Am Abend gingen wir, wie vorgesehen, zum >Bal du Chateau<. Viele Amerikaner in schmucken Uniformen hatten sich dort eingefunden. Wir blieben nicht lange im Schloß. Unsere fröhliche Stimmung war dahin. Der gleichen Eingebung folgend, hatte vorhin keiner von uns den heutigen Ball der Familie Morice gegenüber erwähnt. Jetzt fehlten sie uns: Pierre, Veronique und Sophie.
Aus meinem damaligen Tagebuch:
»Hurra! Wir haben wieder eine Zeitung: La Renaissance du Bessin! Sie wird in Bayeux gedruckt, und die erste Nummer der >Wiedergeburt< unserer Heimat ist dem Nationalfeiertag gewidmet. General de Gaulle war am 14. Juli in Algier. Nicht in der Normandie? Auszüge aus offiziellen Reden auch von Raymond Triboulet nehmen in der Zeitung viel Platz ein. Und was steht da, schwarz auf weiß? Eine kleine Notiz über das amerikanische Werkkonzert bei uns!
Auf der letzten Seite kann man folgendes lesen: >Im befreiten Bessin geht es an manchen Orten fast friedlich zu. Tausende von Kühen trotten durch die Weiden, fressen seelenruhig und geben Milch in Fülle wie eh und je. Der Lauf der Dinge scheint wiederhergestellt, obwohl der Krieg, einige Kilometer entfernt, weiter seinen grausamen Zoll verlangt. Nicht mehr für lange! Unsere endgültige Befreiung rückt näher; die ganz Frankreichs wird rasch folgen.<
Ist das nicht typisch? Diese Mischung aus Patriotismus und Naturverbundenheit ist >bien de chez nous<, echt normannisch. Nur keine hochtrabenden Sprüche! Immer auf dem Boden der Wirklichkeit bleiben und dabei erfüllbare Träume herbeiwünschen! Nach der Tragik des Krieges und im Überschwang der Befreiung sind sich die meisten Leute hier treu geblieben: nicht exaltiert, nicht wehklagend maßvoll und optimistisch; solide, wie es sich für Normannen gehört. Ich stimmte vorhin übermütig den Refrain von >Ich sehne mich nach meiner Normandie sie ist das Land, wo ich geboren bin< an. (>J'aime a revoir ma Normandie c'est le pays qui m'a donne le jour< ist eine Art Nationalhymne für die Normannen.)
>Hast du heute patriotische Anwandlungen ?< hat Colette leicht spöttisch gefragt.
>Du wirst lachen, ja!<
>Dann wohl bekomm's! Du scheinst glücklich zu sein<, stellte Colette mit einem Augenzwinkern fest.
Bin ich das?«
Mit dieser Frage endete die Eintragung des 17. Juli 1944 in meinem Tagebuch. Nachträglich kann ich besser ermessen, wie mir die Gelassenheit, die Zuversicht meiner Landsleute imponierte. Ebenso die Fruchtbarkeit der Landschaft Bessin: In der Normandie ist die Natur freigiebig, großzügig, ja verschwenderisch und dies ohne künstliche Tricks, aus eigenem Antrieb! Das Gras hat im Bessin eine eigentümliche, urwüchsige Kraft; es wächst überall, wo Licht hinfällt. Kaum wurde 1944 ein Zelt abgerissen, schon fing die arg getretene Fläche zu grünen an. Früher, als ich im Sommer durch die Wiesen spazierengegangen war, hatte ich oft den Eindruck, daß sie hinter mir zuwuchsen, bevor ich mich umsah.
Obwohl eine Menge Kühe verendet war und die Anhäufung von Kriegsmaterial auf den Weiden deren Benützbarkeit sehr einschränkte, gab unsere Landwirtschaft ihr Bestes. Die Lücken durch die Zäune, die meist unverschlossenen Tore der Weiden, die Allgegenwart des Militärs erschwerten die Arbeit der Bauern, aber die Normannen verrichteten ihren Job mit einer Ruhe und einer Improvisationsgabe, die den Amerikanern gefiel. Es hatte sich zwischen beiden Völkern auf eine unkomplizierte, spontane Weise eine Art von Zusammenleben entwickelt. Vielleicht fühlten sich manche Amerikaner in die Pionierzeit zurückversetzt. Unser Land erinnerte sie, vor allem wenn sie aus Ohio oder Utah kamen, ein wenig an ihre Heimat. Sie sagten es uns. Ohne den Krieg hätten sie den Aufenthalt im Bessin vermutlich genossen.
Viele unserer romantischen Apfelgärten waren jedoch noch Schlachtfelder, nichts für schwärmerische Sehnsüchte. In der blutigen, zermürbenden Schlacht um Saint-Lo wurde alles an Material und Menschen eingesetzt, was vorhanden war (Panzer, Grenadiere und seitens der Amerikaner eine Luftflotte, die einen Todesstreifen hinter sich ließ und gelegentlich wegen wetterbedingten Sichtmangels eigene Leute tötete.)
Was geschah unterdessen mit den Franzosen in diesem Inferno von Kratern, aus dem soviel Rauch und Staub hochstiegen, daß sich die umliegende Gegend verdunkelte? Gelegentlich wurden Nachrichten verbreitet, die uns einen gewaltigen Schock versetzten, weil sie Weltuntergangsbilder vermittelten, die unser Vorstellungsvermögen weit übertrafen. Der Fluß Vire zum Beispiel sollte in Saint-Lo infolge der Verwüstungen der Stadt sein Bett verlassen haben! Die Vire, umgeben von Trümmern, durch welche sie sich einen Weg bahnte, floß quer durch einen ehemaligen Stadtteil von Saint Lo! Nach solchen Meldungen fühlte man sich plötzlich schuldig, weil man vorher aus Unwissen guter Laune gewesen war. Wie ein Durstiger in der Hitze des Sommers nach einem kühlen Getränk greift, holte ich mir aus unserer Bibliothek ein Buch: einen Gedichtband von Lucie Delarue-Mardrus (eine zeitgenössische Dichterin, die ich sehr mochte, weil sie sich von ihrer Heimat, der Normandie, oft hatte inspirieren lassen). Was ich las, beschwor friedliche Gärten unweit des Meeres, klare Flüsse, die einen Zauber in sich bargen, spielende Kinder und runde duftende Äpfel. Lucie Delarue-Mardrus hatte einen magischen Satz erfunden, der für jeden Normannen köstliche, friedliche Erinnerungen wachruft: »L'odeur de mon pays, elle est dans une pomme.« (Der Duft meines Landes, er steckt in einem Apfel.) Endlich fand ich das entsprechende Gedicht wieder! Können Dichter Träume wahr werden lassen? Daß es ihnen gelingt, solche zu erwecken, ist ohnehin ein großes Verdienst. Sich Dichter zu wünschen, die wie die früheren Ausmaler die Wirklichkeit mit Gold überziehen, ist nicht modern. Bei echten Katastrophen braucht man aber solche Dichter, keine Schwarzmaler.
Am 18. Juli 1944 wurden die Ruinen von Saint-Lo erobert. Dieser Sieg, den wir so sehr herbeigewünscht hatten, schien acht Tage lang wenig zu bringen. Die von den Amerikanern geplante Operation »Cobra«, die danach hätte folgen müssen, konnte wegen der miserablen und für die Jahreszeit abnormen Witterung nicht gestartet werden. Die Schlachtfelder wurden zu Kloaken. Unter einem mit nassen, grauen Nebeln zerfransten Himmel, durch welchen Heere von Wolken nach und nach wie ins Verderben zogen, schien sich bisweilen das Ende der Welt anzukündigen. Der künstliche Hafen von Omaha mußte sogar aufgegeben werden. Unterdessen wütete der Kampf um das Industriegebiet von Caen und in der Nähe der Stadt (Operation Goodwood). Die Verluste waren am Ende des Tages erschreckend hoch: 1 500 Kanadier und 1 500 Briten hatten sterben müssen; 470 alliierte Panzer waren in diesem Kampfgebiet vernichtet worden.
Am 20. Juli fand das Attentat auf Hitler statt und mißlang.
Am 22. Juli hagelte es plötzlich Artilleriegeschosse auf das Bahnhofsviertel von Le Molay. Rund ein Dutzend davon fiel wie aus heiterem Himmel, denn wir hatten in der trügerischen Hoffnung gelebt, von solchen Greueln für alle Zeiten befreit zu sein. Die Beschießung löste Entsetzen aus. Weil es einige Verletzte gegeben hatte, riet man der Bevölkerung, sich auf die nötigsten Gänge zu beschränken und nicht mit dem Rad zu fahren; Räder störten ohnehin die Militärkonvois.
Am 23. Juli explodierte in der Fabrik ein Dampfkessel und verletzte fünf Personen, darunter, und am schwersten: meinen Bruder Michel!
Man brachte ihn uns auf einer blutbeschmierten Bahre nach Hause. Er war bis zu den Haaren mit übelriechendem Käse bespritzt (die Ware, die man hatte schmelzen wollen). Der Oberschenkel seines linken Beins war abgebunden und ein großer provisorischer, bereits rotgefärbter Verband bedeckte eine Wunde ungefähr in der Mitte des Schienbeins.
»Beide Knochen sind ab«, sagte Michel. »Vorhin hing das Bein geknickt herunter, aber schau! Ich kann die Zehen bewegen: Die Nerven müssen in Ordnung sein!«
»Tu das bitte nicht«, sagte ich entsetzt. Der Verband wurde zusehends rötlicher. »Du mußt völlig ruhig liegen bleiben. Armer Michel! Es muß fürchterlich weh tun.«
»Nein!« antwortete Michel. »Jetzt spüre ich dort nichts.«
»Das sagst du nur so...«
In diesem Augenblick kam Mama.
»Wir haben einen amerikanischen Krankenwagen angefordert«, sagte rasch einer der Träger. »Es tut uns allen so leid für Ihren Sohn.«
»Mon pauvre Cheri!«
Mama hatte sich gebückt, streichelte Michel das Haar und hätte am liebsten geweint.
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, beteuerte Michel. »Mein Bein schmerzt nicht.«
»Wie?« fragte Mama noch entsetzter als zuvor.
»Ich weiß«, entschuldigte sich Michel, »ich hätte nicht in der Fabrik sein sollen, aber ich wollte dabei sein, um erzählen zu können, wie es mit dem Schmelzen geklappt hat... Es hat eben verdammt schlecht geklappt. Bist du mir böse?«
»Darum geht es doch nicht, mein Junge!« Während ich eine Schüssel mit Wasser holte, schimpfte ich pausenlos mit mir: Nimm dich zusammen! Du darfst einfach nicht weinen nicht vor ihm! Wir wuschen Michel behutsam das Gesicht. Die heiße Masse hatte schmerzhafte Spuren hinterlassen. Eine Hand war schlimm dran. Wir legten eine kalte Kompresse darüber. »Sie tut mehr weh als alles andere«, bemerkte Michel. »Ich hab Glück gehabt, nicht den Dampf ins Gesicht zu bekommen.«
»Wenn er nicht sofort am Boden weggerutscht wäre, sähe er jetzt anders aus, Madame. Er war prima, Ihr Junge! Monsieur D. war bewußtlos. Es hat ihn am Kopf erwischt. Als wir weggingen, kam er wieder zu sich. Den anderen...«
Im selben Moment stürzte Colette, die draußen auf den Krankenwagen gewartet hatte, mit drei Amerikanern herein. Dann ging alles furchtbar schnell. Wohin sollte Michel transportiert werden? Nach Bayeux? Oder? Der amerikanische Arzt schlug vor, obwohl der Unfall nur indirekt mit dem Krieg zu tun hatte, Michel im Zeltlager behandeln zu lassen.
»Wir tun, was Sie wollen, Madame. Ich begleite auf jeden Fall den Verletzten während der Fahrt, und Sie kommen mit. Wohin sollen wir fahren?«
Sie überlegte krampfhaft. (Wenn Previti und Sterenson nicht näher an die Front verlegt worden wären, wenn die Artilleriegeschosse nicht am Tag zuvor auf Le Molay gefallen wären, wenn sie besser englisch gesprochen hätte, wenn...) In ihrer Bedrängnis sagte sie:
»Nach Bayeux bitte!«, und zu uns: »Die Stadt ist nie bombardiert worden.«
Wir bekamen von unserer Mutter noch den Auftrag, Papa irgendwie zu verständigen.
»Fragt Monsieur Mauve! Am besten, ihr fahrt selbst nach Le Vast vielleicht mit den Amerikanern!«
Die Tür des Krankenwagens stand noch offen. Mama saß neben Michel.
»Aber fahrt zu zweit!« schrie sie noch aufgeregt. »Nicht eine von euch allein! Und versucht, Papa zurückzubringen!«
»Viel Glück, alter Junge!«
Ich weiß nicht mehr, wer uns dazu verhalf, aber es gelang uns tatsächlich, zunächst mit einem Jeep, später mit einem amerikanischen Lastwagen nach Le Vast zu fahren. Wir saßen beide hinten, Colette und ich, wurden hart hin und her geschüttelt und dachten: Wenn wir dort sein werden, wird es eine Lösung geben!
Es gab keine. Unser Vater war sehr erschüttert, offenbarte uns jedoch, daß er unter keinen Umständen seine Stellung verlassen dürfte. Er wolle sofort einen dringenden Kurzurlaub von 48 Stunden beantragen, den der Oberst vermutlich bald genehmigen würde. Wir schauten ihn entgeistert an. Er schrieb Mama einen einfühlsamen Brief voller guter Ratschläge und technischer Details über die möglichen Ursachen der Explosion.
»Die Schuldfrage muß unbedingt geklärt werden«, sagte er noch eindringlich.
Das Sicherheitsventil des lange nicht benützten 1200-Liter-Kessels war vor seiner Inbetriebsetzung nicht überprüft worden; weder von Hektor, der für die technische Werksanlage verantwortlich war, noch von seinem Team, das keine Anweisung dazu erhalten hatte. Unser Vater ahnte bereits diese Nachlässigkeit und kochte innerlich. Er verabschiedete uns.
Mit der Erledigung unseres Auftrages hatten wir, wie es uns schien, völlig versagt. Wozu waren wir einen ganzen Tag durch Verwüstungen, kreuz und quer an Konvois und Militärlagern vorbei, gefahren? Am nächsten Tag erfuhren wir, daß die gerade heimgekehrte Familie Morice nach Formigny evakuiert worden war. Diese Maßnahme wurde mit der unmittelbaren gefährlichen Nähe des amerikanischen Flugplatzes begründet. Die Familie d'Estel dagegen harrte im ohrenbetäubenden Lärm des ununterbrochenen Flugbetriebes aus. Sie hatte eine Evakuierung abgelehnt.
Von Michel erhielten wir später schlechte Nachrichten. Man hatte ihn den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht auf seiner Bahre im Gang neben anderen Verletzten liegen lassen. Es hatte kein einziges Bett gegeben.
»In der Früh wurde endlich eine Röntgenaufnahme gemacht«, sagte Mama. »Sein Bein muß gestreckt werden, bis ein Gips falls mit der Wunde alles gut geht angebracht werden kann.«
»Gestreckt?« fragte ich entsetzt.
»An und für sich ist es positiv, schon deshalb, weil Michel dadurch ein Bett bekommen hat. Über eine Riemenscheibe an der Zimmerdecke wird das Bein mit einem Gewicht beschwert. Michel ist tapfer... Was mir wesentlich mehr Kummer macht, ist, daß seine Temperatur ständig steigt.«
Wir ahnten, worum es ging. Das Penicillin war zwar längst erfunden, in seiner praktischen Anwendung jedoch auf dem Kontinent noch nicht eingeführt. Die teuere Substanz brachten die Alliierten erst Ende Juli für die Betreuung ihrer Landsleute mit. Ohne Antibiotika-Therapie blieb aber jede längere Infektionserkrankung riskant.
»Ihr Sohn ist jung«, hatte der Chirurg gesagt. »Bleiben wir hoffnungsvoll! Sie kommen doch morgen wieder?«
Unsere Mutter war zur Sous-Prefecture gerannt und hatte dort einen Passierschein beantragt, um ständig zwischen Le Molay, Bayeux und Caen hin und her reisen zu dürfen. Caen hatte sie vorsichtshalber erwähnt, in der Hoffnung, daß Michel später dorthin verlegt und Doktor Morice anvertraut werden könnte.
Am nächsten Tag gab es in Le Molay keine Beförderungsmöglichkeit nach Bayeux, weder mit den Amerikanern noch mit Lieferwagen, die dorthin gefahren wären. Wegen Benzinmangel war unser Auto lahmgelegt. Unsere Mutter holte tapfer ihr Rad aus der Garage.
»Willst du wirklich so fahren?« fragten wir.
»Mit dieser schriftlichen Genehmigung kann mir überhaupt nichts passieren!« Stolz zeigte sie uns einen Ausweis, der drei Stempel trug. »Schaut ihn genau an! Er ist sogar von Raymond Triboulet unterschrieben. Was will ich mehr?«
Weg war sie, die angeblich hilfsbedürftige Frau, von der ein Freund der Familie einmal (als die Welt um uns noch friedlich war) scherzhaft gesagt hatte: »Marie-Therese würde sogar in einem Glas Wasser ertrinken!«
Jetzt fiel mir seine blöde Bemerkung wieder ein. Die Betroffene hatte lediglich feinsinnig gelächelt, ohne zu protestieren. Ich hätte es am liebsten damals für sie getan. Deshalb erinnerte ich mich so gut an das Gespräch. Ich überlegte nun, ob ein Teil ihres Charmes Männern gegenüber nicht darin bestand, daß sie sich nur hervortat, wenn es unbedingt nötig war.
Später werde ich es ganz anders machen, dachte ich mit der Schärfe meiner 15 Jahre. Wie kann man nur immer im Schatten eines Mannes leben? Ist er tüchtig, sann ich weiter, dann bleibt er seines Berufes wegen meist unerreichbar. Trägt man aber in seiner Abwesenheit die Verantwortung für die Familie, dann muß man bei seiner Rückkehr offenbar so tun, als ob man ohne ihn nahezu hilflos wäre. Wo blieb zwischen unseren Eltern die Gleichberechtigung, die sie beide im Umgang mit Colette, Michel und mir erfreulicherweise pflegten und sogar betonten? Es ist merkwürdig, dachte ich. Das Thema scheint in ihrer Ehe problemlos zu sein. Wurde Mama durch ihre Erziehung extrem sanft gemacht?
»Sie ist nicht sanft«, hatte einmal unser Vater gutgelaunt gesagt.
»Sie tut nur so. Wenn es um euch geht, ist sie wie eine Löwin. Ihr wart viel zu jung damals, um euch daran erinnern zu können, wie...«
»Warum willst du diese Geschichte erzählen, Cheri?«
»Warum denn nicht? Also, ich habe mal euretwegen eine richtige Ohrfeige von dieser Dame bekommen!« Wir waren ganz verdutzt.
»Ich kam am Abend nach Hause und ihr wart unausstehlich. Ich wurde wütend und ging auf euch los. Mama stellte sich vor euch. Es knallte, und ich blieb ganz erstaunt stehen.«
»Für den Knall habe ich mich sofort entschuldigt«, sagte Mama. »Ich war mindestens so bestürzt wie du.« »Das war sie! Später haben wir über die einzige Ohrfeige unserer Ehe oft gelacht. Hatte ich nicht recht, von einer Löwin zu sprechen?« »Du warst damals beruflich so angespannt...«
»Und du mit diesen drei Bengeln den ganzen Tag? Ist das vielleicht kein Beruf gewesen? Merkt es euch, Kinder! Eine Ehe ist eine sehr aufregende Geschichte, gar nicht so schwierig, wie manche Leute tun. Man muß sich nur gern haben und nicht stehen bleiben, einfach miteinander wachsen.«
»Du bist aber damals stehen geblieben!« scherzte ich. »So eine Frechheit! Das hat man davon, wenn man euch alte Geschichten erzählt!«
Weil es Michel schlechter ging, fuhren wir am 27. Juli zu dritt mit dem Lieferwagen nach Bayeux. Alles im Krankenhaus war schlimmer, als wir es uns vorgestellt hatten nicht nur für den armen Michel! In der Kinderstation, unweit von dem Zimmer, wo er neben einem mit Lungenschuß verletzten Jungen lag, befand sich ein Saal, wo Patienten mit Verbrennungen untergebracht waren. Man hörte sie ständig schreien. Eine junge Schwester, die jeden Tag die entstellten Kinder verbinden mußte, hatte unserer Mutter erzählt, daß sich Zehen und Fingerteile öfters bei der Behandlung loslösten und am Verband kleben blieben: »Ich träume jede Nacht davon. Manchmal habe ich den Eindruck, daß ich bald regelrecht durchdrehen werde«, war ihr entschlüpft. »Wenn ich aber diese armen Kinder nicht behandle, wer wird es tun?... Hätten wir wenigstens genug schmerzstillende Medikamente!« bemerkte sie noch, während sie Michel versorgte.
Weil diese bei weitem nicht ausreichend vorhanden waren, bekam unser Bruder keine. Als wir uns von ihm verabschiedeten, war sein Gesicht schmerzverzerrt. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Hand fühlte sich sehr heiß an. Die Ärzte waren seinetwegen pessimistisch. Wir erfuhren später, was Michel drohte. Warum lebt man in dem Glauben, daß schlimme Schicksalsschläge nur fremde Familien treffen können?
Colette und ich hatten den Auftrag bekommen, das Gastzimmer unseres Hauses für den Einzug einer Flüchtlingsfamilie aus Caen vorzubereiten. Ein Ehepaar mit einer erwachsenen Tochter war uns von der Gemeinde angekündigt worden. Neben das Doppelbett hatten wir eine Matratze gelegt, alle Betten frisch bezogen, die Schränke ausgeräumt und Wäsche vorbereitet.
»Die Leute besitzen vermutlich nichts mehr. Was könnten sie noch brauchen?«
»Seife eine der amerikanischen, die Papa mitgebracht hat, und vielleicht den alten Morgenrock von Mama für die Frau.« »Wir könnten überhaupt im Speicher nachschauen...«
»Dort ist nichts mehr! Alles, was einigermaßen brauchbar war, ist für uns umgenäht oder umgestrickt worden.«
»Wir wissen nicht einmal, wie diese Menschen aussehen... Hoffentlich ist das Mädchen nett!«
»Werden sie bei jeder Mahlzeit mit uns essen?«
Wir gingen auf den Speicher. Es roch stark nach Tabak. Überall zwischen den Balken waren Schnüre befestigt, an denen Tabakblätter hingen: eine für das normannische Klima ungewöhnliche Ernte, aus der selbstgedrehte Zigaretten entstehen sollten. Vater war stolz darauf, uns dagegen bereiteten sie nur Verdruß. Die Ersatzzigaretten rochen so miserabel, daß unser anfängliches Verständnis für eine Gewohnheit, unter welcher wir ohnehin litten, restlos verbraucht war.
»Wir werden bald den ganzen Mist hinauswerfen dürfen«, sagte Colette voller Schadenfreude.
Es wurde spät. Immer nervöser warteten wir auf die Rückkehr unserer Mutter. Was würde sie diesmal für Nachrichten von Michel bringen? Bestand jetzt endlich Hoffnung, daß er sein Bein behielt? Von der bevorstehenden Drohung einer Amputation hatte Michel bis gestern nichts gewußt. Wir hofften, daß er in seinem hochfiebrigen Zustand keine Vorahnungen hatte. Unterschätzten wir ihn nicht? Bei seinem Talent, die Dinge rasch zu erfassen und gelegentlich Gedanken zu lesen, schien es mir unwahrscheinlich, daß er die Gefahr, in der er sich befand, nicht erkannt hatte. Vielleicht kämpfte er nicht nur gegen das Fieber, sondern auch gegen Alpträume.
Mit keinem Wort hatte Michel seine Angst erwähnt. Aber was bewies das schon? Wenn der Jüngste unserer Familie Probleme hatte, verschloß er sich gerne wie eine angegriffene Muschel schon deshalb, um Mama mit seinen Befürchtungen nicht zu belasten. Beide, Mutter und Sohn, verband eine eigentümliche Intuition. Sie hatten ein sehr großes Wissen voneinander, als sei jeder für den anderen aus Glas. Ich vermutete, daß sie wenn sie miteinander sprachen manche Regungen unterdrückten, nur um nicht laut zu denken. Plötzlich schrak ich zusammen. Während ich mich um seine mögliche Gemütsverfassung sorgte, ging es vielleicht bereits um die grausame Realität: Entweder war das hohe Fieber gesunken oder man traf Vorbereitungen für die Amputation seines Beins.
Colette, die seit geraumer Zeit sinnlos wie ich durch das Haus wanderte, traf ich in der Küche. Unsere Blicke begegneten sich scheu. Ich glaube, wir waren uns unbewußt aus dem Wege gegangen, bemüht, unsere Ängste zu verbergen. Nur glückliche Menschen schauen sich gern in die Augen.
»Vielleicht sollten wir doch etwas essen«, murmelte Colette ohne Überzeugung. »Mama würde darauf bestehen, wenn sie hier wäre.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, sagte sie fast zornig: »Ich habe dazu genauso wenig Lust wie du. Ich fühlte mich nur für den Rest der Familie plötzlich verantwortlich. Komisch, was?« Und nach einer Pause: »Ich halte das ewige Warten nicht mehr aus. Du?«
»Wenn ich nur daran denke, welch ein Baskettballspieler er war!«
»Im Hundertmeterlauf war Michel mindestens genauso gut!« entgegnete Colette, und leise:
»Wir sollten nicht war sagen... Hörst du?«
Jetzt hörte ich auch das Klopfen an der Tür. Diesmal ist es an der Glastür, dachte ich mit Schrecken.
»Mama hat ihre Schlüssel«, flüsterte Colette. »Sie kann es nicht sein.«
Das Klopfen hatte aufgehört. Draußen war es fast dunkel. Wir gingen leise hintereinander Richtung Diele und blieben im schmalen Gang noch in Deckung stehen. Es klopfte erneut, jedoch nicht heftig.
»Bleib hier!« befahl ich Colette. »Du siehst eher wie eine erwachsene Frau aus. Aber ich glaube sowieso nicht, daß es Soldaten sind. Ich werde vorsichtig nachschauen.«
Vor der Tür stand... Eric! Ich sperrte auf.
»Habe ich Sie erschreckt?« fragte er besorgt. »Ich wollte mich nach Michel erkundigen. Wie geht es ihm?« Und dann die Lage erfassend: »Ist Ihre Mutter noch nicht aus Bayeux zurück?«
Wir verneinten.
»Darf ich hereinkommen? Ich glaube, es ist vernünftig, wenn ich hier bleibe, bis sie wiederkommt. Dann sind Sie wenigstens nicht allein.«
Im Wohnzimmer boten wir ihm, mehr aus Gewohnheit, ein Glas Cidre an. Vermutlich um uns von unseren pessimistischen Gedanken abzulenken, ging er bald zu einem Thema über, das ihn persönlich sehr bewegte. Er hatte sich als Soldat beworben, war jedoch abgewiesen worden, weil er auf der Schonliste der für das Werk unersetzlichen Leute stand, die unser Vater bei seinem Engagement hinterlassen hatte. Eric freute sich keineswegs darüber. Alle »brauchbaren« Männer aus unserer Gegend waren gerade gemustert worden. Seine Zurückweisung ärgerte ihn um so mehr, weil seine Mutter mit dem gleichen Anliegen »Glück« gehabt hatte: Sie war in die französische Armee aufgenommen worden (und sollte übrigens dort Karriere machen, wie wir bald erfahren werden). Ich mußte mir in bezug auf Eric ein Lächeln verkneifen. Seine Mutter kannte ich nicht. Sie war wohl keine alltägliche Frau, diese Witwe, die sich mitten im Krieg zum Wehrdienst meldete und, aufgrund ihrer Erfahrung im Verwaltungswesen, bei der Intendanz eingestellt wurde.
»Ich bin Ihrem Vater für seine Fürsorge dankbar«, sagte Eric ein wenig gequält, dann rasch und fast feierlich: »Er ist nach wie vor der Mann, den ich am meisten bewundere. Deshalb füge ich mich.«
Eric hatte mich dabei angeschaut, und ich antwortete spontan:
»Papa hat recht! Es sterben zur Zeit genug junge Leute. Später können Sie sich nützlicher einsetzen und dabei leben. Meinen Sie nicht?«
»Das haben Sie besonders nett gesagt.«
Ich errötete. Das Thema bewegte mich so sehr, daß ich mit einer Heftigkeit gesprochen hatte, die falsch interpretiert werden konnte. Es war mir peinlich, und ich freute mich, als Colette anfing, vom Lateinunterricht zu sprechen, den wir, solange unsere Schule in Caen nicht betriebsfähig blieb, bei Mistinguett bekommen sollten.
»Wer ist Ihre Mistinguett?« fragte Eric erheitert.
»Die Haushälterin des Pfarrers, eine schrecklich gebildete und komische Person!«
Daß wir sie respektlos nach der bekannten Sängerin und Tänzerin des Pariser »Moulin Rouge« nannten, lag wohl an ihren extravaganten Hüten. Colette erzählte noch von unserem Vorhaben, Mathematik beim Notar zu pauken. Seine Söhne, zwei ältere Gymnasiasten, wollten uns unterrichten. Das Ganze schien Eric zu mißfallen.
»Wozu braucht man Latein in unserer heutigen Welt?« fragte er.
»Wir brauchen alles, was uns in ein normales Leben zurückführen kann«, antwortete Colette.
Ein großartiger Satz. Ich hatte ein wenig Mitleid mit dem Jungen, der durch die Umstände zu früh hatte arbeiten müssen. Der Hausschlüssel drehte sich mit einem Geräusch, das uns alle schlagartig aufstehen ließ. Mama verkündete glücklich, daß Michel heute nachmittag nur knapp 38 Grad hatte!
»Ich glaube, er hat's geschafft! Der Chirurg hat beschlossen, ihm morgen früh einen Gips mit einem Fenster für die Wunde anzulegen. >Es besteht berechtigte Hoffnung<, sagte er mir wörtlich, >daß Michel sein Bein behält aber ein technisches Problem gibt es noch: Wir haben zur Zeit im Krankenhaus keinen Gips mehr.< Ihr könnt euch vorstellen, wie mir zumute war...«
»Und?«
»Die nette, mitteilsame Krankenschwester hatte eine Idee. >Jeder muß sich hier in Geduld fassen<, sagte sie, >aber Handeln ist besser. < Ich sollte versuchen, bei den Kanadiern Gips zu bekommen. Ich fuhr aus der Stadt hinaus zum kanadischen Rotkreuzlager. Mein Passierschein erwies mir gute Dienste. Dort angekommen, traf ich Kanadier, die französisch sprachen. Es tat so gut! Alles erzählte ich: die Notlage des Krankenhauses von Bayeux und die Bedrängnis, in welcher sich Michel befand. Die Kanadier waren riesig nett. Man brachte bald zwei große Pakete herein. >Voila des bandes et du plä-ätre!< sagte der Arzt mit einem fast bäuerlichen Akzent, der so normannisch klang, daß ich regelrecht gerührt war. >Mehr können Sie mit dem Rad nicht schleppen! Es wird für einige Patienten reichen.< Vor Dankbarkeit war ich ziemlich durcheinander, und der Arzt sagte: >Weinen Sie nicht, jolie Madame! Junge Männer sind zäh. Ihr Sohn wird wieder gesund.< Geld wollte er nicht annehmen, von Dank nichts hören. >Wir sind froh, unseren Vettern helfen zu können. Es ist nicht so lange her, daß wir die Normandie und die Bretagne verlassen haben. Erst 400 Jahre! Jetzt sind wir für eine Weile wieder zusammen; es wird uns allen Glück bringen!<«
In Le Molay gab es leider keine Kanadier. Mamas Erzählung bestätigte, was wir vom Hörensagen wußten: Überall, wo sich die Kanadier in der Normandie aufhielten, schlug ihnen eine Welle der Sympathie entgegen. Sie kämpften tapfer, man erzählte sich von ihren Heldentaten im Kampf um Carpiquet, den Flugplatz von Caen, der öfter den Besitzer gewechselt hatte. Ihr mutiges Verhalten wurde bereits zur Legende. Hatten sie nicht als erste die Straßen von Caen durchkämmt und befreit, bevor Planierraupen zwischen den Ruinen Durchfahrten für die Panzer freilegen konnten? Die Trümmer der aus großen Natursteinen gebauten Häuser von Caen hatten die Stadt in ein unpassierbares Gelände verwandelt, und jeder Stadtteil mußte zunächst von Infanteristen erobert werden.
Die Kanadier waren für uns wie Verwandte. Sie gebrauchten einige uns lustig erscheinende Ausdrücke, die die Runde machten, um moderne Errungenschaften zu benennen. Daß unsere gemeinsame Sprache sich seit der Gründung von Quebec hier und dort anders entwickelt hatte, rührte uns, weil dies die minimalen Abweichungen unsere Gemeinschaft eher verdeutlichte. Daß manche Kanadier englisch sprachen, war für unser Zusammenleben mit den Engländern nützlich und angenehm. Die Zweisprachigkeit der weitgereisten Kanadier brachte uns unsere englischen Nachbarn näher! Mit Hilfe der Geschichte übten wir Völkerverständigung, während die Gegenwart täglich Fortsetzungskapitel unserer gemeinsamen Geschichte schrieb. Hätte man uns damals allerdings nach dem Prozentsatz der nur englisch sprechenden Kanadier gefragt, hätten wir wahrscheinlich spontan und völlig daneben höchstens 20 Prozent geschätzt.
In der Nacht fielen Bomben auf den Stadtrand von Bayeux. Es gab Fliegeralarm. Die Sirenen heulten, was eine ohnmächtige Panik in den Herzen von Tausenden Verwundeter auslöste. Im Krankenhaus ließ der Lärm der Explosionen die Kranken auf ihrem Lager erzittern. Viele schrien, Hilfe erbittend, die nicht kommen konnte. Fensterscheiben zerbarsten klirrend.
Michel sagte später, es sei die schrecklichste Nacht seines Lebens gewesen, weil er sich noch nie so ausgeliefert vorgekommen sei. Er hatte, als Mutter das Gipspaket der Kanadier gebracht hatte, Hoffnung geschöpft und fürchtete nun mit seinem an Gewichte geketteten Bein, die Decke auf sich herabstürzen zu sehen oder lichterloh zu verbrennen. Sein Zimmernachbar fing an zu weinen und wäre fast daran erstickt. Die Schwestern eilten hin und her. Die Türen standen offen. Bei den Kindern, die Verbrennungen hatten, war eine regelrechte Panik ausgebrochen. Viele, die noch irgendwie gehen konnten, versuchten zu fliehen. Entsetzliche Erinnerungen, die mit ihren Verletzungen, ihren Schmerzen zusammenhingen, bemächtigten sich ihrer, trieben sie nach vorne. In den Gängen stolperte man nur noch übereinander. Michel vermied es lange, von dieser Nacht zu sprechen. Am nächsten Tag sagte er lediglich:
»Es war grauenvoll!«
In der Früh wurde er operiert. Unter den gegebenen Umständen tat man sicher das Beste...