Caen wird befreit! / Französische Offiziere unter sich

Michel hatte unter den benachbarten Kanonieren einen Briefmarkensammler gefunden. Es wurden eifrig Marken getauscht, friedliche Briefmarken von ehemals friedlichen Staaten.
Inzwischen starben die Menschen unbarmherzig. Alle Juli-Kämpfe trugen in der Normandie allmählich den Charakter der Verzweiflung. Die Entscheidung war fällig. Menschenopfer hatte es schon zu viele gegeben. Weniger denn je konnte auf die Bevölkerung Rücksicht genommen werden. Die deutsche Führung hatte an zwei Fronten zu kämpfen, die nun so rasch hintereinander an Bedeutung wechselten, daß die schon dezimierten Panzerverbände auf die Dauer nicht mithalten konnten; Verschiebungen ließen sich kaum noch durchführen. Während die Großoffensive der Amerikaner im Raum Saint-Lo die vollständige Herrschaft über die Cotentin-Halbinsel anstrebte, ging es den Briten und Kanadiern darum, die Stadt Caen endlich zu Fall zu bringen.
Am 10. Juli hörten wir im englischen Rundfunk, daß nach besonders harten Nahkämpfen mit SS-Verbänden in manchen Vororten von Caen, »britische Spähtrupps am Nachmittag des 9. Juli in die leider sehr zerstörte Stadt Caen eingedrungen waren«. Wir vernahmen mit großer Erleichterung, daß Caen als befreit galt. (In Wirklichkeit blieb das rechte Ufer der Orne in den Händen der Deutschen, die von dort aus den von den Alliierten besetzten Stadtteil unter Beschuß hielten.)
Erst am 20. Juli wurde Caen offiziell als »befreit« erklärt. Die Front blieb allerdings knapp hinter der Stadt stehen so lange, daß es zu Spannungen zwischen den Alliierten kam. Die »Defensivgesinnung« Montgomerys wurde kritisiert. Die Deutschen gruppierten unterdessen massive Kräfte zwischen den Flüssen Odon und Orne, um den Ausbruch der Briten in die Ebene Caen-Falaise zu verhindern. Dadurch war es ihnen unmöglich, auf die Amerikaner im Westen verstärkten Druck auszuüben. (Bereits am 29. Juni hatte Rommel in Berchtesgaden den von Hitler abgelehnten Vorschlag gemacht, die 7. Armee solle sich kämpfend zur Seine zurückziehen und dort mit Divisionen aus Südfrankreich eine neue Front bilden.)
Diese strategischen Erwägungen wurden erst Jahre danach bekannt. Im Augenblick hofften wir lediglich, daß die Bewohner von Caen alles endgültig überstanden hatten soweit sie noch lebten und noch Wohnungen besaßen. Der letzte Gedanke quälte uns alle entsetzlich: Wer von unseren Freunden hatte sein Leben lassen müssen? Wie stand es vor allem um die Familie Morice, um unsere Schulkameradinnen, um die Ursulinen? All diese Fragen betrafen vertraute, liebgewordene Gesichter, die ich beim Nachdenken zu sehen glaubte, sanft lächelnd, mild um die Gnade bittend, weiterleben zu dürfen. Ich bildete mir ein, den Ton einer befreundeten Stimme, den Klang eines fröhlichen Lachens zu hören, und meinte, den fragenden Blick eines vielleicht bereits zum Tode Geweihten zu sehen. Mir wurde von diesen Momentaufnahmen aus der Vergangenheit, die mit schwindelerregender Geschwindigkeit vorbeihuschten, förmlich schlecht.
Als ich ein Fenster des Wohnzimmers öffnete, drang geräuschvoll der Krieg in unser Haus. Die ferne Schlacht war deutlich hörbar. Im Nu schien sie vom Raum Besitz zu ergreifen. Innerlich aufgewühlt stand ich am Fenster. Welcher unerfindliche Sinn steckte in der Auslese, die der Tod gerade jetzt willkürlich traf? Warum sollten nun viele Menschen sterben, andere nicht? Schlief Gott?
Als Antwort bedrängte mich erneut eine Frage: Und was machst du mit der sonst von dir so geschätzten Freiheit der Menschen? Gut, wir sind frei, dachte ich, frei, uns in Europa seit Jahrhunderten gegenseitig zu schlachten! Wegen dieser wunderschönen Freiheit läßt uns Gott vermutlich gewähren, wohlwissend, daß wir irgendwann einmal verstehen werden.
Aber wann?
Es mag sein, daß unsere Kriege, kosmisch gesehen, unbedeutend sind. Vielleicht spielt die Zeit ebenfalls keine Rolle. Aber die Menschen, die sterben — sind sie nicht, jeder für sich, einmalig und deshalb wichtig? Sie besitzen einmalige Gesichter, eine einmalige Seele und einen Urwillen zu leben, der mehr als Selbsterhaltungstrieb ist: Jeder von ihnen hat den Wunsch, auf eine sehr persönliche Art das Leben zu verwirklichen, das er bekommen hat. Dabei während ich da stehe genügt ein Augenblick, um diese geballte Kraft, die ein Mensch darstellt, auszulöschen. Ein Knall und es ist vorbei. Männer, Frauen und Kinder werden in jeder Minute von der Bildfläche ausradiert, aus dem zukünftigen Geschehen herausgerissen. Saint Exupery hatte, in einem anderen Zusammenhang, von »ermordeten Mozarts« gesprochen. Die »Helden«, die täglich fielen, waren nicht alle Mozarts, zugegeben. Aber spielte das eine Rolle? Abgesehen davon, würde man nie erfahren, was in ihnen gesteckt hatte, nachdem sie frühzeitig verschwanden.
Jahrelang hatten Schüler, Studenten, Lehrlinge gelernt und sich geplagt. Sie hatten Selbstbeherrschung und Verzicht geübt .. ., alles im Hinblick auf die Zukunft. Wozu? Auch die Eltern dieser jungen Leute waren voller Hoffnung gewesen. Wozu die ganzen Bemühungen seit der Geburt all dieser Menschen, die nun starben oder verkrüppelt wurden?
In meinem Kopf pochten Wut und Verzweiflung. Draußen zog sich die Dämmerung wie ein langer Abschied dahin. Ich sehnte mich nach einem Ausweg wie der Taucher nach frischer Luft und dachte plötzlich: Wenn, nach diesem Krieg alle Menschen überall auf diesem wohlgeformten Planeten in Freiheit leben könnten, dann hätte das Ganze doch einen tiefen Sinn gehabt. Eine solche Hoffnung war viel wert, wenn sie sich verwirklichen ließ. Und wenn nicht?
Unsere Klassenlehrerin die Tochter des Generals hätte nun gesagt:
»Es ist anmaßend, sich zu viel Gedanken über die Zukunft zu machen.«
(Warum war sie eigentlich mit so einem kriegerischen Vater Nonne geworden?)

Französische Offiziere unter sich

Ein im Hof vorbeiflitzender Jeep zerriß meine Gedanken. Der Wagen war um die Ecke verschwunden, bevor ich erfassen konnte, wer drin saß, aber etwas Hellblaues machte mich stutzig»
Wenn ich nicht völlig durchdrehe, ist es Papa!« rief ich hocherfreut. Ich rannte nach draußen, dem Reich des Grauens entronnen, von der ganzen Familie gefolgt.
Der Jeep stand hinter dem Rosenbusch, und Papa stieg aus. Er warf unbekümmert seine uns so vertraute Kopfbedeckung auf den Rücksitz des Wagens. Das steife, würdige, himmelblaue Käppi der Spahis, den von den Franzosen aufgestellten nordafrikanischen   einheimischen  Reiterregimentern,   landete  unsanft, aber gezielt. Früher hatten wir mit diesem Merkmal der Offiziersausbildung unseres Vaters nie spielen dürfen,, obwohl wir das Käppi gern gelegentlich aufgesetzt hätten. Damals, im Jahre 1939.
Papa lächelte glücklich und sah jetzt wie ein Amerikaner aus.
Er hatte wunderschöne weiche Lederstiefel an. Als er uns umarmte, roch er fremd. An seinem Jeep war eine kleine Fahne mit dem Lothringer Kreuz angebracht. Voller Bewunderung umkreisten wir den Wagen. Man sah ihm an, daß er durch Felder und schlechte Straßen gefahren war.
»Dein Spaten ist ganz dreckig«, sagte Michel, der ihn von seiner Halterung an der Seite des Jeeps abgenommen hatte. »Hast du ihn benützt?«
»Er wird oft gebraucht«, antwortete Papa gutgelaunt, »um die schön klebrige normannische Erde beiseite zu schaffen, wenn wir drin stecken bleiben!«
»Beschimpf diese Erde nicht!« konterte Colette voller Würde.
»Ich werde mich hüten, mein Kind«, erwiderte Papa schmunzelnd, »obwohl ich sie bei dem Dauerregen der letzten Tage wahrhaft verflucht habe.«
Später holte er Schätze aus seinem Feldkoffer heraus: Ein Glas Erdnuß-Butter war dabei. Dieser exotisch anmutende Brotaufstrich schmeckte uns besser, als er es verdiente. Wir aßen, von Mama kritisch beobachet, mit dem Löffel reihenweise davon. Unser Vater versprach Nachschub und hielt bei seinen späteren raren Blitzbesuchen so gut Wort, daß er von uns den Kosenamen »Papa-Peanut« bekam eine Betitelung, die in die Codesprache unserer Familie einging und als dankbare Auszeichnung für nette Aufmerksamkeiten galt.
Mit dem Wort »Peanut« zauberten wir, noch viele Jahre danach, eine ganze Periode herbei. Die Peanut-Butter hatte 1944 die merkwürdige Eigenschaft besessen, uns eine ferne Welt zu offenbaren, wo riesige Felder, sanft »vom Winde verweht« unter der Sonne der Freiheit reiften. Wie aufnahmefähig waren wir damals für schöne Klischees aus Übersee! Wie anfällig für amerikanische Reize!
Beim Abendessen erzählte uns Papa zum ersten Male, daß er kurz nach seiner Heirat daran gedacht hatte, eine Stellung in den Staaten anzunehmen.
»Oh! Warum hast du es nicht getan?« fragte Michel spontan.
»Wir wären alle drei dort geboren und aufgewachsen, wie echte Amerikaner..., und ich könnte jetzt ohne Mühe perfekt Englisch und Französisch!«
»Perfekt? Hm! Du bist aber heute optimistisch!« schmunzelte Papa. »Im Grunde genommen hast du aber recht: Im nachhinein sieht alles rosa aus für mich auch manchmal, wenn ich darüber nachdenke -, obwohl es mit meinem Beruf vielleicht gar nicht so großartig funktioniert hätte. Es ging damals um eine Tochtergesellschaft unseres Konzerns, die übrigens, auch später, nie gegründet wurde. Schade! Dabei war es mir mit großer Mühe gelungen, eure Mutter zu überreden, mit mir auszuwandern!«
»Ganz so schlimm wird es wohl nicht gewesen sein«, scherzte Mama, »aber, um ehrlich zu sein, ich war damals nicht besonders unglücklich, als es doch nicht klappte..., obwohl ich natürlich bis ans Ende der Welt mit dir gegangen wäre!«
»So und jetzt?«
Mama lachte.
»Was willst du denn hören? Zu guter Letzt nimmst du mich beim Wort und wanderst nach Tahiti aus, sobald es möglich ist! Mit eurem Vater ist man seines Lebens nie sicher!« jammerte sie aus Spaß.
Wir genossen den wohligen Eindruck unserer Gemeinsamkeit und schienen alles andere vergessen zu haben. Unser Familienkreis hatte sich für einige Stunden wieder geschlossen.
»Ich glaube, wir sind alle komische Paradiesvögel«, dachte ich laut.
»Wieso?«
»Einfach schwer unter Fremden einzuordnen und am glücklichsten unter sich.«
Wir aßen frische Artischocken aus dem Garten, und es kam uns der Gedanke, daß die großen Pflanzen uns während eines der Tiefangriffe besonders gut getarnt hatten.
»Wir haben die ganze Zeit wirklich Glück gehabt.«
»Bis jetzt!«
Plötzlich fragte unsere Mutter und ich wußte, daß sie sich bereits eine Weile mit diesem Gedanken herumquälte:
»Wann mußt du wieder weg?«
»Erst morgen!« antwortete Papa großartig. »Wir haben den ganzen Abend für uns... oder fast«, schränkte er sofort ein: »Ich hätte es beinahe vergessen. Gegen 21 Uhr kommt Oberst Le Perthuis de la Fourcade hierher. Ich habe ihm gesagt, daß er bei uns übernachten kann, weil wir beide morgen zusammen weiterfahren. Du bist doch einverstanden?«
»Natürlich!« sagte Mama ein wenig matt. »Ich dachte nur, du würdest vielleicht zwei Tage in Le Molay bleiben.«
»Diesmal nicht, Cherie. Sei bitte nicht traurig! Der 14. Juli steht vor der Tür. Es wurde mir erzählt, daß Admiral Thierry d'Argenlieu, Chef der >Forces navales frangaises libres< und Ordensbruder der Karmeliter, nach Le Vast zu uns kommen will und eine Ansprache zum Nationalfeiertag halten wird. Nicht übel, nicht wahr? Im übrigen werden zur Zeit französische Verwaltungsoffiziere im Cotentin an Land gebracht. Man muß sich um sie kümmern. Sie hatten in England eine Spezialausbildung, damit sie nun die Kontakte der Alliierten zu der hiesigen Bevölkerung erleichtern, zugleich aber unsere selbständige Zukunft vorbereiten. Oberst de la Fourcade ist einer dieser Offiziere. Vielleicht wirkt er zunächst ein wenig steif, sehr überzeugt von seinem Stand als Berufsoffizier; aber er ist o. k. Ich glaube, er wird dir gefallen.«
»Was sollen wir ihm anbieten?«
»Eine gute Frage! Es wird höchste Zeit, daß ich vom Keller eine Flasche Chambolle-Musigny oder Gevrey-Chambertin hole, damit der Wein ein wenig ruhen kann, bevor unser Gast kommt. Auf einen alten Burgunder habe ich schon lange Lust! Du auch? Zu dem Wein servierst du ganz einfach Käse.«
»Ach du meine Güte! Ich habe nicht einmal genug Brot für das morgige Frühstück!«
»Das macht nichts!« sagte Papa beruhigend. »Nur Käse! Was meinst du, wie die Rationierung in England ist! Es muß so schlimm sein, daß die Engländer uns glatt beneiden, seitdem wir hier anfangen, ohne Hinterland auf unseren Milchprodukten sitzen zu bleiben. Der >Daily Mirror< soll kürzlich geschrieben haben: >Londoner, wenn euch irgend etwas fehlt, fragt die Franzosen in der Normandie. Möglicherweise haben sie's!< Ziemlich arg!.... Aber man muß zugeben, daß unsere plötzliche Butterschwemme jeden erstaunen muß, der nicht weiß, daß dieser Teil der Normandie früher ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, die ganze Stadt Paris mit Butter zu versorgen.«
»Hier wird schon zweimal in der Woche gesalzene Vorratsbutter hergestellt«, sagte Mama.
»Wirklich? Na, siehst du... Auf jeden Fall wird sich der Oberst königlich über deine Käseplatte freuen.«
Als Colonel de la Fourcade eintrat, küßte er zunächst Mama die Hand. Er war sehr groß, sehr schlank, mit einem schmalen Gesicht, in dem die Backenknochen hervorstachen. Mit seinen dunklen Augen wirkte er ein wenig spanisch El Greco, dachte ich. Bald verwickelte er sich in einen ernsten Monolog. Ein wenig lehrmeisterhaft begründete er seine Sorgen um die unmittelbare politische Zukunft Frankreichs:
»Unsere Mitbürger scheinen mir mehr zerstritten zu sein, als ich es in England angenommen hatte. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Verteidigung in der Gegend von Cherbourg hat sich ein Teil der Bevölkerung mit Waffen, Munition und Gütern aller Art eingedeckt. Kasernen, deutsche und französische Militärlager wurden durch die Verwüstungen eine Weile jedem zugänglich. Den Plünderungen, die im ersten Augenblick als patriotische Handlung gewertet werden konnten, ist inzwischen Einhalt geboten, aber die Waffen sollten alle eingesammelt werden.«
Wir lauschten sehr kritisch.
»Bei der Vorstellung dieses Waffenarsenals in den Händen von Unbefugten wird mir bange«, folgerte der Oberst.
»Man gewöhnt sich sehr schnell daran, heimlich Waffen zu besitzen, und es ist verführerisch, politische Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen, wenn man ein Maschinengewehr in der Hand hält, vor allem, wenn man im Untergrund gelernt hat, Befehlen zu gehorchen und Parolen weiterzugeben.«
Mama unterdrückte ein erschrecktes »Oh!«
»Leider, gnädige Frau. Es hat keinen Sinn, unsere Lage zu beschönigen. Im Moment sind noch alle Menschen beschäftigt, und die Alliierten sind bei uns, aber es kursieren schon alarmierende Parolen in Cherbourg. Man spricht vom >Grand soir<, von dem Tag, an dem >abgerechnet< wird. Meinen Sie nicht auch, eher ami, daß es sich um eine gefährliche Entwicklung handelt?«
»Nach dem Trauma der letzten vier Jahre könnte Frankreich in der Tat Gefahr laufen, seine inneren Konflikte durch eine Revolution lösen zu wollen. Vielleicht wird es Jahrzehnte dauern, bis wir Franzosen von dieser Versuchungdie uns ohnehin seit 1789 anhaftetend gültig loskommen.«
»Ich wußte nicht«, sagte der Oberst verschmitzt, »daß Sie Königsanhänger sind.«
»Oh! Nein!« widersprach Papa. »Das war ich nie«, und seine Aussage mildernd: »Es liegt meines Erachtens ein wenig weit zurück. Ich glaube, daß wir nun ganz andere Probleme haben.«
»Selbstverständlich. Ich wollte Sie nur ein wenig provozieren.«
»Darf ich, mon Colonel, das gleiche tun?« fragte Papa. »Es ist für mich sehr wertvoll, mit ihnen zu sprechen. Während der Besatzung waren Sie in England. Ich bin hier geblieben. Nachträglich gesehen, glaube ich, daß beide Standpunkte nützlich waren.«
»Zweifelsohne.«
»Es gibt manche ungelösten Fragen zwischen uns französischen Offizieren der beiden Seiten des >Channels<. Je mehr wir miteinander ehrlich sprechen können, desto besser wird sich unsere Zusammenarbeit gestalten.«
»Gewiß. Fragen Sie nur.«
»Die französischen Sendungen der B. B. C. habe ich oft mit großer Aufmerksamkeit gehört und mich manchmal gefragt, warum der Ton der Chroniken nicht selten auf Klassenkampf programmiert war. Man hat den arbeitenden Menschen >für die Zeit danach< Dinge versprochen, die sich zwangsläufig in der Nachkriegswirtschaft Frankreichs als enttäuschende Illusionen entpuppen müssen. So etwas rächt sich immer. Mir war oft um diesen achtlos verstreuten Zündstoff bange. Warum hat man in London versucht, die Widerstandskämpfer mit auf lange Sicht unerreichbaren Träumen wie die 36-Stunden-Woche zu motivieren?«
»Vergessen Sie nicht«, entgegnete der Oberst, »daß sich viele Widerstandskämpfer seit dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion unter den Kommunisten rekrutierten. Sie blieben im Lande, waren sehr tätig und schwer in den Griff zu bekommen, weil unter sich organisiert. Es lag nahe, daß man im Rundfunk öfters Menschen sprechen ließ, die ihnen >linientreu< erschienen. Es war taktisch klug, wie Sie jedoch mit Recht bemerken, vermutlich kurzsichtig.«
»Das nennt man Menschen manipulieren, zu welchem Zweck auch immer...«
Colette, über die Wirkung ihres plötzlichen Auftritts selbst erschrocken, hielt inne. Ihre Äußerung platzte in die Unterhaltung wie ein Stein in einen ruhigen Teich. Papa schnappte nach Luft. Oberst Le Perthuis de la Fourcade reagierte mit Humor.
»Ich sehe, Mademoiselle, daß die Tugend des Mutes hierzulande nicht verkommt. Wie heißt es im >Cid<? >An diesem edlen Zorn erkenne ich mein Blut<, wobei ich das Kompliment dem Vater gern weitergebe. Darf ich jedoch bemerken«, sagte er mit einer Verbeugung in Richtung Colette, »daß ich obwohl in London mit der Gestaltung der Sendungen des englischen Rundfunks nicht das Geringste zu tun hatte?«
»Das dachte ich auch nicht«, entschuldigte sich Colette, »sonst hätte ich die Bemerkung von vorhin bestimmt nicht gemacht.«
»Möglicherweise konnte sogar General de Gaulle zu seinem Leidwesen wenig Einfluß auf diese Sendungen ausüben.« »Unsere Tochter geht gern auf die Barrikaden«, bemerkte Papa.
»Machen Sie sich keine Gedanken! Ich finde es nicht schlecht, wenn jemand seine Meinung vertritt. Politische Entscheidungen haben ohnehin etwas an sich, was uns Soldaten gelegentlich Unbehagen verursacht... Bis November 1943 hatten wir Sie erinnern sich daran? zwei Generäle als Präsidenten des französischen Befreiungskomitees< in Algier: General de Gaulle und General Giraud. In Nord-Afrika schwärmte man eindeutig für den Letztgenannten. Auch die Amerikaner taten dies, während Churchill sich mit General de Gaulle arrangierte, ohne ihn wie wir hörten sehr zu mögen. Es gab für uns auch zwei Regierungsstandorte: seit Juni offiziell Algier, weiterhin London. Ein verflixtes Dilemma! Die Anhänger Girauds waren bitter enttäuscht, als die Entscheidung zugunsten General de Gaulle fiel. Erst jetzt merkt man, wie richtig sie war!«
Nach einer kurzen Pause - Papa äußerte sich nicht - zog der Oberst selbst einen Strich unter seine lange Rede. Es klang mir so, als ob er sich persönlich ermutigen wollte:
»Wir müssen unter uns Franzosen viele Uneinigkeiten überwinden. Hoffentlich gelingt es uns gut! Ich tippe dabei auf die Freude, die wir alle empfinden, unser Land bald frei zu sehen, und auf die jungen Leute.«
Endlich! Mir schwirrte der Kopf vor lauter Zwiespältigkeiten!
Prompt servierte Papa ein Beispiel des Elans, der »vor allem jungen Rekruten eigen ist«. Oberst Taupin hatte 50 Freiwillige innerhalb des Bataillons für französische Kommandos gesucht. Allein in der Kompanie von Le Vast meldeten sich 94. Nach einer strengen Auslese, die der Stabsarzt getroffen hatte, hatte es regelrechte Tränen bei den Zurückgestellten gegeben.
»Ich hatte so was noch nie gesehen«, erklärte Papa, »und, in Anbetracht der akuten Lebensgefahr, der sich die Jungs zu stellen hatten, finde ich die Geschichte erwähnenswert.«
»Mit dem Salutieren ist es auch erstaunlich«, sagte Oberst de la Fourcade. »1939 waren die Franzosen vom Pazifismus so durchdrungen, daß man Mühe hatte, sich von den Soldaten grüßen zu lassen. Jetzt grüßt jeder; die Zivilisten oft mit aufrichtiger Freude, wieder französische Offiziere zu sehen. Es bläst ein neuer Wind.«
»Nicht immer!« scherzte Papa. »Ich kann jedoch gut verstehen, daß die Bauern, die sich zum Beispiel mit Wehrmachtspferden eingedeckt haben, nicht auf Anhieb begreifen, daß sie kein Recht auf diese Wiedergutmachung in Naturalien haben. Ihr Vieh ist dezimiert worden, und nun kommen wir und verlangen die Pferde zurück, weil die französische Armee sie braucht. >Die Deutschen haben ohnehin diese Pferde vermutlich von einem französischen Bauern beschlagnahmt< wehrte sich neulich ein Viehzüchter, worauf der Sergeant antwortete: >Aber nicht von dir! Mußtest du dir im übrigen gleich zwei Pferde schnappen, ohne auf deine Nachbarn Rücksicht zu nehmen ?< Es gibt viele lustige Geschichten. Bei manchen Anzeigen von Neidern forscht man am besten gar nicht nach, wenn es um Lebensmittel geht. Wir haben etwas anderes zu tun als Straßburger Gänseleberpasteten, Champagner oder Calvados >Hors d'age< zu pfänden!«
»Beim letzteren dürfte sich der Beweis ohnehin schwer erbringen lassen, daß er aus deutschen Lagern stammt«, sagte Mama.
»Da irrst du. Bei vielen dieser Luxusgetränke steht auf den Etiketten gedruckt: reserviert für die Wehrmacht< oder >für die Luftwaffe<, wie bei Tausenden von Flaschen Champagner, die sachgemäß gelagert in einem Bunker schlummerten und alle Bombenangriffe ohne Schaden überstanden hatten! Der Besitzer des Grundstücks der damals die >Lieferung< beobachtet hatte führte uns dorthin. Solche Hinweise aus der Bevölkerung bekommen wir öfter, nur ist es selten in dieser verwüsteten Gegend, daß große Lager heil geblieben sind.
Als wir am nächsten Tag, vom Oberst begleitet, den Schutzgraben erreichten, stiegen gerade zwei Männer hintereinander die schmale Lehmtreppe hoch. Sie hatten die Nacht unten verbracht und schauten uns zunächst verblüfft an.
»Daß man Sie wieder hier sieht!« sagte der ältere erfreut. Er streckte Papa die Hand entgegen und — beim Anblick des Oberst ein wenig verlegen grüßte militärisch. Der jüngere tat es ihm nach und sagte:
»Bonjour toute la compagnie! Es ist eine sehr große Ehre für einen kleinen Morgen«, wobei er seine unrasierte Backe mit den Fingern streifte, »aber, wie man sagt: Im Krieg ist es nun einmal nicht anders!«
Er hatte knallrotes Haar, war klein und behäbig. Ein lustiger Geselle, der durch seine Witze unsere Stimmung öfter aufgelockert hatte. Er hieß Joseph Fizellier, man nannte ihn in Abwandlung seines Familiennamens »Ficelle« — »Schnur« also und wollte damit andeuten, daß er mehr als einen Trick kannte und nicht ungern Streiche spielte. Er und sein Kamerad wurden vorgestellt.
»Wollen Sie unser Super-Ding vorführen?« fragte Ficelle. »Ohne diesen >Boyau< (Darm) würden wir, Herr Oberst, alle nicht mehr leben!« Er deutete auf den langen, dünnen unterirdischen Gang. »Finster ist er, feucht, mies, aber was mich anbetrifftich habe mich an ihn gewöhnt. Man hängt irgendwie an seinem Lebensretter, nicht wahr? Haßliebe und Dankbarkeit zugleich.«
Papa lachte.
»Nicht schlecht gesagt! Ich glaube, Sie haben sogar den Nagel auf den Kopf getroffen!«
Ficelle wurde unter seinen Sommersprossen rot vor Freude. Er sah aus wie ein zufriedener Kobold und beteuerte witzig: »Ich will jedoch nicht leugnen, daß ich mich auf ein anständiges frisches Bett freuen werde, sobald der ganze Rummel endlich vorbei ist. Heute früh knallt es wieder ganz schön. Richtung Saint-Lo. Sie sind übel dran, die Armen!«
Es war in der Tat beängstigend laut geworden.
»Noch andere Leute unten?« fragte Papa.
»Yes, Sir. Nur wenige. Kein Gedränge mehr wie am Anfang. Lauter vernünftige Leute wie wir!«
Oberst Le Perthuis de la Fourcade lobte fachmännisch unseren Fuchsbau. Als er herauskam, hatte Ficelle auf ihn gewartet, begierig, sich mit ihm zu unterhalten. Er begleitete ihn wie ein Narr seinen König, wie ... ja, so war's ... wie Sancho Pansa Don Quijote!
»Warum lachst du?« flüsterte Colette.
»Ich werde es dir später erzählen es hat mit Spanien zu tun.« Während Papa unten aufgehalten wurde, sagte Ficelle: »Unser Direktor wird Ihnen die Rettungseichen zeigen wollen. Schauen Sie sie bitte inzwischen an! Ist es nicht verrückt? >Guillotiniert<, die beiden, einfach so!« Er schnitt eine absonderliche Grimasse und tat so, als ob er sich mit der flachen Hand enthaupten würde. »Aber wir leben!« fuhr er fort. »Wir sind mit dem Schrecken davongekommen, Herr Oberst!« Armer »El Greco«! Er verzog keine Miene und ignorierte die unterschwellige Unverschämtheit mit der Erwähnung des revolutionären Fallbeils.
»Pardon!« rief unser Witzbold, plötzlich begreifend, daß er sich dem adligen Gast gegenüber taktlos benommen hatte. »Ce que je peux avoir l'esprit de l'escalier quand je m'y mets!« (Was ich manchmal für eine lange Leitung habe!) Er gab sich theatralisch eine Ohrfeige, steckte dann kindlich-verlegen seinen rechten Zeigefinger in den Mund und senkte verschämt die Augen. Dann sagte er: »Ficelle est un idiot qui parle ä tort et ä travers sans voir plus loin que le bout de son nez.« (Ficelle ist ein Dummkopf, der spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und nicht weiter sieht, als seine Nase lang ist.)
»Was ist mit Ihrer Nase, Ficelle?« fragte Papa, der nur das Ende des Satzes gehört hatte.
»Sie muß gelitten haben, Herr Direktor, als ich wegen meiner faulen Witze über die Deutschen drei Monate im Knast verbracht habe.«
»Sie sind also auch ein Held?« fragte »El Greco« mit Humor.
»In Ihrem Dienst, Herr Oberst, wäre ich gern einer geworden.«
»Eh bien! II n'est jamais trop tard pour bien faire, mon ami.« (Es ist nie zu spät, um Gutes zu tun, mein Freund.)
»Ich werde es mir überlegen, Herr Oberst, aber ich warne Sie. Besonders tapfer bin ich nicht. Ein loses Mundwerk und nicht viel dahinter! Trotzdem, wenn Sie eines Tages einen Fahrer brauchen...«
»Ich werde es mir merken.«
Als Ficelle Richtung Fabrik verschwand, sagte Oberst de la Fourcade:
»Der Kerl hat mir gefallen. Ich hatte plötzlich den Eindruck, wieder mit einem Pariser Taxichauffeur zu sprechen. Wie lange wird es dauern, bis wir in Paris sind?«
Anschließend gab Papa technische Erklärungen über das Marinegeschoß, das uns verfehlt hatte. Der Oberst nickte interessiert, betrachtete einen Splitter, den er vom Boden aufgehoben hatte, eine Weile nachdenklich und sagte:
»Wissen Sie, daß es sich sehr wohl um ein französisches Geschoß gehandelt haben kann, nicht um ein amerikanisches!«
Er maß zu meinem Erstaunen dieser Entdeckung großen Wert bei und berichtete, daß in jener Nacht der französische Kreuzer Montcalm vor unserer Küste neben der amerikanischen Flotte gelegen hatte.
Ich war verwirrt. Wir hatten vor allem nachträglich nichts dagegen, daß wir eine Weile als Zielscheibe hatten fungieren müssen, aber war es notwendig, präzis zu wissen, durch welche Hand wir beinahe gestorben wären? Das Ganze schien mir absurd. Ich sah nicht ein, inwiefern ich mich besonders hätte freuen können, falls das Geschoß französischer Herkunft gewesen wäre. Im Gegenteil sogar! Ist Selbstmord etwas Erfreuliches?
Mit mehr Abstand zu diesem Geschehen fand ich meine damalige Reaktion trotzig einseitig, als ich Jahre danach zufällig las, daß Konteradmiral Jaujard, an Bord der Montcalm, bevor die Schiffsgeschütze des Kreuzers losfeuerten, zu seinen Offizieren und Männern gesagt hatte:
»Es ist schrecklich und abscheulich, auf unser Vaterland schießen zu müssen, aber heute erwarte ich es von euch.«
Wie gut es ist, dachte ich dann, wenn man nachträglich erfahren kann, was sich auf der anderen Seite zugetragen hat! Man kommt zu einer Einsicht, die einem ohne dieses Wissen verwehrt geblieben wäre. Vielleicht sollten Erinnerungen wie Steine in einem Gebirgsbach von der Strömung der Zeit lange aneinander gerieben werden, bis sie ihre endgültige Form erhalten. Der Vergleich verdeutlichte mir allerdings die Gefahr, in der Erinnerungen schweben, wenn sie dieser Prüfung der Zeit unterzogen werden; sie gewinnen zwar an Objektivität, können aber ihren lebendigen Aspekt leicht einbüßen. Ich sah mich, entzückt über ihr Aussehen, leuchtend bunte Steine aus dem Wasser herausholen, und wurde mir meiner Enttäuschung gegenwärtig, als sie trocken und stumpf vor mir lagen. Der Glanz, der mich verführt hatte, sie einzusammeln, war dahin. Auch Erinnerungen, dachte ich, sollten eingebettet im Leben des Erzählenden bleiben, um ihr Kolorit nicht wie leblos gewordene Steine einzubüßen.
Dies galt ebenso, um die Auffassung des französischen Oberst im Jahr 1944 richtig zu verstehen. Die Erinnerungen des Colonel Le Perthuis de la Fourcade waren von vorneherein französisch gefärbt, weil sein Wesen seit seiner Kindheit von der unerschütterlichen Treue zu seinem Land geprägt worden war und weil er in der Vorstellung einer ein für allemal eingegangenen Verpflichtung als Berufsoffizier lebte. Mit berechtigtem Stolz erzählte er uns nun von einem französischen Fregattenkapitän, der einen Kommandotrupp bei Ouistreham an Land gebracht hatte.
»Nachdem Caen endlich befreit ist, darf ich den Vorgang erwähnen«, meinte er, was er mit großer Begeisterung ausführlich tat.
Jede Neuigkeit über die Schlacht in der Normandie interessierte uns brennend, und wir fanden es aus guten Gründen großartig, daß Franzosen mitkämpften: Unsere Ehre gebot es uns. Bei der exklusiven Betonung des »Französischen« in den Erklärungen des Oberst überfiel mich jedoch langsam ein leichtes Unbehagen. Seit Anbeginn der Kampfhandlungen war uns unsere Abhängigkeit von der erfreulichen Übermacht der Alliierten insgesamt sehr gegenwärtig. Vielleicht waren wir durch unsere ständigen Kontakte zu den Amerikanern einseitig orientiert...
Ob Papa das gleiche wie ich dachte? Er hatte den Monolog des Oberst mit keiner Zusatzfrage unterbrochen.
»Das jahrelange Warten in London muß fürchterlich gewesen sein«, sagte er endlich mit echter Anteilnahme. »Ich beneide Sie nicht darum, mon Colonel. Gerade Sie als Berufsoffizier müssen wie ich Sie jetzt kenne auf Kohlen gesessen haben, aber Ihre Geduld und Ihre Entbehrungen haben sich jetzt gelohnt.«
Diese ein wenig unerwartete Schlußäußerung hieß wohl im Klartext: Eine lange unstillbare Sehnsucht steigert manchmal die Erwartungen ins Unermeßliche.