Winter 1941/42 Weltnachrichten und Hunger

Zum neuen Schuljahr ging es um die Entscheidung Griechisch oder nicht Griechisch. Während der Ferien hatten wir das Thema nicht einmal erwähnt. Jetzt mußten die Weichen für das Abitur gestellt werden. Latein und Englisch lernten wir bereits. Es gab für uns drei Möglichkeiten: Griechisch, mehr Mathematik oder eine neue Fremdsprache. Colette wählte die mittlere Sektion. Ich wollte Griechisch lernen.
Wieder im Internat, schrieben wir nach Hause, um das Einverständnis der Eltern einzuholen. Dieses kam postwendend ohne jegliche Einschränkung. Mein pragmatischer Vater hatte keine Einwände gegen die griechische Sprache, wenn sie mir Spaß machte! Er sträubte sich nicht gegen eine Fehlentscheidung, die nachträglich bestenfalls als geistiger Luxus eingestuft werden kann. Mitten im Krieg Griechisch erlernen zu wollen war zweifelsohne ein ausgemachter Unsinn. Griechenland war besetzt, griechische Kultur wenig gefragt.
Hätte ich nicht mit wesentlich größerem Nutzen Deutsch erlernen können? Es wäre klug gewesen, aber lernt man die Sprache einer Macht, die das eigene Land besetzt? Der Gedanke wäre mir nicht gekommen. Gottlob! ... In der nach England orientierten Normandie waren 1941 die Deutschlehrer sicher nicht die besten. Vielleicht hätten sie mir die Freude an der später so heißgeliebten deutschen Sprache für alle Zeiten vermasselt!
Unsere Griechisch-Lehrerin bei den Ursulinen von Caen war eine sympathische, moderne und vornehme Nonne. Noch jung und begeisterungsfähig, lehrte sie uns mehr als nur die Sprache. Sie liebte die griechische Kultur. Auch sympathisierte sie mit England und de Gaulle. Sie sagte es nicht, aber wir spürten es, vor allem später, als wir mit ihr Demosthenes übersetzten. Sie lobte »die formale und hinreißende Schönheit der Redekunst von Demosthenes«, wenn er gegen die Verweichlichung und gegen die Geschwätzigkeit der Griechen tobte, um sie zum Widerstand zu ermahnen. Es war geschickt formuliert. Wenn sie aber während des Unterrichts unsere schlechten Übersetzungen des Verfechters der griechischen Freiheit ausbesserte, wurde sie so persönlich, daß wir manchmal nicht mehr wußten, ob sich die Sätze, die die Erhaltung der Autonomie der Freistaaten leidenschaftlich forderten, gegen Hitler oder gegen Philipp von Mazedonien richteten!
Sobald unsere Lehrerin die Kapelle betrat, schien es allerdings für sie nur noch Gott und die Musik zu geben. Ihre geschulte engelhafte Sopranstimme leitete den Chor. Wir fühlten, wie uns neben ihr Flügel wuchsen, und sangen mit Inbrunst mit.
Unsere Lateinlehrerin, Tochter eines Generals, lenkte unsere Begeisterung in andere Bahnen, jedoch mit dem gleichen Ziel. Auch sie war sehr kultiviert und noch jung. Sie schwärmte für Rom, für Cicero, für die Wiedergeburt Frankreichs, für eine neue Ordnung abseits Deutschlands, aber mit Marechal Petain. Letzten Endes träumte sie von einem friedlichen, vereinten Europa. Sie war sehr modern. Über alle Themen konnten wir uns mit ihr ausführlich unterhalten.
Sie war allerdings eine Verfechterin der Genauigkeit, und ich bekam dies bei ihren Korrekturen zu spüren. »Dem Text näher bleiben!«, bemerkte sie oft am Rand meiner Übersetzungen. Einmal schrieb sie: »sehr schön... leider meinte Tacitus etwas ganz anderes!«
Ihr Ordnungssinn ließ sie jedesmal, wenn sie ein Klassenzimmer betrat, zu unserem Entsetzen das Fenster aufreißen. Die Heizung war mehr als lau in diesem strengen Winter 1941/42. Wir protestierten heftig, aber sie ließ sich nicht erweichen.
»Ohne Sauerstoff könnt ihr unmöglich arbeiten!« sagte die Tochter des Generals. »Nur eine Minute!«
Wir schlotterten und zählten die Sekunden. Auch versuchten wir vorzubauen. Wenn es vor ihrer Ankunft eine kleine Pause gab, kuschelten wir uns, so gut es ging, an den lauwarmen Heizkörper, um Wärme zu speichern. Ich erinnere mich: Kohle wurde damals mit Postpaketen nach Paris geschickt. Ohne Holz litten die Menschen in der Hauptstadt mehr als wir in der Normandie.
In Rußland hatte unterdessen dieser außergewöhnliche Winter schwerwiegende Folgen. Bei Wintereinbruch hatte sich die Front vor Leningrad, Nowgorod, Moskau, Kursk, Charkow und Rostow stabilisiert. In unserem Internat, wo es für die Schülerinnen kein Radio gab, erfuhren wir nur spärliche Nachrichten. Die wichtigsten aber erreichten auch uns und wurden heftig diskutiert. Sie waren unfaßbar: Der Krieg verbreitete sich wie eine Epidemie über die ganze Welt. 

  • Am 7. Dezember 1941 griff Japan ohne Kriegserklärung Pearl Harbor an. Unzählige Menschen starben. (Später sprach man von 2729 Toten.) 
  • Am nächsten Tag erklärten die USA und Großbritannien Japan den Krieg.
  • Am 11. Dezember erfolgte die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die USA.
  • Am 19. Dezember hatte Hitler angeblich den Oberbefehl über das Heer übernommen. Diese Nachricht verstanden wir nicht. Wir dachten, daß er diese Führung schon längst inne hatte.

Die Nonnen ließen uns für alle Menschen, die in der Welt litten und starben, beten. Wir sollten unsere Gedanken Gott anvertrauen und an den Frieden glauben. Manchmal schien uns Gott hoffnungslos fern und unerreichbar der Frieden ebenso. Die Ursulinen bemühten sich, uns den Sinn unseres augenblicklichen Tuns zu erhalten. »Wir sollten so viel lernen, wie wir konnten, um später einer Welt besser dienen zu können, die mühsam den Frieden aufbauen würde.« (»Serviam«, »ich werde dienen«, ist die Devise der Ursulinen.) Wir sollten tapfer die Unannehmlichkeiten der Gegenwart hinnehmen. Wie unwichtig war es zum Beispiel, daß das Essen nicht schmeckte!
Es schmeckte uns in der Tat immer seltener — auch wenn das Thema tabu war -, und wir hatten oft und echt Hunger. Schon das Frühstück, eine dünne Mischung aus Ersatzkaffee und Magermilch, war zum Übelwerden. Auch die Qualität des Mittagessens im Gymnasium wurde zunehmend schlechter. Es ging so stufenlos, daß ich nicht mehr sagen kann, ab wann nach und nach Speisen auftauchten, die wir nie zuvor gekostet hatten. Sie verwirrten uns. Kartoffeln und Nudeln gab es nur noch selten. Sie 'wurden durch Topinamburknollen (wegen ihres Gehalts an Insulin als Viehfutter bestens geeignet!) und Saurüben ersetzt, die merkwürdig süßlich schmeckten. Statt Spinat bekamen wir gelegentlich gekochte Brennesseln mit langen Fasern, die nicht herunterrutschen wollten. (Brennesseln: als Geflügelfutter und als blutstillende oder harntreibende Volksmedizin bekannt.) Wir akzeptierten wohl oder übel, gelegentlich meckerten wir, was aber als »unfein« getadelt wurde. (Die tägliche Ration eines erwachsenen Franzosen betrug damals offiziell 1700 Kalorien!)
Auf unserem täglichen Weg zwischen Gymnasium und Internat begegneten uns im Laufe dieses eiskalten Winters nur noch selten deutsche Soldaten. Sie hatten es eilig. Meistens fuhren sie an uns vorbei. Fußgänger waren selten geworden. Die Schaufenster wurden oft mit Papierblenden verkleinert, um die Armut der Auslage zu vertuschen. Bei den Lebensmittelgeschäften waren hinter den Glasscheiben armselige Dosen gestapelt, deren Inhalt undefinierbar erschien, weil die farblosen Aufkleber ohne Aussagekraft blieben. Wie schnell hatte sich unsere Umwelt verändert!
Von der Schule zurück, standen wir in der großen Halle des Internats eingereiht und durften ein Zögling nach dem anderen ein Stück Brot in Empfang nehmen. Es kostete Überwindung, sich nicht vorzudrängen. Dieses Stück Baguette war jeden Tag unsere größte Sehnsucht. Nach den Hausaufgaben durften wir lesen, was wir wollten. Die Bibliothek war reichhaltig. Wenn die Glocke zum Abendessen rief, erschrak ich meistens, der Gegenwart so entrückt, daß ich die Unterbrechung als störend empfand. Was habe ich damals nicht alles gelesen!
Im Internat, wo nicht so viele satt werden mußten wie im Gymnasium, war die Qualität unserer Nahrung ein wenig besser. Vor allem durften wir sie mit unserem eigenen Besteck essen, und unser jeweils eingraviertes Monogramm erinnerte an zu Hause und ließ uns auf bessere Zeiten hoffen. Oben in den Schlafräumen holten wir, wenn niemand zusah, aus unseren Nachttischkästchen eßbare Dinge, Überbleibsel von Paketen, die unsere Eltern mit Liebe sandten. Die Nonnen, die spätabends die Aufsicht hatten, drückten ein Auge zu, in der Überzeugung, daß wir diese Nahrungszugabe brauchten. Es wurde nicht von uns verlangt, daß wir untereinander teilten, was wir bekamen, denn alle Eltern schickten irgend etwas, wie sie es eben konnten. Colette und ich schnitten uns mit Wonne Scheiben von einem runden Butterkäse (unsere durchweg »laufende« Nahrung) ab. Der Käsegeruch beherrschte hartnäckig unsere Schränkchen.
Die Fahrten von Le Molay ins Internat standen ganz im Zeichen unseres heimischen Käses, absolut mager, durchsichtig, aber reich an Eiweiß. Der Kombiwagen wurde bis zur Decke mit ihm vollgepackt. Samt Koffer wurden wir in den übriggebliebenen Laderaum hineingezwängt (sozusagen als Deckmantel für die gestapelten Kartons). Die Tür klappte mühsam hinter uns zu. Es hieß nun, eine Stunde gerüttelt, geschubst, ohne Sicht auszuharren. Jedes längere Halten ließ uns eine plötzliche Kontrolle vermuten. Als die hintere Tür nach einer Vorwarnung von Papa denn sie war unsere Lehne bei der Fahrt endlich aufging, stiegen wir im Internat blaß, verrenkt und benommen aus, während die Nonnen unseren Vater wie einen König empfingen.
In der Normandie waren aber die Ernährungsprobleme nicht so akut wie in anderen, von der Natur nicht so begünstigten Regionen Frankreichs. Verwandte oder Freunde aus der Normandie standen in ganz Frankreich hoch im Kurs; durch die Sendung von Postpaketen wurden Freundschaften bestätigt, auch neue Bande geknüpft. Wenn die Stadtbewohner über keine persönliche Beziehung zu dem Hinterland verfügten, waren sie nirgends zu beneiden, in Paris damals am allerwenigsten.
Wenn man nachträglich den Menschen vorwirft, sich in den Jahren 1941 bis 1944 zu wenig um die Politik gekümmert zu haben, sollte man nicht vergessen, daß es überall um einen fast täglichen, sehr kleinlichen, aber notwendigen Kampf um das nackte Dasein ging.