Belagerung und ein Mondscheinerlebnis

Es fing an, dunkel zu werden. Wir hörten im Eßzimmer die Abendnachrichten aus London, als heftig an der hinteren Haustür geklopft wurde. Mama schaltete das Radio aus. Draußen schrien Männer auf englisch, wir sollten sofort aufmachen. Papa ging durch den Gang Richtung Küche.
»Bleibt, wo ihr seid!« sagte er leise zu uns.
Er stand unweit von der Holztür, gegen die brutal gehämmert wurde.
»What's the matter?« schrie Papa erbost.
Draußen lachte jemand laut.
»Amour!« lallte eine betrunkene Stimme.
Papa schaltete das Licht aus.
»Wir wollen Frauen sehen«, sagte ein Amerikaner mit einer Stimme, die uns erblassen ließ.
»Aufmachen!«
Wütende Fußtritte gegen die Tür begleiteten den Befehl.
»Es gibt keine Frauen hier«, sagte Papa auf englisch. »Geht schlafen!«
Die Amerikaner polterten noch eine Weile an der Tür. Mit unverständlichen Schimpfworten entfernten sie sich endlich ins Dunkel. Erleichtert hörten wir sie danach auf der Straße singen.
»Das war ein Ding!« sagte Michel.
»Es könnte ein echtes Problem werden«, pflichtete ihm Papa bei. »Die Amerikaner bekommen zu viel zu trinken. Neben ihren offiziellen Whisky-und Gin-Rationen besorgen sich manche Calvados bei der Bevölkerung.«
»Ein Glück, daß wenigstens die Tür versperrt war!«
»Wir werden morgen einen Zusatzriegel anbringen lassen«, sagte Papa beruhigend.
Ich dachte daran, daß diese Außentür die einzige war, die ganz aus Holz bestand. Alle anderen, oberhalb des Griffes zum größten Teil aus Glas, boten im Notfall überhaupt keinen Schutz. Ich sagte das nicht. Mama sah ohnehin ziemlich erschüttert aus. Möglicherweise dachten wir alle an die kommenden Gefahren. Unser gastfreundliches Haus war nicht als Festung konstruiert worden.
Jeden Tag wurden wir mit wechselnden, wichtigen Begebenheiten konfrontiert und verloren dabei den Überblick. Auf der Halbinsel Cotentin hatten die Amerikaner inzwischen vom Utah-Strand aus den Ausbruch nach Westen erzwungen. Mit dem Sieg in Saint-Sauveur-le-Vicomte am 17. Juni hatten sie das Douvetal durchquert. Sie erreichten die Westküste in Barneville und schnitten somit die Halbinsel in zwei Teile. Im Norden rückte der wichtige, nun abgeschnittene Hafen Cherbourg in greifbare Nähe, aber trotz alliierter Luftüberlegenheit und schwerer Beschießung auch vom Meer gab die Wehrmacht sieben Tage lang nicht auf. Am 25. Juni wurde in der zerbombten Festung von Cherbourg die weiße Flagge gehißt: für alle Beteiligten eine Erlösung! Nach dem Fall der Stadt warfen die Amerikaner über den noch besetzten Gebieten der Normadie Flugblätter ab, die auf deutsch verfaßt mit Bildern und Karten Auskunft über den Verlauf des Krieges bei uns und in Rußland gaben. Nachträglich gesehen war der Text dieser Flugblätter »Cherbourg, wie es geschah« objektiv informativ, er verfehlte jedoch seine Wirkung. Die deutsche Kampfmoral schien unerschütterlich.
Der Krieg fraß sich weiter in der Normandie fest. Um die ganze Front ins Wanken zu bringen, bedurfte es noch der hartnäckigen und mörderischen Kämpfe der Amerikaner im Westen, der Engländer im Osten vom 2. Juli bis zum 27. Juli 1944.
In unserem Abschnitt behielt damit die Kreuzung der Hauptstraße Bayeux/Saint-Lo und Littry/Caumont ihre strategische Bedeutung. Dieser Panzerkreuzweg befand sich mitten in dem prächtigen Laubwald, den wir wegen der Pfifferlinge, die wir dort jahrelang gesammelt hatten, »unseren« nannten. »Notre foret!« Weit lag er nicht von uns... Wir schliefen nach wie vor im Schutzgraben.
Dort hatten wir allerdings unerwartet Luft bekommen. Die Familie des Denunzianten war ohne Erklärung ausgezogen. Eigentlich erheiternd, daß sie unsere Gegenwart nicht mehr ertrugen! Ob das schlechte Gewissen sie bei unserem Anblick plagte? Vielleicht ärgerte sich der boshafte Angeber, weil es uns gelungen war, ihn zu ignorieren! Papa hatte ihn nicht zur Rede gestellt. Uns hatte er erklärt:
»Mit ihm will ich überhaupt nichts mehr zu tun haben. Solche Leute muß man behandeln, als ob sie Luft wären. Damit macht man sich nicht schmutzig. Der Schurke hat uns nicht treffen können. Benehmt euch so, als ob ihr nichts wüßtet!«
»Gut! Aber grüßen müssen wir ihn wohl nicht?« hatten wir gefragt.
»Nein, das auch nicht. Macht euch keine Sorgen! Sie werden uns meiden, nicht umgekehrt.«
Schon am nächsten Tag waren die »Verräter« durch den anderen Eingang in den Graben hinuntergegangen, um nicht an uns vorbeirutschen zu müssen. Nun waren sie zwei Nächte hintereinander nicht erschienen. Wir nahmen an, daß sie nie mehr auftauchen würden. Plötzlich konnten wir in der finsteren Bleibe entschieden besser atmen.
»Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken«, bemerkte Colette. Wir fühlten uns beinahe erhaben.
Der 30. Juni begann mit Regen, ein penetranter Regen, der den Eindruck vermittelte, nicht aufhören zu wollen. Gegen zehn Uhr kam unerwartet die Sonne. Auf Anhieb wußten wir, daß wir aus dem Haus wollten alle drei! In der letzten Zeit blieben wir fast immer zusammen.
Wir gingen durch die Tür, die die betrunkenen Amerikaner kürzlich belagert hatten, und standen oberhalb der Treppe, die, an der verlassenen Hütte unseres Schäferhundes vorbei, in den Garten führte.
»Es war ein schöner Hund!« sagte ich nachdenklich.
»Ob die Eltern ihn deshalb Herzog (Duc) genannt haben?« fragte Michel.
»Aber nein«, stellte Colette richtig. »Sein Name mußte seinem Stammbaum entsprechend mit einem >D< beginnen.
»Wenn er bloß noch lebte! Jetzt hätten wir Duc wirklich nötig!« Von dem Podest, auf dem wir standen, konnten wir über die buschige Ligusterhecke die schweren Lastwagen sehen die, mit Munitionskisten beladen, an uns vorbeifuhren. Unsere Landstraße war eine lärmende Plage geworden. Tagsüber, oft auch nachts! Von oben müssen unsere normannischen Straßen an die Tätigkeit von Ameisen in voller Aktion erinnert haben. Die Amerikaner hatten eine bemerkenswerte Fließbandstrategie hinter der Front entwickelt. Aus den künstlichen Häfen von Omaha und Utah-Beach ergoß sich eine Flut von Kriegsmaterial, das rund um die Uhr von endlosen Ketten von Fahrzeugen in alle Richtungen befördert wurde. Die Amerikaner nannten diesen Pendelverkehr »Red ball«. Nachdem zu Beginn die Fläche des zur Verfügung stehenden Grundes noch knapp blieb, säumten gestapelte Güter bis zu einer Höhe von zwei Metern bald nahezu alle Straßen. Kartons und Kisten wurden von den vorbeifahrenden Fahrzeugen mit Lehm und Dreck bespritzt, so daß die Aufschriften auch solche wie »explosive« oft nicht mehr leserlich waren. Auf den Weiden hatten sich die Kühe bereits daran gewöhnt, zwischen Bergen von Kriegsgütern friedlich ihre Nahrung zu suchen.
Später hörten wir, daß die Amerikaner sich über die ungeheure Ansammlung von ähnlichen Dingen in Südengland lustig gemacht hatten. »Es war einfach Zeit, daß die Landung stattfand«, sagten sie scherzend. »England hätte unter dieser Last glatt ins Meer kippen können!«
Nun waren wir an der Reihe! Die schweren »GMC six by six« fuhren unaufhaltsam an uns vorbei. Der Pendelverkehr Küste-Front und zurück verlangte von den Menschen, die daran beteiligt waren, fast Unzumutbares, weil er in gleichem Maße Perfektion in der Organisation wie absolute Improvisationsbereitschaft in der Durchführung voraussetzte. Im Augenblick war jedoch unsere Begeisterung aus egoistischen Gründen gleich Null. Der großartige »Red ball« hatte zwei Hunde getötet die unseren.
Plötzlich blitzten Scheinwerfer. Die Schlange der Schwertransporter hielt an. Einer dieser Laster mit sechs Antriebsrädern fuhr knapp an der Ligusterhecke entlang und blieb direkt vor uns stehen. Drin lagen, säuberlich aneinandergereiht, ... Bomben! Ich schauderte. Michel sagte erstaunlich ruhig:
»Er kocht!«
Solche technischen Dinge erfaßte unser Bruder meistens schneller als wir. Der schwarze Fahrer war ausgestiegen. Mit einem khakifarbenen Tuch drehte er langsam den Deckel des Kühlers auf. Es zischte laut. Dampf schoß in die Höhe. Der Soldat, der sehr groß und dick war, grinste zufrieden neben der Dampfwolke. Die Kolonne rollte nun an seinem Fahrzeug vorbei. Er winkte seinen Kameraden fröhlich zu. Alle Fahrer waren Farbige. Manche machten witzige Bemerkungen, die den Fahrer zum Lachen brachten. Er schien die Lage regelrecht zu genießen. Nach einer Weile setzte er sich auf den rechten Kotflügel seines Lastwagens, uns ganz nah, für den fahrenden Betrieb kaum sichtbar. Dort zündete er sich seelenruhig eine Zigarre an.
»Oh, nein!« entfuhr es Michel.
Der Soldat entdeckte uns und sagte munter:
»Hallo!«
Wir waren starr vor Schreck. Dieser schwarze Koloß konnte uns jede Sekunde in die Luft jagen und schien es nicht zu ahnen. Wir  warteten   wie   hypnotisiert.   Der   amerikanische   Soldat rauchte mit Genuß. Seine Zigarre glühte bei jedem Zug, ohne wie es uns schien von ihrer Länge einzubüßen. Das Gesicht des Lastwagenfahrers wirkte friedlich und glücklich. Während der Mann sich der Aufregung seines momentanen Jobs entledigte, steigerte sich unsere Unruhe. Was würde er zu guter Letzt mit dem Stummel tun? Er drückte ihn sachte auf dem Kotflügel aus, sprang herunter und schwang sich schwerfällig auf den Fahrersitz. Der Motor heulte auf. Er stieg wieder herunter und füllte von einem Kanister Wasser in den Kühler. Der Spuk war vorbei.
»Nicht die Bomben waren gefährlich«, sagte Papa am Abend, »vielmehr die Munitionskisten rundherum. Alles ist zu dicht beieinander auf diesem schmalen Brückenkopf, auch die Soldaten!«
Wir lebten in der Tat auf einem Pulverfaß. Unser Vater bereitete seine zukünftige Abwesenheit in der Fabrik vor. Wir sahen ihn kaum. Am Abend war er gereizt, manchmal ungehalten und schlief dementsprechend schlecht. Er hatte längst seinen Feldkoffer gepackt. Gelegentlich bekam ich den Eindruck, er gehörte bereits nicht mehr ganz zu uns. Mama vermittelte, bat um Verständnis, um Geduld. Dabei war sie selbst fahrig geworden. Sie aß kaum noch und sah blaß aus. Ihre hellbraunen Augen leuchteten nur noch selten. Die von Papa waren traurig, zuweilen abwesend, oft voller Groll. Colette hatte ähnlich dunkelbraune Augen, die vor Zorn sich noch mehr verdunkeln konnten. Es kam nun ohne wichtigen Anlaß öfter zu heftigen Konfrontationen zwischen Vater und Tochter. Im Grunde genommen waren sich die beiden ähnlicher, als sie es zugegeben hätten. Gerieten sie deshalb in Streit?
In unserem Haus lachte niemand mehr, Stimmungstief auf der ganzen Linie. Unser Familienschiff wankte, von unsichtbaren Strömungen erfaßt, gefährlich hin und her. Wo blieb der Steuermann?
Papa, der die Brücken zu einem Beruf abgebrochen hatte, der bisher sein Leben mit Freude und Ärger erfüllt hatte, brauchte dringend einen faßbaren, unmittelbaren Ausgleich. Er wartete mit Ungeduld auf einen Marschbefehl, während Mama heimlich hoffte, der Befehl würde nie kommen. Dieser Schwebezustand bekam keinem von uns.
Es wurde beschlossen, daß wir die kommende Nacht im Haus verbringen würden. Ob sich die Eltern voneinander versöhnlich verabschieden wollten? Den ganzen Abend blieb die Familie friedlich. Plötzlich schien alles wie früher. Soeben hatte Papa an die Wand unseres Schlafzimmers geklopft, weil Colette und ich wie oft miteinander sprachen, anstatt zu schlafen. Bald elf Uhr! Ein wenig berauscht von der lauen Nachtluft, die durch unser offenes Fenster hereinströmte, setzten wir unsere Unterhaltung leise fort. Warme Sommernächte haben in der Normandie Seltenheitswert.
Was wir flüsternd sagten, gewann durch die Stunde zunehmend an Bedeutung. Gedanken, die am nächsten Tag in Vergessenheit geraten würden, schillerten trügerisch wie erleuchtete Ideen: kurzlebige Lichtblicke wie Sternschnuppen an einem Sommernachtshimmel! Die zweite Mahnung aus dem Elternschlafzimmer klang so eindringlich, daß ich schuldbewußt zusammenfuhr.
»Gute Nacht!« sagte Colette, die eine Minute danach fest schlief.
Um diese Gabe des raschen Abschaltens, um diese Stärke hatte ich sie gelegentlich beneidet. Jetzt nicht! Ich saß hellwach im Bett und fand die Nacht viel zu schön, um sie zu verschlafen. Nach einer Weile ging ich auf leisen Sohlen zum Fenster. Ich lauschte auf die Geräusche im Mondschein. Irgendwo in der Nähe quakte ein Frosch. Laute des fernen Krieges durchschwirrten die schlafende Umgebung. In der Fabrik brannte kein Licht. Alles war still im Hof. Wolken zogen wie geheimnisvolle Schleier vor den Mond. Sie verdeckten ihn ganz oder zauberten Lichteffekte, weil sie ihre Dichte rasch wechselten. Bei diesem Versteckspiel behielt der Mond sein wie festgefrorenes Antlitz und schaute, starr in seinem matten Glanz, herablassend auf uns nieder. Dieser Begleiter unseres Schicksals war nicht in der Lage, einen einzigen Zug seines selbstgefälligen runden Gesichts zu verändern. Unsere irdischen Kriege waren ihm völlig egal!
Einige Sterne leuchteten zwischen den ausgefransten Wolken. Ich senkte den Blick und stutzte jäh. Bei einem der obersten Fenster des Pavillons schräg vis-a-vis von unserem Haus bewegte sich ein glühender schwacher Punkt hin und her. Dann nichts mehr. Alles völlig dunkel. Kurz darauf konnte ich im Mondschein deutlich eine auf dem Fensterbrett sitzende Gestalt erkennen. Ob der Mann mich in meinem weißen Nachthemd sehen konnte? Am besten war es, wenn ich mich überhaupt nicht rührte. Was sich in der Nacht nicht bewegt, sieht man kaum.
Eine Wolke verdeckte den Mond. Das winzige Licht, jetzt unbeweglich, leuchtete stärker. Ich begriff, daß der Mann an seiner Pfeife gezogen hatte. Zugleich wußte ich, wer der Raucher im Mondschein war. Eric! Ich erkannte seinen markant eckigen Kopf mit dem Bürstenhaarschnitt und war neugierig, warum er Lichtsignale in die Nacht sandte, wenn der Mond verschwand. Er zeichnete nun mit seiner Pfeife Spiralen in die Luft. Es sah hübsch aus. War es vielleicht nur Spaß? Ich hätte volles Verständnis dafür gehabt. Auch fand ich sympathisch, daß er in dieser fast friedlichen Nacht keine Lust zum Schlafen hatte.
Ich schüttelte mein langes, aufgelöstes Haar. Trotz Bürsten blieb es vom Flechten leicht wellig. Die Hände im Nacken, das Haar hochhebend, fühlte ich mich frei von jedem Druck, leicht und wunderbar beschwingt. Fast überzeugt, daß Eric, der junge Praktikant, mich von seinem Platz am Fenster nicht sehen konnte, winkte ich ihm kurz zu: ein fröhlicher Abschiedsgruß aus purem Übermut.
Prompt signalisierte die glühende Pfeife durch kreisende Bewegungen freudige Zustimmung. Ich fühlte mich bis zu den Haarwurzeln rot werden und ging rasch vom Fenster weg, verwirrt, unsicher und doch geschmeichelt. Im Bett lächelte ich: Das poetische Spiel mit dem Feuer hatte offensichtlich mir gegolten!
Am nächsten Tag kam Eric zum Mittagessen. Papa hatte ihn eingeladen, froh, daß es ihm gelungen war, von seinem Urlaubsort nach Le Molay zurückzukehren. Eric war 18 Jahre alt. Mit seiner vor einem halben Jahr begonnenen Tätigkeit in der Fabrik hatte er dem Gesetz vom 4. September 1942 vorbeugend entgehen können. Nach diesem Gesetz konnte »jeder Mann über 18 und unter 50, jede Frau über 21 und unter 35 verpflichtet werden, jegliche Arbeit zu übernehmen, die die Regierung im Interesse der Nation für nützlich hielt«. (Unter Anwendung dieser allgemein gehaltenen Formel waren allein in der Zeitspanne vom 1. Juni bis zum 31. Dezember 1942 239 763 französische Arbeiter nach Deutschland geschickt worden. Im Januar 1943 wurde festgelegt, daß 250 000 Franzosen bis zum 15. März 1943 nach Deutschland gebracht werden mußten, um die deutschen Arbeiter zu ersetzen, die sich an der Front befanden. Verfügungen verschärften nach und nach die Vorschriften über die Zwangsarbeit in Deutschland »Service du Travail obligatoire, S. T. O.« - und es wurde immer schwieriger, diesen Verpflichtungen zu entgehen. Eltern bauten vor und versuchten, ihre Söhne in »lebenswichtigen Betrieben« unterzubringen, ein fast unmögliches Unterfangen, das für Eric nur deshalb gelungen war, weil er zuvor eine Fachschule für Milchindustrie absolviert hatte.)
Trotz seiner Jugend war er neuerdings für einen Teil der Fabrikation verantwortlich geworden, als der dafür zuständige Mann erkrankte. Papa lobte seine spontane Begabung mit Menschen umzugehen. Er war durchweg von diesem »energischen und fleißigen jungen Mann« begeistert.
Beim Mittagessen erzählte Eric, daß er sich einer Gruppe junger christlicher Landwirte (J. A. C.) aus der Umgebung angeschlossen hatte, die er am Wochenende regelmäßig traf. Nie hatten wir uns Gedanken gemacht, wie er seine freie Zeit verbrachte. Papa hatte ein für allemal erklärt, es würde der Autorität von Eric schaden, wenn er uns oft sähe. Im übrigen sollte niemand wissen, daß er mit seiner Familie befreundet war. In der Fabrik behandelte er ihn wie einen Fremden. Wir trafen ihn selten, nur im Vorbeigehen.
Zum ersten Mal nun saßen wir gemeinsam am Eßzimmertisch. Eric sprach mit Begeisterung von den Aufgaben, die die französische Jugend bald zu übernehmen hätte. Zunächst mußte man mit den Alliierten Hitler besiegen, aber dann sollten sich die Europäer wie Christen, die sie sind, versöhnen und danach leben.
»Ich werde manchmal ausgelacht, wenn ich Ähnliches von mir gebe«, fuhr er fort. »Viel zu früh! sagen die Leute ... Vielleicht denken sie auch so. Aber sollen wir warten, bis der nächste Krieg kommt?«
Es gefiel mir, daß er sich voller Tatendrang und Idealismus zeigte. Ab und zu dachte ich an die gestrige Nacht. Eric am Tag, Eric in der Nacht; wie kamen diese zwei grundverschiedenen Wesen miteinander aus? Eric verabschiedete sich kollegial, ohne eine Spur von Sentimentalität.
Später überlegte ich, ob ich Colette die Geschichte mit der Pfeife erzählen sollte, verwarf jedoch gleich diesen Gedanken. Es kam mir vor, als ob ich kein Recht dazu hätte. Unausgesprochen blieb die Erinnerung ohne Schwere, bezaubernd belanglos und damit hübsch. Worte sind mir immer gefährlich erschienen: zu bedeutend, zu festnagelnd. Durch die Sprache werden Gedanken offenkundig, weitererzählbar. Dies schien mir gelegentlich nicht wünschenswert. Betrafen Begebenheiten Dritte, wie im Falle Eric, wollte ich zunächst dem Betroffenen ein Mitspracherecht einräumen, bevor ich begann, sie zu erwähnen. Damit schwieg ich manchmal, aus Freundschaft.