Von Rosen, die nach England fliegen / Falsche und richtige Helden

Am nächsten Tag erhielten wir Brotmarken für den begonnenen Monat Juli. Es mag nachträglich seltsam erscheinen, aber wir freuten uns regelrecht über die wiederkehrende Zuteilung von Lebensmittelmarken. Unser Leben war so lange von ihnen abhängig gewesen, daß wir uns nicht vorstellen konnten, ohne Belege unser tägliches Brot auf eine zuverlässige Weise zu be167 kommen. Jetzt erst recht nicht! Wahrscheinlich verfügten wir in unserer auf Viehwirtschaft spezialisierten Gegend über keine Getreidevorräte. Wenn es einige gegeben hatte, mußte man annehmen, daß sie entweder vernichtet oder fast verbraucht waren. In der Ebene von Caen, unserer ehemaligmit einen Kornkammer, tobte der Krieg. Alles deutete daraufhin, daß die geschundene Stadt bald unsere Hilfe benötigen würde und nicht umgekehrt. Vermutlich waren wir für unsere wichtigste Nahrung bereits auf die Amerikaner angewiesen. Die neuen Marken waren so gut wie ein Pfand auf die Zukunft. In jeder Weise! Wurde uns nicht mit den kleinen numerierten Abschnitten ein Leben bis August offiziell bestätigt? Die Kanonen konnten ruhig dröhnen!
Die Brotkarte trug das Wappenbild unserer Provinzhauptstadt. »Ville de Bayeux« stand darunter gedruckt. Irgendwie fühlten wir uns geschmeichelt. Wir verwalteten uns also unter uns Normannen. Ohne Vichy-Regierung, sagten wir, und wir dachten leise: sogar ohne Paris! Letzteres hätten wir vor Fremden nie ausgesprochen. Und vor uns? Auch nicht. Wir wußten nur, daß wir einen Augenblick schmunzelnd darüber nachgedacht hatten. Dieses Im-voraus-Bocken gegen den allmächtigen französischen Zentralismus war der beste Beweis dafür, daß wir, bereits voller Hoffnung, von Friedensvorstellungen ausgingen.
Dabei stand eine Normalisierung unseres Lebens noch in weiter Ferne. Die Lage der Gegend von Bessin ließ sich schwer beschreiben. Eine Feuerlinie trennte uns von unserem Hinterland. Die Küste schien dafür immer näher heranzurücken. Wir konnten nicht vergessen, daß die amerikanischen Soldaten der ersten Landungswelle im Meerwasser gestanden hatten, als sie uns mit ihren Amphibienfahrzeugen erreichten. Seit dieser Zeit bestimmte die Öffnung zum Meer unser Leben. Jeder Tag brachte uns neue Truppen an Land, die die Bevölkerungsdichte fast dramatisch erhöhte. War die Zahl der Einwohner bereits mit fünf oder schon mit sechs zu multiplizieren? Die Progression ging zu rasch, um in Daten erfaßt zu werden. Wir spürten sie. Manchmal hatten wir den Eindruck, auf einem Riesenschiff zu leben, wo alles akkurat organisiert werden mußte, wenn man an Bord keine Katastrophe erleben wollte.
Die Amerikaner waren in dieser Hinsicht großartig: Sie dachten beruhigend pragmatisch, auch in Details.
Ein Offizier kam auf die Idee, mit den Küchenabfällen seiner 168 Truppen unsere Schweine zu füttern. Es wäre doch schade, meinte er, diese Unmengen Lebensmittel täglich zu vernichten! Als die blitzblanksauberen Gefäße ankamen, staunten wir in der Tat über ihren Inhalt und den Reichtum der Amerikaner. Was warfen sie nicht alles weg? Unsere Schweine freuten sich über die frischausgepackten Kekse, über das Corned beef, die Suppen und die Kondensmilch der US-Army.
In der Euphorie über den gesicherten Nachschub an Futtermitteln wurden fünf Schweine für die Kantine der Molkerei geschlachtet. Nachwuchs würde bald heranwachsen. Bei uns duftete das ganze Haus, während der erste Schweinebraten des Friedens brutzelte. Als er auf den Tisch kam, schien er uns bereits sehr klein...
Mit einem belgischen Fliegeroffizier, der uns später besuchte, mußten wir den Braten nicht teilen. Weil es seine erste Landung in Frankreich war, hatte er, vor seinem Rückflug nach England, ein paar Stunden frei bekommen. (Er gehörte dem S. A. S. Special Air Service an. Diese britische Brigade, im Geheimlager von Fairford trainiert, wurde bereits unmittelbar vor der Landung des 6. Juni in der Nähe von Bayeux eingesetzt. Eine belgische Kompanie und zwei französische Bataillons kämpften, unter dem gemeinsamen Kommando von Brigadegeneral Mac Lead, neben den Briten.)
Dieser belgische Pilot war selig, französischen Boden zu betreten. Durch seine Worte erhielt plötzlich unsere kleine Landzunge eine Würde, die wir ihr bisher nicht verliehen hatten. Der Mann sprach von London, von General de Gaulle, von den verschiedenen Befreiungsarmeen, die sich in England gebildet hatten, von den Holländern, von den Polen von der großen Erwartung aller und von ihrer Freude, am Kampf beteiligt zu sein. Wir hätten uns mit ihm stundenlang unterhalten können, aber er mußte zum Flugplatz von Le Molay zurückgebracht werden. Unser Pferdewagen stand bereits vor der Tür. Als er sich in unserem Garten verabschiedete, bewunderte er unsere blühenden Rosen. Plötzlich hatte er eine Bitte: »Es geht nicht um mich. Sonst würde ich es nicht wagen, Sie um eine dieser Blumen zu bitten. Ich wäre glücklich, wenn ich eine Rose aus Frankreich der Familie, die mich in London aufgenommen hat, bringen könnte. Es sind Pariser. Sie haben 1941 fliehen müssen.«
»Michel, hol bitte die Gartenschere«, sagte Mama rasch, »und bring Papier mit, um die Blumen einzuwickeln!« 
»Wie nett von Ihnen, Madame!« sagte der Pilot. »Sie werden diesen Menschen eine größere Freude bereiten, als Sie vermuten können. Die Familie heißt Rosenblum. Sie hat Schlimmes erlebt.«
Während Mama einen kleinen Strauß zusammenstellte und ihn in feuchtes Moos wickelte, sprach der belgische Leutnant weiter:
»Zu viert gelang es den Rosenblums, aus ihrer Pariser Wohnung zu entfliehen, weil sie im letzten Moment gewarnt worden waren. Die zweijährige Tochter war krank. Unterwegs wurde es schlimmer, das Kind starb in Aix-en-Provence. In Cavaillon bekam der ehemalige Rechtsanwalt eine Stellung als Hilfsgärtner. Seine Frau sortierte Gemüse für den Versand. Beide waren froh, in der Gegend bleiben zu können. Als die freie Zone besetzt wurde, mußte die Familie weiterfliehen. Zu Fuß überquerten sie die Pyrenäen. In Spanien verdienten sie sich langsam das Geld für die Überfahrt nach England: er als Hafenarbeiter, sie als Übersetzerin. In London trafen sie Verwandte ... Es tut mir leid, daß ich Sie mit dieser traurigen Geschichte aufgehalten habe. Sie haben selbst genug Sorgen! Mais vos roses, comme elles sont belies! (Aber ihre Rosen, wie schön sie sind!) Durch sie habe ich mich verleiten lassen, von meinen Freunden zu erzählen .. . Rose heißt Shoshana in Hebräisch. Shoshana ist auch ein Mädchenname. Vielen Dank für alles und viel Glück!«
Shoshana, shoshana, wiederholte ich für mich, als der Pilot weg war. Ein hübsches Wort!
Es war nicht nur meine erste Begegnung mit der hebräischen Sprache, sondern auch das erste Mal, daß ich vom jüdischen Problem etwas erfuhr. Wir unterhielten uns danach mit Mama darüber. Ihre Eltern hatten jüdische Freunde gehabt in Paris. Als junges Mädchen war sie mit ihnen öfter ins Konzert oder ins Theater gegangen. Der alte Herr war Rabbiner, ein sehr gebildeter Mann. Nach seinem Tod hatte man eine Weile miteinander korrespondiert, dann nicht mehr.
»Ob die Tochter noch lebt?« fragte Mama nachdenklich.
Es schien mir fürchterlich, daß jemand möglicherweise sterben mußte, nur weil er Rosenblum oder Halbronn, wie die Freunde meiner Mutter, hieß. Auch wir waren vor den Deutschen geflohen. Auch wir hatten ursprünglich Spanien erreichen wollen. Aber unter ganz anderen Umständen. Und warum? Weil wir einen typisch französischen Namen trugen und keine Juden waren!

Falsche und richtige Helden

»Wie mißt man die Zeit? Vor 30 Tagen wußten wir noch nicht, daß die Landung der Amerikaner bei uns stattfinden würde. Um wieviel sind wir inzwischen gealtert? Nur um einen Monat? Morgen um elf Uhr, Gottesdienst für Monsieur Jagoury.« (Aus meinem Tagebuch vom 5. Juli 1944).
Offiziell war angesagt worden: »Hochamt für die Bürger der Gemeinde Le Molay und alle Mitarbeiter der Molkerei, die infolge der Kampfhandlungen gestorben sind.« Weil wir am nächsten Tag einen großen Kranz in der Kirche niederlegen wollten, hatten wir alle brauchbaren Blumen unseres Gartens abgeschnitten. Ohne Übung fiel es uns nicht leicht, mit dieser Pracht einen Kranz anzufertigen. Das Binden der Binse stellte bereits unsere Geduld auf die Probe, und wir störten uns gegenseitig. Ich stand auf, Colette mitten in den Blumen zurücklassend. Plötzlich war mir eingefallen, daß es in Verbindung mit dem Verstorbenen etwas Wichtiges zu tun gäbe.
Als ich die Stallungen betrat, wurden die Pferde unruhig. Ich blieb stehen. Weil ich mit Sicherheit wußte, daß um diese späte Zeit kein Arbeiter hier sein konnte, redete ich mit den Pferden wie mit Menschen:
»Seid ruhig alle! Ich komme zu euch, weil Monsieur Jagoury nie mehr kommen wird. Ihr habt seine Schritte gekannt. Morgen werden für ihn viele Menschen beten. Ihr versteht zwar nicht, was es heißt; aber daß er jahrelang gut zu euch war, daß wißt ihr ... Ihr dürft es einfach nicht vergessen!«
Hatte Aigrette meine Stimme erkannt? Sie wieherte kurz. Ich ging zu ihr, tätschelte ihren Hals und erzählte ihr unsinnige Dinge. Sie schaute mich an. Ich streichelte sie und wurde allmählich ruhig und fast glücklich. In der Box nebenan scharrte Proserpine, als Zeichen des Ärgers, mit der Vorhand auf dem Boden. Diese hochbeinige Fuchsstute hatte sich immer wie eine Prinzessin gebärdet, so als ob sie ihre Abstammung von einem guten Normannenhengst nicht vergessen konnte. Als ich zu ihr kam, schaukelte sie nervös mit dem Kopf, ohne mich anzusehen.
»Proserpine, du bist schon wieder eifersüchtig, obwohl du genau weißt, daß du schön bist«, sagte ich und legte beruhigend meine Hand auf ihre Flanke. Ich klopfte sie sanft und dachte: Monsieur Jagoury hatte eine Schwäche für sie. »Unwirtschaftlich und leicht erregbar ist diese Stute«, hatte er gesagt, »aber schön und gutartig, trotz Temperament!«
Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich ging in die Kammer und füllte den Holzeimer mit Hafer. In allen Boxen verteilte ich das Futter. Es machte mir Freude, großzügig zu sein. Ich holte mehrmals Nachschub. Aigrette und Proserpine bekamen zuletzt in der flachen Hand ein Stück Melasse als Beigabe.
Vor unserem Haus wartete Michel auf mich.
»Wo kommst du denn her, so spät allein? Mama hat sich Sorgen um dich gemacht.«
Die Sonne leuchtete rot am Horizont. War ich so lange weg gewesen? Ich fühlte mich ertappt. Wie die Luft zum Atmen, so brauchte ich gelegentlich kurze Ausflüge in die Freiheit, um eine heitere, harmonische Welt für mich zusammenzubasteln, wenn die Wirklichkeit nicht danach aussah. Dann kehrte ich befreit zurück. Sollte ich erzählen, was ich getan hatte? Ob Michel mich auslachen würde?
»Ich war im Stall und habe den Pferden Hafer gegeben wegen morgen, als Andenken an Monsieur Jagoury, verstehst du?«
»Warum hast du das nicht vorher gesagt?« antwortete Michel ganz ruhig. »Ich wäre gern mitgegangen.«
Guter Michel! Er hatte ein seltenes Talent zur Freundschaft und ließ taktvoll gelten, daß ich manchmal verträumt eigene Wege ging. Mehr, er schien sich jeweils darüber zu freuen. Er sagte nicht: »Du spinnst!« wie manche Brüder es in solchen Fällen getan hätten. Er sagte nur: »Ich hätte dabei sein wollen.«
»Und du, wo bist du gewesen?« fragte ich.
»Bei der Bahn, eine ganze Weile. Ich habe zugeschaut, wie die Amerikaner die Verbindungsstücke ihrer Benzinleitung nachprüfen. Einige Bauern kamen dazu, gingen aber bald weg, weil die Amerikaner ungehalten zu sein schienen. Leblanc erzählte vorher etwas Fürchterliches, was ich nicht glauben kann, obwohl...«                                
Später wurde die Nachricht leider bestätigt. Um sie zu verstehen, muß man folgendes berücksichtigen: Die Trasse der Eisenbahnlinie Paris-Cherbourg benützten die Amerikaner für die Verlegung ihrer Benzin-Pipeline. Die Rohre wurden nach und nach aneinandergefügt, sobald das Gebiet erobert war. Zwischendurch wurden T-Stücke montiert, bei denen mit besonderen Schlüsseln angezapft werden konnte. Benzin blieb unterdessen für die normannische Bevölkerung eine Rarität. Es gab zwar offizielle Zuteilungen, wenn es das öffentliche Interesse erforderte Privatpersonen erhielten jedoch keine. Der Schwarzmarkt mit Benzin begann. Volle Kanister wurden heimlich von Soldaten an Zivilisten verkauft. Bald ging es allerdings um größere Mengen: Die Pipeline wurde in der Nacht beschädigt und angezapft. Benzin lief danach sinnlos aus der Leitung und gefährdete die mit Munition vollgestopfte Umgebung, ebenfalls das Trinkwasser. Die Amerikaner handelten rasch. Ein Franzose wurde, auf frischer Tat ertappt, von einem Militärgericht wegen Sabotage verurteilt und erschossen. Es war der beklagenswerte und doch wirksame Versuch, mitten im Krieg Schlimmeres durch Abschreckung zu verhindern. Später hörten wir von umgekehrten Beispielen: Amerikanische Soldaten wurden, weil sie Frauen vergewaltigt hatten, ebenfalls zum Tode verurteilt.
Am nächsten Tag war die Kirche überfüllt. Hunderte von Amerikanern standen in den Gängen neben der Bevölkerung von Le Molay. Der amerikanische Major, der die Sanitätsabteilung leitete, hielt eine Ansprache auf englisch und französisch. Der Pfarrer bedankte sich in unserer Sprache und pries die Völkerverständigung. Das Credo, von so vielen Stimmen in Latein gesungen, klang danach wie ein feierlicher Eid. Der Wunsch nach einer raschen Beendigung des Krieges und die Trauer um die Toten empfanden die Anwesenden, ob Normannen oder Amerikaner, vermutlich gleichermaßen. Ein Gefühl echter Solidarität verbreitete sich in der Kirche wie unter Menschen, die einen schwierigen Berggipfel gemeinsam erklommen haben.
Als ich mir die Franzosen ansah, die als Prominente neben den Chorknaben unweit vom Altar saßen und nicht sangen, wurde ich allerdings nachdenklich. Es gab unter ihnen Gesichter, die man an diesem Ort nie gesehen hatte. Warum waren diese Menschen gekommen? Um gesehen zu werden, oder weil sie die Eintracht der Gemeinde demonstrieren wollten? Letzteres mochte für den Bürgermeister gelten, der als Freimaurer die Kirche bisher nie betreten hatte, ebenfalls für den Schuldirektor, ein intelligenter und engagierter Mann, der gelegentlich den republikanischen Sieg der Vernunft über den Klerikalismus pries. Die Anwesenheit der beiden war zu begrüßen. Noch mehr die eines Eisenbahners, der mehrere Jahre hindurch die Zusammenstellung der Militärzüge laufend aufgeschrieben und weitergeleitet hatte. Im Chor saßen jedoch auch Männer, die niemals irgendein Amt bekleidet hatten oder sonst durch eine besondere Leistung hervorgetreten waren bis zum 4. Juli 1944.
(Wir schrieben den 6. Juli!)
Was zwei von ihnen sich geleistet hatten, war allerdings mehr zum Lachen. Den »Independence day« hatten sie für einen großen Auftritt genützt, indem sie manchen Bürgern das Recht absprechen wollten, mitzufeiern. Als unsere Helden von einer einheimischen Metzgerin verlangten, sie solle die französische Fahne von der Fassade ihres Hauses entfernen, griff diese wütend zu ihren Messern.
»Ihr behauptet, ich wäre keine Patriotin!« hatte sie sich empört. »Und ihr? Ihr habt ein großes Maul und sonst nichts. Vier Jahre lang habe ich versucht zu helfen, wo es ging. Ihr kommt daher und wollt kommandieren, weil ihr vor vier Tagen entdeckt habt, daß es schön wäre, die Helden zu spielen! Was habt ihr gemacht, als die Boches bei uns waren? Ich will es euch sagen: geschlafen habt ihr, auch wenn ihr nachträglich Ammenmärchen erzählt. Macht, daß ihr rauskommt, und ein bißchen dalli!«
Die Metzgerin ging dabei regelrecht auf die Männer los, die den Laden schleunigst verließen. Einige Kunden waren anwesend; die Auseinandersetzung sprach sich schnell herum.
Es gab aber auch andere Geschichten, Willkürakte, die nicht so harmlos verliefen. In der letzten Zeit häuften sich solche Fälle, und es ging nicht immer um Lappalien. Nicht jedermann verfügte im passenden Augenblick über solche stichhaltigen Argumente wie die Metzgerin von Littry, und nicht jede Drohung wurde mit so treuherziger Offenheit ausgesprochen. Im übrigen hatte nicht jeder Franzose so unverbindlich »kollabonert« wie die Metzgerin, die, der öffentlichen Meinung zum Trotz, ab und zu in ihrem Laden Hackfleisch an deutsche Soldaten verkauft hatte, um unbeanstandet gelegentlich Schweine und Kälber schwarz schlachten zu können (was letzten Endes sogar mutig war, denn das Schwarzschlachten wurde, wie übrigens jede unerlaubte Verteilung von Lebensmitteln, mit Gefängnisstrafe geahndet). Weil er zuviel Brotmarken unter der Bevölkerung verteilt hatte, mußte zum Beispiel der Bürgermeister von Crouay über ein Jahr im Gefängnis sitzen... Wer kann sich rühmen, in solchen Zeiten des Hungers und der Not keine Feinde zu haben?
»Keine verfolgte Gemeinschaft ist dagegen gefeit, selber zum Verfolger zu werden!« schrieb Alfred Grosser in bezug auf die Jahre der Besatzung Frankreichs. Es läßt sich nicht leugnen, daß damals aus Unwissen manchmal über die volle Tragweite ihrer Meldungen oder gar Denunziationen einige Franzosen von der Möglichkeit Gebrauch machten, gegen unliebsame Bekannte etwas zu unternehmen. Eine alle Bürger umfassende Solidarität gibt es vermutlich bei keinem Volk.
Landesverräter hat es aber meines Wissens in unserer Gegend des Bessin nicht gegeben. Als Frühbefreite blieben uns ohnehin die letzten, grausamsten Zuckungen des Terrorregimes erspart. Dafür wurden wir auf unserem zwar freien, aber halbzerstörten Mini-Territorium als erste mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung konfrontiert. Wir übten im Kleinformat und auf uns angewiesen, waobwohl...«s später in anderen Gegenden Frankreichs oft zu Tragödien führte. Einfach war es nicht.
Die Ausnahmesituation, in der wir uns befanden, erwies sich als guter Nährboden für Intriganten, die bisher erfolglos nach Selbstbestätigung gesucht hatten. Im Sog der als notwendig empfundenen Erneuerung der jeweiligen Gemeindeverwaltung entstand eine Leere, und wir erlebten eine Welle von Wichtigtuern, die es mit unnachprüfbaren, irreführenden Erklärungen plötzlich zu einem gewissen Ansehen brachten. Lange blieben sie nicht an der Macht. Meistens wurde ihr Mangel an Kompetenz, an Verantwortungsgefühl, ja an moralischer Gesinnung entlarvt, bevor sie dazu kamen, ihren Einfluß auszubauen. Die Normannen besitzen einen natürlichen Hang zu vernünftigem Abwägen und, weil in den kleinen Dorfgemeinschaften wie Le Molay jeder jeden ohnehin kannte, wurden grobe Fehler vermieden.
Währenddessen tauchten überall dringende, lebensnotwendige Fragen auf, die, um rasch gelöst zu werden, den Betroffenen ein hohes Maß an Toleranz und Solidaritätsbewußtsein abverlangten. Eines dieser Probleme betraf das wichtigste Rohmaterial unserer Gegend: die Milch! Die leicht verderbliche Ware zwang die Menschen dazu, Sofortmaßnahmen zu ergreifen. Weil die Molkerei von Trevieres in Trümmern lag, mußte die Milch ihres Einzugsgebiets nach Le Molay gebracht werden. Auch für die Sahne von Isigny-sur-Mer war eine Vereinbarung getroffen worden. Isigny lag auf dem Weg zwischen den beiden künstlichen Häfen der Amerikaner Utah und Omaha und gehörte somit gleich nach der Landung zu dem strategisch schicksalhaften Geländeabschnitt, dessen Einnahme eine Vereinigung der  gelandeten Truppen  erlaubte.   Die Sahne von 175 Isigny sollte täglich in unserem Werk zu Butter verarbeitet werden. Für die Durchführung dieser Maßnahmen war es notwendig, daß die Fabrik über größere Wasserkapazitäten verfügte; das wichtigste Thema des Tages 8. Juli hieß deshalb die Instandsetzung des zerschossenen Wasserturms!
Es hatte in der Früh kein fließendes Wasser gegeben, und wir freuten uns königlich. Endlich geschah etwas Friedliches! Die für uns eher lustige Unbequemlichkeit war gewollt. Sie war uns nicht von anonymen Wesen unerwartet aufgezwungen worden, sie war geplant! Der Leiter der Fabrik ließ wegen Ausbesserungsarbeiten das Wasser absperren. Endlich begannen die Erwachsenen, wieder im voraus zu denken; endlich fingen sie an, wie früher das Leben normal zu organisieren.
Aus der Zisterne des Wasserturms mußte zunächst eine Menge Schutt entfernt werden. Ob es wirklich vernünftig war, alles instand zu setzen, obwohl unser eigenes Milcheinzugsgebiet nicht einmal ganz befreit war? Es eilte. Schubkarren wurden geschleppt. Man brachte Zementsäcke. Sie wurden transportiert, als ob sie Porzellan zum Inhalt hätten. Zement war kostbar: rar wie viele notwendige Dinge, die kaum noch vorhanden waren. Michel und ich schauten zu.
»Geh lieber nach Hause!« sagte Michel. »Es ist nicht viel Platz im Turm. Zu zweit lassen sie uns nicht hinaufsteigen.«
Er verschwand nach oben. Gegen Mittag brachte er von der Baustelle einige merkwürdig zerfetzte Patronenhülsen und, als Rarität, ein Geschoß, das in seiner doppelten Funktion versagt hatte.
»Von der Sorte lagen einige auf dem Boden der Zisterne«, erklärte Michel. »Die Außenwand des Turmes konnten sie durchbohren, aber innerhalb des mit Wasser gefüllten Raums hat die zweite Explosion nicht stattgefunden.«
»Rührt das Ding nicht an!« unterbrach Mama.
»Ich glaube nicht, daß damit noch etwas passieren kann«, sagte Michel ruhig. »Könnt ihr euch erinnern, daß der letzte deutsche Soldat, den wir gesehen haben, mit Schrecken von >Dum-Dum-Geschossen< gesprochen hatte, >die alles zerfetzend Es waren vermutlich ähnliche Knaller!«
Nach diesem Gespräch bekam Michel strengstes Verbot, Geschosse allerart nach Hause mitzunehmen. Die heutigen Mitbringsel wanderten jedoch in eine Schuhschachtel, die auf dem Schreibtisch von Papa deponiert wurde. Dort lag bereits eine ganze Sammlung davon.   Besonders konsequent konnte das 176 nicht sein. Unsere Mutter war in der letzten Zeit sichtlich überfordert. Die Frage vor allem, ob sie uns manche Gänge oder Fahrten erlauben sollte, stürzte sie in spürbare Gewissenskonflikte. Sie wollte uns nicht alles verbieten, weil wir in unserem Selbständigkeitsdrang begannen zu rebellieren. Dafür lebte sie in der Angst, ihre gegebene Erlaubnis könnte schlimme, unvorhersehbare Folgen haben.
Am Abend holte uns Captain Previti, der fröhliche Zahnarzt italienischer Herkunft, mit seinem Jeep zu einer Filmvorführung ab. Es gab Trickfilme, deren rasche Dialoge und Gags wir aber oft nicht verstanden. Wir kamen ein wenig benommen aus dem amerikanischen Zelt heraus. Previti unterhielt sich mit einem uns unbekannten Offizier. Wir blieben abseits stehen. Unser Freund machte ein bekümmertes Gesicht. Später, bei der Rückfahrt, redete er nicht drauflos, wie wir es von ihm gewohnt waren. Die Nacht schien Unheil zu verkünden.
Richtung Saint-Lo war der Himmel merkwürdig erhellt. Wie zu Friedenszeiten, fiel mir ein, wenn man sich spät abends Paris mit dem Auto näherte. Der Vergleich, in Wirklichkeit so unhaltbar, beschäftigte mich eine Weile. Ob Frankreich sich irgendwann wieder den Luxus einer von Millionen Glühbirnen illuminierten Hauptstadt leisten kann? Paris hatte ich anläßlich der Weltausstellung von 1937 in vollem Glanz kennengelernt. Neben der postkartenähnlichen Ansicht der funkelnden Stadt unterhalb des Hügels Montmartre hatte ich von Paris eine andere Erinnerung aufbewahrt: den Blick, am Eingang der Ausstellung, auf die zwei furchterregenden kolossalen Statuen des deutschen und des russischen Pavillons. Diese beiden überdimensionalen Gebilde waren mir in ihrer wetteifernden Gegenüberstellung so erdrückend vorgekommen, daß ich am liebsten davongelaufen wäre. So unbegründet war meine Angst gar nicht gewesen...
»Poor Normandy!« sagte Previti. »Hört ihr?«
In der Ferne schlug die Kriegstrommel ununterbrochen. Die Explosionsgeräusche häuften sich, bedrängten sich, vermischten sich miteinander. Dort, wo die Helligkeit am Horizont bedrohlich flackerte, war sicherlich etwas Bedeutendes und zugleich Grausames im Gange. Was brannte lichterloh? Die malerische Hauptstadt des Departements Manche?
Der Jeep holperte langsam vorwärts. Ich dachte wieder an Paris, das unerreichbar in einer uns fremdgewordenen Welt jenseits des Kriegsgeschehens lag, an Paris, das eigentlich erneut zu leuchten begann: als begehrtes Ziel der strategischen Überlegungen der Alliierten, als wichtiger Punkt unserer Landkarte.
»Was tun bloß die Soldaten um diese Zeit bei uns?« fragte Michel, mich in die Wirklichkeit zurückholend.
Captain Previti hatte soeben die Nebelscheinwerfer des Jeeps eingeschaltet. Eine Gruppe von Männern, die am Eingang der Fabrik gestanden haben mußte, setzte sich in Bewegung. Drei Soldaten stützten sich gegenseitig. Wir sahen im Scheinwerferlicht, wie sie sich mühten, gerade zu gehen. Zwei schwarze Amerikaner saßen noch am Boden, als wir in den Hof einbogen. Sie schauten uns geblendet und erschreckt an. Einer hielt eine Flasche in der Hand. Zu Hause brannte kein einziges Licht. Wir gingen rasch durch den Garten bis zu der Haupttür, die geschlossen war. Wir drehten nervös an der Türklinke.
»Ruft eure Mutter!« befahl Captain Previti, ebenfalls aufgeregt. Michel hämmerte mit der Faust an die Tür. Colette auch.
»Mach doch auf! Wir sind's!« schrien wir. Ein Kerzenlicht wanderte zaghaft die Treppe herunter. Plötzlich wurde es hell in der Diele. Mama lief uns entgegen. Wir sahen sie durch die Glasscheibe der Haustür kommen. Sie sperrte auf und entschuldigte sich:
»Ich habe schreckliche Angst gehabt! Seit fast zwei Stunden sitze ich oben im Dunkeln, damit die Soldaten draußen meinen, das Haus wäre leer. Einige haben an der Holztür zur Straße hin geklopft und gerüttelt. Ich bin gleich nach oben gegangen. Dann saßen sie aber in der Nähe, sangen und unterhielten sich laut. Sie gingen einfach nicht weg, und ich traute mich nicht mehr herunter.«
»Damned war!«, verdammter Krieg! fluchte Previti.
Als er sich später verabschiedete, sagte er besorgt:
»Geht in euren Schutzgraben! Da seid ihr am besten aufgehoben. Schlaft ruhig dort! In einigen Tagen habt ihr alles überstanden.«