Früher war auf unser Haus Verlaß gewesen. Sobald wir uns davon entfernten, strahlte es für uns wie für Seeleute der Leuchtturm, der bei jedem Wetter eine sichere Rückkehr und heimische Geborgenheit verspricht. Wir konnten getrost den Blick von ihm wenden, uns auf der Spur von Abenteuern davonschleichen. Das Haus blieb, unbeweglich wie ein Fels im Sturm.
Woran lag es nur, daß dieser Felsblock mir nun wie von Wind, Salz und Wellen ausgehöhlt vorkam? Hatte es mit unserer veränderten Umwelt oder mit uns selbst und unserem Alter zu tun? Irgendwie gab es jedenfalls einen Sprung in unserer Beziehung zu dem alten Haus, welches, von vielen Fremden bestürmt, uns nicht mehr zu gehören schien es führte plötzlich ein Eigenleben, gehorchte uns nicht mehr.
Es fing damit an, daß die Flüchtlingsfamilie aus Caen bei uns einzog. Am selben Tag brachte Papa zwei amerikanische Offiziere zum Mittagessen mit. Ohne Vorwarnung! Dafür händigte er uns eine bunte Broschüre aus, wo Insignien, Tressenstreifen, Litzen, Wappenschilder und Ordensbänder aller Waffengattungen der amerikanischen Armee farbengetreu abgebildet waren, »damit ihr euch auf Anhieb auskennt, wenn ich zukünftig amerikanische Freunde nach Le Molay bringe!« So war er, unser Vater! Trotzdem oder gerade deshalb freuten wir uns mächtig über seine Anwesenheit (nicht nur wegen unserer Sorgen um Michel).
Unsere Logiergäste aus Caen schienen von der regen Betriebsamkeit unseres Hauses beeindruckt. Sie waren alle drei nicht unsympathisch. Die 18jährige blonde Tochter, ein bißchen dick wie ihr Vater, lächelte, um Freundschaft werbend. Die brünette Mutter sah schmal und übernächtigt aus. Sie war unruhig, bedankte sich häufig und versuchte taktvoll, sich nützlich zu machen. Der Vater erklärte:
»Das hohe Gebäude, in dem sich unsere Wohnung befand, brannte sehr rasch. Wir waren froh, mit dem Leben davonzukommen. Erst später haben wir begriffen, was uns alles fehlte.«
»Wo lebten Sie anschließend?«
»In den Kalkgalerien von Fleury...«
Die Flüchtlingsfamilie zog sich bald in ihr Zimmer zurück, vermutlich, um über uns und das neue »Zuhause« in Ruhe sprechen zu können.
Wir waren froh, diesen Menschen eine Bleibe anbieten zu können. Ihre Anwesenheit unter unserem Dach beruhigte unser Gewissen, denn die Tatsache, daß wir in der allgemeinen Verwüstung materiell völlig verschont geblieben waren, machte uns allmählich zu schaffen. Würden wir allerdings in sechs oder noch mehr Monaten das Gleiche wie jetzt über unsere Dauergäste denken? Die Frage allein schien mir tadelnswert, jedoch nicht vermeidbar.
Ich saß im Ledersessel von Papa, schloß die Augen, und es war mir so, als ob ich den Felsen in der Brandung sehen konnte, an welchen ich an diesem Tag gedacht hatte. Er war durchlöchert wie ein Riesenschwamm. Das Meer stieß wild auf ihn zu, stürzte in die Höhlen des Gesteins, überdeckte ihn dann ganz, um sich wirbelnd, tosend und schäumend wieder zurückzuziehen. Krachend erprobten die Schlagwellen immer neue hinterlistige und wütende Angriffe, während am schwarz-grauen Himmel wirre Sturmwolken vorbeirasten.
Jeder Tag dieses Monats Juli webte die Stunden unseres Lebens aus historischem Geschehen und aus persönlichen Ereignissen. Der Stoff, der dabei entstand, blieb so verwirrend, daß wir nicht fähig waren, die darin wichtigen Kettfäden von den belanglosen Schußfäden zu unterscheiden. Wir neigten dazu, das Greifbare für das Wichtigste zu halten.
Am 24. Juli, einen Tag nach der Explosion des Dampfkessels in Le Molay, war die bedeutende, lange geplante Offensive »Cobra« eröffnet worden, die den Durchbruch der Amerikaner in der Normandie und der Bretagne erzwingen sollte.
Weil unsere Gedanken um die Ereignisse innerhalb unserer Familie kreisten, nahmen wir den Kampf zunächst nur akustisch wahr: Der kleine Abschnitt der Straße Periers-Saint-Lo, wo der konzentrierte amerikanische Angriff zu erfolgen hatte, lag 22 Kilometer von uns entfernt. »Die entscheidenste Schlacht unseres Krieges in Westeuropa«, wie Generalleutnant Omar Bradley sie später bezeichnete, war im Gange, und wir blieben ahnungslos, zu abgestumpft, um etwas Besonderes hinter den fernen Explosionen zu vermuten.
Später sickerten durch das abgeschirmte Kampfgebiet Nachrichten, die uns fast übertrieben vorkamen: Von einem »martellement continu« (beständigen Hämmern), von einem »ecrasement epouvantable de toute la region« (entsetzlichen Zermalmen der ganzen Gegend) war die Rede. Ich glaube, wir hatten aufgehört, uns unter solchen Begriffen etwas vorstellen zu wollen.
Was war geschehen?
Nach dem vom Oberbefehlshaber der amerikanischen 1. Armee entworfenen Operationsplan mußte zunächst ein rechteckiges Gebiet (5,5 mal 2,5 Kilometer), in dem kampfstarke deutsche Truppen konzentriert waren, mit einer noch nie dagewesenen Massivbombardierung für den amerikanischen Angriff »vorbereitet« werden. »Die Flugzeuge zogen ununterbrochen wie ein Förderband über uns hinweg«, schrieb später Generalleutnant Bayerlein. »Zu Mittag war außer Staub und Qualm nichts zu sehen.«
3.750 Tonnen Bomben aller Arten wurden am 25. Juli über das 13,5 Quadratkilometer große Zielrechteck abgeworfen. Weil die Bombenladungen nicht alle exakt fielen, erlitten auch amerikanische Einheiten schwere Verluste. Für die Deutschen bedeutete das Bombardement eine Tragödie: Unter dem Bombenteppich starben in einigen Stunden rund 1 000 Soldaten. Sie gehörten zu den Männern, denen es 20 Tage zuvor bei Nacht und Nebel gelungen war, aus Tilly auszubrechen und sich an Balleroy vorbei nach Saint-Lo durchzuschlagen. Ihr Divisionskommandeur berichtete später über den tragischen 25. Juli: »Meine Frontlinien glichen einer Mondlandschaft; mindestens 70 Prozent meiner Truppen waren zu keiner Handlung mehr fähig tot, verwundet, verrückt oder taub.« Das Durchschnittsalter innerhalb der Panzerlehrdivision soll 22,5 Jahre betragen haben.
Straßen, Wege, Wälder, Dörfer wurden von den Bomben zerwühlt und ausgelöscht. Benzin und Munitionslager brannten prasselnd. Unsere Milchfahrer sprachen von »incendies crepitants sans cesse«.
Die allerletzte Schlacht in unserer unmittelbaren Nähe brachte mehr Elend, als Menschen zugemutet werden kann, zugleich aber stellte sie nicht nur für uns eine Wende dar, die den Weg zu einem friedlichen, menschlicheren Leben einleitete. Der amerikanische Durchbruch gelang. Am 28. Juli wurde Coutances erobert. Die Tür zur Bretagne, später nach Paris öffnete sich.
Während ich dieses Kapitel des Leidens meines Geburtslands niederschreibe, wird mir bewußt, wie einseitig diese Erzählung des damaligen Geschehens in der Normandie erscheinen mag, weil sie unzählige wichtige oder tragische Ereignisse unberücksichtigt läßt, die sich andernorts zugetragen haben. Ich kann jedoch nur von dem berichten, wovon ich unmittelbar Kenntnis bekam. Aber haben nicht Kriegserlebnisse eines gemeinsam, worauf es mir bei dieser Erzählung ankommt? Die Dringlichkeit ihrer Aussage an die Menschen, unermüdlich zu versuchen, sich untereinander zu verstehen. Möglicherweise sind Menschen, die Schlimmes erlebt haben, eher in der Lage zu begreifen, wie wichtig, wie unvermeidlich notwendig eine solche Verständigung ist.
Eine seit eh und je beliebte und vielseitige Stätte menschlicher Kontakte sind die Häfen. Der Krieg hatte uns in der Normandie künstliche Häfen beschert, wo Tausende von Menschen verschiedener Nationen erstaunliche Leistungen gemeinsam hervorbrachten. Den Erfordernissen des sich ausweitenden Krieges konnten sie jedoch nicht genügen. Dringend gebraucht wurde Cherbourg!
Der lebenswichtige Hafen, von den Deutschen stark vermint und gründlich unbrauchbar gemacht - 95 Prozent der wichtigen Tiefwasserkaianlagen waren zerstört - blieb acht Wochen lang ein Alptraum für die amerikanischen Pioniere. Die Bergungstrupps, mit dem letzten Stand der Pyrotechnik vertraut, konnten in ihrem hochbrisanten Arbeitsfeld voller ausgetüftelter technischer Tücken Unfälle nicht vermeiden. Es wurde berichtet, daß in einem einzigen versenkten Schiff über 65 verschiedenartige Minen gefunden wurden, für deren Räumung allein die Taucher drei Wochen benötigten! Obwohl Cherbourg Ende Juli, fünf Wochen nach seiner Eroberung, noch nicht von allen Minen, Wracks und Schutt befreit war, begannen die »Liberty-Ships« ihre Ladung zu löschen.
Papa - auch er war nun in Cherbourg - schlenderte zu der Kaserne Rochambaud zurück und ertappte sich beim Pfeifen, ein für einen französischen Offizier in Uniform ungebührliches Betragen auf offener Straße! Was ist noch von den alten Normen gültig? fragte er sich vergnügt denn er hatte soeben eine leichte, zugleich aber die verrückteste Aufgabe gelöst, die man sich mitten in dieser hochtechnisierten Betriebsamkeit vorstellen konnte. Er trug ein Päckchen Amulette mit der von ihm quittierten Herausgabebestätigung der amerikanischen Armee und dachte: Meine Senegalais werden sich riesig freuen!
Die schwarzen Männer, die seit zwei Tagen zu seinem Verantwortungsbereich gehörten, waren kürzlich von den Amerikanern befreit worden. Um den Hygienevorschriften einer modernen Armee zu entsprechen, wurden ihnen bei der ärztlichen Untersuchung die »Gris-Gris«, die manche am Hals trugen, abgenommen. Der Entzug dieser Glücksbringer, die die Männer seit 1939 durch die bewegten Jahre ihrer Kriegsgefangenschaft treu und schützend begleitet hatten, empfanden die Pioniere aus Afrika wie eine frevelhafte Handlung. Ihre christlichen Kameraden waren nicht in der Lage, sie über den Verlust ihrer fetischartigen Halsketten hinwegzutrösten. Sie blieben deprimiert, über ihre Befreiung nicht mehr frohen Muts.
In der letzten Zeit hatten die Senegalesen Verteidigungen an der Küste gebaut, »während des Sommers im Norden, im Winter in Südfrankreich; es war erträglich. Man ließ uns viel Freiheit kein Mensch brauchte zu fürchten, daß wir nach Hause fliehen!« erzählten sie nicht ohne Humor. Sie klagten nicht über die Deutschen. Ihre fatalistische und zugleich stolz gebliebene Haltung war bewundernswert.
So eine verrückte Welt! dachte Papa. Sie müssen allesamt eine phantastische Meinung von uns weißen Europäern haben! Einer offiziellen Anfrage zufolge hatte man, »um die Beförderungschancen dieser Pioniere wahrzunehmen«, Obergefreite und Unteroffiziere ein französisches Diktat machen lassen. Ich verfüge über einige dieser handgeschriebenen Texte. Manche von ihnen legen Zeugnis eines sehr hohen Bildungsgrades ab, der die Betreffenden zweifelsohne zu einer Karriere nicht nur als Offiziere berechtigte.
Weil die halbzerstörte Kaserne Rochambaud keine einzige Fensterscheibe mehr besaß, blies der Meerwind ungehindert durch die langen Gänge und die noch bestehenden Räume. Man klebte eifrig Papier an die Fenster weniger brauchbarer Zimmer.
Vater bekam die Grippe. Er lag nun in einem schnell requirierten Zimmer nahe der Kaserne und dachte über sein Leben nach; ein für unsere Familie gefährliches Unterfangen, denn solche Überlegungen waren bei ihm oft mit spontanen Entscheidungen gekoppelt. Wir ahnten nichts, und er dachte über sich nach! Eines stand für ihn bereits fest: Das Kasernenleben schmeckte ihm nicht, auch wenn sein Vorgesetzter ihm seine Beförderung zum Hauptmann mit folgender Bemerkung in Aussicht gestellt hatte: »Die Verantwortung tragen Sie ohnehin eine Weile den Titel sollten Sie bald bekommen!« Eine dritte Litze sähe auf meinem Ärmel gar nicht übel aus, überlegte er geschmeichelt... Und trotzdem: Bis zum Ende des Krieges als Ausbilder in der verdammten Kaserne womöglich versauern! Ist das wirklich ein Job für mich? Wohl eher etwas für einen Berufsoffizier! Die Kaserne erinnerte ihn daran, wie kalt es dort gewesen war. Hoffentlich können die Senegalesen bald in ihre warme Heimat zu ihren Familien zurückkehren, ging ihm durch den Kopf.
Vieles geriet in der letzten Zeit in Bewegung auf der Halbinsel Cotentin. Von der ursprünglichen Mannschaft aus Le Vast hatten sich die meisten bereits abgesondert. Einer Familientradition folgend, bemühe ich mich, die zwangsläufig geringe Rolle der sich neu formierenden französischen Armee während der ersten Monate nach der Landung nicht aufzublähen. Das heißt jedoch nicht, daß sich die Betroffenen - meist Idealisten - dort, wo sie gerade gebraucht wurden, nicht voll eingesetzt hätten. Um zu sterben, ist niemand zu unbedeutend!
Die Aussichten, innerhalb einer eigenen Armee in den Kampf einzugreifen, konkretisierten sich Ende Juli für die darauf wartenden Franzosen. Manche der »Kameraden der ersten Stunde« hatten Le Vast verlassen, um sich bei der 2. D. B. (Panzerdivision von General Leclerc) zu melden. Auch unser Familienoberhaupt dachte jetzt daran...
»Hallo! How are you, Roger, old boy?«
Zwei Amerikaner stürmten hocherfreut in das Krankenzimmer. Sie brachten eine Flasche Whisky mit.
»Damned!« scherzte Captain Bill Collins vom Medical Department.
»Ich brauche dringend einen Kühlschrank für mein Penicillin, und Sie liegen da schwitzend und unnütz. Wo finde ich in dieser elenden Stadt einen Kühlschrank, nachdem unsere Stromaggregate bei der letzten Löschung nicht dabei waren? Penicillin wartet nicht. Das Pulver muß ständig bei 39 Grad pardon für euch 4 Grad Celsius! gelagert werden. Ein sehr empfindliches Ding und irre teuer noch dazu!«
Hauptmann Collins wurde ernst und beschrieb die Eigenschaften des Penicillins: »Ein Medikament, wirksamer als alle, die uns bisher zur Verfügung standen.«
»Wenn ich deine Erklärungen richtig verstanden habe«, sagte Leutnant Crosby, der inzwischen die Flasche Whisky aufgemacht hatte, »hat Penicillin mit Camembert-Schimmelpilz zu tun. Es dürfte ziemlich gut in den Fachjargon von Roger passen, oder?«
Bill Collins reichte Papa eine Tablette.
»Schlucken Sie das runter, old fellow, und trinken Sie Whisky dazu! Eine ideale Mischung ist es vielleicht nicht, aber in einer Stunde liegen Sie wieder im Bett und so wie ich Sie kenne habe ich inzwischen meinen Kühlschrank! O. k., Roger?« Unterwegs sagte Bill Collins:
»Es macht Spaß, mit Ihnen zu arbeiten, Roger. Solche Typen wie Sie können wir brauchen. Wollen Sie nicht als Verbindungsoffizier zu uns kommen?«
»Eigentlich schwebte mir genau das vor, als ich mich im Juni freiwillig gemeldet habe!«
Der Anstoß war gegeben. Bald folgten Schritte für den Zuständigkeitswechsel der Militärbehörden. Nach dem Tauziehen um eine Entscheidung bestand die letzte Hürde in einem Gespräch mit einem amerikanischen Oberst. Erst 20 Jahre später gestand uns Papa, daß der Oberst ihm beim Abschied unverblümt gesagt hatte:
»Wenn alle Verbindungsoffiziere unserer Armee so schlechte englische Fachkenntnisse haben wie Sie, werden wir den Krieg verlieren.«
Vater soll geantwortet haben:
»Meine technischen Fachkenntnisse in Ihrer Sprache sind in der Tat nicht neuesten Datums, Herr Oberst; sie stammen leider aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.«
»Gut, mein Lieber«, erwiderte der Offizier, »dann schauen Sie zu, daß Sie sie rasch aktualisieren. Der Krieg wird nicht lange dauern. Viel Glück!«
An der Küste, später auch in Cherbourg, wurden gelegentlich kleine Mengen Waffen für die französische Armee gelöscht, Waffen, die zunächst auf Anordnung höchster Ebene »streng geheim« aufbewahrt wurden. Die angestrebte Annäherung zwischen den paramilitärischen Kräften (F. F. L, Forces Francaises de L'lnterieur) und der regulären französischen Armee mußte gelingen, bevor scharfe Munition verteilt werden konnte. Probleme organisatorischer, politischer und menschlicher Natur verwirrten die Lage. Toleranz, als Vorstufe zur Solidarität, muß geübt werden. Selbst wenn die Akteure jahrelang ein ähnliches Ziel, jedoch mit völlig anderen Mitteln, verfolgt haben, kann die Freude, das Ziel in greifbare Nähe heranrücken zu sehen, nicht alle offenen Fragen auf Anhieb lösen.
Eine neue Art der Vergangenheitsbewältigung machte Bevölkerung und Behörden zu schaffen: Weil sich die Fläche der zurückeroberten Gebiete merklich vergrößerte, wurde die Klärung der während der Besatzungszeit eingenommenen Haltung jedes einzelnen Bürgers wichtig, vor allem wenn begangene Taten nachträglich als strafbare Handlungen zu bezeichnen waren. Ein juristisches Problem also? Nicht nur.
Wie bei einer Flüssigkeit, die sich langsam abklärt, mußte in Frankreich eine gewisse Zeit verstreichen, bis 1944 feststand, wer aus der Reihe der Tätigen, die während der vier harten, entwürdigenden Jahre mitverwaltet hatten, zu den feigen Mitläufern oder zu den mutigen »Trotzdem-Kämpfern« gehörte. Unter den Opportunisten mußten wiederum, sofern es sie gab, die Verräter Frankreichs gefunden werden. Aber wie? Die Denunzianten hatten ein leichtes Spiel.
Es gab, unweit von Cherbourg, in Tour-la-Ville, ein Internierungslager, das die Deutschen geschaffen hatten. Dort hatten manche Franzosen in den Baracken ausharren müssen, bis über ihr Schicksal entschieden wurde. Das verrufene Durchgangslager bekam plötzlich eine neue Verwendung: Es füllte sich mit Frauen und Männern, die angezeigt worden waren. Bald gab es Hunderte davon, wobei die Frauen, bevor sie ihr getrenntes Lager betraten, meist die Demütigung erfuhren, öffentlich geschoren zu werden.
Angestauter Neid, Eifersucht, Rachegefühle kamen hoch. Bisher eingesteckte oder vermeintliche Demütigungen konnten heimgezahlt werden. Echte oder angedichtete Liaisons mit Deutschen wurden gebrandmarkt, ohne daß die Betroffenen sich zunächst hätten rechtfertigen können. Im Frauenlager von Tour-la-Ville begegnete man ebenso selbstbewußten Dirnen wie scheuen, verzweifelten Damen zum Teil mit Adelstiteln, die Schlösser oder große Häuser besaßen. Letztere hatten jahrelang mit der Besatzungsmacht im engen Kontakt leben müssen. Irgend jemand hatte sie angezeigt, weil sie es angeblich zu gut verstanden hatten, mit den Deutschen auszukommen.
Den Männern erging es nicht viel besser. Einige Bürgermeister durch ihr Amt nahezu automatisch verdächtigt gründeten einen eigenen Club und baten den für das Lager zuständigen Arzt um Spielkarten und Dominos. Diese aktiven Menschen, die manchmal mit Mut versucht hatten, soviel zu retten, wie nur ging, hatten Mühe, das öde Nichtstun zu ertragen. Später wurden sie zum Teil rehabilitiert, erneut als Bürgermeister ihrer Gemeinden gewählt.
So harmlos verlief das Leben im strengbewachten Lager jedoch nicht. Einige Insassen wurden durch Kriegsgerichte verurteilt nicht nur zu Gefängnisstrafen! Wenn man im Krieg etwas erschreckend schnell lernt, ist es wohl, daß menschliches Leben sich rasch auslöschen läßt. Die Frage stellt sich, ob man in einer Zeit, die fast nur von außerordentlichen Geschehnissen bestimmt war, nicht gut beraten gewesen wäre, mit manchen Urteilen abzuwarten. Gewiß, es handelte sich damals um wenige Ausnahmefälle. (Vater, damals aufgefordert, der Vollstreckung eines Todesurteils beizuwohnen beziehungsweise als Offizier das Kommando für die Erschießung zu übernehmen, konnte sich mit der dringenden Löschung von Waffen im Hafen glücklicherweise entschuldigen.)
»Wie oft gab es in der Geschichte der Menschheit Gerichtsverhandlungen, die besser nicht stattgefunden hätten?« schrieb ich entmutigt in mein Tagebuch nach einem kurzen Besuch Vaters in Le Molay.
Durch seine freimütige Erzählung angeregt, hatten wir eifrig das Thema diskutiert und waren auf einen anderen Gegenstand gekommen: die Verantwortung des einzelnen für eine Gruppe von Menschen. Der Fall der Bürgermeister ließ uns fragen, warum bestimmte Menschen bereit sind, sich für andere einzusetzen, obwohl sie wenig Dank dafür ernten und viel Ärger in Kauf nehmen müssen.
»Es sind oft dieselben Menschen, die sich melden, wenn eine dringende Arbeit getan werden muß«, hatte unsere Mutter nicht ohne Grund gesagt. »Wieviel Leute gibt es erfahrungsgemäß innerhalb eines Dorfes, eines Vereins, kurzum in irgendeiner Gemeinschaft von Menschen, die ernsthaft bereit wären, anzupacken und die Verantwortung für die Allgemeinheit zu tragen? Ehrenbezeigungen möchten viele, die Arbeit wenige, und wenn es dick kommt, will eigentlich niemand die Verantwortung übernehmen.«
»Es sei denn Menschen, die nicht begreifen, daß sie lediglich vorgeschoben werden. Für einige wenige Bürgermeister traf dies zu; sie haben sich in ihren Ämtern später falsch benommen, weil sie selbst nicht besonders hell waren. Aber die Mehrheit der Bürgermeister wußte nur zu gut, worum es ging. Es gab tolle Leute unter ihnen, wie der Bürgermeister von Cerisy, der im übrigen wie viele seinesgleichen - bereits 1939, lange bevor das Schlamassel losging, Bürgermeister seiner Gemeinde war. Und jetzt frage ich euch: Darf man seine Schäfchen gerade dann im Stich lassen, wenn ihnen Gefahr und Unheil drohen?«
Mit dieser Frage hatten wir es wieder mal geschafft! Losgelöst von zeitgebundenen, wirklichkeitsnahen Problemen, konnten wir nach Belieben gedanklich in höheren Sphären schweben!
»Moment!« sagte Colette. »Altruistische Motive sind ganz schön, aber seien wir ehrlich: Ist diese unbequeme Veranlagung, für die anderen dazusein, nicht auch eine Begleiterscheinung des Wunsches, Macht auszuüben?«
Ich pflichtete ihr bei, gab aber zu bedenken, daß die Glanzseite einer führenden Position auf lange Sicht einen schlechten Ersatz für die immer wiederkehrenden Selbsteinschränkungen bieten kann, die sich »Leithammel« auferlegen müssen. »Ja, zu nichts haben sie Zeit!« rief Colette aus. »Für sich keine und für ihre Familien auch reichlich wenig!«
Die Eltern, zunächst sprachlos, fingen an zu lachen.
»Ihr scheint in eurer Kindheit unter manchem gelitten zu haben!« sagte Mama. »Ich wußte gar nicht, daß ich so verstehende, mitfühlende Kinder habe!«
»Den Leithammel vergesse ich dir nicht so schnell!« meinte Papa. Unsere Streitgespräche, die oft bitterernst begannen, endeten meist mit einem Anflug allgemeiner Heiterkeit. Sie hatten manches mit den komplizierten Sandburgen gemeinsam, die wir früher am Strand bauten, bis sie das Meer überspülte! Trotzdem haben diese »debats en famille« unser späteres Leben mehr geprägt, als wir es damals vermutet haben.