir unvergeßlich geblieben. Es schien mir unheimlich, daß diese Tiere, wie Papa es uns erzählte, nahezu 5000 Kilometer dem Golfstrom folgend zurückgelegt hatten, bevor sie die Normandie erreichten.
In der Ortschaft Trevieres treffen sich drei dieser klaren Flüsse daher der Name »Trois Rivieres«, weil »tre« im Normannischen »trois« heißt. Trevieres kannten wir gut: Dort war der Metzger ansässig, der unsere Kälber und Schweine schlachtete und die Kantine mit Fleisch belieferte. Das Städtchen Trevieres stand adrett in der Sonne. Die von hohen Hecken umsäumten Wiesen, die Bäche, die zwischen Büschen und Bäumen ihren Weg suchten, alle diese Merkmale unserer Landschaft konnten sich im Nu als natürliche Befestigung entpuppen. Oft genug war der normannische Boden Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen.
An der großen Kreuzung von Formigny regelten deutsche Feldgendarme den Verkehr, weil ein Militärkonvoi vorbeifuhr. Dieser Standort, vier Kilometer Luftlinie vom Meer entfernt, hatte eine besondere Bedeutung, weil sich dort in der Ebene zwei wichtige Straßen kreuzen, die Route Nationale CaenBayeux-Cherbourg und die von der Küste ins Landesinnere führende Straße (Vierville, Trevieres, Le Molay, Balleroy, Caumont).
Formigny war uns auf eine besondere Art sympathisch. Vor nicht zu langer Zeit hatte uns eine befreundete Familie geheimnisvolle, sehr dünne Silbermünzen geschenkt, die hier unter einem uralten Apfelbaum gefunden worden waren. In der Gegend von Formigny waren Kriegserinnerungen lebendig. Im Jahre 1450 hatte dort eine bedeutende Schlacht gegen die Engländer stattgefunden. Der Kampf war so mörderisch gewesen, die Erde davon so aufgewühlt, daß die Bauern noch gelegentlich Gegenstände aus dieser Zeit beim Pflügen entdeckten.
Die Schlacht von Formigny soll die Engländer dazu bewegt haben, ohne Friedensschluß die Normandie, ja den Kontinent zu verlassen. Wir waren stolz über den Sieg des Grafen de Richemont, Kronfeldherr von Frankreich, aber vielleicht waren die Engländer am Ende des sogenannten Hundertjährigen Krieges einfach aus Überdruß nach Hause gegangen. Wer sollte ihnen verdenken, nach 100 Jahren den Krieg endgültig satt gehabt zu haben? Seit dieser weisen Entscheidung waren fast fünfhundert Jahre vergangen...
In Vierville gab es eine unpassierbare Grenze. Die Strandstraße war mit dicken Stacheldrahtrollen verbaut. Überall Warnschilder. Von einer kleinen Erhöhung schauten wir zu unserem Strand hinunter. So wie man ein Fernrohr nachstellt, um eine klare Sicht zu bekommen, so versuchten wir, die vor uns liegende Landschaft mit unseren Erinnerungen in Einklang zu bringen. Ich fand, daß es gar nicht so viel zu sehen gab. Die wichtigtuerischen Erzählungen, die uns erreicht hatten, die Geheimniskrämerei, die das Gebiet umgab, hatten uns mehr erwarten lassen. Trotzdem sah der Strand ausgesprochen feindselig aus. Das Meer war gerade ziemlich hoch, so daß man nicht weit sehen konnte, aber Stangen sprossen überall, von den herankommenden Wellen umspült. Sie waren fest verankert und hielten stand.
»Da sind sie, die verflixten Rommelspargel!« sagte Papa, auf die Pfähle in der Brandung deutend. »Die Bauern unseres Milcheinzugsgebiets aus der Gegend von Cerisy sind wütend darüber. Täglich fällt man dort Bäume, um diese Strandhindernisse zu bauen! Ganze Waldstreifen werden zwischen Cerisy und Balleroy abgeholzt, dort, wo ihr früher immer so viel Pfifferlinge gefunden habt!«
»Muß denn alles kaputt gehen?« fragte Colette, die oft für uns drei sprach.
Michel versetzte dem Metallpfosten vor ihm einen Fußtritt. Ganze Reihen von ähnlichen in den Boden gerammten Winkeleisen versperrten den Strandzugang. In unserer Nähe gab es zusätzlich massenweise Rollen aus Stacheldraht. Das große Hotel in der Mitte der Promenade schien befestigt. Nebenan standen kleine Häuser, die wir nicht kannten — Tarnobjekte, wie wir später erfuhren. Die Villen rundherum waren unbewohnt und sahen heruntergekommen aus. Die Farbe blätterte überall ab. Fensterläden hingen herunter. Der Wind blies. Eine trostlose Gegend, die mit unseren Erinnerungen wenig gemeinsam hatte.
»Die Pointe de la Percee sieht man von hier aus nicht«, sagte Michel.
Häuser verbauten uns in der Tat die Sicht westwärts; trotzdem richteten sich unsere Blicke alle dorthin, wo der mächtige Felsenvorsprung im Meer stehen mußte, der den kilometerweiten Strand überragte. Die steile Klippe unterhalb dieses Felsens hatte bei uns Kindern für gemischte, zum Teil angstvolle Erinnerungen gesorgt, wenn wir dort schwarzglänzende, nach frischem Meer duftende Muscheln sammelten. Unterhalb der Pointe de la Percee kam die Flut mit einer unfaßbaren Geschwindigkeit, und man erzählte sich tragische Geschichten von ahnungslosen Menschen, die das Meer an dieser unerklimmbaren, steilen Klippe gefangengenommen hatte.
Obwohl uns dort bei Ebbe keine Gefahr drohte, bekamen wir abends Angst, wenn Papa und seine Freunde aus Abenteuerlust die Zeit zu vergessen schienen, während sie mit Haken und Fanggarn nach Hummern und Krebsen zwischen den Felsen suchten. Die anwesenden Mütter wurden nervös und begannen zum Aufbruch zu mahnen. Als sich die Väter endlich bereit erklärten, zu den Autos zurückzukehren, waren wir so erleichtert, daß wir den halben Kilometer am Fuß der Felsenwand entlang eilten. Die restliche Strecke bis zu unserem Wagen fiel uns wesentlich schwerer. Müdigkeit, Kälte und Hunger wurden uns bewußt; wir quengelten. Michel war damals noch nicht sechs Jahre alt.
Genau an diesem halbmondförmigen, neun Kilometer langen Strand werden am 6. Juni 1944 etwa tausend amerikanische Soldaten sterben müssen. Hoch oben, lange unverwundbar, wird die deutsche Artillerie alles zerfetzen, was sich unten bewegt. Die anderen Geschützstellungen, die das Gelände flankierend abdecken, werden die amerikanische Sturmtruppe ins Kreuzfeuer nehmen. Nach drei Stunden wird »unser« Strand mit einem schrecklichen Wirrwarr von Leibern, brennenden Fahrzeugen und zerschmetterten Booten bedeckt sein. Man wird sogar eine Meldung verfassen, keine Fahrzeuge mehr anzulanden, sondern lediglich Truppen, Menschenmaterial also. »Bloody OMAHA« werden die Beteiligten diesen Strand nennen!
Wir fuhren an diesem Sommerabend 1943 ziemlich schweigsam von Vierville nach Le Molay zurück. Vorahnungen hatten wir keine. Im Gegenteil. Wir waren überzeugt, daß die Landung irgendwo im Norden stattfinden würde, dort wo die Entfernung zwischen England und dem Kontinent geringer ist als bei uns. Niemandem wünschten wir, den Ansturm zu erleben. Uns aber am allerwenigsten!
Wir wußten jedoch, daß der Tag der Entscheidung, der Decision-Day (D-Day) sich näherte. Wir sagten »le jour J«, wenn wir bange von ihm sprachen. Wir begriffen immer mehr, daß er nötig und wünschenswert war, verschoben ihn trotzdem gedanklich auf den Nimmerleinstag, sollte er Gott bewahre! uns jemals persönlich betreffen. Wir waren nicht unbedingt Helden. Später wurde gelegentlich behauptet, daß sich die Normannen geradezu nach der Landung gesehnt hätten. Das ist natürlich nicht wahr. Die Normannen sind in der Lage, ohne Pathos, ohne Theater (das sie hassen), ruhig und effizient da zu sein, wo Not am Mann ist. Ihr Wirklichkeitssinn und ihre Verbundenheit zu ihrem Land sind jedoch stark ausgeprägt. Im übrigen, wer wünscht sich schon einen Krieg zu Hause? »Ich bin der größte Festungsbauer aller Zeiten«, prahlte unterdessen Hitler. »Ich habe den Atlantikwall gebaut.«
Ich? War er damals so sicher, oder tat er nur so? Manchmal muß man sich über alte Protokolle wundern. Die Könige sagten »wir«, wenn sie von sich sprachen; es klang besser, irgendwie höflicher als »ich«. »Nous, roi de France et de Navarre...« Jeder, der dem König nahestand, konnte sich in dem »wir« vermuten und eine Illusion von Selbstlob mit dieser Redensart erhaschen.
Allerdings hatte noch nie in der Geschichte ein Herrscher den Befehl erteilt, eine fast 5000 Kilometer lange Verteidigungslinie zu bauen. Dies war, wie Hitler betonte, in der Tat ein Novum. Nicht einmal die erlauchten Kaiser von China hatten mit ihrer Mauer eine so gewaltige Länge erreicht! Die als größtes Bauwerk der Erde geltende Chinesische Mauer war aber durchgehend, was man vom Atlantikwall nur bedingt behaupten konnte.
5000 Kilometer... eine Unendlichkeit. Neun lächerliche Kilometer davon waren »unsere«. Mit uns meine ich die Bewohner unserer glücklichen Gegend. Wir fühlten uns dabei keineswegs großartig, im Gegenteil. Wir dachten ganz simpel: Warum sollte gerade hier etwas passieren?
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich im Juli die Nachricht, daß Kosaken - manche sprachen von Mongolen - in Le Molay ansässig geworden waren. Sie hatten braune und eigenartig scheckige Pferde kleinen Wuchses mit sich gebracht. Schmale und niedrige Pferdewagen waren ebenfalls aus den Zügen entladen worden. Normannen interessieren sich seit eh und je für Pferde, weil sie selbst welche züchten. Wilde Gerüchte kursierten, wonach die ehemaligen russischen Kriegsgefangenen der Deutschen teuflisch schnell auf diesen Pferden reiten konnten. Wir Kinder dachten an Attila; schön gruselig das Ganze! Wir verließen das Gelände unserer Fabrik nicht mehr allein.
Die ganze Gegend war verunsichert. Bald lernten wir in Verbindung mit diesem Ausländerbataillon einen nie zuvor gehörten Namen: Bordell. In der Wirtschaft, dem Bahnhof von Le Molay gegenüber, hatte man angeblich einen Bordellbetrieb organisiert und dafür Frauen aus Caen und sogar Paris kommen lassen (»zum Schutz der Bevölkerung«). Die Russen sollten für Bau- und Transportaufgaben innerhalb des Küstensperrbezirks eingesetzt werden. Ob sie mit der deutschen Organisation Todt zu tun hatten, die unter anderem an der Küste die Befestigungen baute, wußten wir nicht.
Als uns durch die Gemeindeverwaltung mitgeteilt wurde, daß wir einen deutschen Offizier in unser Haus aufnehmen mußten, waren wir über diese Einquartierung nicht einmal unglücklich. Die Straße, die von unserer Fabrik zum Bahnhof führte, war einsam, ohne jegliche Bebauung: eine ruhige Straße, die auf halber Strecke unseren Bach überquerte. Ihre Ränder waren von Bäumen und Büschen aller Art prächtig überwuchert. Ein Kilometer nur trennte uns von den Russen.
Der deutsche Leutnant, den man uns schickte, wohnte nur eine knappe Woche in unserem Gästezimmer im ersten Stock. Seine Ordonnanz, ein Lothringer aus Metz, brachte ihm jeden Morgen das Frühstück nach oben und freute sich, anschließend mit uns französisch zu sprechen, während er die Offiziersstiefel putzte. Am ersten Tag war er vorsichtig. Bald sprach er unverblümt: »In Rußland ginge es schlecht. Irgendwann wäre Schluß und jeder würde nach Hause gehen können. In Metz wohne er in der Nähe des Auslieferungslagers unserer Firma. Ob Papa vielleicht...
Wir fingen an, uns über die »deutsche« Armee zu wundern: russische Gefangene, Lothringer. Es fiel uns wieder ein, daß man ein Jahr zuvor offiziell für die »Legion tricolore« geworben hatte. Mit wenig Erfolg. Ein einziger junger Mann unserer Ortschaft hatte sich freiwillig für die Ostfront in diesem Korps gemeldet, das man auch »Legion des volontaires frangais contre le Bolchevisme« nannte. Er hieß Pierre. Man munkelte, er sei betrunken gewesen; so verrückt erschien seine Entscheidung, freiwillig in den Krieg nach Rußland ziehen zu wollen. Pierre war ein guter Schüler gewesen. Er hatte gerade mit 19 Jahren seine Lehre als Kfz-Mechaniker bei uns abgeschlossen. Er trank nie. Aus Rußland schrieb er seinen Eltern einen Brief. Dann galt er als verschollen, in dem Riesenland am Ende der Welt umgekommen.
War Rußland wirklich so weit von Le Molay? Wir hatten es gedacht, und plötzlich waren die Russen bei uns, in der Normandiel Am Samstag erschien die Ordonnanz »unseres« Leutnants sehr in Eile und sagte nur: »Wir ziehen um.«
Der deutsche Offizier kam die Treppe herunter und bedankte sich höflich, während der Soldat aus Metz das Gepäck hinaustrug. Wir hatten keine Möglichkeit, die Gründe des plötzlichen Umzugs zu erfahren. Eigentlich war der Leutnant nett gewesen. Wir hatten ihn kaum gehört. Als er sich verabschiedete, schien er buchstäblich erleichtert, uns zu verlassen. Was hatte ihn veranlaßt, nur eine Woche zu bleiben? War es ihm kilometerweit von den anderen Deutschen entfernt zu einsam vorgekommen? Oder war ihm die Nähe der Eisenbahnlinie Paris-Cherbourg unheimlich?
Er blieb unser einziger Quartiergast. Die Gemeinde schickte uns keinen mehr.