Wie man lernt, mit der Angst zu leben

Die Luftangriffe auf die Militärzüge, die an unserer Fabrik vorbeifuhren, häuften sich. Wie hatten wir jemals diese unheilbringende Bahn interessant finden können? Dabei lag das Erlebnis mit den Logenplätzen auf dem Blechdach der Milchannahmestation gar nicht so lange zurück! Die Zeit schien keinen Bestand zu haben. Was gestern galt, konnte morgen blanker Unsinn sein.
Der erste Kampf über Le Molay zwischen englischen Flugzeugen und der Flak eines Militärzuges hatte uns unvorbereitet getroffen. Weil ein Zug plötzlich laut quietschte, während die Lokomotive schrill pfiff, rannten wir, Colette und ich, von unserem Schlafzimmer ins Badezimmer. Dort streckten wir unsere Köpfe nach draußen, um besser sehen zu können. Der Zug lag in seiner ganzen Länge sichtbar vor uns, weil die Lokomotive bei der steinernen Brücke stehen geblieben war. Lärmend brauste von rechts ein Flugzeug heran; es knallte und ratterte fürchterlich. Das Flugzeug drehte im Steilflug ab und verschwand, aber es ballerte weiter. Das zweite Flugzeug sauste im Tiefflug an uns vorbei.
Wir blieben fassungslos am Fenster stehen. Es war kein Leichtsinn, sondern pure Ahnungslosigkeit über das fesselnde Geschehen.
»Da seid ihr!« rief Mama. »Ich schreie wie verrückt, und ihr antwortet nicht, sondern steht ausgerechnet vor diesem Fenster! Das darf doch nicht wahr sein!«
Vor Erregung überschlug sich fast ihre Stimme, während sie nach uns griff und uns ins Zimmerinnere zurückzog.
»Oh, Kinder! Ihr seid nicht bei Trost. Gehen wir schnell in den Keller!«
Ihr Gesicht war von Angst gezeichnet. Plötzlich wurde uns bewußt, daß alles bitter ernst war. Wir liefen mit ihr die Treppe hinunter. Als ein pfeifender Ton ansetzte und sogleich bedrohlich anschwoll, hatten wir gerade die Halle mit der durchgehenden Fensterfront erreicht.
»Sie kommen wieder!« schrie Colette, die mich plötzlich festhielt.
Wir schauten uns an und duckten uns entsetzt. Die knallenden Geräusche der Maschinengewehre hörten sich anders an als zuvor. Daß sie Tod bedeuten konnten, hatten wir inzwischen begriffen. Als das Schießen aufhörte, liefen wir alle drei weiter. Im Keller trafen wir Michel.
»Schnell!« rief er. »In dieser Ecke ist es am besten. Es ist die einzige Stelle ohne Fenster.«
In der Hocke warteten wir bange Minuten auf das zweite Flugzeug. Es kam nicht. Colette kaute an ihren Nägeln. Auch später sollte sie von uns allen am meisten leiden; vielleicht weil sie in ihrer spontanen Art die Ohnmacht unserer Lage tiefer empfand als wir. Sie, die so gern rebellierte, fühlte sich, glaube ich, erbärmlich ausgeliefert.
Die Stille hielt an, und wir atmeten befreit auf. Es war ein Trugschluß: Der Angriff begann gerade von neuem. Colette gab einen klagenden Laut von sich, sagte dann aber nichts. Wir konnten uns genau vorstellen, was draußen geschah, und zogen erneut die Köpfe ein.
Der Keller, gut ausgebaut und fast wohnlich hell, besaß in jedem Zimmer viele Fenster, die gut einen halben Meter hoch waren. Der Platz, den Michel, von Mama hinuntergeschickt, allein ausfindig gemacht hatte, war zweifelsohne der beste. Dort, unter dem schweren Betonpodest des Eingangs, waren wir zumindest von oben geschützt. In den folgenden Tagen ließ Papa diesen winzigen Raum mit Holzsäulen verstärken, um die Betonplatte zu stützen. Eine lange Seite des kleinen Raums blieb jedoch völlig offen.
Unser Vater kam, als der Angriff endgültig aufgehört hatte. Er umarmte uns erleichtert und lobte unser Verhalten.
»Wo bist du gewesen!« fragte Mama.
»In einem Emmentaler-Keller mit allen Leuten, die ich zusammenrufen konnte... Wir werden alle etwas Besseres brauchen, weiter von der Eisenbahnlinie entfernt: einen gedeckten Zickzack-Schutzgraben in der Erde, wie an der Front ...«
Niemand antwortete und Papa fragte:
»Habt ihr Angst gehabt, Kinder?«
»Du nicht?« sagte Colette trotzig. Unser Vater, der die wesentlichen Dinge zu unserem Schutz in weiser Voraussicht plante und rechtzeitig verwirklichen lassen sollte, war nie bei uns, wenn etwas geschah. Daran würden wir uns später gewöhnen müssen. Diese Tatsache verfolgte uns. Wenn wir ihn gern in unserer Nähe gehabt hätten, war er prompt unabkömmlich, irgendwo in seiner Verantwortung für andere festgenagelt.
Nun ging er mit uns nach oben, und wir schauten abwechselnd durch das Fenster unseres Badezimmers. Der Zug war weggefahren. Der Kampf schien in dieser Entfernung — keine Spur hinterlassen zu haben. Wir waren maßlos erstaunt. Wozu hatten wir uns vorhin so aufgeregt?
Einige Wochen später wurde uns deutlicher gezeigt, daß wir als Zuschauer ausgespielt hatten. Zwangsweise waren wir Partei in einer Auseinandersetzung geworden, die über unseren Köpfen entschieden wurde. Als wir nach einem besonders lauten Kelleraufenthalt unser Schlafzimmer betraten, war alles dünn mit weißem Staub bedeckt. Im Bad lagen Gips- und Ziegelbrocken am Boden auch Glasscherben. Geschosse waren durch das Mauerwerk und das Fenster eingedrungen. Eins davon hatte den Spiegel über dem Waschbecken zerschlagen: Das entsetzte uns am meisten. Unser Spiegelbild sah jetzt durchlöchert und gesprenkelt aus. Stücke fehlten darin wie in einem unfertigen Puzzle.
Die Vorstellung, daß wir vorhin hier hätten stehen können, war ausgesprochen ungemütlich. Von nun an brauchte uns niemand zu warnen. Sobald ein Zug anhielt, rannten wir in den Keller. Das geschah öfter. Wir hatten das Pech, innerhalb der Gemeinde Le Molay genau an der falschen Stelle zu wohnen. Die französischen Lokführer hatten sich rasch daran gewöhnt, unter der steinernen Brücke Schutz zu suchen. Sobald Flugzeuge gemeldet wurden, brachten sie ihre Lok dort zum Stehen. Die Brücke war schon ganz verrußt, denn der Qualm, der aus den Kaminen hochschoß, umwehte, durch den Bogen geteilt, beide Seiten, bevor er sich als Tarnwolke über der gefährdeten Stelle ausweitete. Unser Haus stand außerhalb dieses Bereichs, ungefähr dort, wo die Chancen am größten waren, von der Schießerei etwas abzubekommen; der Waggon, in welchem die Flak untergebracht war, stand meistens ganz in unserer Nähe.
Nicht jedes Anhalten eines Zuges vor unserer Fabrik hatte allerdings Folgen. Vor allem im Jahre 1943 gab es oft nur blinden Alarm. Der Zug setzte sich nach einer Weile wieder in Bewegung, und wir empfanden Erleichterung darüber, daß die Soldaten von dannen zogen. Weg von uns! Daß eine solche momentane Erleichterung als egoistisch und im patriotischen Sinn fast als verwerflich hätte gelten können, war uns nicht bewußt. Das heißt jedoch nicht, daß uns der Widerstandsgedanke völlig fremd war. Er lockte uns manchmal wie eine romantische Vorstellung vom Unerreichbaren. Denn uns war klar, daß aktiver Widerstand in unserem dichtbesetzten Sperrbezirk sträfliche Gefährdung von Menschenleben bedeutet hätte.
Unsere Weisheit kam nicht von ungefähr. Seit 1941 wurden wir regelmäßig mit dem Thema konfrontiert, wenn Papa wie alle männlichen Dorfbewohner bei der Eisenbahn in der Nacht Wache schob. Dies geschah einmal im Monat.
Als der russische Feldzug begonnen hatte, waren Militärzüge angegriffen worden. Die Resistance FER die Widerstandsbewegung der Eisenbahner konstituierte sich, angespornt durch die radikale Wende der deutschen Politik Rußland gegenüber. Ihr Hauptziel war, Meldungen über die Militärzüge zu erstatten. Sprengstoffattentate waren allerdings nicht ausgeschlossen. Sehr bald wurde die Zivilbevölkerung verpflichtet, die Eisenbahnlinie zu bewachen. Ein Mann pro 100 Meter hatte von acht Uhr abends bis in der Frühe hin und her zu pendeln. Natürlich benahmen sich die Männer nicht so akkurat. Gelegentlich saßen sie kurz zusammen, plauderten und tranken warmen Ersatzkaffee. Jeder brachte eine Thermosflasche und ein wenig zu essen mit. Unruhig waren sie jedoch immer, weil sie sich unter Lebensgefahr dafür verantwortlich fühlten, daß an der Bahn nichts geschah.
Die Nachtwache von Papa hatte inzwischen so oft ohne besondere Vorkommnisse stattgefunden, daß wir Kinder uns nicht mehr ängstigten, wenn er dorthin fuhr. Mama tat es nach wie vor. Es sollte aber während der ganzen Besatzungszeit keine spektakuläre Handlung der Resistance in unserem Sperrbezirk geben.
Daß die Deutschen es mit dem Verbot von Feuerwaffen mehr als ernst meinten, hatten wir ein Jahr zuvor im Herbst 1942 mit Bestürzung erfahren. Der Schmied, der in unserer Fabrik arbeitete, war Vater von sechs Kindern. Wir hatten oft zugeschaut, wenn er glühende Eisen zurechtbog oder Pferde mit Eisen beschlug. Dieser Schmied hatte sein Jagdgewehr in seinem Haus versteckt, weil er sich von der geliebten Waffe nicht hatte trennen wollen, wie die Vorschriften es verlangten. Eines Abends war er angetrunken? bekam er mit seinem ältesten Sohn Streit. Er holte die Waffe aus dem Versteck und schoß draußen einmal in die Luft. Dies wurde gemeldet. Der Schmied, am nächsten Tag von den Deutschen abgeholt, kam nie wieder. Papa hatte noch versucht, ihn zur »unentbehrlichen Arbeitskraft« zu erklären. (Die Geschichte hatte nachweislich mit der Widerstandsbewegung nichts zu tun.) Aber es war vergeblich. Der Mann verschwand auf Nimmerwiedersehen. Seine Familie erfuhr erst zwei Jahre später von seinem Tod.
Unsere 25 Pferde bereiteten unterdessen Papa Kummer. Der Beruf des »Marechal-ferrant« war ein aussterbendes Handwerk. Hufschmiede waren in unserer Gegend mit der Verbreitung der modernen Verkehrsmittel selten geworden. Zu Friedenszeiten hatte man sie kaum noch benötigt; nun hatten die übriggebliebenen Marechaux alle Hände voll zu tun.
Am 22. September 1943 flatterten Flugblätter in den Hof der Fabrik. »Seien Sie mißtrauisch!« stand groß darauf. Wir sammelten eifrig eine Menge von den kleinen Zetteln. Die Flugblätter waren beidseitig bedruckt. Unter »mißtrauisch« stand klein geschrieben:
»Folgende Ratschläge wurden am 6. September 1943 vom Sprecher des Oberbefehlshabers der Alliierten im Rundfunk durchgegeben: Nehmen Sie sich in acht vor feindlicher Provokation! Wir haben erfahren, daß die Deutschen Gerüchte verbreiten, wonach die zur Zeit in den britischen Küstengebieten konzentrierten Truppen für eine Landung auf dem Kontinent bestimmt sind. Achten Sie nicht auf solche Gerüchte! Sie wurden von den Deutschen lanciert, in der Hoffnung, Reaktionen zu provozieren, die als Vorwand für harte Repressalien dienen würden. Disziplin, Verschwiegenheit, Geduld, das ist die Parole. Wir werden unser Versprechen halten. Den Tag, an dem Ihr aktives Mitwirken gebraucht wird, werden Sie rechtzeitig erfahren.«
Auf der Rückseite stand dick geschrieben:
»Les Boches lassen Gerüchte kursieren.«
»Wir werden unser Versprechen halten, Sie zu benachrichtigen, sobald es darum geht, zu handeln.«
Das Ganze war furchtbar aufregend. Zum ersten Mal hatten wir einen direkten Kontakt mit England. Man redete mit uns wie mit bewährten Verschwörern. Die Eltern sahen eher bekümmert aus, als wir stolz das Ergebnis unserer Sammelaktion nach Hause brachten. Nach der Lektüre ließen sie uns alle Flugblätter vernichten alle! (Später erfuhr ich, daß sie ein Exemplar davon behalten hatten. Ich habe es noch heute.) Über unsere momentane Enttäuschung trösteten wir uns mit dem Gedanken hinweg, daß es bei Sondermissionen üblich ist, belastendes Material sofort zu vernichten.
»Haben die Engländer nur hier solche Flugblätter abgeworfen oder auch anderswo?« fragte plötzlich einer von uns.
»Vermutlich überall an der Küste«, antwortete Papa, aber die Frage blieb bedrohlich in der Luft.
Daß Truppen in den britischen Küstengebieten konzentriert waren, hatten wir vorher nicht gewußt. Diese Tatsache war eigentlich die einzige klare Aussage des Flugblattes, die nicht zu widerlegen war. Für alles andere mußte angenommen werden, daß die Alliierten ihre Meldung nicht im Klartext verfaßt hatten und vielleicht sogar das Gegenteil von dem meinten, was sie schrieben. Sollte das heißen, daß wir bald »fällig« waren? Der Verdacht war so ungeheuerlich, daß wir ihn in dem natürlichen Bestreben, ganz normal zu leben, bald wieder vergaßen. Ob die Eltern sich so leicht wie wir damit abfanden, bleibt anheimgestellt. Vater hatte einen Platz ausgesucht, um den Schutzgraben bauen zu lassen: einen schmalen Grund mit wirrem Gebüsch, am Ende der Handwerkerstraße, unweit von dem großen Wasserturm. Er war damit beschäftigt, Skizzen des Grabens anzufertigen, als wir von Le Molay nach Caen ins Internat zurückfuhren.
Wir waren froh, daß das Schuljahr wieder begonnen hatte. Hier war unser Weg vorgezeichnet: Französisch, Latein, Mathematik, Physik, Erdkunde, Geschichte..., schön der Reihe nach. Leider stand die Französische Revolution auf dem Programm. Schon wieder! Wir hatten es einfach satt zu hören, daß Menschen, egal zu welchem Zweck, umgebracht wurden.
Die Lehrerin, die uns in französischer Literatur unterrichtete, trug ihr Haar in einem Knoten gebunden; wir hatten viel im voraus von ihr gehört. Diese »weltliche Dame« hatte die lebhaftesten Augen, die man sich vorstellen kann, und bestätigte ihren Ruf. Sie duldete in unseren Aufsätzen nicht den geringsten Denkfehler. Orthographische Fehler unterstrich sie mit Wonne dreimal rot. Schlechte Formulierungen wurden von ihr regelrecht an den Pranger gestellt, oft vor der ganzen Klasse vorgelesen. Sie war nicht bequem, die alte Dame, aber immer interessant. Eigenartigerweise mochten wir sie. Chic angezogen war sie auch. Man erzählte sich, daß sie nicht geheiratet hatte, weil ihr Bräutigam 1918 gefallen war. Diese Lehrerin besaß zwei Doktortitel, eine für ihre Generation ungewöhnliche Leistung. Philosophie war ihr Lieblingsfach. Damit geriet sie in einen Zwiespalt: Sie bewunderte die deutschen Philosophen, die deutsche Musik und verabscheute die momentane deutsche Politik. Sie war ein eigenwilliges Geschöpf und schien vor niemandem Angst zu haben.
Auch wenn wir, mitten im Unterricht, in den Keller flüchten mußten, blieb sie gelassen. Diese mit heulender Sirene angekündigten Unterbrechungen unseres Unterrichts bedeuteten für uns keine erfreuliche Pause. In einem muffigen Keller, der wie sich später herausstellen sollte keinerlei Schutz bot, ließen uns die Nonnen beten. Dies war an und für sich eine gute Idee, denn die Schülerinnen, die anfänglich durch Weinen und Winseln die allgemeine Stimmung belastet hatten, fühlten sich nun verpflichtet, leiser zu sein. Die Jüngeren taten uns oft leid. Angst läßt sich nicht leicht unterdrücken. Manche Kinder kuschelten sich mit hilfesuchenden Augen an eine größere Schülerin oder ergriffen plötzlich eine Hand, wenn dumpfe Geräusche in der Ferne zu hören waren. Angst ist ansteckend. Ruhe ebenfalls. Es fragt sich nur, welche Ausstrahlung die stärkere ist.
»Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes..., jetzt und in der Stunde unseres Todes.«
Ob beides einnmal für uns zusammenfallen würde? Aber selbst dann? Winkte uns nicht der Himmel? So ein Rosenkranz war weise, für alle Eventualitäten richtig. Auch der Ton des sich wiederholenden Gebetes beruhigte. Hätten wir allerdings so viel an den Tod gedacht, wenn wir seinen Namen nicht so oft wiederholt hätten? Manchmal fühlten wir uns wie die Frühchristen in den Katakomben, die selig und voller Zuversicht auf ihren sicheren Tod warteten.
Dieser feuchte Keller hatte etwas Makabres an sich. Es trug sich zu, daß eine ganz alte Nonne in unserem Internat starb. Sie war sehr lange bettlägerig gewesen; wir hatten sie deshalb kaum gekannt. Als sie zwischen Blumen und Kerzen friedlich aufgebahrt war, sprach die Oberin zu uns Schülerinnen der letzten Klassen: Wir dürften, wenn wir wollten, uns von der verstorbenen Mutter Dorothea verabschieden und sie in der Einfriedung des Klosters besuchen. Die meisten von uns hatten noch nie einen Toten gesehen. Wir zögerten. Diese uns überlassene Entscheidung war nicht leicht zu treffen. Der Reiz, einmal die Klausur betreten und somit sehen zu können, wo unsere Ursulinen privat lebten, zog uns aber doch dorthin. Durch den Hinweis beruhigt, daß Mutter Dorothea sanft und sogar schön aussehe, weil sie ganz und gar in Frieden mit dem Herrn gestorben war, beschlossen viele Schülerinnen gemeinsam hinzugehen. Ich gehörte dazu und war wirklich erstaunt, wie friedlich der Tod sein kann. Genau dies hatten vermutlich unsere Erzieherinnen erreichen wollen: Daß der Anblick des Todes einen Teil seines Schreckens verlor. Ahnten sie damals schon, daß manche von uns bald die Erinnerung an Mutter Dorothea brauchen würden, um mit schlimmeren Bildern fertigzuwerden?
An einem Sonntagnachmittag unternahmen wir, wir waren etwa 50, einen sehr langen Spaziergang. Die Caen-Ebene mit ihrem weiten Himmel über großflächigen Feldern lud dazu ein. Es war ein herrlicher Tag, kalt und trocken, wie man ihn in der Normandie selten im Herbst erlebt. Der Wind blies stark und schmeckte ein wenig salzig. Die ersten Wolken des nächsten Atlantiktiefs huschten bereits mit einem begeisternden Tempo über uns vorbei.
Wir bekamen Lust, uns auf den Boden niederzulegen, um ihre rasche Wanderung am Himmel besser zu verfolgen. Die beiden Nonnen, die uns begleiteten, schlugen auf unsere Bitte hin eine Pause vor. Bald lagen wir, vier nebeneinander auf dem harten Boden eines geernteten Getreidefeldes, während die anderen Schülerinnen sich hinsetzten oder stehend plauderten.
Über uns zogen auf blauem Grund rasch wechselnde Formen von aufgepusteten Wolken dahin, schneeweiß mit grauen Rükken und bedrohlich schwarzen Schatten, die diesen wandernden Gestalten eine merkwürdige, kurzlebige Existenz verliehen. Manchmal hatte man wirklich den Eindruck, daß die Wolken miteinander kämpften, sich bedrohten, sich sogar verschlangen oder um die Wette liefen: eine Schlacht von Rittern, die sich während des Reiterkampfspiels gelegentlich in Nichts auflösten.
Wo waren diese Wolken geboren? Weit über dem Atlantik oder über England? Was hätte man alles gesehen, wenn man sich in einer von ihnen hätte verstecken können? Die berühmten Schiffe, die an der Küste Englands in großer Zahl warteten? Es wäre, dachte ich, wirklich lustig, auf einer Wolke schwebend, alles zu beobachten, was die dummen Menschen überall da unten auf der Erde mit ihren ewigen Kriegen anstellen, und, wenn man ganz oben wäre, hätte man vielleicht den Eindruck, daß ihre Bemühungen sich auf die Dauer in Nichts auflösen wie die Wolken.
Irgendwann, mitten in der Woche, tauchte einmal Papa am Abend auf. Obwohl es eigentlich verboten war, Besuch zu bekommen, holte man uns aus dem großen Saal, in dem wir gerade Hausaufgaben machten. Unten, im kleinen Salon, fanden wir Papa sehr aufgeregt. Er war bei der Kommandantur von Caen gewesen und wollte uns unbedingt sehen, bevor er nach Le Molay zurückfuhr.
»Ist etwas los mit dir?« fragte Colette entsetzt.
»Wenn du nach Hause fährst, ist alles in Ordnung, nicht wahr?« fragte ich fast zu gleicher Zeit. Mein Herz schlug wild. Das von Colette sicher ebenso.
»Nicht ganz, Kinder. Ich werde nach Paris fahren müssen..., übermorgen. Es wird sich wahrscheinlich alles klären, aber ich wollte euch sehen — wenn ich schon hier bin.«
Papa sagte das mit einem traurigen Lächeln. Seine Unterlippe verzog sich verdächtig. Am liebsten hätten wir beide unseren Vater umarmt. (Später, als wir flüsternd den Vorfall in unserer Schlafzelle besprachen, stellten wir unsere Einstimmigkeit fest.) Während der kurzen Zeit des Besuchs von Papa mußten wir aber mehr erfahren. Wir mußten ihn ausreden lassen.
»Worum geht es?« fragte ich zaghaft.
»Ich bin beschuldigt worden, die Deutschen seit Monaten zu betrügen, indem ich der Heeresverpflegungsstelle falsche Daten zukommen lasse, die zwar mit der vorgeschriebenen Qualität für unseren Butterkäse übereinstimmen, nicht aber mit der tatsächlich gelieferten Ware.« »Stimmt das?«
»Natürlich nicht. Wir werden uns nicht ans Messer liefern. Wieso die Deutschen im Zentrallaboratorium von Paris 38 Prozent Fettgehalt herausbekommen, während wir in Le Molay die nötigen 40 oder gar 40,5 Prozent bei jeder Warenprobe haben, weiß ich allerdings nicht. Das ist ja das Schlimme. Ich habe keine Erklärung dafür, überhaupt keine Erklärung.«
»Wollen sie dir eine Falle stellen?«
»Was hätten sie davon? Nein, es kann nicht sein. Aber wie soll ich beweisen, daß unser Laboratorium in Le Molay ehrlich arbeitet? Ich brauche handfeste Beweise..., wenn überhaupt mit diesen Deutschen zu reden ist. Freund heißt der Kerl, mit dem ich vorhin zusammen war. Ausgerechnet Freund!«
»Wieso?«
»Das heißt >ami<. Hole ihn der Teufel!«
Und dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte Papa fast feierlich:
»Ich habe mit euch noch nie so geredet. Ihr seid beide groß und könnt begreifen, wie wichtig alles ist. Ihr dürft niemandem erzählen, was ich gesagt habe, keiner einzigen Freundin, wirklich niemandem. Und wenn die Deutschen euch fragen sollten, ob ich hier gewesen bin, dann sagt die Wahrheit und wie bestürzt ich war, weil die Zahlen von Le Molay stimmen.«
»Zwei Prozent Unterschied«, sagte Colette, »ist das wirklich so schlimm?«
»Das ist es schon«, antwortete Papa, in seine Gedanken versunken. Als er weitersprach, hatten wir den Eindruck, daß er eher laut dachte: »Er ließ mich nicht einmal reden, dieser Deutsche. Er sprach pausenlos. Dann rief er Paris an. Den Telefonhörer in der linken Hand, schrie er >Heil Hitler, Herr Oberst !< und hob zugleich die rechte Hand steif zum Gruß, so als ob sein Vorgesetzter ihn in Paris hätte sehen können!«
»War sonst niemand im Zimmer?«
»Nein, nur ich. Nachträglich könnte man fast darüber lachen; mir war allerdings nicht danach zumute. Es war fast gespenstisch. Ich verstand wenig von dem, was er am Telefon sagte. Es gab lange Pausen, die er mit Jawohl, Herr Oberst< beendete. Zum Schluß stand er noch einmal stramm vor dem Telefon und 74 sagte dann scheinbar sehr zufrieden zu mir: >Sie werden übermorgen nach Paris fahren, Monsieur. Um 14 Uhr werden Sie in der Rue de Danzig erwartete«
»Sprach er französisch?«
»Oh, ja. Sehr gut sogar. Er sagte weiter: >Wir haben Sie mehrmals gewarnt, aber Sie wollten Ihren verflixten Fettgehalt nicht erhöhen. Sabotage ist das! Und Sie stellen sich auch noch stur und behaupten, Ihr Käse hätte doch 40 Prozent. Was glauben Sie eigentlich? Deutsche Chemiker irren sich nicht. Sie haben wohl gedacht, daß wir nichts merken würden? Seit Monaten betrügen Sie die deutsche Wehrmacht. Jetzt ist Schluß, verstehen Sie?<«
»Was sagtest du dazu?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Es hätte doch keinen Sinn gehabt. Ich hoffe nur, daß sie in Paris sachlicher sind als dieser Leutnant Freund.«
Wir dachten oft an diesen letzten Satz. Papa war schon zwei Tage in Paris, und wir hörten noch immer nichts von ihm. Die Welt um uns schien immer düsterer zu werden, aber es durfte niemand ahnen, daß wir das dachten. Schweigen läßt sich zu zweit leichter ertragen. Wir wußten mit Blicken, daß wir das Gleiche empfanden, beinahe wie Zwillinge, die keine Worte brauchen, um sich zu verstehen.
Ob Michel in seinem Internat bei Saint-Lo Bescheid wußte? Von ihm sprachen wir jetzt öfter. Er fehlte uns sehr, der jüngste der Familie. Mit seinem blinden Glauben an die Fähigkeiten unseres Vaters, hätte er wahrscheinlich gesagt: »Warum habt ihr Angst? Papa wird die Leute in Paris überzeugen. Er ist ja im Recht.« Im Recht? Ob das in dieser seltsamen Welt ausreichend war? Genügte es, das Recht auf seiner Seite zu haben, um sich durchzusetzen? Genügte es, um zu überleben?
Papa hatte Glück! Der verantwortliche Mann für die Lebensmittelkontrolle aller Lieferungen der Wehrmacht in Frankreich war ein pflichtbewußter Chemiker. Er hieß Dr. Lindner und hatte zu Friedenszeiten eine vergleichbare Stellung in München für die Bevölkerung Bayerns innegehabt. Als Oberst Lindner sehr distanziert Papa einen Stuhl in seinem Büro anbot, war die Stimmung noch beklemmend.
»Es liegt gegen Sie eine schwerwiegende Anschuldigung vor«, sagte der Oberst in gutem Französisch. »Der Bericht aus Caen ist sehr belastend. Was können Sie dazu sagen?«
Papa freute sich, daß er keinen Dolmetscher brauchte.
»Ich kann nur wiederholen, daß unsere Messungen in Le Molay stets 40 Prozent Fettgehalt ergeben haben und daß ich einfach nicht begreife, warum Zahlen zwischen 38,5 und 37,5 gefunden wurden. Es muß einen Grund haben. Da wir sicherlich die gleiche Methode für die Untersuchungen der Proben anwenden, habe ich einfach keine Erklärung.«
Oberst Lindner hatte aufmerksam zugehört. Es wurde gefachsimpelt: Von Gerber, Weibull war die Rede, von Buttersäure, von »butyrometre«... und vom Eichmaß. Papa fühlte sich langsam wohler. Oberst Lindner stellte viele Fragen, auch über die Meßgläser, die man in Frankreich in den Laboratorien anwandte. Und plötzlich Papa spürte dies hatte der deutsche Oberst Zweifel. Ob man dem vor ihm sitzenden Mann nicht etwa Unrecht tat? Aufatmend erklärte Papa nun ganz sachlich, daß die in Le Molay benützten Meßgeräte aus der Zeit vor 1939 stammten und damit noch von den Eichbehörden geprüft worden waren. Dr. Lindner war ein Mann, der nicht gern mit ungelösten Fragen lebte. Er kümmerte sich sofort darum und ließ Untersuchungen durchführen: Abweichungen in den Ergebnissen wurden entdeckt, die nicht innerhalb der zulässigen Fehlergrenzen lagen. Die im Krieg nicht mit der nötigen Sorgfalt hergestellten Gläser wurden von nun an mit einem kalkulierten Fehlerkoeffizienten im Laboratorium der Rue de Danzig angewandt.
Unser Vater durfte in die Normandie zurückfahren. Mama war außer sich vor Freude, als ihr Mann nach Hause kam.
»Oberst Lindner ist ein großartiger Mann«, sagte Papa. »Zum Abschied sagte er zu mir: Wer weiß? Vielleicht sehen wir uns später mal in München.«
»Oh, nein!« erwiderte Mama.
»Warum nicht? In einigen Jahren vielleicht...«
Auftragsgemäß mußte sich Papa unterdessen bei der Kommandantur von Caen zurückmelden. Er fuhr beschwingt dorthin. »Sie haben Glück!« sagte Leutnant Freund großartig. »Ich hätte Sie die ganze Macht des Deutschen Reiches spüren lassen. Passen Sie in Zukunft auf!« Nach einer Pause verabschiedete er sich knapp: »Den Franzosen ist doch nicht zu trauen. Heil Hitler!«
Nachträglich ärgerte sich Papa sehr, daß er schweigsam alles hingenommen hatte.
»Ich konnte damals nicht anders - leider - aber ich hätte am liebsten >Es lebe Frankreich geschrien !<. Solche Typen können sogar ruhige Menschen zur Raserei bringen.«
»Und du bist die Ruhe in Person«, sagte Mama verschmitzt.
»Manchmal ja, gerade wenn ich platzen möchte.«
»Das ist wahr!« sagte Mama wieder ernst. »Ich wundere mich manchmal.«
Weihnachten 1943 brachte keine erfreuliche Bescherung. Die Eltern hatten bei der Gemeinde von Le Molay drei Anträge mit der Bitte um neue Wintermäntel für uns Kinder gestellt. Als Begründung stand geschrieben:
»Die alten Mäntel, über zwei Jahre alt, sind abgenützt und viel zu klein.«
Alle drei Anträge, versehen mit einem schwarzen Stempeldruck kamen zur: »Refuse« (abgelehnt)! Dieses dicke Wort hatte etwas Endgültiges, persönlich Beleidigendes an sich. Aus den Säumen unserer Mäntel war der Stoff schon längst herausgelassen worden. Die Knöpfe vorne, im Laufe der Zeit mehrmals gewandert, jetzt an den extremen Rand genäht, hemmten im geschlossenen Zustand unsere Bewegung so sehr, daß wir sie meistens offen ließen. Besonders Michel sah in seinem Mantel schlimm aus; seine Arme und seine Beine, die herausguckten, wirkten erschreckend dürr.
»Wenn sie wenigstens einen Mantel für Colette genehmigt hätten«, sagte Mama, »dann hättet ihr, Nany und Michel, die zwei größeren Mäntel bekommen können...«
»Darf man nicht einmal mehr wachsen?« fragte Colette.
»Bringt es was?« antwortete Michel mit einer Weisheit, die uns erstaunte. Unser Bruder war in der letzten Zeit wirklich größer geworden. Er fuhr nach Saint-Lo zurück, wir nach Caen.
Wenn wir das Internat in der Früh verließen, war es noch absolut finster. Die nasse Kälte des Winters legte sich schwer und feindselig über uns, während wir in der trüben Beleuchtung der blaubemalten Straßenlaternen zur Schule gingen. Ab und zu fuhr zaghaft ein halberblindetes Auto vorbei, dessen Scheinwerfer mit einer Art Lid aus Metall ausgestattet waren, damit sein ohnehin abgeblendetes Licht unsichtbar für die Flugzeuge blieb.
Wir sprachen nicht miteinander. Erst das Gehen machte uns allmählich wach und verdrängte das Gefühl, hinausgeworfen worden zu sein, das wir zu Beginn unserer stummen Wanderung immer wieder empfanden. Unsere Schulranzen waren schwer. Warum mußten wir jeden Tag eine solche Menge Bücher schleppen? Wenn wir die Rue Saint-Jean erreichten, machte unsere Kolonne bereits einen munteren Eindruck. Am Sankt-Peter-Platz schwätzten wir regelrecht. Aber es war immer noch dunkel.
1941 waren die Uhren zwei Stunden vorgestellt worden, um die Organisation des deutschen Imperiums zu vereinfachen. Von Rußland bis zum letzten Zipfel des Kontinents lebten wir »a Pheure allemande«. In der Normandie, am westlichen Rand Europas, wirkte sich die Einführung zentraleuropäischer Zeit besonders kraß aus.
Der Frühling brachte uns mehr Licht aber auch mehr Bewegung am Himmel. Ganze Geschwader flogen, perfekt geordnet, in großer Höhe über uns. Von diesen Flugzeugen hatten wir nichts zu befürchten; sie flogen eindeutig nach Osten und waren zu hoch, um sich für uns zu interessieren. Das rollende, sich eintönig wie ein Schnarchen wiederholende Brummen war entnervend. Was geschah mit diesen ungeheuren Wellen von Flugzeugen, die wie eine nicht aufzuhaltende Armada immer häufiger zwischen England und ihrem Bestimmungsort hin und her pendelten? Für wen waren die Bomben bestimmt, die sie trugen? Der Osten blieb allgemein für uns fern und ohne bestimmte Grenzen: Von den militärischen Zielen, die es dort gab, wußten wir wenig. In Caen hatten wir allerdings erfahren, daß Bomben nicht immer nach Wunsch fallen. Manche hatten Häuser zerstört, die weit vom Hauptbahnhof standen, und eine Bombe war mitten auf der großen Wiese von Caen explodiert.
Bei schönem Wetter versuchten wir gelegentlich, die winzigen hellen Kreuze, die nebenund hintereinander am Himmel gereiht waren, zu zählen. Obwohl sie wegen der großen Flughöhe lange sichtbar blieben, war eine Zählung nur möglich, wenn man systematisch multiplizierte. Diese Tatsache erfüllte uns mit Unbehagen. Was so viele Flugzeuge anrichteten, mußte verheerend sein.
»Les Boches werden ganz schön was abkriegen«, sagte einmal eine Schülerin.
Wir schauten uns betroffen an. Nicht, daß der damals landläufige Ausdruck »les Boches« uns gestört hätte! Nein, aber die freudige Bemerkung der Schülerin war irgendwie erschütternd: Waren die Toten nicht Menschen, vielleicht sogar Kinder wie wir?
Wir beobachteten auch, wie manche Gruppen innerhalb dieser strenggeordneten Formationen von Flugzeugen unvollständig nach England zurückflogen. Wir dachten dann: Wie viele Piloten sind heute abgeschossen worden? Wie viele werden nie mehr nach Hause kommen?
55 000 britische Bombenflieger fanden über Deutschland den Tod. Nachträglich wurde ausgerechnet, daß die Lebenserwartung einer britischen Bomberbesatzung damals bei nur 30 Einsätzen lag.
Es wäre für uns bequem gewesen, einfach nur für die Engländer Partei zu ergreifen. Wir tendierten ohnehin dazu, aber unsere Phantasie hielt uns davor zurück, ganz einseitig zu denken. Wir stellten uns zuviel vor, das war wohl unser Fehler. Ob unsere christliche Erziehung dabei nicht eine große Rolle spielte?
Ende Mai hatten in Le Molay zwei niedrig fliegende Jagdflugzeuge aus heiterem Himmel die Magazine ihrer Maschinengewehre im Hof der Fabrik leergeschossen. Papa verhandelte gerade mit deutschen Offizieren, deren Autos draußen neben Papas Peugeot standen. Diesen erwischte es: Ein Geschoß bohrte ein Loch durch die Windschutzscheibe und durchdrang die vordere Lehne, dort wo Papa vorher gesessen hatte. Im Hof wurde niemand verletzt.
»Ist es möglich,« fragte Mama später, »daß sie gewußt haben, daß Deutsche hier waren?«
»Ich glaube, wir drehen langsam alle durch«, antwortete Papa. »Es ist natürlich nicht möglich, und doch habe ich mir vorhin genau die gleiche Frage gestellt.«
»Ich hätte gern die Kinder bei uns«, sagte sie nachdenklich. »Es passiert so viel in der letzten Zeit. In Amiens sind bei den Bombenangriffen auf den Bahnhof viele Menschen umgekommen, und Caen...«
»Du denkst nach wie vor an deine Somme«, unterbrach er sie leicht spöttisch. »Aber nein, ich wollte nur sagen, daß alle größeren Städte sehr gefährdet sind.« »Du brauchst dich nicht zu verteidigen«, sagte er fröhlich, sie umarmend. »Auch ich hätte die Kinder lieber hier.«
»Du auch?«
»Aber natürlich. Dann  wären  wir  eben  zusammen. Der Schutzgraben wird nicht schlecht. Was weiß man, was sie in den Klöstern von Caen und Saint-Lo für Keller haben?«
»Die Kinder haben vermutlich sowieso keinen regelmäßigen Unterricht mehr.« »O.k! Ich fahre morgen nach Caen und hole die Mädchen heim. Eigentlich komisch, daß wir beide dies gerade heute wünschen, nachdem wir einen Angriff erlebt haben. Ob es hier mit unserer Eisenbahn und der Fabrik besser ist? ... Ich habe auch gehört, daß man in der Nähe des Schlosses von Le Molay eine Abschußrampe für V-l baut. Die Deutschen haben das Gelände streng abgesperrt und sollen sehr rasch arbeiten.«
»O Gott!« sagte Mama entsetzt. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
»Man erzählt so viel. Es ist nicht unbedingt wahr. Sicher ist nur, daß die Deutschen eine größere Fläche abgeholzt haben und daß sie viel Beton brauchen. Möglicherweise wollen sie nur einen großen Bunker bauen.«
Mama stöhnte.
»Nur keine Bange, Cherie. Sobald du deine Kücken um dich hast, geht es dir besser. Mir übrigens auch! Morgen hole ich also die Mädchen, Sonntag unseren Jungen.«
Dieser Samstag war der 27. Mai 1944, der 10. Tag vor dem Countdown der Alliierten.
Durch diese Entscheidung der Eltern blieb uns manches erspart. Sie holten uns aus zwei Städten heraus, um die erbitterte Kämpfe entstanden: Nach 33 Tagen andauernder Kampfhandlungen wurde die belagerte Stadt Caen am 9. Juli nach einem letzten Bombenangriff mit 460 Flugzeugen, die innerhalb 40 Minuten je fünf Tonnen Bomben abwarfen zum Teil befreit. Vierzehn unserer Kameradinnen starben dort im Juni 1944. Saint-Lo erging es nicht besser als Caen. Das Städtchen, zu 80 Prozent zerstört, wurde von den Amerikanern »Ruinenhauptstadt« genannt. Genau zehn Einwohner überlebten dort die Befreiung. 1000 Menschen lagen unter den Trümmern begraben.