Unser Vater, in amerikanischer Uniform von Cherbourg kommend, unterwegs nach Brüssel, tauchte in Caen auf und verlangte seine Töchter zu sehen. Daß wir gerade Unterricht hatten, beeindruckte ihn wenig. Die Ursulinen zeigten sich verständnisvoll, weil sie wußten, daß er sich für seine Familie fast unerreichbar nirgends lange aufhielt. So war er auch kurz in Le Molay gewesen. Er brachte uns Nachrichten von daheim, von Mama und Michel.
»Michel wird bald ohne Krücken gehen können!« verkündete er voller Freude. »Die Verkürzung seines Beines ist im Vergleich zu früher minimal geworden. Er wird nur ausgleichende Schuhe brauchen. Zu Hause ist alles bestens. Es ist auch ein glücklicher Umstand, daß die Familie Paquary jetzt bei uns wohnt. Abends, wenn Amerikaner sich in der Nähe unseres Hauses aufhalten, bekommen sie allerdings eine solche Angst, daß sie Mama anstecken. Sie verstecken glatt jedesmal ihre Tochter im Kleiderschrank!«
»In der Eckgarderobe des ersten Stocks, meinst du. Das taten sie auch, als wir vor dem Schulbeginn noch zu Hause waren. Man kann dort prima stehen, und selbst wenn die Tür aufgemacht wird, sieht man niemanden. Wir waren auch drin.«
»Eigentlich komisch, daß wir es nie nötig hatten, uns zu verstecken die ganzen Jahre hindurch...«
»In der Normandie war auch vorher nie so viel Militär; aber man muß zugeben«, sagte Papa, »daß die Disziplin der Wehrmacht für uns diese eine gute Seite hatte. Jetzt erschrecken die nächtlichen Bummeleien allerdings mehr, als sie es verdienen. Viele Soldaten sind es nicht, die sich so benehmen, aber sie sind so laut, daß man ihre Zahl überschätzt. Aus ausgelassenen Jugendlichen macht man, vor allem in der Nacht, leicht gefährliche Burschen.« Er stutzte, uns beobachtend. »Ich weiß, ihr meint, ich kann leicht reden, weil ich selbst nichts zu befürchten habe, aber für Mama sieht die Sache anders aus.«
»Du kannst ohnehin nicht zu Hause sein«, sagte ich. »Es ist schon richtig, wenn du dir nicht zuviel Sorgen machst. So arg wie früher ist es in der Tat nicht mehr, seitdem sie ständig zu fünft zusammen sind, aber es beweist nichts, wenn man sagt, es sei in Le Molay kein Fall bekannt, wo Soldaten versperrte Haustüren gewaltsam aufgebrochen hätten. Wenn jemand betrunken ist....«
»Und ob die Betroffenen überhaupt darüber reden würden?« fragte Colette nachdenklich. »Gibt es immer noch so viele Soldaten bei uns?«
»Ja, vor allem farbige Amerikaner, mehr als damals, als die Front in unserer Nähe war. Die Alliierten sind mit der Beförderung von Kriegsmaterial und anderen Gütern in einen Engpaß geraten. Ich plaudere kein Geheimnis aus. Jeder kann es sich denken: Der Weg zur Front wird immer länger, und die Stadt Paris muß auch mit Lebensmitteln, Kohle und allem möglichen versorgt werden. 350 Kilometer trennen Cherbourg von Paris. Die Konvois verbrauchen jeden Tag Unmengen Benzin.«
»Und die Bahn?«
»Zwischen Caen und Lisieux ist sie endlich repariert. Wir würden aber wesentlich mehr Verbindungen von der Küste zur Front brauchen. Es ist wirklich ein Jammer mit Antwerpen!«
»Wieso? Der Hafen ist doch längst befreit.«
»Stimmt, aber unbrauchbar ist er, solange die Scheldemündung, die Öffnung zum Meer von den Deutschen gehalten wird.«
»Machst du dir ernsthaft Sorgen?«
»Natürlich nicht, aber es wird Zeit, daß mit Antwerpen etwas geschieht. Von Patton wird plötzlich nichts mehr gemeldet. Seit der Bretagne war er nicht aufzuhalten... Das macht mir Kummer. Sind die deutschen Truppen bei Metz wirklich so stark, oder bekommen die Amerikaner zu wenig Nachschub und müssen deshalb eine Pause einlegen? Wir waren einfach verwöhnt in der letzten Zeit. Zu Weihnachten sind aber die Alliierten sicher an der Ruhr. Vielleicht bricht dann alles zusammen, und der Krieg ist endlich vorbei!«
Wir versuchten, nur an unser zukünftiges Abitur zu denken. Die Tücken des Unterrichts hielten uns von komplizierten Gedankengängen ab. Einigen von uns allerdings — vor allem älteren Schülerinnen der Abiturklasse kamen die Anforderungen der Schule albern und sinnlos einengend vor. Der vergangene ereignisreiche Sommer wirkte sich ziemlich negativ auf den Lerneifer vieler von uns aus. Auch in unserer Klasse sank das Interesse für Latein und Mathematik auf den Nullpunkt, vermutlich weil wir uns fragten, inwiefern solche abstrakten Fächer für unser späteres Leben von Nutzen sein könnten. Hatte uns der Krieg nicht eindringlich gezeigt, daß praktische Begabungen, Anpassungsfähigkeit und rasches Handeln zum Überleben wichtiger sind als intellektuelle Überlegenheit, theoretische oder gar musische Kenntnisse?
Bei der Wahl unserer Lieblingsfächer blieben wir trotz alledem erfreulich inkonsequent. Colette träumte von der Kunstakademie, und mir gefiel nach wie vor Griechisch sehr gut nicht als Ziel, eher als Einspruch gegen die Gegenwart, als Luxus mitten im Verfall der Ruinenlandschaft. Diese Meinung vertraten wir zu dritt, miteinander engbefreundet, seitdem wir vor über zwei Jahren die Sprache der Hellenen als Pflichtfach gewählt hatten. Caroline, ein sportliches, wildes Mädchen gehörte unserem Trio an. Plötzlich, während einer Pause im Park, sagte sie mir mit ernster Miene:
»Ich möchte später Dominikanerin werden.«
»Du?« antwortete ich vergnügt über den gelungenen Scherz. »Und ich..., ich werde den Kaiser von China heiraten und viele kleine Tschin-Tschin-Kinder bekommen!«
»Ich meine es ernst«, sagte die 16jährige Caroline. »Vielleicht war es ein Fehler, es dir zu erzählen. Hier weiß niemand davon. Sprich bitte nicht darüber!«
»Natürlich nicht. Du kannst dich darauf verlassen. Im übrigen sei mir bitte nicht böse; ich dachte..., also, ich konnte es mir im Moment gar nicht vorstellen!«
»Pst! Die anderen kommen!«
»Machst du heute beim Handballtraining mit?« fragte Stephanie.
»Na klar!« antwortete Caroline.
Verrückt, dachte ich, einfach verrückt! (Später wurde Caroline wirklich Dominikanerin.) Wieso wußte sie mit 16 so genau, was sie wollte?
Wenn wir im größeren Kreis miteinander sprachen, konnten wir eine Menge belanglosen Unsinn verzapfen. Manchmal versteckten wir in harmlosen Sätzen Gedanken, die wir gar nicht preisgeben wollten, oder je nach Temperament verkündeten wir sie trotzig in der Runde.
»Ich möchte endlich leben«, sagte Stephanie, »tanzen gehen, alles tun nur nicht die blöde Schulbank drücken!«
»Und ich will bald heiraten und mein Leben so bestimmen, wie ich mag!« tönte stolz die 17jährige Sabine, die sich in einen englischen Fallschirmjäger verliebt hatte.
»Hat dein süßer Larry wieder geschrieben?« fragte spitz Elisabeth.
»Dumme Gans!« schmetterte Sabine zurück. »Doch nicht ins Internat! Dafür warten sicher zu Hause eine Menge Briefe auf mich.«
In die laute Unterhaltung platzte plötzlich »die Tochter des Generals«, und wir fuhren auf.
»Es war mir so, als ob ich gehört hätte, eine von euch würde dringend Englischunterricht brauchen«, sagte sie spitzfindig. »Täusche ich mich?«
Niemand antwortete.
»Ich wollte nicht indiskret sein«, fuhr sie fort, »aber ihr wart unüberhörbar. Übrigens Sabinchen, die Gleichung Heirat gleich Freiheit geht nicht automatisch auf. Sie kann aufgehen, vor allem dann, wenn Heiraten nicht als Patentlösung angesehen wird, um schnell zu einem Leben ohne Zwang zu kommen.«
Nachdenklich ging unsere Latein- beziehungsweise Klassenlehrerin mit uns zu den Schulbaracken zurück. Laut denkend sagte sie:
»Die Zeit, die ihr noch bei uns zu verbringen habt, ist sehr kurz. Bald werdet ihr flügge. Ob es uns gelingt, euch noch ein wenig zu einem glücklichen, erfüllten Leben zu verhelfen?«
Dann, ganz und gar nicht wie eine Nonne, geriet unsere Lehrerin aus der Fassung:
»Es darf doch nicht wahr sein! Ihr hattet euch vor einigen Monaten noch eine Menge vorgenommen, nach dem Motto: >Alle Chancen als Frau wahrnehmen< oder ebenbürtige Partner... Hat man euch inzwischen ausgetauscht, daß ihr anders denkt? Begreift ihr nicht? Ihr müßt erst selbst jemand werden! Eure Selbständigkeit könnt ihr nur mit Wissen und Können aufbauen. Besitz, Geld, ja sogar leider Familie, alles ist, wie ihr wißt, vergänglich. Was ihr dagegen im Kopf habt, das gehört euch. Damit könnt ihr die Welt umkrempeln mit oder ohne Heirat und mit Gottes Hilfe!«
Letzteres schien ihr gerade noch rechtzeitig eingefallen zu sein! Im allgemeinen zeigten sich die Ursulinen, die uns betreuten, im Gespräch mit uns tolerant und nachsichtig. Vielleicht durch die Erfahrung geschult, vermieden sie frontale Konfrontation, in der Annahme, daß unsere übermütigen Äußerungen nicht immer so ernst zu nehmen waren, wie es den Anschein hatte.
Anders unsere temperamentvolle Klassenlehrerin, die immer gern eigene Wege gegangen war! Ihre 75 Tage dauernde Trennung vom Kloster hatte die Tochter des Generals keineswegs sanfter gestimmt. Vielleicht war ihre Weltanschauung während des langen Irrweges, der sie mit ihrer Gruppe bis Chateau Gontier in die Bretonische Mark geführt hatte, zuweilen ins Wanken geraten. Plötzlich ließ sich ihre Zeit nicht mehr in regelmäßig wiederkehrende Pflichten einteilen, ihr Tagesablauf wurde von unvorhergesehenen Ereignissen beherrscht, die sie mit wechselnden Schicksalen ihr unbekannter Menschen gegenüberstellten. Unter anderen Umständen hätte die Tochter des Generals an einer solchen Lebensart sicher Gefallen gefunden. Die klösterliche Gelassenheit war ihr auf jeden Fall dabei ein wenig abhanden gekommen. Seit ihrer Rückkehr nach Caen in einem amerikanischen Lastwagen zeigte sich unsere Lehrerin unbefangener, pragmatischer - auch heftiger als zuvor.
Im damals fast menschenleeren Chateau-Gontier hatte sich übrigens etwas zugetragen, womit sich ihr bereits erwähntes Tagebuch auseinandersetzte. Statt Latein zu unterrichten (ihrem Lehrfach gegenüber schien sie manchmal fast so lustlos wie wir), holte sie nun das kleine Heft hervor.
»Die Eintragung des 7. August die letzte, die ich euch vorlesen werde beginnt mit der Aussage einer Krankenschwester im improvisierten Durchgangslazarett von Chateau-Gontier. Sie sagte: >Wir sahen nichts. Wir hörten sie nur schreien. Der Pfarrer segnete sie durch die Wand.< Wieso durch die Wand? werdet ihr fragen. Ich will versuchen, euch zu erklären, was geschehen war. In der Nacht, unmittelbar bevor die Amerikaner das von seinen Einwohnern verlassene Städtchen befreiten, wurden sechs französische Widerstandskämpfer im Gymnastikraum einer Schule von den Deutschen gefoltert und ermordet. Der als Verbandsplatz dienende Raum, wo die Krankenschwester, ihre Kollegin und ein Geistlicher verwundete Flüchtlinge versorgten, befand sich Wand an Wand mit dem Turnsaal. Die bittere Ohnmacht aller, die die Greuel nicht zu verhindern vermochten, spiegelt sich in dieser kurzen Beschreibung. Der Versuch, in einer Geisterstadt aus den Gequälten Namen von Kameraden zu erpressen, die durch den raschen Rückzug der Wehrmacht bereits völlig belanglos geworden waren, hat etwas Irrationales und Grauenvolles, wie manche Darstellungen von Kafka, mit dem Unterschied, daß es sich hier um Tatsachen und nicht um Dichtung handelt. Manchmal würde man gern den umgekehrten Weg beschreiten: das Leben als Fiktion behandeln, um Fakten ungeschehen zu machen.«
Bevor unsere Lehrerin weitersprach, schaute sie uns an, unsere Reaktion herausfordernd. Elisabeth meldete sich:
»Es mag sein, daß wir von solchen grausamen Taten nachträglich erfahren müssen. Mir wäre es trotzdem lieber, ich wüßte nichts davon. Was wir selbst erlebt haben, ist traurig genug. Manche von uns haben ohnehin Angst einzuschlafen, in der Befürchtung, etwas Schlimmes träumen zu müssen.«
Unsere Lehrerin schwieg zunächst betroffen. Dann fuhr sie fort:
»Ich kann dich gut verstehen, Elisabeth. Glücklich diejenigen, die eine solche notgedrungene, grausame Handlungslosigkeit niemals erleben müssen! Mich verfolgt tatsächlich der Ausdruck >durch die Wand segnen<, obwohl ich erst am nächsten Tag erfuhr, was sich zugetragen hatte. Immer wieder sehen sich Menschen zu einem tatenlosen Abwarten genötigt, wenn in ihrer Nähe Mitmenschen in die Fänge von Handlangern eines totalitären Regimes geraten. Auch im alten Rom war es so. Es wird immer Menschen geben, die behaupten, Zwangsmethoden müssen angewendet werden, weil sie eben zum Krieg gehören. Glaubt es nicht! Ihr sollt wahrhaftig vergessen, wer die Folterknechte in der Vergangenheit waren, niemals jedoch empörende, menschenunwürdige Zwänge hinnehmen. Solche Zustände egal wo sie auftreten gehören angeprangert, bis sie verschwinden! ... So, das war's und nun wollen wir das Blatt wenden und uns in den zukünftigen Unterrichtsstunden nur noch dem Latein widmen.«
Die Ardennen-Offensive und ein Selbstmord mitten im Frühling
Am 28. November war es endlich soweit: Das erste Schiff der Alliierten konnte in den Hafen von Antwerpen einlaufen! Inzwischen jedoch rollten klammheimlich aus Deutschland ganze Züge voll Munition, Treibstoff, Waffen, Pferde und Proviant an. Der letzte Coup Hitlers stand bevor: die Ardennen-Offensive. Seine letzte Karte wurde ausgespielt, bei eisiger Kälte, viele Menschen wurden sinnlos getötet. Solange die Alliierten erfolgreich gewesen waren und fast mit Leichtigkeit wie es uns fern von der Front schien große Gebiete Frankreichs und Belgiens erobert hatten, wurden wir verführt anzunehmen, daß die Auseinandersetzung mit unseren ehemaligen Besatzern Geschichte zu werden begann.
Als die Großoffensive der Deutschen im Dezember losging, merkten wir mit Entsetzen, daß wir unsere Wünsche für Realitäten gehalten hatten. Bilder, die wir noch nicht vergessen hatten, wurden wach, zum Beispiel die Warnschilder, die wir alle irgendwann einmal in unserer Nähe gesehen hatten:
Front Line 500 Yds. Ahead Dismount and Fight. (Frontlinie 500 Yards. Weiter vorn absteigen und kämpfen.)
Als wir von den deutschen Vorstößen nach Bastogne und Celles erfuhren, fragten wir uns erschrocken, was dieses unheimliche Deutschland noch für ungeahnte Reserven hatte. Die Tatsache, daß unsere allmächtigen Alliierten überrascht worden waren, entsetzte uns am meisten. Einige Tage waren die Amerikaner so verwirrt, daß bei den amerikanischen Streitkräften Ausgangssperren und scharfe Kontrollen verordnet wurden. Sogar im entfernten Hafen von Le Havre, wo unser Vater gerade zu tun hatte, herrschte höchste Alarmstufe.
Durch ihr plötzliches Auftauchen hinter den amerikanischen Linien und die abenteuerlichen Gerüchte, die sie dort in Umlauf setzten, hatten die Sondereinheiten Skorzenys und die Fallschirmjäger von der Heydtes Furcht und Verwirrung gestiftet. Die Anschläge, die die Deutschen verübten, blieben minimal, aber die psychologische Wirkung ihres Auftretens als Amerikaner verkleidet, mit guten Englischkenntnissen, in erbeuteten Jeeps oder Sherman-Panzern unterwegs war groß. Durch den Abwurf von Fallschirmjägerattrappen und Meldungen von Störsendern wurde die Angst geschürt. »Über Frankreich und Belgien sind Tausende von deutschen Fallschirmjägern abgesprungen, um alliierte Befehlshaber zu entführen oder zu ermorden«, hatten festgenommene Mitglieder der deutschen Kommandotrupps behauptet.
Der Spuk dauerte nicht lange. Dafür der Winter. Er wurde entsetzlich kalt und in jeder Weise mörderisch. Französische Truppen waren in Straßburg, während die Deutschen noch Colmar hielten. Die Lage wurde unübersichtlich. Später erzählte man sich, daß die Alliierten Straßburg hatten aufgeben wollen, um einer Umzingelung amerikanischer Truppen vorzubeugen. Der Plan wurde jedoch glücklicherweise verworfen (Straßburg zählte 400 000 Einwohner).
Während sich die Front im Elsaß stabilisierte, meinten wir förmlich zu spüren, wie man uns auf die Zehen trat. Nie zuvor war uns die Einheit unseres Territoriums so deutlich bewußt gewesen. Gleichzeitig wurde uns klar, daß unsere endgültige Rettung von der unserer Nachbarn abhing. Nicht nur Colmar mußte frei sein, sondern beispielsweise auch Saint-Vith in Belgien, das am 23. Januar 1945, einen Monat nachdem die Stadt im Zuge der Ardennen-Offensive hatte geräumt werden müssen, von den Amerikanern erneut erobert wurde. Ebenso wichtig waren für uns Rotterdam und Amsterdam. Während des langen Winters herrschte in beiden Häfen regelrechte Hungersnot. Am 29. April 1945 begann eine Luftbrückenaktion: R. A. F.-Bomber warfen Nahrungsmittelpakete ab. Ganz Europa wurde für uns zu einer Einheit, die als Ganzes befreit werden sollte. Dazu gehörte erstaunlicherweise auch Aachen! Die Krönungsstadt von Karl dem Großen war frei, und wir freuten uns darüber.
Aus der Nähe hatten wir erlebt, wie sich ein Hügel, ja sogar ein Zaun eine Weile als unüberwindliche Schranke erweisen kann. Wir fürchteten deshalb die zahlreichen Flüsse, die in der Nähe des Westwalls den Weg ins deutsche Landesinnere versperrten. Es hatte Ende Februar mit der Ruhr begonnen. Die schwierige Überquerung des Flusses öffnete den Amerikanern am 6. März 1945 den Weg nach Köln. Als man in Frankreich erfuhr, daß es am 7. März den Amerikanern gelungen war, über die Ludendorff-Brücke bei Remagen das Ostufer des Rheins zu erreichen, war der Jubel in Frankreich unbeschreiblich. Die von Montgomery exakt vorbereitete Operation Plunder begann am 24. März. Bald häuften sich Nachrichten, die den Frieden näher brachten.
Am Wochenende war unsere Familie in Le Molay versammelt. Wir hatten einen besonderen Grund zum Feiern: die Beförderung Papas zum Hauptmann! Seine Entscheidung, als Verbindungsoffizier zur amerikanischen Armee hinüberzuwechseln, hatte ihm nicht geschadet. Die Bestätigungsurkunde seines neuen Dienstgrades war, von General de Gaulle unterschrieben, nach Le Molay geschickt worden. Papa legte sie am nächsten Tag stolz und glücklich in seinen Feldkoffer.
Die Eltern waren gerade mit Packen beschäftigt, als uns eine tragische Nachricht überbracht wurde. Die Tochter eines Arbeiters der Fabrik, ein 16jähriges Mädchen, hatte Selbstmord begangen, kurz nachdem sie einem »amerikanischen« Baby das Leben geschenkt hatte.
Yvette Martin, so hieß unsere ehemalige Schulkameradin aus der Volksschule, hatte, solange es ging, versucht, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Dann wurde der Skandal offenkundig. Er platzte in die fromme Familie des Mädchens wie ein Unglück, wurde bald eifrig kolportiert, bis ein Teil der Ortschaft überzeugt war, daß Yvette wahllos mit jedem »Neger« geschlafen hatte. Sehr spät hatten wir von dieser Schwangerschaft erfahren. Nun hatte sich Yvette die Pulsadern durchgeschnitten und war tot.
»Was mag das arme Kind alles durchgemacht haben!« sagte Mama spontan.
»Das Kind?« wiederholte Colette, sich ihres gleichen Alters bewußt.
»Aber ja! In diesem Fall schon... Nach deiner Abfahrt, Roger, müssen wir ihre Eltern aufsuchen.«
»Tut das! Versucht, sie zu trösten! Wie kann man mitten in einem solchen Frühling sterben wollen?«
Wir gingen zu den Martins. Die Straße, die zum Dorf führte, schien an diesem sonnigen Nachmittag wie für eine fürstliche Hochzeit geschmückt. Weiße Waldanemonen, leuchtend gelbe Primeln und Büschel von wilden Veilchen blühten so dicht auf den Böschungen rechts und links von uns, daß sie zuweilen einen durchgehenden Teppich bildeten. Am Straßenrand, dort wo der Regen seine nasse Spur hinterläßt, sprossen junge Schachtelhalm-Triebe in den langgestreckten Pfützen, die die amerikanischen Panzer im vergangenen Sommer ausgehöhlt hatten. An erhöhten Stellen bogen sich hellgrüne Farne, deren gelbe Spitzen sich nach und nach entrollen würden. Oberhalb der Böschungen sank der Weißdorn unter der Last seiner duftenden Blüten förmlich ein, und darüber ragten die Zweige unserer »ewigen« Apfelbäume, die bald in verschiedenen Rosatönen traumhaft blühen würden.
Alles in allem eine fröhliche Pracht, die nicht im geringsten zu dem traurigen Anlaß unserer Wanderung paßte. Die Umgebung schien viel eher für Liebende geschaffen, für junge Menschen, die, durch ihr gemeinsames Glück unverletzbar geworden, sich an den Händen haltend bis ans Ende der Welt gehen würden.
Die Eltern von Yvette empfingen uns mit Tränen.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie zu uns kommen. Unsere Tochter war nicht so, wie man es sich erzählt«, sagte der Vater scheu und doch bestimmt.
»Kommen Sie!« bat die Mutter. Zu unserem Schrecken fügte sie flüsternd hinzu: »Sie können sich von der armen Yvette verabschieden... und von ihrem Baby. Das Kind war so zart. Nun liegen sie beide nebeneinander, Mutter und Sohn.« Alles sträubte sich in mir gegen diese unerwartete Begegnung. Das Zimmer war dunkel. Auf einem Tischchen brannten zwei Kerzen neben einem alten Kruzifix aus Elfenbein. Endlich wagte ich, das Bett anzuschauen. Das Baby war weiß! Ich war nicht darauf gefaßt. Yvette, erstaunlich friedlich, sehr blaß wie das winzige Kind an ihrer Seite, lag schön angezogen, die Hände vor der Brust gekreuzt. Sah eine Selbstmörderin so aus? Die Ärmel ihres Kleides bedeckten ihre Handgelenke. Wesentlich älter als damals in der Volksschule wirkte sie nicht nur hübscher, das Gesicht schmäler. Das Baby, leblos wie eine Puppe, schien aus Porzellan zu sein.
Madame Martin flüsterte:
»Der Herr Pfarrer hat das Baby nottaufen können, bevor es heute früh verstarb. Das arme Ding hatte von vornherein kaum Überlebenschancen, sagte vorhin der Arzt zu uns. Es war zu früh geboren.«
Draußen wartete der Vater von Yvette.
»Viel Unheil ist über unsere Familie gekommen«, sagte er. »Warum hat nur Yvette so spät und so wenig mit uns gesprochen? Wir hätten ihr Kind großgezogen!«
Madame Martin kam hinzu. Leise verkündete sie:
»Die Beerdigung wird morgen stattfinden im normalen Friedhof. Unsere Tochter hat für ihren Leichtsinn genug büßen müssen. Sie dachte, ihr amerikanischer Freund würde sie heiraten. Er sprach nicht französisch, sie nicht englisch.« »Vielleicht lebt er auch nicht mehr«, sagte Monsieur Martin.
»Im Krieg geht alles so schnell.«
»Wieso im normalen Friedhof?« fragten wir Mama später.
»Einer alten Tradition folgend, werden Selbstmörder außerhalb der Friedhofeinfriedung begraben«, antwortete sie. »Das Baby hat Yvette davor bewahrt; es ist ein Glück für die Martins. Auch damit wären sie schwer fertig geworden.«
»Ich finde, daß das Ganze glatter Unsinn ist«, sagte Michel.
»Anscheinend hat es der Pfarrer auch so empfunden.«
»Warum hat sie keinen Ausweg gesehen?«
»Uns bleibt die Schande, hat die Mutter gesagt. Vor ihr hatte Yvette, glaube ich, am meisten Angst.«
»Ja, und vor den Leuten.«
»Dabei ist man in der Normandie allgemein großzügig mit unehelichen Kindern. Der Krieg wird oft solche Folgen haben«, meinte Mama nachdenklich.
»Schön übrigens, daß das Baby weiß war!« triumphierte Colette. »Es wird manche Leute ärgern! Abgesehen davon paßte es besser zu der blonden Yvette.«
Auch ich hatte dies erfreulich gefunden. War es eigentlich richtig? Bisher hielt ich die Frage der Rassentrennung für eine Erfindung engstirniger Menschen. In Wirklichkeit war ich 1945, wie viele Europäer, auf die hautnahe Konfrontation von zweierlei Farben wenig vorbereitet. Es ist leicht, ein Problem als gelöst zu betrachten, solange man keine konkrete Berührung mit ihm hat. Unwillkürlich hatte ich mich mit Yvette identifiziert, froh, daß der amerikanische Freund der blonden Normannin ein Weißer gewesen war. Plötzlich entdeckte ich, daß mein Glaube von der Gleichheit aller Menschen schwach verankert war und präzise Tatsachen scheute.