Mit der Sowjetunion war es eine zwiespältige Geschichte. Die Deutschen marschierten rasch vorwärts, und die Eltern schienen diesmal nicht unglücklich darüber zu sein. Sie hatten sogar Stecknadeln parat und markierten nach den Nachrichten den Vormarsch der Deutschen auf der Landkarte an der Wand. Es gab drei Stoßrichtungen: auf Leningrad, Moskau und das Schwarze Meer. Papa erwähnte zwar mit Besorgnis, daß Hitler das gewonnene Land als Rohstoffbasis benützen würde, aber gelegentlich sprachen die Eltern auch von Napoleon. Sie betonten, daß die Stecknadeln dazu da waren, damit wir Geographie lernten. Es war plausibel, denn die Eltern waren immer bemüht gewesen, uns auf unkonventionelle Art etwas beizubringen. Wir spürten aber, daß etwas anderes dahinter stecken mußte. Zum ersten Mal war die Aussage der Eltern uns gegenüber unklar..., bis Papa eines Tages deutlich von der »roten Gefahr« sprach, die auf lange Sicht nicht minder gravierend wäre als die Nazis.
»Die rote Gefahr«..., dieser Ausdruck war Zündstoff. Er ließ für mich eine Reihe Erinnerungen im grellen Licht aufleuchten, die ich nach fünf Jahren noch nicht verdaut hatte. Plötzlich tauchten sie aus meinem Gedächtnis auf. Ich fühlte mich in die Vergangenheit zurückversetzt.
Man schrieb damals 1936. Papa war schrecklich nervös. Er explodierte bei jeder Gelegenheit. Wir versuchten, mucksmäuschenstill zu sein. Die Tatsache, daß die Volksfront nach einer Periode der Unruhe, die Frankreich an den Rand der Revolution gebracht hatte, im Frühjahr 1936 die Wahl gewann, interessierte uns als noch nicht einmal Zehnjährige kaum. Ebenso wenig konnten wir begreifen, weshalb eine Welle von Streiks Frankreich erfaßte, obwohl die gewünschten und nötigen Sozialreformen unter der Regierung Blum gut vonstatten gingen. Überall wurden Fabriken besetzt.
Im ganzen Land wurde leidenschaftlich diskutiert..., auch an unserem Mittagstisch, obwohl dort eher von einem Monolog die Rede sein konnte, der uns Kinder nach dem Motto »Erwachsene unterbricht man nicht!« zu langem Schweigen verurteilte. Papa sprach von ungelösten Problemen, die Frankreich seit 1932 schwer zu schaffen machten. Sein Hinweis, daß ich just mit der Wirtschaftskrise geboren war, vermochte mich wenig zu fesseln, sondern erfüllte mich eher mit Grauen. Dieses um sich fressende Ungeheuer von einer Weltkrise brandmarkte mein bisher gemütliches Geburtsjahr! An diesem Sommertag lag irgend etwas in der Luft. Vielleicht ein Gewitter? Papa hatte uns schon mehrmals zur Ruhe ermahnt, aber wir hörten nicht auf, uns zu zanken.
Plötzlich, als unser Vater von der »roten Gefahr« sprach, geschah es: Er verlor die Selbstbeherrschung und feuerte seine Gabel durch das Zimmer! Sie durchbohrte den Seidenvorhang, zertrümmerte die unterste Glasscheibe der Tür und landete im Salon! Dieser Gewaltakt, einmalig in unserer Familiengeschichte, hatte uns vor Schreck auf unseren Stühlen erstarren lassen. Erst als Papa endlich in seinem Büro verschwunden war, hatten wir uns getraut, aufzustehen und zu dritt stumm nach der Gabel Ausschau zu halten. Mama, die in die Küche gegangen war, kam mit geröteten Augen zurück. Das war für uns zuviel.
»Nein!« schrie Colette, mit dem Fuß auf den Boden stampfend.
»Bitte, sei du still!« sagte Mama. »Wenn jeder hier anfängt, sich abzureagieren, werden wir nicht fertig. Papa ist absolut übermüdet.«
Sie setzte sich auf den Teppich und bedeutete uns, das Gleiche zu tun. Unbewußt hatten wir damit, ihrer Aufforderung nachkommend, den Kreis der glücklichen Stunden gebildet, als sie mit uns am Boden spielte. Wir waren aber noch voller Abwehr außer Michel -, und Mama war sehr ernst. Dann sprach sie lange.
Ich weiß nur noch, daß im Laufe ihrer komplizierten Erläuterungen über die Ausnahmesituation, in der sich Frankreich befand, viele Worte aufgetaucht waren, die ich kaum zuvor gehört hatte: ein ganzer Katalog von brandneuen Begriffen, die nach einem festen Inhalt suchten!
Plötzlich sagte sie - ich erinnere mich genau daran - etwas Simples und völlig Unerwartetes: Sie sagte, daß Papa noch sehr jung sei.
»Jung?« fragten wir stutzig.
»33 ist nicht alt«, beteuerte Mama, und ihr Gesicht wurde weicher. »Er ist wirklich jung für das, was er tut.« Nachdenklich sagte sie noch: »Vielleicht fühlen sich die Leute in der Fabrik deswegen verstanden. Le Molay ist das einzige Werk unserer Gesellschaft, wo nicht gestreikt wird.«
Dann sprach sie von zahlreichen Sitzungen, an denen Papa teilnahm und davon, daß er seit Wochen kaum noch schlief. »Deshalb hat er vorhin...«
»... die Gabel geworfen«, beendete Michel fast stolz ihren letzten Satz. Wir standen auf und gingen alle ins Eßzimmer, um den beschädigten Vorhang zu untersuchen. Die Stelle sah übel aus.
Der Grund, der zu »unserer« Fabrik gehörte, war weit gesteckt, rund 60 Hektar grüne Landschaft an einem Bach. Das Werk Le Molay war ein Reich für sich, das nahezu unabhängig von der Umwelt mit eigener Strom-und Wasserversorgung leben konnte. Unser Glück! Ab 1941 verlangten die erschwerten Lebensbedingungen eine noch engere Bindung zu den Bauern des Milcheinzugsgebiets. Holzkohle zum Beispiel wurde nun bei uns aus dem Holz der ganzen Umgebung gebrannt, weil die Zuteilung der offiziellen Stelle in Caen Girpia (Groupement interprofessionnel des produits indispensables ä Pagriculture) genannt nicht ausreichten. Auch das Heu, das Stroh, die Melasse für die Pferde waren zu knapp rationiert. Geheime Abmachungen mit den Bauern wurden getroffen. Unser Reich organisierte sich.
Als »Molkerei« betitelt, war die Fabrik zwar auf die Herstellung von Butter, Emmentaler, Assiago und vor allem Butterkäse spezialisiert, aber es gehörte dazu eine echte Landwirtschaft mit rund 25 Pferden, die in einem Musterstall untergebracht waren. Alle nötigen Handwerkszweige waren vertreten; in einer eigenen Straße in der Nähe des großen Wasserturms gab es eine Schreinerei, nebenan einen Schmied. Im Lagerhaus arbeitete ein Sattler. Seit 1940 wurde im werkseigenen Laden, wie in allen Läden, Zucker, Mehl, Kaffee, Schokolade und Fett nur gegen »Lebensmittelmarken verkauft. Die Vorräte waren längst aufgebraucht. Auch Fleisch, Brot und Textilien waren streng rationiert. Wir waren sogar verpflichtet, einen Teil der Eier, die unsere Hühner legten, bei einer Sammelstelle abzugeben. Die Felle unserer weißen Kaninchen wurden regelmäßig abgeholt, um Stoff und Filz herzustellen.
Die Gebäude auf dem Werksgelände variierten, je nach Zweckbestimmung in ihrer Größe, aber sie waren alle im gleichen normannischen Stil mit bunten Ziegeln und schrägen Dächern aus Schiefer gebaut. Auch die Verwaltung besaß einen eigenen Pavillon. Unweit davon stand unser Haus.
Aus dem Gebäudekomplex, von einem Architekten entworfen, der mehr Sinn für Lebensfreude und Schönheit als für nüchterne Planung besessen hatte, war keine rationelle Fabrik geworden, sondern eine liebenswürdige, menschliche Arbeitsstätte, wie Ökologen sie heute erträumen würden, wenn sie Wunschfabriken ohne den Zwang der Rentabilität und ohne Rücksicht auf die Kosten bauen dürften. Wurde deswegen niemals in Le Molay gestreikt? Zwischen den verschiedenen Gebäuden gab es Gärten oder geteerte Flächen, die wir abends mit unseren Fahrrädern gelegentlich als Rennbahnen benutzten. Das Gelände fügte sich ohne Übergang in die grüne Landschaft ein. Unweit von dem großen Wasserturm führte ein Wiesenweg zu dem Bach, wo wir angelten. Anschließend gab es einen großen Weideplatz mit einer Allee von Pappeln, dann wieder Wiesen, die sich, zum Teil mit Apfelbäumen bepflanzt, über einen Hügel erstreckten. Ganz oben stand ein verfallenes Bauernhäuschen. Es hatte keine Küche, dafür einen sehr breiten offenen Kamin, in dem man auf einer Bank bei der Feuerstelle sitzen konnte. Der alte Kesselhaken an den man früher die Kochkessel gehängt hatte, war noch vorhanden.
Wir gingen in diesem Sommer oft dorthin, weil Papa das Haus reparieren ließ. War es Vorahnung? Alles sollte demnächst eine Bedeutung erlangen, die wir damals nicht erraten konnten. Auf dem Rückweg, statt die Straße der Handwerker zu benutzen, bogen wir gern nach links ein, an den Obst- und Gemüsegärten vorbei, bis zum dunklen Teich, dem wir uns nicht ganz nähern durften. Der Teich lag mitten zwischen dichten, bunten Bäumen versteckt, so still, daß Wasserhühner, durch unsere Ankunft aufgeschreckt, jedesmal kreischend wegflogen. Sie berührten in ihrem schnellen Flug fast die Wasseroberfläche, um bald unauffindbar in den hohen Gräsern zu verschwinden. Dann war alles im Nu absolut still, und niemand hätte an diesem Ort ahnen können, daß sich in der Nähe eine Fabrik befand.
Es gab viele Heimgärten, die in der Zeit der Lebensmittelknappheit von großer Bedeutung waren. Man hatte 1941 neue Gärten anlegen müssen, um die Werks-Kantine mit Gemüse zu versorgen. Eine Entscheidung ergab die andere. Im Sommer 1941 fing man an, Schweine zu züchten, die von den Küchenabfällen dick wurden.
Alles, was man unternahm, war beschwerlich, meldepflichtig. Man mußte seine Ansprüche ständig durchfechten. Viele Fabriken schränkten sich ein. Papa organisierte und rebellierte in der Zwangsjacke der für Frankreich völlig neuen Planwirtschaft. Er wollte partout den Stand der Produktion zumindest halten, war dauernd unterwegs und... schwebte im Glück, obwohl er es nie zugegeben hätte. Er lebte in ständiger Spannung aber war das nicht sein normaler Rhythmus? und machte sich zu Hause Luft, indem er uns seinen ganzen Ärger erzählte. Gelegentlich sprach er dabei sehr laut, und wir zogen die Köpfe ein, so als ob wir persönlich gemeint wären, wenn er Zustände oder Menschen kritisierte.
Ich will nicht sagen, daß wir diese Gewitter liebten, aber sie schienen uns nun mal zu unserem Hausklima zu gehören, und Papa erzählte dabei aufregende Geschichten, in die wir uns persönlich verwickelt fühlten. Mit echten Problemen der Erwachsenen ständig konfrontiert zu werden war nicht übel, vor allem, weil wir im voraus wußten, daß Papa uns über kurz oder lang die patente Lösung frei Haus liefern würde! Vor Überraschungen waren wir dabei nicht sicher, vor Langweile ganz und gar.
Aber auch wir sorgten dafür, daß die Tage spannend verliefen. Unterstützt wurden wir dabei von den Morice, unseren Freunden, die oft zu uns kamen, weil unser Gelände als abgeschirmt und damit frei von Gefahren galt. Unsere Eltern wiegten sich in Sicherheit. Es war trügerisch. Bisher hatte die lose Kette unserer unauffälligen, überall im Betrieb verteilten Freunde und Aufpasser genügt, um uns vor Unsinn zu bewahren. Erfinderischer geworden, schlüpften wir nun immer öfter durch die Maschen der wohlgemeinten Aufsicht.
Wir hatten zum Beispiel entdeckt, wo der Schlüssel für den Zugang zu den Dächern des Hauptgebäudes aufbewahrt wurde. Er hing in einem merkwürdig riechenden Raum, der einer Hexenküche glich und uns in doppelter Weise lockte: Es tat sich dort Erstaunliches, und die verschlossene Tür zu unseren Geheimwanderungen auf die Dächer befand sich drin.
Wir hatten vor unseren Freunden davon geschwärmt. Jetzt wollten wir ihnen alles zeigen und schlichen uns, sieben an der Zahl, so unauffällig es ging, dorthin. Wir schlossen rasch die Eisentür hinter uns zu. Die Morice-Kinder betrachteten fasziniert den Dampf, der unmittelbar über der großen Wanne mit der Sole gefangen zu sein schien. Die dunkle Flüssigkeit bewegte sich um die kastenförmigen Behältnisse, in denen sich Eis bildete. Nebenan zitterte ein mächtiger Elektromotor, der an einen offenen Transmissionsriemen angeschlossen war. Wir erzählten unseren Freunden, wie man es uns erklärt hatte, daß der Motor eine Kühlpumpe betätigte und daß der laufende Riemen sehr gefährlich sei. Der Eiszubereitungsraum war im Sommer warm, weil er unmittelbar unter dem Dach lag; trotzdem fröstelten wir hier immer ein wenig.
»Ich habe Angst!« sagte Jacky.
Veronique steckte, wie wir es früher getan hatten, vorsichtig einen Finger durch die Nebelschicht in das Salzbad und zog ihn rasch heraus. Den Finger im Mund, schüttelte sie sich angewidert.
»Es schmeckt wirklich scheußlich«, sagte Colette.
»Und es ist fürchterlich kalt«, ergänzte Veronique, ihren Finger reibend.
»Wo geht es hier weiter?« fragte Pierre.
Der Schlüssel hing ordentlich an seinem Platz. Michel sperrte die Eisentür auf. Einer nach dem anderen gingen wir nach draußen. Die schwere Tür schnappte von selbst hinter uns zu. Unsere Wanderung konnte beginnen. Es gab dort Zwischenterrassen, schräge und schmale Pfadwege, nervenkitzelnde Abgründe. Hintereinander legten wir, leise wie Diebe, den Weg zu unserem Lieblingsplatz zurück: das fast flache Dach der Milchannahmestation. Von dort aus hatten wir öfters, auf dem Bauch liegend, die Betriebsamkeit um die Lastund Pferdewagen vormittags beobachtet. Das Abladen der Milchkannen verursachte einen solchen Lärm, daß wir oben ungeniert sprechen und lachen konnten, ohne bemerkt zu werden.
Jetzt, am Nachmittag, war jedoch alles unter uns still, leer und ordentlich. Am Ende der asphaltierten Fläche, halb vom Zaun des Fabrikgeländes verdeckt, lag die Straße zum Bahnhof; parallel dazu, aber etwas erhöht, die Eisenbahnlinie Paris-Cherbourg. Diese Strecke war eine der wichtigsten Verbindungen zum Atlantikwall. Oft fuhren schwerbeladene Güterzüge an uns vorbei. Die Dampflokomotiven hatten Mühe, die langen Züge zu ziehen. Weil es bei uns bis zur steinernen Brücke leicht anstieg, fuhren sie langsam. Schleppten sie Munition nach Cherbourg?
Die meist geschlossenen Waggons trugen Inschriften mit den Namen ihrer Ursprungsbahnhöfe: Berlin, Stettin, Rostock, Königsberg, Breslau. Diese Städte lagen für uns abenteuerlich weit im Osten. Seit dem russischen Feldzug waren solche Namen häufig zu lesen. Auch polnische und österreichische Güterwagen hatten wir von den anderen zu unterscheiden gelernt. Irgend etwas Edles und Verwischtes in schwarz oder in rot zeichnete sie aus: heraldische Adler? Die deutschen Militärzüge offenbarten uns ein bisher ungeahntes, durcheinandergewürfeltes Europa, dessen Tragik wir deshalb nicht begreifen konnten, weil die Ferne jungen Menschen (vor allem, wenn sie nicht reisen dürfen) immer verlockend erscheint.
Wir rätselten um manchen Namen von Städten und stritten uns darüber, ob München Munich, Köln — Cologne heißen konnten. Weiter hergeholt schien uns Aix-la-Chapelle für Aachen, aber in Verbindung mit Karl dem Großen pardon mit Charlemagne! kannten wir den deutschen Namen dieser Stadt. Als wir versuchten, um die Wette alle Inschriften zu lesen, die an uns vorbeifuhren, übersahen wir Papa, der gerade durch den Hof ging und unsere Stimmen hörte. Er erblicktees muß ein Bild für Götter gewesen sein sieben Kinderköpfe, die über das Blechdach herauslugten und geradeaus starrten, ohne ihn zu sehen. Normalerweise hätte es ein Donnerwetter geben müssen, aber Papa, vermutlich selbst blaß vor Schreck, sagte:
»Was tut ihr da oben, Kinder?«
Es war gut, daß wir bäuchlings lagen, der Schreck fuhr uns in die Glieder.
»Geht jetzt langsam zurück, wie ihr gekommen seid!« befahl Papa.
Wir entfernten uns auf allen Vieren von der ungeschützten Kante, kletterten nacheinander über die Leuchtschrift des Firmennamens und traten bange den Rückweg an. Unten gab es eine Predigt, aber gemäßigt. Wir gaben freimütig zu, daß wir oft oben gewesen waren, und versprachen »nie mehr wieder«. Wir wußten, daß wir unser Versprechen halten würden, und waren entsetzt, daß wir uns hatten erwischen lassen. Gefahren sahen wir oben keine... Wir trauerten nur unseren Logenplätzen nach.
Dann kam die Heusaison, und wir verbrachten lange Stunden mit Monsieur Jagoury im Freien. Seit eh und je war er unser Freund. Wir waren ihm, als wir kleiner gewesen waren, oft auf Schritt und Tritt bei seinen Beschäftigungen gefolgt, im Stall, bei den Kühen, am Bach, beim Heckenschneiden, bei der Apfelernte, überall, wo er zu tun hatte. Wir hatten ihm immer wieder Fragen gestellt; unermüdlich hatte er sie beantwortet. Seit Jahren! Wir liebten ihn. Er liebte uns. Bei ihm waren wir sicher aufgehoben.
Dieses Jahr war das Heu besonders wichtig. Wir hatten oft zugeschaut, wie Monsieur Jagoury und seine Gehilfen im Handumdrehen Heubündel mit einem auch aus Heu angefertigten Strick rasch zusammenbanden. Wir konnten das längst nicht so gut. Meistens lösten sich unsere Bündel wieder, oder sie bekamen nicht die richtige Größe. Das Heu auf den hohen Wagen zu stapeln machte uns mehr Spaß. Wir sprachen mit den Pferden, spielten und waren glücklich.
An einem verregneten Nachmittag waren wir im Haus geblieben. Plötzlich ging die Tür des Arbeitszimmers von Papa auf und zwei deutsche Offiziere standen vor uns. Das war so überraschend, daß Okay wütend seine Zähne zeigte. Sein ganzes Haar sträubte sich; wir hatten unseren Hund noch nie so gesehen. Er knurrte richtig boshaft, und es sah so aus, als ob er springen wollte. Einer der Uniformierten richtete seine Pistole auf ihn. Uns blieb das Herz stehen. Der Hund knurrte weiter, wich aber nicht von der Stelle. Die Pistole blieb auf ihn gerichtet. Wir standen auf und packten Okay an seinem Halsband. Da kamen die Eltern aus dem Salon, und wir erfuhren, daß wir zwei Gestapo-Offiziere vor uns hatten. Sie sahen sehr aufgeregt aus, nicht nur wegen des Empfangs. Sie hatten die Außentür des Arbeitszimmers von Papa offen gefunden und waren auf diese Weise ins Haus gelangt.
Sie suchten einen geflohenen Kriegsgefangenen, der bei uns angeblich seit Wochen arbeitete. Sie hatten schon herumgefragt und wußten, daß der Gesuchte täglich in der Fabrik gewesen war und oben in einem der Junggesellenzimmer über der Garage wohnte. Papa sollte sofort kommen.
All dies hatten sie rasch in einem harten Französisch gesagt. Papa ging gleich mit ihnen. Wir blieben ängstlich zurück und streichelten unseren Hund, um ihn und uns zu beruhigen.
»Er hätte glatt geschossen!« sagte Michel. Wir waren empört, aufgewühlt, verständnislos. Wir banden Okay am Treppengeländer fest. »Braver englischer Hund!« sagte Colette.
Nach einer Weile kam Papa zurück. Er sagte nichts. »Ob wir in der letzten Zeit jemanden hier im Hause gesehen hätten, den wir nicht kannten«, fragten uns die Deutschen.
»Nein!« antworteten wir mit Augen, in denen sich echtes Erstaunen spiegelte. Wir waren in der Tat fassungslos darüber, daß wir nichts bemerkt hatten und zutiefst erschrocken, daß Papa so unvorsichtige Dinge machen konnte. Daß oben in dem Zimmer niemand gefunden worden war, freute uns. Wie würde sich das aber für uns auswirken?
Während Papa mit den Offizieren in sein Arbeitszimmer ging, sagte er:
»Am vergangenen Dienstag ist dieser Mann nicht an seinem Arbeitsplatz erschienen. Wir dachten, er sei krank, und ich schickte jemand hinauf. Sein Zimmer...«
»Das haben Sie schon gesagt«, unterbrach ihn der Gestapo-Mann.
»Was uns viel mehr interessiert, sind die Papiere, die Ihnen dieser Kommunist angeblich gezeigt hat, und warum er nicht ordnungsgemäß von Ihnen deklariert wurde!«
Die Tür wurde zugemacht. Wir wollten horchen, aber Mama nahm Colette bei der Hand, legte einen Finger auf den Mund und zog uns in den Salon.
»Hast du davon gewußt?« fragten wir leise.
»Nein!« antwortete sie sehr bestimmt. »Papa wußte sicher auch nicht, wer er war.«
Erst nach dem Krieg erfuhren wir die Wahrheit: Da kam der geheimnisvolle Mann, um sich zu bedanken. Er war ein wichtiger Mann in der Partei geworden und sagte, daß Papa und die Genossen, die ihn rechtzeitig gewarnt hatten, ihm damals das Leben gerettet hätten. Anschließend sei er untergetaucht, aber »bei uns hätte er fast normal leben können«. 1941 hatte Papa nahezu alles gewußt. Weil dieser Mann als entflohener Kriegsgefangener und als Kommunist ernsthaft gefährdet war, hatte er ihn versteckt. Seine politische Gesinnung war für ihn nebensächlich gewesen.