Der 14. Juli 1944 und Berichte aus Caen

13. Juli 1944.
»Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrive ...«
Die Anwesenden sangen mit Überzeugung die erste Strophe der Marseillaise. Die amerikanische Kapelle begleitete uns mit einer Lautstärke, die sich als hilfreich erwies, als es mit dem Text der zweiten Strophe haperte. Wir hatten unsere Nationalhymne verlernt. Stolz und Freude ersetzten die Übung nicht. Dann nahm das Publikum auf den Holzbänken Platz. Der »falsche Held« der Verleumder unseres Vaters hatte sich in die erste Reihe neben den Bürgermeister gedrängt. Wir saßen ein wenig abseits.
Die Werkskantine, feierlich beleuchtet, wie wir es seit Beginn des Krieges nicht mehr erlebt hatten, war gesteckt voll. Die Amerikaner hatten mit großen Planen für die Verdunkelung der langen Fensterfront gesorgt. Der Saal war in der Früh von einer Pioniereinheit für dieses Abendkonzert zurecht gemacht worden.
Während die Militärkapelle spielte, kamen wir am Vorabend unseres Nationalfeiertages allmählich in gehobene Stimmung. Die Tatsache, daß der »Held« nennen wir ihn spaßhalber Hektor in der Pause wie bestellt und nicht abgeholt ohne Gesprächspartner in einer Ecke stand, trug sicherlich zu unserer guten Laune bei. Die Mitarbeiter und andere Gäste ließen ihn eindeutig links liegen.
Hektor hatte sich in der neuen Gemeindeverwaltung durch seine extravaganten Behauptungen zunächst seinen Platz gesichert. Seine Macht nützte er aus, um kleine, im Grunde genommen dumme Racheakte auszuführen. Er ließ zum Beispiel das klapprige Motorrad seines neuen Chefs, Monsieur Mauve, beschlagnahmen. Als dieser ihn nachträglich zur Rede stellte, leugnete er, mit der Sache zu tun zu haben, bis er mit seiner eigenen Unterschrift unter der inkriminierten Beschlagnahmeverfügung konfrontiert wurde. Das verschlug ihm die Sprache. Anscheinend hatte er eine ganze Reihe ähnlicher »Wische« in Umlauf gesetzt und wußte nicht mehr, welche er persönlich unterschrieben hatte!
Hektor packte einige Monate später seine Koffer und verließ mit seiner Familie auf leisen Sohlen die Normandie. Niemand trauerte ihm nach. Er war ohnehin ein »Horsain« gewesen, wie die Normannen sagen, ein Zugereister. Ohne Anlaß hätte man ihm diese Tatsache nicht vorgeworfen. Weil er sich aber falsch, ja hinterlistig benommen hatte, weil er großspurig Theater gespielt hatte, wurde ihm seine Fremdheit als Makel angekreidet. Vorhang zu! Die Szene war übel gewesen.
Am 14. Juli gab es eine ganze Reihe von Festivitäten, die uns per Lautsprecher von umherfahrenden Lastwagen in zwei Sprachen angekündigt worden waren. Der Beginn der ersten Durchsage hatte uns sehr erschreckt, denn die ungewöhnliche Art der Mitteilung ließ uns eher eine dringende Warnung an die Bevölkerung vermuten. Unsere Erleichterung schlug in alberne Freude um. Sollten wir wirklich am Abend zu dem Ball gehen, der im Schloß von Le Molay stattfand, oder nach Littry?
»Ohne meinen Mann darf ich nicht tanzen gehen«, sagte Mama.
»Warum?« bedrängten wir sie. »Wir passen auf dich auf. Es ist die wichtigste Veranstaltung des Tages, >ce bal du chateau<.
Unsere Familie muß dort vertreten sein. Gerade weil Papa nicht da ist, sind wir verpflichtet hinzugehen!«
»Und ihr habt nicht die geringste Lust dazu?«
»Na, sagen wir, es gibt Opfer, die unangenehmer sind«, grinste Michel.
»Was werden wir anziehen?« fragte Mama ein wenig später.
»Also doch! Du bist ein Schatz!«
Unser erster »freier« Nationalfeiertag sollte aber laut Plan zunächst mit einem Dankgottesdienst beginnen. Ein ganz und gar unplanmäßiges Ereignis wurde daraus. Nichtsahnend erreichten wir durch das dichte Gedränge endlich unsere Bank in der Kirche, und ich, beziehungsweise wir, hatten nur noch Augen für Marie, die Köchin der Familie Morice! Ihre Anwesenheit bedeutete, daß sie aus Caen herausgekommen war! Sie hörte uns kommen, drehte sich rasch zu uns nach hinten und schüttelte erregt Mama die Hand.
»Oh! Madame! Auch Sie haben es überstanden! Es ist nicht zu glauben, daß wir alle noch leben!«
»Und die Kinder, Marie?«
»Sie schlafen noch, die Armen. Ich bin gestern abend mit ihnen gekommen. Es geht ihnen gut. Der Doktor und Madame sind in Caen geblieben.«
»Warum? Sie sind doch nicht verletzt?«
»Nein. Der Doktor mußte bleiben. Er operiert Tag und Nacht. Ein Heiliger! Ich werde es Ihnen später erzählen.«
Nach einer Weile drehte sich Marie noch einmal um:
»Wir haben in Caen kein Haus mehr. Wir haben dort alles verloren. Ein Glück, daß es Le Molay noch gibt!«
Nie ist mir ein Gottesdienst so lange vorgekommen!
Sofort machten wir uns auf den Weg. Wir sprachen kaum. Die gute Marie hatte ohnehin Mühe, mit unserem raschen Gang Schritt zuhalten. In dem Haus der Morice stürzten uns Veronique, Sophie und Jacky entgegen. Wir umarmten uns herzlich. Pierre, der im ersten Stock gewesen war, rutschte wie oftmals das Treppengeländer herunter und landete vor Mamas Füßen. Wir lachten, und es schien einige Augenblicke lang alles wie früher zu sein.
Dann erzählten unsere Freunde, daß bereits am 6. Juni Brandbomben in ihren Garten gefallen waren. Sie standen draußen, wollten gerade zu ihrem Schutzgraben laufen, wurden aber vom Feuer zurückgedrängt. Rundherum brannten die Häuser. Deutsche Lastwagen mit Munition explodierten. Später stürzte das Nachbarhaus auf ihren Schutzgraben.
»Es war zum Verrücktwerden«, sagte Marie. »Die Wand aus Feuer kam uns entgegen.«
»Unser Haus war zum Glück von einer normalen Bombe getroffen worden«, erklärte Pierre. »Man konnte das Erdgeschoß noch betreten. Beim nächsten Bombenangriff wurde es völlig zerstört, aber wir waren inzwischen ins Bon Sauveur geflohen, wo Papa operierte.«
»Seine Klinik war abgebrannt! Es war furchtbar. 98 Patienten, 15 Schwestern und seine nette Assistentin, die ihr gut kennt, kamen dabei in den Flammen um!«
»Im Bon Sauveur...«
Wir erfuhren nach und nach vieles über die große Pflegeanstalt, wo zuletzt rund 10 000 Menschen davon die Hälfte Verwundete oder Kranke eine notdürftige Zuflucht gefunden hatten.
»In der Nacht um eins wurde es fürchterlich«, sagte Veronique. »Viele Menschen begannen zu schreien, als die Bomben fielen.«
»Es war der vierte Großangriff auf Caen innerhalb von knapp 18 Stunden«, stellte Marie fest. »Ich glaube, die Hölle ist nichts gegen das, was in dieser Nacht passierte. Ich half bei der Pforte. Draußen brannte der Himmel lichterloh. Nicht nur wegen des Großbrandes, sondern auch wegen der Leuchtbomben und der Scheinwerfer, die nach Flugzeugen suchten. Der Boden bebte. Den Lärm, den kann kein Mensch beschreiben! Man trug immer wieder Verletzte zu uns herein, und wir wußten nicht mehr, wo wir sie inzwischen hinlegen konnten. Es hatte sich herumgesprochen, daß der Bon Sauveur noch stand und daß man dort versorgt wurde. Menschen mit ihren Kindern und ein paar Habseligkeiten liefen die ganze Nacht in Scharen zu uns. Die Augen dieser Menschen werde ich mein Leben lang nicht vergessen! In ihnen spiegelte sich der ganze Horror, den sie gesehen hatten.«
»Man hatte große rote Kreuze auf die Dächer der Pflegeanstalt und des nahen Gymnasiums Malherbes gemalt. Auch die Abtei Saint-Etienne nebenan war voller Menschen, die hofften, wie im Mittelalter, in der massivgebauten Kirche geschützt zu sein. Nachträglich scheint es fast unvorstellbar, daß so viele Bewohner von Caen plötzlich den Entschluß faßten, in denselben Stadtteil zu flüchten. Rund 17 000 Menschen auf einem Haufen! Es hätte eine Katastrophe geben können...« »Und genau das Gegenteil passierte!« jubelte Marie. »Über Boten, die sich durch die Frontlinie drängen konnten, war es gelungen, Engländer und Kanadier von der großen Menschenansammlung zu unterrichten.«
»Es ist trotzdem unfaßbar«, betonte Sophie, »daß die kleine Enklave mitten in der dicht besiedelten Stadt verschont geblieben ist. Rundherum war fast alles zerstört!«
»Die vielen Menschen zu versorgen war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit«, erinnerte sich Marie, »vor allem im Bon Sauveur, wo viele ärztlich betreut werden mußten. Im Lauf der nächsten Tage kamen aber nach und nach Nonnen zu uns, deren Häuser inzwischen ausgebombt waren. Damit standen bald den sechs Chirurgen und anderen Ärzten rund 150 Schwestern - viele davon allerdings als Pflegerinnen ungeschult - zur Verfügung.«
»Verdammt wenig für 5000 meist Schwerverletzte, vor allem wenn man bedenkt, daß auch die gesunden Menschen ernährt und versorgt werden mußten!« Pierre, der wie sein Vater Arzt werden wollte, fühlte sich nun besonders angesprochen. »Es sind sogar eine Menge Babys bei uns zur Welt gekommen. Die Entbindungsstation des Hopital Civil war in unserer Nähe.«
»Wir haben alle in der Station geholfen. Windeln gewaschen ...«
»Hattet ihr Milch für die Kinder?« fragte Colette.
»Manchmal nur für die Kleinen! Zivilhelfer der Defense Passive gingen täglich nach außerhalb der Stadtgrenze. Oft melkten sie selbst die Kühe, die da herumstanden. Sie schleppten auch die angeschossenen Tiere. Damit hatten wir Fleisch.«
»Und sonst?«
»Die Reserven der Pflegeanstalt hätten nur einige Tage gereicht, aber Lebensmittelläden und Lager wurden ausgeräumt, bevor oder sogar während sie brannten. Die Leute der Defense Passive waren richtige Helden. Sie holten alles Mögliche aus den Trümmern und Kellern heraus.«
»Medikamente auch aus den irgendwie noch stehenden Apotheken!« ergänzte Pierre. »An Medikamenten hat es, glaube ich, nicht gemangelt.«
»Es gab unter den Belagerten von Caen eine Hilfsbereitschaft... wie in einer anderen Welt«, versuchte Marie zu erklären. »Niemand sagte, die Arbeit wäre ihm zuviel, und Hunderte von Menschen schliefen wochenlang kaum. Fast alle waren gut zueinander. So etwas kann man sich zu Friedenszeiten nicht vorstellen. Ich wenigstens hatte es nicht erwartet.«
»Es war alles verrückt«, sagte Sophie. »Im Bon Sauveur wie in der übrigen Stadt gab es weder Strom noch Gas. Weil die Wasserleitungen zerstört waren, wurde aus wenigen noch vorhandenen Brunnen wie im Mittelalter — Wasser geschöpft. Menschen standen mit leeren Eimern Schlange, während ein großer Teil der Stadt brannte! Man bat die Leute, sich so wenig wie möglich zu waschen.«
»Bei uns in der Anstalt wurde in einem Hof ein großer Bottich aufgestellt. Nur dort durfte man sich Wasser zum Waschen holen.« Jacky war, wie oft, beim Sprechen aufgeregt. Er fürchtete immer, als kleinster nicht zu Wort zu kommen. Dabei hatte auch er etwas zu sagen! Zum Beispiel über die Ratten. Er hatte welche zwischen den Trümmern laufen sehen.
»Die waren überhaupt nicht scheu. Die guckten einen an und rührten sich eine ganze Weile nicht.«
Anschließend sprach Marie von den täglichen Brotgängen, die während der Feuerpausen Menschen an verschiedenen Stellen der Stadt zusammengeführt hatten. Dort seien eifrig Nachrichten ausgetauscht worden. Plötzlich stockte der Redeschwall unserer Freunde. Es wurde einige Augenblicke beklemmend still. Jeder wußte, daß nun von den Toten gesprochen werden mußte, von all den Bekannten und Freunden, die nicht überlebt hatten.
Pierre erwähnte zunächst seinen Freund Claude. Der 15jährige Junge hatte die letzten Sommerferien in Le Molay damit auch mit uns verbracht. Der sympathische fröhliche Claude lag mit seiner Familie unter den Trümmern seines Hauses begraben. Mit ihm war der erste Name gefallen, und nun folgten dicht hintereinander traurige Meldungen. Auch unsere Schulfreundin Nicole Lorette ist in Caen gestorben, und Therese und Monique und Nathalie und Marie-Laure und...
»Alle sind von uns gegangen«, stellte Sophie traurig fest, weil sie durch unsere Ergriffenheit ihre eigene Trauer noch einmal erlebte und nach einer tröstenden Formulierung suchte.
Die verschrobene Redewendung traf mich wie eine Ohrfeige. Wieso »gegangen«, dachte ich empört. Bei lebendigem Leibe verbrannt, erschlagen worden sind sie oder erstickt! Der plötzliche, gewaltsame Tod dieser jungen Menschen ließ sich mit keiner der üblichen sanften Umschreibungen des Todes beschönigen ... Ob nicht manche keine Zeit hatten zu merken, was mit ihnen geschah? Ganze Familien wurden ausgelöscht. Von einer neunköpfigen Familie, die wir gut kannten, weil zwei der Töchter unser Gymnasium besuchten, ist nur ein vierjähriges Kind schwerverletzt und blind übrig geblieben. Ohne Geschwister, ohne Eltern, ohne Großeltern und ohne Augenlicht! Ist das Überleben immer ein Segen? Apropos Gymnasium: Unseres, Rue Saint-Pierre, wurde restlos ausgebombt, der ehemalige Schutzkeller regelrecht plattgedrückt!
»Der ganze Stadtteil gleicht einem Trümmerhaufen, unter dem noch Tote liegen, die man nicht bergen konnte«, sagte Marie.
Als ich anschließend hörte, daß der schlanke, fein gemeißelte Turm mitten auf dem Platz durch einen Volltreffer aus einer Schiffsbatterie zertrümmert worden war, empfand ich wie für einen geliebten Menschen echte Trauer. Dieser Turm war im 14. Jahrhundert als stolzes Symbol der Handelsstadt Caen gebaut worden. (Er wurde nach dem Krieg mit Geldern aus dem Verkauf von Schiffen wieder errichtet.)
Es gab viele Gründe, über die Zerstörung von Caen zu trauern. Unsere Freunde nannten jetzt ganze Straßenzüge, die aufgehört hatten zu existieren: Rue Saint-Jean, Rue des Carmes, Rue Montoire-Poissonnerie, Rue des Jacobins...
Als die Schlacht um Caen zu Ende war, bestand die Stadt zu Dreiviertel aus Trümmern. 110 historische Gebäude waren entweder zerstört oder beschädigt.
»Ich bin gespannt, wo wir im Herbst sein werden!« sagte plötzlich Veronique.
»Das ist doch nicht dein Ernst! Also, wenn du mich fragst«, ereiferte sich Pierre, »ich denke überhaupt nicht an die Schule!«
»Ich auch nicht«, sagte Michel. »In Saint-Lo geht es sowieso noch um ganz andere Dinge.«
»Verdammter Krieg!« fluchte der kleine Jacky mit dem ernsten Ton eines Erwachsenen.
»Ich glaube, man merkt oft die guten Dinge zu spät«, stellte Sophie fest.
»Du wolltest von unserer Schule sprechen, Veronique. Erzähle bitte!«
»Ja, was ist mit unserem Internat?« drängte Colette.
»Es steht! Ganz ohne Fenster und fast ohne Dach; von zwei Artilleriegeschossen beschädigt!«
»Und unsere Kameradinnen? Die Internen, die nicht rechtzeitig nach Hause konnten?«
»Mit ihnen ist es eine lange Geschichte. Man weiß jetzt gar nicht, wo sie stecken.«
»Wieso?«
»Zunächst blieben sie im Internat. Man hatte in dem großen Garten rasch Gräben ausgehoben, und alle lebten dort: die Nonnen, die Schülerinnen und Flüchtlinge, die dazugekommen waren. Niemand traute sich noch, innerhalb von Gebäuden zu schlafen.«
»Die Bevölkerung durfte offiziell die Stadt nicht verlassen. Damit war in den meisten Gärten am Rand der Stadt viel los«, mischte sich Marie ein. »Eine deutsche Artilleriebatterie hatte sich unweit vom Internat etabliert. Und mit dem Flugplatz Carpiquet... Sie wissen ja, wie nah er liegt! Kurzum die Ursulinen und die Mädchen lebten gleich zu Beginn in großer Gefahr.«
»Unmittelbar hinter der Gartenmauer sehen die Krater gräßlich aus«, bemerkte Sophie dazu. »Es muß in der Gegend von Geschossen nur so gehagelt haben!«
»Mere Angele hat uns erzählt, daß einige deutsche Soldaten nach dem Kampf von Authie ins Internat kamen«, fiel Veronique ein. »Sie waren völlig erschöpft. Man gab ihnen zu trinken. >In Gottes Namen< hat sie gesagt!«
Pierre versuchte, Sachlichkeit in die Erzählung zu bringen.
»Die Abbaye d'Ardenne steht noch näher als Authie beim Internat...«
»Klar!« unterbrach ihn Colette. »Wir sind oft dorthin spazieren gegangen. Was wolltest du sagen, Pierre?«
»Die Abtei gehörte zu den von den Deutschen am längsten gehaltenen Stellungen. Bereits am 7. Juni richteten SS-Leute dort einen Gefechtsstand ein, und am 9. Juli waren sie mit einer Flakbatterie immer noch da. Es muß am Ende einen verrückten Nahkampf gegeben haben. Die Deutschen schlugen mit Spaten und Gewehrkolben um sich, obwohl sie zuletzt nur noch sechs waren!«
»Man fragt sich immer wieder, warum sie das tun.«
Erstaunlicherweise wurde im Internat niemand lebensgefährlich verletzt. Alle Beteiligten hätten es also unerwartet gut überstanden, wenn nicht in Generalstabsmanier das Ausschwärmen eines Teils der vorhandenen Mannschaft beschlossen worden wäre. Der gewagte, aber im Hinblick auf eine vernünftige Risikostreuung richtig erscheinende Entschluß wurde nach einem Konsilium aller Nonnen von der Oberin gefaßt.
»Daß man die Kanadier in der Nähe wußte und sich damals eine kurze kriegerische Auseinandersetzung erhoffte, hat sicher zu der Entscheidung beigetragen«, sagte Pierre, »aber man sollte nicht schwarz sehen. Es ist nicht, weil wir seit zwei Wochen ohne Nachricht von der Gruppe sind, daß etwas Schlimmes mit ihr geschehen ist. Die Frage bleibt nur: Wann und wie werden sie von der Front überrollt?«
Für Informationen über den Beginn der mühsamen Wanderung der Flüchtlinge hatte ein Tagebuch gesorgt, das Ende Juni der Oberin der Ursulinen überbracht worden war. Diese »Notizen auf der Flucht« stammten von einer der Nonnen aus der Gruppe von der Tochter des Generals! Pflichtbewußt wie ein Stabsoffizier hatte sie zunächst nicht ohne Humor, später immer mehr vom Grauen erfaßt und in ihrer Religiosität einen Ausweg suchend alles niedergeschrieben, was ihr bedeutend vorgekommen war.
Am 9. Juni hatten 22 Zöglinge und fünf Nonnen in der schwarz-weißen Tracht der Ursulinen zu Fuß das Internat verlassen. Richtung Süden! Zwei Geistliche waren der Gruppe zur Unterstützung beigegeben worden. Ihre Absicht, das Schlachtfeld zu meiden, schlug deshalb fehl, weil dieses sich rasch ausbreitete. Es blieb keine Lücke offen. Prompt stießen die Flüchtlinge auf zum Angriff rollende deutsche Panzer, deren aufgebrachte Fahrer sie zur Eile mahnend querfeldein vorbeilaufen ließen. Die Deutschen waren durch das irreale Bild in ihrem Visier vermutlich genauso verwirrt wie die durch ihre langen Röcke beim Vorwärtskommen behinderten Nonnen.
Endlich hatte die ganze Gruppe die gefährliche Stelle passiert. Kein Schuß war gefallen auch kein englischer aus der Luft! Die Panzer rollten weiter. Nach diesem Erlebnis auf freiem Feld benützten die Flüchtlinge nach Möglichkeit die Straßen, obwohl die Luftangriffe dort am häufigsten waren. Sie versteckten sich, wenn deutsche Kolonnen vorbeifuhren. Es ging einen ganzen Tag gut. In der zweiten Nacht wurde einer der Geistlichen sehr schwer verletzt. Ein deutsches Sanitätsauto brachte ihn neben einem verwundeten deutschen Offizier liegend nach Caen zurück, wo beide Patienten im Bon Sauveur operiert wurden. Der Abbe überlebte im Unterschied zu dem Deutschen die Operation nicht.
Die Zahl der Schwerverletzten, die man dort nicht retten konnte, erhöhte sich übrigens am Ende der siebten Woche der Belagerung Caens mit letztem Artilleriebeschuß am 16. Juli auf 320. Diese 320 Toten begrub man am Anfang noch in Särgen, dann in Bettüchern, zuletzt in Papier gewickelt, in einem Hinterhof der Pflegeanstalt. Später wurden sie exhumiert und bestattet.
Langsam vorwärtskommend, trafen die übernächtigten Flüchtlinge nach und nach Verletzte, die sie versorgten, einen englischen Fallschirmjäger, fremde Nonnen, die sich der Gruppe anschlossen und besorgte Eltern von Internatszöglingen unterwegs nach Caen! Letztere nahmen außer ihren eigenen Kindern acht Schülerinnen mit, in der Hoffnung, sie bis zum rechten Ufer der Orne durchzubringen, weil diese Gegend noch nicht zur Kampfzone gehörte. Einige Stunden später wurden die Ursulinen von zwei auffallend jungen deutschen Soldaten angesprochen, die ihr Alter mit 16 beziehungsweise 17 angaben. Diese Deutschen waren genauso jung wie drei der Gymnasiastinnen aus der Gruppe.
Eine Hitlerjugend-Division war westlich von Caen im Einsatz. Der Divisions-Kommandeur Meyer weigerte sich jedoch im letzten Moment, Hitlers Befehl »Caen bis zum letzten Mann« zu verteidigen mit den jungen Soldaten zu erfüllen. Der Verband setzte sich am 9. Juni über die Orne ab.
Die Flüchtlinge wurden mit erschreckenden Bildern konfrontiert, mit verkohlten Leichen am Straßenrand, mit einem kleinen Teich, dessen Wasser rot verfärbt war. Sie durchwanderten auf wunden Füßen Geisterstädte, wie Conde-sur-Noireau 700 Tote innerhalb von 20 Minuten oder Domfront, die die Berichterstatterin in ihrem Tagebuch als »leere Nekropole« bezeichnete. Sie wurden zwischendurch von hilfsbereiten Menschen immer wieder ernährt, untergebracht, zuweilen befördert.
Im Tagebuch der Tochter des Generals war auch von einem verlassenen Säugling die Rede; eine Schülerin hatte ihn bei einer Rast in der Nähe eines ausgebombten Hauses gefunden. Der Abbe taufte ihn. Eine Bauernfamilie hatte sich bereit erklärt, das Kind anzunehmen.
Das Tagebuch endete abrupt: »Soeben haben wir einen Geistlichen getroffen, der mit zwei Männern versuchen will, Caen zu erreichen. Gott stehe ihm bei! Ich gebe ihm diese Notizen für unsere ehrwürdige Mutter. Ich muß rasch schließen. Wir beten für euch alle.«