Unmittelbar vor dem Tag X

Es ist Sonntag. Glücklich, wieder vereint zu sein, sitzen wir zu fünft in dem nach Apfel und Bienenwachs duftenden Eßzimmer von Le Molay. Wir haben den Eindruck, daß von nun an uns niemand mehr etwas anhaben kann. Unsere selbsthergestellten Kerzen brennen hell in dem Leuchter auf dem Tisch. Seit einigen Jahren stehen zwei Bienenhäuser in unserem Garten, weil wir, wie viele, versuchen, mit erlaubten Mitteln Kalorien herzuzaubern; Bienen sind nicht meldepflichtig. Voriges Jahr konnten wir allerdings nur wenig Honig ernten. Weil wir sogar ein wenig Zucker verfüttern mußten, haben wir ein Bienenhaus aufgelassen. Durch den häufigen Regen ist die Erntezeit der Bienen beschränkt, und sie haben sich in der Gegend derart vermehrt, daß sie sehr weit nach Blumen suchen müssen.
Am 3. Juni wird das Wetter miserabel. Während des Abendessens heult plötzlich der Wind gespenstisch durch sämtliche Kamine des Hauses. Dies bedeutet Windstärke 6 im Seemannsjargon! Das Meer muß wild aussehen mit Wellen, die anderthalb Meter hoch gehen und über die Deiche spritzen. Wir haben öfters in Vierville stumm zugesehen, wie die Wellen die Promenade entlang der Deiche wütend überspülten, und wir haben damals um die Schiffe gebangt, die mit dem Sturm kämpfen mußten. Sind die kleinen Kutter von Port-en-Bessin alle zum Hafen zurückgekehrt? Früher wäre diese Frage wichtig gewesen. In der letzten Zeit dürfen die Fischer ohnehin nicht mehr weit auslaufen. Die Sperrzone, wo die Minen an ihren Ankertauen bedrohlich baumeln, ist kein Spaß. Die strikten Verordnungen sind es auch nicht.
Der Wind heult erneut, ein langgezogenes Geräusch wie bei den Herbststürmen. Es ist Hochsommer, keine normale Zeit für dieses alljährlich wiederkehrende Naturschauspiel, welches die Normannen erschauern läßt und zugleich eine alte Sehnsucht nach dem Abenteuer auf hoher See in ihren Seelen wachrufend stolz und glücklich macht. Vor einigen Jahren, ich erinnere mich, hatte der Sturm eine von mir geliebte Eiche entwurzelt. Ich war damals so traurig gewesen, daß ich ein Gedicht über den getöteten Riesen geschrieben hatte:
»Maudit vent, cruelle tempete ...«
»Verfluchter Wind, grausamer Sturm...«
In unserem Eßzimmer sitzen wir gemütlich beisammen, alles sieht beneidenswert friedlich aus! Der Tisch ist abgedeckt. Einer von uns zündet das immer bereitgestellte Holz im Kamin an. Das unterlegte Papier brennt sofort. Es ist das Signal zum Beginn eines schönen Abends. Bald werden die gestapelten Scheite aus Buchenholz den unvergleichbaren, etwas verräucherten Duft ausströmen, der sich seit meiner frühesten Kindheit harmonisch in viele Erinnerungen mischt. Wir haben die Stühle und Sessel im Halbkreis vor dem Kamin zurechtgerückt und schauen nun dem Spiel der tänzelnden Flammen zu, während wir dem Radio lauschen. Die Neun-Uhr-Nachrichten aus London sind - Gottlob! - vorbei: Nichts Besonderes ist geschehen. Jetzt freuen wir uns auf die rätselhaften Sätze, welche die BBC jeden Tag unmittelbar nach den Nachrichten sendet. Diese unzusammenhängenden Mitteilungen, Parolen für die Untergrundbewegung in Frankreich, versetzen uns Kinder in eine Stimmung von behaglicher Verschwörung und phantastischen Vermutungen.
»Les carottes sont cuites« (die Karotten sind gar), hat soeben eine männliche Stimme langsam und deutlich verkündet. Es wird wiederholt, dann kommt die nächste Meldung: »La guerre de Troie n'aura pas lieu« (der Trojanische Krieg findet nicht statt). Nach einer Pause hören Colette und ich voller Freude den Anfang eines wehmütigen Gedichts, das wir sofort erkennen, weil wir es kurz zuvor in der Schule gelernt haben:
»Les sanglots longs
des violons
de l'automne...«
(Das lange Schluchzen herbstlicher Geigen...) Der begonnene Satz braucht geradezu seine harmonische Vollendung. Wie aus einem Munde rezitieren wir:
»bercent mon coeur
d'une langueur
monotone.«
(Die mein Herz mit eintöniger Mattigkeit verwunden.)
»Was erzählt ihr schon wieder?« fragt Michel.
»Ein Gedicht von Verlaine«, antwortet Colette stolz.
»Kenn ich nicht«, erwidert Michel mürrisch, weil er sich als Jüngster im Nachteil fühlt. Eine Stille voll unausgesprochener Gedanken breitet sich zwischen uns aus, aber sie dauert nur einige Sekunden.
»Die Karotten waren mir schon lieber«, kontert Michel rasch und erntet dafür einen Lacherfolg.
»Warum sind sie gar?« fragt Mama nachdenklich. »Soll das heißen, daß sie bald landen werden?«
»Aber der Trojanische Krieg findet nicht statt? Es paßt wie immer nicht zusammen.«
»So simpel werden sie es auch nicht sagen!«
Jeder stellt seine Vermutungen an. Man spricht von Luftangriffen auf die Eisenbahnlinie Paris-Cherbourg, die in der letzten Zeit nahezu jeden Tag, manchmal öfters am Tag, erfolgen. So kann es nicht weitergehen. Es muß etwas passieren!
»Ich glaube, bei uns ist etwas anderes gar als die Karotten«, sagt Michel ruhig. »Horcht!« Ein gewaltiges Rauschen dröhnt jetzt im Kamin, und die Flammen schießen hoch. Der Kamin brennt! Nun sind Spekulationen nicht mehr gefragt, sondern präzises Handeln. Papa, der zuvor in seinem Ledersessel Zeitung gelesen hat, ergreift rasch die Wasserkaraffe und schüttet ihren Inhalt auf die Feuerstelle, während Mama in die Küche läuft. Sie bringt in Windeseile zwei nasse Scheuertücher. Papa nimmt eins davon und schließt den Eisenvorhang des Kamins, vier breite Lamellen, die sich mit Hilfe eines Griffes übereinander nach unten schieben lassen, bis die Öffnung des Kamins wie mit einer Metalltür geschlossen ist. Mama rollt die zwei nassen Scheuertücher wie eine dicke Wurst zusammen und legt sie auf den Marmorboden unmittelbar vor den Kaminvorhang, um das schwarze Wasser aufzufangen, das jetzt durchsickert. Wir schauen uns erleichtert an, obwohl das Rauschen im Kamin noch immer so stark ist wie zuvor.
»Ich glaube, wir haben es wieder geschafft«, sagt Papa.
Es klingt für uns Kinder wie ein Startschuß. Wir laufen nach draußen und schauen zum Dach empor, um festzustellen, ob und wie lange die Flammen aus dem verhältnismäßig hoch gemauerten Kamin herausschlagen. Bald können wir den Eltern stolz verkünden, daß die Aktion Kaminkehren beendet ist. Der Sturm, der uns ins Haus zurückgetrieben hat, tobt draußen weiter. Plötzlich prasselt der Regen heftig auf die Dächer. Daß wir uns ausgerechnet am 3. Juni 1944, unmittelbar vor den heranstürzenden Ereignissen, einen Kaminbrand genehmigten, ist in meiner Erinnerung wie ein Witz in dieser verdammt ernsten Zeit.
In der Normandie habe ich nie Kaminkehrer gesehen. In Le Molay sorgte die Natur alle zwei bis drei Jahre, meistens im Herbst, für eine gründliche Reinigung unseres Kamins. Daß die Welt der Erwachsenen solche abenteuerlichen Zwischenfälle zuließ, gefiel uns Kindern außerordentlich gut und verwischte die üblichen Grenzen zwischen den Generationen für einige Stunden. In solchen Augenblicken waren wir echte Kameraden. Wir sollten sehr bald ausgiebig Gelegenheit bekommen, diese Denkweise in die Tat umzusetzen..., denn die BBC hatte soeben, mit dem seit Januar 1944 vom Geheimdienst vereinbarten Sprüchlein von Verlaine »das lange Schluchzen herbstlicher Geigen«, die Landung angekündigt.
Als Colette und ich ».. .die mein Herz mit eintöniger Mattigkeit verwunden« rezitiert hatten, waren wir allerdings voreilig gewesen. Dieser letzte Vers sollte erst 48 Stunden vor der Landung ausgesprochen werden. So war es vorgesehen, und niemand dachte (nicht einmal Generalfeldmarschall Rommel), daß die Landung bei so erbärmlich schlechtem Wetter vorbereitet wurde.
Den 5. Juni begann Papa mürrisch. Nach dem Frühstück mußten wir in den Keller fliehen.
»Verflixte Bahn!« sagte er, während wir alle unten hockten.
Er war ärgerlich, weil er die kommende Nacht draußen verbringen mußte, um die Eisenbahn zu bewachen, statt mit uns seinen Geburtstag zu feiern.
»Eine Gemeinheit ist das! Ich wäre weiß Gott! lieber zu Hause 41 geworden.«
Als Mama am Abend die Thermosflasche mit dem Ersatzkaffee vorbereitete, war sie so nervös, daß sie sich eine Hand leicht verbrühte. Papa, der gleich danach die Küche betrat, sprach munter und nichtsahnend:
»Was soll's? Ich werde heute Nacht philosophische Gespräche mit dem Pfarrer führen. Meistens stehen wir wegen der Anfangsbuchstaben unserer Namen auf derselben Liste. Herrn D. nehme ich mit; er kommt in fünf Minuten hierher. Wir werden mit dem weißen Kombi nach Crouay fahren. Dort, Richtung Bayeux, müssen wir heute Nacht Wache schieben!«
»So weit?« sagte Mama, die Tränen in die Augen bekam. Ich wußte nicht, ob sie traurig war oder Schmerzen wegen ihrer Hand hatte.
»Nur sieben Kilometer von hier!« antwortete unser sachlicher Vater, während Mama, mit dem Rücken zu ihm, Brötchen einpackte. Ich hätte gern beide getröstet, beide schnell versöhnt:
»Und morgen früh werden wir alle zusammen den Geburtstag feiern, ganz groß!«
Es war ein grober Irrtum. Der Countdown bis zur Stunde X hatte schon begonnen.