Paris befreit, Ratten in Caen und Gedanken zur Menschlichkeit

»Paris ist befreit und nicht zerstört worden!« In der Normandie nahmen wir mit großer Dankbarkeit Kenntnis von der unglaublich positiven Nachricht. An unserer Gemütsbewegung konnten wir plötzlich ermessen, wieviel diese unsere Hauptstadt uns bedeutete. Selbst diejenigen, die Paris nie gesehen hatten, fühlten sich glücklich. Es war so, als ob etwas Schönes, das der ganzen Welt gehörte, durch wunderbare Umstände gerettet worden wäre. Später wurde bekannt, daß unter anderem Raoul Nordling, seit 18 Jahren Generalkonsul von Schweden in Paris, und General Dietrich von Choltitz, »Kommandant von Groß-Paris«, dafür verantwortlich gewesen waren, daß die von Hitler befohlene Verwüstung der Stadt nicht stattfand.
Auch die Tatsache, daß General de Gaulle mit schwärmerischer Begeisterung in Paris umjubelt wurde, fanden wir großartig. Wenn de Gaulle in der Lage war, die Franzosen zu einer Einheit zu verschmelzen, dann war er wirklich der Held, den Frankreich brauchte.
Als wir erfuhren, daß auch die Amerikaner am 29. August mit einer Infanterie-Division auf den Champs-Elysees nachträglich defiliert hatten, beruhigte sich unser Gewissen. Die Befreiung von Paris ohne unsere Alliierten feiern zu wollen, schien uns ungerecht und aus Taktgefühl falsch. Ohne die Amerikaner, Engländer und Kanadier war unsere jüngste Vergangenheit undenkbar, unsere unmittelbare Zukunft ebenso.
Die große Schlacht im Kessel von Argentan-Falaise war kaum vorbei, und Rouen unsere normannische Hauptstadt fiel erst am 30. August. Städtchen wie Deauville, Pont-L'Eveque, Honfleur die malerische Ortschaft, ehemals Mekka der Impressionisten wurden in den Nachrichten erwähnt. Man sprach in Verbindung mit den Amerikanern bereits von Reims, mit den Engländern von Les Andelys an der Seine und mit der kanadischen Armee von Le Havre. (Die Belagerung der Stadt dauerte zehn Tage.)
Wir wußten, daß Belgier, Holländer, Polen und Tschechen nach wie vor mitkämpften und hätten in unsere momentane Freude gern alle Nationen, die uns irgendwie halfen, ehrenvoll eingeschlossen. Zum Feiern gab es jedoch keine Zeit, vielleicht nicht einmal sehr viel Grund dazu. Der Krieg rollte weiter. Das Vorwärtskommen der amerikanischen und französischen Verbände im Rhonetal beschleunigte den Lauf der kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Häfen Marseille und Toulon waren wieder unser.
Mit der Befreiung von Paris schien vielen Franzosen, vor allem den Parisern, der Frieden greifbar nah. Im Überschwang der Gefühle wurde oft ein Patriotismus zur Schau getragen, der verständlicherweise Haß nicht ausschloß, ja ihn sogar als Pflicht hinstellte. Meinetwegen! Aber Haß gegen wen? Für Nuancen war die Perspektive zu kurz.
Die Amerikaner waren mit ihrem Pragmatismus gute Lehrmeister. Sie hatten bei uns die Deutschen als Krieger, als Gegner erlebt. »Du oder ich« hieß es knallhart an der Front, wobei eine gewisse Achtung vor militärischen oder menschlichen Leistungen zuweilen entstanden war. In der Normandie hatten die Amerikaner bald den Krieg als ein Riesenunternehmen mit sicherem Ausgang betrachtet. Sie waren von ihrer technischen Überlegenheit überzeugt, fühlten sich davon gestärkt und wollten dem unvermeidbaren Übel so bald wie möglich ein Ende bereiten. Und sie empfanden mehr Zorn gegen die Diktatur, die den Deutschen einen widersinnigen Widerstand abverlangte, als gegen die Deutschen selbst. Es schien uns manchmal erstaunlich, wie nüchtern, wie unberührt von unserer europäischen Zwietracht die Amerikaner mutig und entschlossen kämpfen konnten. Von Previti und vielen anderen hatten wir bündig und fast ohne Pathos gehört:
»Wir müssen Frankreich von der Naziherrschaft befreien.«
Auch für unsere Familie gab es schon lange nicht den geringsten Zweifel darüber, daß die Alliierten den Krieg gewinnen würden. Diese Zuversicht hatte die erfreuliche Folge, daß wir die Deutschen nicht haßten. Gerade weil unser Vater sich persönlich im Kampf engagiert hatte, brauchten wir niemandem etwas vorzumachen. Daß wir von vornherein von der scheinbaren Notwendigkeit befreit waren, mit übertriebenen patriotischen Gefühlen zu hantieren, ist nachträglich gesehen eine unschätzbare Gnade gewesen. Die Freude über die bereits errungenen Siege blieb in der Normandie ohnehin vom Nachdenken oder von Trauer überschattet. Ganz heil war fast keine Familie durch die vergangenen Monate gegangen, wobei materielle Schäden oder Verletzungen noch das Erträglichste waren. Auch wir hatten nicht aufgehört, uns um Michel Sorgen zu machen. Sein Bein war verkürzt, und er lag, erneut operiert, im Krankenhaus von Caen.
Unsere Flüchtlingsfamilie aus Caen erwartete mit Sehnsucht Henri, den 25jährigen Sohn, ein angehender, jugendlich-dramatischer Tenor der Pariser Oper, aus Paris. Henri betrat unseren Salon mit dem Charme eines Chevaliers Des Grieux, umarmte seine Eltern und seine Schwester mit inniger Herzlichkeit und grüßte uns artig dankend.
Nachdem er erfahren hatte, daß seine aus dem Inferno von Caen gerettete Familie bei uns wohnte, war er sofort nach Le Molay gefahren: ein netter Sohn, dessen Umgang sich für uns als unbelastend, sogar angenehm erwies. Wir stellten ihm den Salon zur Verfügung. Er schlief auf der Couch und konnte am Klavier Stimmübungen machen, worauf er glücklicherweise nicht versessen war. Viel lieber plauderte er über Paris!
Er erzählte uns Wunderbares von der goldenen Stadt, wo seiner Meinung nach alles besser, größer, schöner als irgendwo war. Damit forderte er gelegentlich unseren Widerstand heraus sehr zur Beruhigung unserer romantisch gebliebenen Mama, der die ständige Anwesenheit des schönen Jünglings bei uns ein wenig unheimlich vorkam. Sie vertraute ihre Gedanken über das Thema manchen Briefen an Papa an, nach dem Motto: Hoffentlich lassen sich unsere Töchter »von den schönen Manieren des Dandys aus Paris nicht blenden«! Unsere Eltern schrieben sich übrigens, so oft sie in ihrem Leben getrennt waren, nahezu täglich. Ihre Briefe, die sie mir später gaben, beinhalten eine Unmenge präziser Daten über das damalige Geschehen.
Henri ging außerordentlich gern mit uns spazieren. Er spielte auch gut Karten. Gelegentlich sang er aus Spaß mit einer angenehmen, warmen Stimme. Neue Gedanken unbeschwert, vom Krieg verschont flatterten in unser Haus. Es war lustig, mit Henri über Nichtigkeiten zu streiten und zu lachen. Die Töchter ließen sich also nicht becircen, sie hatten nichts weiter als einen netten Kameraden gefunden. Manchmal schien es mir wohl, daß der »jugendlich-dramatische« Tenor aus Paris von Colettes schönen dunklen Augen nicht ganz unberührt blieb. Hui! dachte ich vergnügt. Eine aufregende Geschichte. Nach drei Wochen kehrte aber Henri nach Paris zurück. Seine Familie blieb elf Monate bei uns, redlich bemüht, uns so wenig wie möglich zu stören. Ob für unsere Mutter alles so einfach war? Sie konnte kein Glas, ja fast keine Seife in die Hand nehmen, ohne sich zu denken, daß alle diese Gegenstände nicht mehr ihr »eigen« waren. Wenn sie beim Kochen nach einer Pfanne, nach einem Sieb suchte, die anders als üblich aufgeräumt worden waren, verlor sie nicht die Geduld. Selbst einmal Flüchtling gewesen, hätte sie sich jede unfreundliche Äußerung als einen Mangel an Takt vorgeworfen. Wenn wir irgend etwas beanstandeten, ermahnte sie uns leise: Wir sollten unsere Gäste niemals spüren lassen, daß sie kein eigenes Zuhause mehr besaßen. Daß sie diese Selbstbeherrschung in den vielen alltäglichen Kleinigkeiten Nerven kostete, ahnten wir. Ihre Hände zitterten manchmal, wenn sie Tee einschenkte.

Oktober 1944.

Das Gymnasium der Ursulinen von Caen hatte seine Tore wieder geöffnet. Eine unpassende Ausdrucksweise, denn die ganze Anlage stand offen: Die Mauern, die sie schützend umsäumt hatten, wiesen mehr Lücken als feste Bestandsteile auf. Der Neubeginn des Schulbetriebs ohne Schulgebäude und des Internatslebens ohne Internat war eine überaus mutige Entscheidung. Sie setzte voraus, daß das Sprichwort »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!« sich irgendwie verwirklichen würde.
Die Nonnen hatten wie alle Wieder-Bewohner von Caen in den letzten Monaten wahre Wunder vollbracht. Caen, ein winziger Punkt auf der Landkarte Europas, eine Stadt, die trotz entsetzlichem Leiden das Glück erfahren hatte, zu den Erstbefreiten Frankreichs zu gehören, erlebte 1944 den zaghaften Beginn eines Wiederaufbaus, der zunächst mehr im notdürftigen Aufräumen von Ruinen bestand. Diese emsige Tätigkeit sollte bald unseren ganzen Kontinent erfassen. Beim Aufbau ihrer neuen Existenz zeigte sich die merkwürdige Spezies Mensch erstaunlich zäh, anpassungsfähig und gewandt. In Caen, 146 Rue de Bayeux, hatte das Hauptgebäude ein einigermaßen dichtes Dach bekommen. Die langen Schlafsäle waren in jeweils sechs Klassenzimmer aufgeteilt worden, wobei die Zwischenwände aus Bettgestellen bestanden, die man mit Matratzen und Kopfkissen vollgestopft hatte, sie entledigten sich mit durchdringendem Geruch nur langsam ihrer Regennässe. Im Park reihten sich Baracken, die man rasch aufstellte, aneinander. Die Internatskinder, deren Zahl sehr geschrumpft war, wurden in der Umgebung verteilt.
Colette und ich bekamen bei einer älteren Dame ein kleines Zimmer, in dem ein alter Waschtisch aufgestellt war. Das Fenster besaß die damals üblichen Scheiben aus geöltem Papier, die kaum Tageslicht hereinließen, dafür um so mehr die Kälte. An manchen Morgen dieses Winters fanden wir eine Eisschicht auf dem Wasser in unserem Krug. Diese neue Art, sich eiskalt zu waschen, erschien uns beim ersten Mal sehr abenteuerlich, später weniger! Fast alles verlief in Caen anders als normal, und es gab viele Gründe, sich immer neu zu wundern.
Die Stadt, von so tiefen Wunden gebrandmarkt, daß sich ihre ganze Geschichte bis ins frühe Mittelalter, ja bis zu ihrer gallorömischen Zeit, an manchen Stellen offenbarte - die gemarterte Stadt, die bis in ihre geheimsten Fundamente erschüttert worden war, wurde nun von einer unerwarteten Plage heimgesucht: den Ratten!
Bemüht, diese Plage zu erklären, erinnerten sich unsere Historiker, daß Cadomus (später Caen) zwischen den zahlreichen Armen der Orne, des Odon und diverser Sümpfe ein vom Wasser geprägtes Leben geführt hatte. Die Stadt wurde auch »Klein-Venedig des Mittelalters« genannt. Ob tiefe, geheimnisvolle Wasseradern noch irgendwo unter der Erde lagen? Die Sanierung der von Überschwemmungen bedrohten Ansiedlungen hatte unter Wilhelm dem Eroberer begonnen, der Caen zu seiner Lieblingsresidenz auserkoren hatte. Später, im Jahre 1432, wurde Caen Universitätsstadt ein königliches Abschiedsgeschenk der Engländer, 18 Jahre bevor sie Frankreich am Ende des 100jährigen Krieges verließen. Vor allem im 18. Jahrhundert entwickelte sich Caen zu einer blühenden Stadt, die später unter der Französischen Revolution nur wenig zu leiden hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte sie mit der sich am Stadtrand ansiedelnden Stahlindustrie einen rapiden Aufschwung, blieb jedoch in ihrem Kern eine vornehme Stadt von Bürgern, Aristokraten, Geistlichen, Professoren und Juristen.
Mit der Vernichtung der Stadt kamen neue geschichtliche Erkenntnisse ans Tageslicht und die Ratten! Dick, rührig, geschmeidig, sich rasch vermehrend, waren sie überall. Man traf sie, in Gruppen oder einzeln, in den vom Schutt zum Teil befreiten Straßen und Gassen. Wir zählten sie auf dem Weg zwischen unserem Logierzimmer und dem Internat: In der Dämmerung waren sie zahlreicher. Prämien für tote Ratten wurden öffentlich erwogen.
Wir bekamen bald eine präzise Vorstellung ihrer Größe und ihres Gesundheitszustandes. Wir hatten im Biologieunterricht - was lag näher? - eine Ratte seziert. Ihre Organe waren von einer weißen Fettschicht umhüllt. Beim bloßen Zuschauen wurde uns schlecht. Gelegentlich nahmen sie aber auch fast menschliche Züge an. Wir beobachteten einmal eine verletzte Ratte, die, auf eine andere gestützt, das Fehlen einer ihrer Pfoten überbrückte. Beide »Kameraden« bewegten sich langsam vorwärts, und das übrige Volk, das Narrenpossen getrieben hatte, machte ihnen mit quiekenden, näselnden Tönen Platz! Es sah unglaublich aus. Danach sahen wir, wie sich eine junge Ratte in der Sonne reckte und... gähnte. Unser Forschungsdrang hielt sich trotzdem in Grenzen.
In Verbindung mit Ratten war das unheilvolle Wort »Pest« gefallen. Wir hatten aber keine Angst vor der uralten Krankheit: Die Ratten sahen viel zu gesund aus! Im übrigen gingen wir davon aus, daß man uns bald von ihnen befreien würde. Die Pest war also keine wirkliche Gefahr. Immerhin lernten wir etwas über sie. Unsere Geschichtslehrerin nahm die Gelegenheit wahr, uns über die versöhnliche Auswirkung einer Pestepidemie während des Religionskrieges in Caen aufzuklären. Katholiken und Protestanten hatten das Kriegsbeil begraben, sich danach endgültig versöhnt.
Apropos Versöhnung: Wir sollten einen Aufsatz über ein Zitat von Rainer Maria Rilke schreiben: »Armut ist ein großer Glanz von innen.« Die wohlbedachte, fast ungeheuerliche Provokation in der zerstörten Stadt ausgerechnet über einen deutschen Dichter nachzudenken bestätigte den Ruf unserer Französischlehrerin, die sich durch nichts beirren ließ.
»Das Thema gehört nicht zu unserem Programm«, sagte eine von uns.
»Nein«, antwortete unsere Lehrerin gelassen, »aber zu eurem Leben! Mit manchen Gedanken kann man viel leichter umgehen, wenn man sich die Mühe macht, sie schriftlich zu erfassen. Schreibt, was euch durch den Kopf geht! Ihr könnt die Stoiker, die Romantiker bis meinetwegen Camus heranziehen aber, nachdem ihr alle in der letzten Zeit so viel erleben mußtet, wißt ihr selbst über das Thema vielleicht genauso viel wie all diese gescheiten Leute!«
Als sie uns die korrigierten Aufsätze zurückgab, verzichtete sie gegen ihre Gewohnheit auf kritische, gezielte Äußerungen über unsere Arbeiten. Und sie begründete das auch:
»Ich hätte sonst den Eindruck, euer Vertrauen zu mißbrauchen, denn eure Aufsätze sind sehr persönlich gehalten, deshalb sehr verschieden, im übrigen alle interessant. Ich werde mich darauf beschränken, die von euch angeführten Zitate allgemein zu erörtern. Daß eine von euch den Satz von Pascal >Der Mensch übersteigt immer sich selbst< mit dem lapidaren Kommentar: >Es fragt sich nur wie< quittierte, finde ich durchaus berechtigt. Die Übersteigerung, die uns vor Augen geführt wird, sieht auf Anhieb eher negativ aus.«
Sie erörterte dann viele Zitate. Nur ein Spruch aus der Bibel »Das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ewig« ist mir in Erinnerung geblieben, weil er unsere Lehrerin veranlaßte, den seit Ende Juli als Pilot verschollenen Saint-Exupery zu erwähnen und zwischen ihm und Rilke Gemeinsamkeiten zu finden. Wir waren sehr entsetzt. Für uns war >Saint-Ex< mit niemandem vergleichbar und schon gar nicht mit diesem Deutschen, von dem wir kaum etwas wußten. Wenn wir nicht gewußt hätten, daß gerade diese Lehrerin während der Besatzungszeit ohne Scheu auf der Seite Englands und de Gaulles gestanden hatte, wären wir vermutlich rebellisch geworden. Sie aber, die Widersprüche genoß, stellte uns eine Fangfrage:
»Ihr liebt doch die Werke des Bildhauers Rodin?«
Verwundert bejahten wir die Frage.
»Na, und Rodin hatte mehrere Jahre hindurch einen Sekretär namens Rainer Maria Rilke! Der deutsche Dichter schrieb damals sogar französische Gedichte. Ihr habt jedoch nicht unrecht, über meinen Vergleich erstaunt zu sein: Schon deshalb weil Saint-Exupery 25 Jahre nach Rilke geboren wurde, hatte er von vornherein eine ganz andere Einstellung zur Technik später als Pilot erst recht! Trotzdem sind sich beide Dichter in ihrem Bestreben, das Sichtbare durch eindringliche Bilder in geistige Werte umzuwandeln, sehr nah auch in ihrer energetischen Weltanschauung, bei welcher der >Leistung< eine überragende Rolle zugesprochen wird. Aber kommen wir unserem Thema wieder näher! Saint-Exupery, dem eine die Menschheit umfassende Liebe vorschwebte, hat geschrieben: Menschlichkeit ist im Krieg wie ein Tropfen Wasser in einem brennenden Wald.<«
Ein Tropfen? dachte ich, von diesem Vergleich gefesselt. Was uns an Menschlichkeit »im brennenden Wald« begegnet ist, scheint in der Tat nicht viel bewirkt zu haben.
In den letzten Wochen erreichten uns Nachrichten von schier unglaublichen Taten, die in ihrer Brutalität jeder Menschlichkeit spotteten: das Blutbad der Ortschaft Oradour, die am 10. Juni 1944 von SS-Verbänden eingeäschert worden war alle Einwohner, auch Frauen und Kinder, wurden getötet; die Folterungen durch die Gestapo in Paris am Mont-Valerien und anderswo...
Wir ahnten bereits, daß unsere Vorstellungskraft nicht ausreichte angesichts der Greuel, von denen wir in der nächsten Zeit hörten. Waren wir die ganze Zeit zu sehr bemüht gewesen, Lichtblicke zu entdecken, wo es vielleicht keine gab, nur weil wir sie brauchten, um selbst soweit es ging - normal zu leben? Hatten wir jahrelang in bezug auf die Deutschen in einer völlig irrealistischen Welt gelebt?
Unsere Lehrerin, die unsere Gedanken zu erraten schien, nahm zwei in ihrem Format gleiche Bücher in die Hände, zeigte sie uns und legte sie auf ihrem Pult sorgfältig übereinander.
»So bilden sie eine Einheit«, sagte sie, »und doch existiert jedes Buch für sich. Auch wenn es momentan optisch anders aussieht, sind die Bücher trennbar. In der Geschichte der Menschheit ist es ähnlich. Die Welt des Grauens und die Welt der Menschen koexistieren nebeneinander. Gelegentlich gibt es nicht nur eine >Collision< (Zusammenstoß), sondern eine >Collusion< (heimliches Einverständnis), nicht nur eine >Juxtaposition< (Nebeneinanderstellung), sondern eine >Superposition< (Übereinanderstellung) beider an und für sich verfeindeten Welten. Das Ergebnis ist fürchterlich, aber man darf nie vergessen, auch wenn berechtigte Rachegefühle die Lage nicht klar erkennen lassen, daß diese zwei Welten wie die Bücher getrennt betrachtet werden müssen.«
Als später unsere Mathematiklehrerin die Klasse betrat, blieb sie kurz vor der Tafel stehen, dann wischte sie die vier Worte, die unsere Lehrerin in der Stunde davor an die Tafel geschrieben hatte, weg. Irgendwie waren wir erleichtert. Was hätten wir nicht am liebsten aus unserem Gedächtnis alles weggewischt, um manches ungeschehen zu machen?