In diesem und dem nächsten Kapitel möchte ich einige Probleme der Wissenschaftsgeschichte etwas detaillierter untersuchen. (Hier können die Leserinnen und Leser, die sich bei der Lektüre des Dramas nicht durch Geistererscheinungen von Vorfahren der Protagonistin ablenken lassen wollen, gleich zum Schlußkapitel übergehen.) Drei verschiedene Arten von Wissenschaftsgeschichte weisen Inkohärenzen auf, die, wenn sie unerkannt bleiben, die feministischen Vorstellungen von Wissenschaft ebenso entstellen wie das Selbstverständnis der Wissenschaften, die wir verändern wollen. Dieser historische Exkurs soll die (im elften Kapitel fortgeführte) erkenntnistheoretische Argumentationslinie dieses Buches plausibler machen. In seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen fragte Thomas Kuhn, welche Rolle der Wissenschaftsgeschichte innerhalb der Wissenschaftstheorie zufallen solle. Was für einen Zweck, sagte er, hat denn eine Wissenschaftstheorie, die sich über die Prozesse, die zu den großen wissenschaftlichen Durchbrüchen geführt haben, keine Rechenschaft abzulegen weiß? Kuhn ging davon aus, daß die rationalen Rekonstruktionen der Wissenschaftsgeschichte in der Philosophie ebenso wie die Anekdoten und Chronologien der Geschichtsschreibung die tatsächlichen Prozesse der Erklärung von Gesetzmäßigkeiten und Kausalitäten in der Natur nur verzerrt wiedergeben würden.
»Wenn man die Geschichtsschreibung für mehr als einen Hort von Anekdoten oder Chronologien hält, könnte sie eine entscheidende Verwandlung im Bild der Wissenschaft, wie es uns zur Zeit gefangen hält, bewirken. Dieses Bild ist, sogar von den Wissenschaftlern selbst, bisher in erster Linie nach dem Studium abgeschlossener wissenschaftlicher Leistungen gezeichnet worden, wie man sie bei den Klassikern und in neuerer Zeit in den Lehrbüchern für die junge wissenschaftliche Generation findet. ... Dieser Essay versucht zu zeigen, daß wir von ihnen gründlich irregeführt worden sind.«
Kuhn glaubte, daß eine »historiographische Revolution in der Untersuchung der Wissenschaft« bereits in der Entwicklung begriffen sei:
»Allmählich, und oft ohne sich völlig darüber klar zu sein, daß sie es tun, haben die Historiker der Wissenschaft begonnen, eine neue Art von Fragen zu stellen und andere, oft keineswegs kumulative Entwicklungslinien der Wissenschaften zu verfolgen. Anstatt die beständigen, heute noch wertvollen Beiträge einer älteren Wissenschaft zu suchen, bemühen sie sich, die Ausgewogenheit jener Wissenschaft in ihrem eigenen Zeitalter darzulegen. Sie fragen zum Beispiel nicht nach der Beziehung der Auffassungen Galileis zu denen der modernen Wissenschaft, sondern nach den Beziehungen seiner Anschauungen zu jenen seines Kreises, d.h. seiner Lehrer, Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger in den Wissenschaften.« [1]
Kuhns Untersuchung lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Prozesse, die die Forschung in der Wissenschaft befördern. Zusammen mit Jerome Ravetz' Analyse der institutionalisierten Wissenschaft und ihrer sozialen Probleme setzte sie eine wahre Renaissance soziologischer, historischer und sogar anthropologischer Untersuchungen zur vergangenen und gegenwärtigen Wissenschaft in Gang und stürzte das philosophische Denken über die Geschichte und die gegenwärtige Praxis der Wissenschaften in fruchtbare Verwirrung. Doch spielt, von ein paar Ausnahmen abgesehen, für das postkuhnianische Denken der Begriff des sozialen Geschlechts als analytisches Werkzeug keine Rolle, und in dieser Beziehung unterscheidet es sich nicht von den eher traditionellen Wissenschaftsgeschichten, sondern weist die üblichen androzentrischen Lücken und Verzerrungen auf. Selbst die für diesen Begriff sensiblen Ausnahmen lassen eine Menge von empirischen und begrifflichen Fragen offen. [2]
Bevor wir in diesem Kapitel auf die Vorläufer von Kuhn näher eingehen, um uns sodann dem Postkuhnianismus zuzuwenden, wollen wir Kuhns hauptsächliche Argumente mit unseren früheren Bemerkungen verflechten: mit dem, was wir über die Bedeutung des sozialen Geschlechts als eines analytischen Werkzeugs gesagt haben. Dies Werkzeug dient dem Begreifen der Geschichte jenes Unternehmens, das zum bevorzugten Gegenstand feministischer Kritik geworden ist.
Präliminarien
Kuhn zeigte, daß jene Tätigkeiten, die einstmals als für das wissenschaftliche Erkenntniswachstum unerheblich oder gar störend angesehen wurden, vielmehr einen integralen Bestandteil des Prozesses bildeten, durch den Hypothesen entwickelt und legitimiert werden. Was seine Kritiker vielleicht am meisten schockierte, war die Behauptung, daß die begrifflichen Unterscheidungsraster, die für die großen Errungenschaften in der Wissenschaftsgeschichte verantwortlich sein sollten, tatsächlich erst nach der Legitimierung dieser Errungenschaften theoriefähig wurden. Des weiteren zeigte Kuhn, daß diese begrifflichen Unterscheidungen und methodologischen Anweisungen nicht einmal dem Grundsatz nach über die historischen Prozesse, die sie erklären sollten, Rechenschaft ablegen konnten. Wissenschaftsgeschichte und -theorie hatten, mit anderen Worten, jenen kognitiven Strukturen und Forschungsprozessen die Produktion wissenschaftlicher Revolutionen zu- und gutgeschrieben, welche nur eine Folgeerscheinung dieser Revolutionen gewesen sind. Vielleicht sollten wir Kuhns Unterscheidung von normaler und revolutionärer wissenschaftlicher Tätigkeit als Verortung jener realen Unterscheidung begreifen, die von den in der Anthropologie wiedergegebenen Ursprungsmythen reflektiert wird: die Prozesse, die eine menschliche Tätigkeitsweise oder eine Form sozialer Verhältnisse hervorbringen, unterscheiden sich der Art nach von dem Hervorgebrachten. Jüngere Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte und -praxis haben die Logik von Kuhns Argumentation auf andere Bereiche ausgedehnt. Sie haben nicht nur nach der Beziehung der Auffassungen eines Wissenschaftlers zu denen »seiner Lehrer, Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger in den Wissenschaften« gefragt, um zu verstehen, warum bestimmte Theorien und Praxisformen sich so und nicht anders entwickelt haben, sondern sie haben auch die Beziehungen zwischen den Auffassungen von Wissenschaftlern und denen ihrer Vorgänger und Zeitgenossen in der gesamten Kultur einer Betrachtung unterzogen. Und sie haben den umfassenderen Rahmen gesellschaftlicher Praxisformen untersucht, innerhalb dessen bestimmte wissenschaftliche Verfahrensweisen, kognitive Strukturen und Theorien akzeptabel geworden sind. Während also Kuhns Geschichte noch das Bild einer in vielerlei Hinsicht autonomen scientific community zu entwerfen suchte, trachteten weitere Untersuchungen danach, den Zusammenhang der Wissenschaft mit den intellektuellen und politischen Strukturen der Kulturen aufzuweisen, in denen die Wissenschaft lediglich eine menschliche Tätigkeit unter anderen ist. Dennoch haben die meisten postkuhnianischen, sozialtheoretisch orientierten Untersuchungen zur Naturwissenschaft es systematisch vermieden, die Beziehung zwischen Wissenschaft und sozialem Geschlecht in ihrer historischen oder soziologischen Dimension aufzuhellen; und darin unterscheiden sie sich nicht von ihren präkuhnianischen Vorfahren historischer und philosophischer Provenienz. Wenn sie aber anerkennen müßten, daß »Geschlecht« ein gesellschaftliches Konstrukt ist, und nicht bloß eine Verlängerung biologischer Faktoren darstellt, würde die durch ihren Ansatz geforderte, durchgängig historische Verstehensweise eine solche Untersuchung notwendig machen. Wir sind jetzt in der Lage zu verstehen, warum diese sexistische Haltung in der Wissenschaftsgeschichte und -soziologie wie in jeder anderen Sozialwissenschaft Verzerrungen hervorruft.
Im dritten Kapitel habe ich eine Reihe von empiristischen Dogmen aufgeführt, die den theoretischen Blick auf eine direkte Beziehung zwischen Wissenschaft und sozialem Geschlecht verhindert haben. Diese Dogmen unterstützen den Abwehrmechanismus der Wissenschaft: sie soll als einzige von der wissenschaftlichen Erforschung der Gegenstände in der uns umgebenden Welt ausgenommen sein. Die postkuhnianischen Untersuchungen sind über diese Dogmen hinausgegangen und haben realitätsnahe und kritisch-interpretative Darstellungen der Wissenschaftsgeschichte und -praxis entwickelt. Doch in dem Maße, in dem sie es vermeiden, die soziale Identität der Geschlechter und das geschlechtsspezifische Verhalten, die institutionalisierten Geschlechtshierarchien und die Symbolisierungen des Geschlechts in ihren Auswirkungen auf die Wissenschaftsgeschichte und -praxis zu untersuchen, sind ihre Erklärungs- und Interpretationsversuche unvollständig und verzerrt.
In einem früheren Kapitel habe ich auch dargestellt, warum ein kritisches Verständnis von Gesellschaftstheorie und Wissenschaft von zentraler Bedeutung ist, um die Auswirkungen des sozialen Geschlechts auf die Naturwissenschaften adäquat zu begreifen.
- haben die Sozialwissenschaften die leidenschaftslos-objektiven Methoden, die für das Erkenntniswachstum in den Naturwissenschaften verantwortlich sein sollen, nachzuahmen versucht. Es kann gut sein, daß die verzerrten Bilder menschlicher Wesens- und Tätigkeitsformen, die oft selbst aus den besten sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben resultieren, nicht nur dem anders gearteten Themenbereich (bewußte, zielgerichtete Handlungssubjekte und ihre Kulturen statt unbelebter Materie), komplexeren Variablen und dem relativ jungen Alter geschuldet sind, sondern auch ein grundsätzliches Problem der Forschungsregeln in den Naturwissenschaften widerspiegeln. Zwischen diesen Regeln und den gesellschaftlichen Praxisformen scheint auch in bezug auf die Naturwissenschaften eine große Lücke zu klaffen (worauf Kuhn hingewiesen hat). Die neuen gesellschaftstheoretischen Untersuchungen der Wissenschaft waren nicht kritisch genug; sie haben die präkuhnianischen Annahmen einer Geschlechterneutralität hinsichtlich wissenschaftlicher Forschungsregeln und Praxisformen nicht in Frage gestellt.
- ist die Naturwissenschaft ein gesellschaftliches Phänomen, das zu bestimmten geschichtlichen Zeitpunkten in bestimmten Kulturen geschaffen und entwickelt worden ist. Das soziale Geschlecht ist (wie Rasse, Klasse und Kultur) eine Variable, und zwar nicht nur in Annahmen über Geschlechtsunterschiede, sondern auch hinsichtlich der formalsten Strukturen von Denkweisen über die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur und über die grundlegenden Bestandteile sozial konstruierter Wirklichkeiten. Dergestalt sind die formalen Strukturen naturwissenschaftlicher Denkweisen von dieser Art der Vergeschlechtlichung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausgenommen. Sollten wir die Geschichten, die über die rationale Rekonstruktion der Wissenschaft und über die Wissenschaftsgeschichte erzählt werden, nicht als vergeschlechtlichte betrachten?
- sind Theorien über das soziale Geschlecht und über vergeschlechtlichte Denkweisen (wie über die Wissenschaft und ihre Tätigkeiten) gesellschaftliche Theorien.
Wir alle hegen gewisse »folkloristische« Vorstellungen darüber, was unter Wissenschaft und sozialem Geschlecht zu verstehen sei, doch hängen diese, wie unsere anderen kulturell ererbten Überzeugungen und Denkweisen, mit der uns umgebenden Welt oft nur sehr locker zusammen. Auch hier behandeln die postkuhnianischen Untersuchungen, wie ihre empiristischen Vorfahren, das Geschlecht als biologische Gegebenheit und nicht als gesellschaftliche Konstruktion. Die in den Sozialwissenschaften auftretenden Probleme über Periodisierungsfragen, Theorien gesellschaftlichen Wandels, ausschließliche Konzentration auf öffentliche Vorgänge und Ereignisse, das verdächtige Zusammenspiel zwischen den Begriffsschemata männlicher Forscher und ihrer Zuträger etc., die ich diskutiert habe, müssen erst explizit erkannt und anerkannt werden, ehe sich angemessene historische und soziologische Theorien der Wissenschaft entwickeln lassen. Ich habe ebenfalls die erkenntnistheoretischen Verschiebungen untersucht, die notwendig sind, damit die Erkenntnissuche als ganz und gar gesellschaftliche Tätigkeit begriffen werden kann, in der sich die bewußten und unbewußten gesellschaftlichen Rückbindungen der Forscherinnen und Forscher niederschlagen. Aus dieser Sichtweise kann es weder rein zufällig noch irrelevant sein, daß die meisten gesellschaftstheoretischen Untersuchungen die Auswirkungen der Wissenschaft auf vergeschlechtlichte Identitäten und Verhaltensformen, institutionalisierte Geschlechtshierarchien und den Symbolismus des Geschlechts nicht berücksichtigen.
Bei der Untersuchung der inkohärenten und androzentrischen Bedeutungen der Standardgeschichte über die Entwicklung der modernen Wissenschaft habe ich es vorgezogen, Begriffe und Institutionen wie Persönlichkeiten zu behandeln. Dieser Ansatz hat verschiedene Vorteile. Geburt, Wachstum und schließliches Absterben von Begriffen und Institutionen ähneln in gewisser Weise den Vorgängen, die auch bei Individuen anzutreffen sind. Als Erwachsene erzählen wir unsere Lebensgeschichte für gewöhnlich auf eine Weise, die uns und unserer Zuhörerschaft die wahre Natur unserer frühen schmerzvollen und zum Teil vorbewußten Kämpfe verhüllt. Die Einsichten von Freud und Marx haben uns gelehrt, daß die Genauigkeit unserer Autobiographie durch verschiedene Faktoren eingeschränkt wird: durch das, was wir als bedeutsam auswählen, durch das, was wir versehentlich vergessen, durch das, was zu schmerzhaft für das Gedächtnis ist, und durch das, was wir über die Kräfte, die in unserer natürlichen/gesellschaftlichen Umgebung wirken, und die unsere frühen Erfahrungen geformt haben, nicht wissen können. Es ist nützlich, die Begriffe und Institutionen der modernen Wissenschaft auf eben diese Weise zu interpretieren. Wenn Geschichtsschreibung und Soziologie kritische Biographien einer Kultur und nicht nur selbstzufriedene Autobiographien sein sollen, dann sollten sie, um noch einmal Jane Flax' Bemerkung aufzugreifen, eine »Wiederkehr des Verdrängten« darstellen [3], sie sollten uns die Zweideutigkeiten und Lücken in unserem kulturellen Gedächtnis und ihre Ursprünge in gesellschaftlich unterdrückten Geschichtsmomenten enthüllen. Ein solcher gewissermaßen psychoanalytischer - Rahmen ist natürlich nicht das einzige Element, mittels dessen die Wissenschaftsgeschichte kritisch beleuchtet werden kann, doch besitzt er, gerade wenn wir an den Auswirkungen des sozialen Geschlechts auf die Wissenschaft interessiert sind, gewisse Vorzüge. Des weiteren erscheint eine solche Betrachtungsweise weniger abstrus, wenn man Kuhns Argumenten folgt. Zum einen (so Kuhn) unterscheiden sich die Vorgänge, die zur Geburt wissenschaftlicher Theorien führen, von denen, welche die späteren Wachstums- und Entwicklungsphasen dieser Theorien beeinflussen; zum zweiten hinterlassen die Kämpfe, die eine Theorie in ihrem Frühstadium durchsteht, untilgbare Spuren im Charakter der ausgereiften Theorie; und zum dritten schreiben die Verfechter einer Theorie ihre Geschichte so um, daß das Wesen ihrer frühen Kämpfe oftmals verborgen bleibt. Wenn wir diese fruchtbare Analyse auf die moderne Wissenschaft ausdehnen, können wir anfangen zu begreifen, wie diese - im Einklang mit den feudalen und anderen traditionellen Weltanschauungen, denen sie sich entgegensetzt - das Wunschbild einer Gesellschaftsordnung auf die Natur projiziert. Seit es Wissenschaft gibt, haben die Menschen in der Natur nach Erkenntnissen über Moral und Politik gesucht - und traditionelle Stammesgesellschaften sind davon keineswegs ausgenommen.
Die Geschichte von den Ursprüngen der Wissenschaft
Wir sind alle mit einer wohlvertrauten Geschichte über die Geburt der modernen Wissenschaft großgeworden. Man hat uns erzählt, wer für die Schwangerschaft verantwortlich war, warum die Geburt so kompliziert gewesen ist und was sie für drei Jahrhunderte europäischer und amerikanischer Geschichte bedeutet hat, und warum die ausgereifte Persönlichkeit, die aus dem Kleinkind geworden ist, immer noch massive Unterstützung benötigt, obwohl es so viele Konkurrenten gibt, die auch ihre Ansprüche auf öffentliche Ressourcen anmelden. In den gängigen Wissenschaftsgeschichten und -theorien und in wissenschaftlichen Autobiographien wird diese Geschichte ausgearbeitet. Ihre Umrisse finden sich in den einleitenden Kapiteln von in den High Schools und Colleges verbreiteten Wissenschaftstexten und auch populärwissenschaftliche Darstellungen beziehen sich implizit oder explizit auf sie.
Wir wollen uns diese vertraute Geschichte anschauen, indem wir Auszüge aus den Schriften zweier anerkannter und vielgelesener Wissenschaftshistoriker - Thomas S. Kuhn und I. B. Cohen - benutzen. Kuhns Buch The Copernican Revolution »zielt darauf ab, die Bedeutung der Pluralität dieser Revolution zu demonstrieren« und wissenschaftliche Ideen als Teil der Geistesgeschichte zu behandeln:
»Wissenschaftliche Begriffe sind Ideen und als solche Gegenstand der Geistesgeschichte«.[4]
Es ist besonders interessant, hier den Kuhn von 1957 zu untersuchen, da die nur wenige Jahre später veröffentlichte Structure of Scientific Revolutions das Buch ist, welches die Angemessenheit rein geistesgeschichtlicher Ansätze am meisten dem Zweifel ausgesetzt hat. Cohens Buch The Birth of a New Physics erschien in einer Reihe wissenschaftlicher Studien, in der
»anerkannte Autoren sich für die studentische und die allgemeine Öffentlichkeit zu den grundlegendsten und aufregendsten Gegenständen der Physik, von den kleinsten bekannten Teilchen bis zum gesamten Universum, äußern.«[5]
Sicherlich könnten, um der Ernsthaftigkeit des wissenschaftlichen Anspruchs willen, Einwände dagegen erhoben werden, daß man sich zur Kritik an der Wissenschaftsgeschichte und -theorie eher populär gehaltene Studien als Zielscheiben auswählt. Doch habe ich diese von Historikern für ein nicht-spezialisiertes Publikum geschriebenen Texte mit Bedacht ausgewählt, weil in ihnen die Bedeutung der Standardversion auf eine Weise explizit gemacht wird, die sich für die Leserschaft gelehrter Darstellungen erübrigen würde, denn diese hat aller Wahrscheinlichkeit nach bereits begriffen, daß eine wissenschaftliche Karriere nicht nur Beruf, sondern »Berufung« ist - wie Philosophie, Medizin oder Priestertum. Im Gegensatz zu gelehrten Untersuchungen kann die populäre Geschichtsschreibung nicht davon ausgehen, daß ihr Publikum in den Schaubühnen des spezialisierten Geistes Sperrsitze (oder gar Logenplätze) gebucht hat oder hinsichtlich der moralisch-politischen Bedeutung wissenschaftlicher Tätigkeiten und des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft die gleichen Annahmen hegt wie die Gelehrten, von daher äußern sie diese Annahmen explizit. Mit anderen Worten: die von diesen Texten verkündete moralische Botschaft wird von der traditionellen Wissenschaftsgeschichte und -theorie allgemein akzeptiert. Anderenfalls könnten diese Felder der Gelehrsamkeit der feministischen Kritik nicht so viel Widerstand entgegensetzen.
Für gewöhnlich fängt die Geschichte mit den einfachen und ästhetisch erfreulichen kosmologischen Anschauungen an, die in der Antike entwickelt worden sind.
»Seit dem vierten Jahrhundert«,
erzählt Kuhn,
»war die Erde für die meisten griechischen Astronomen und Philosophen eine winzige Sphäre, die im geometrischen Zentrum einer sehr viel größeren, kreisförmig rotierenden Sphäre, welche die Sterne trug, stationär verankert war. Die Sonne bewegte sich in dem weiten Raum zwischen der Erde und der Sphäre der Sterne. Außerhalb der äußeren Sphäre gab es überhaupt nichts - keinen Raum, keine Materie, nichts« (Kuhn 1957, 27).
Obwohl dies Bild zum Teil auf alltäglichen Beobachtungen beruht, die wir alle schon gemacht haben, entspricht es nicht der tatsächlichen Struktur des Universums, denn
»das zweisphärige Universum ist ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft. Es ist ein begriffliches Schema, eine Theorie, die sich von Beobachtungen herleitet, sie zugleich aber transzendiert« (ebd., 36).
Doch im Spätmittelalter übte diese einfache Kosmologie mit ihren verschiedenen Varianten einen unglaublichen Einfluß auf die europäische Vorstellungskraft aus, weil die religiösen, moralischen und politischen Werte der mittelalterlichen Gesellschaft in die antike Astronomie hineinprojiziert worden waren. Die Astronomie vermittelte Informationen nicht nur über die physikalischen Eigenschaften des Universums, sondern auch über religiöse, moralische und politische Werte. Von daher wendeten sich rationale und zivilisierte Persönlichkeiten (wie etwa Dante) dieser Zwei-Sphären-Theorie zu,
»um die Art und selbst die Anzahl der Engel, die Gottes spirituelles Reich bewohnen, zu entdecken« (ebd., 114).
Wie sehr diese Menschen doch von uns unterschieden waren!
»Wir können uns keinen Aspekt des mittelalterlichen Denkens schwerer vergegenwärtigen als jenen Symbolismus, der das Wesen und Schicksal des Menschen, den Mikrokosmos, in der Struktur des Universums, dem Makrokosmos, widergespiegelt sah. Vielleicht können wir die volle religiöse Bedeutung, mit der dieser Symbolismus die aristotelischen Sphären versah, heute nicht mehr erfassen. Doch wir können es zumindest vermeiden, ihn als bloße Metapher abzutun oder anzunehmen, er habe im christlichen oder (sic.) astronomischen Denken keine Rolle gespielt.« (Ebd., 113)
Wir sollten diesen Symbolismus also nicht auf die leichte Schulter nehmen, und zwar aus folgendem Grund: Wenn eine (angeblich) reine Beschreibung des Universums auch religiöse, moralische und politische Empfehlungen in sich barg, dann würden gewaltige soziale Hindernisse aus dem Weg zu räumen sein, um die gesellschaftliche Akzeptanz der völlig neuartigen Beschreibungen, die von Newtons Physik und der darauf folgenden wissenschaftlichen Forschung beigebracht werden würden, zu garantieren.
- »Wenn Engel zur Triebkraft von Epizyklen und Deferenten werden, dann kann die Verschiedenartigkeit der spirituellen Wesen in Gottes Heer mit der Komplexität der astronomischen Theorie zunehmen. Die Astronomie ist dann nicht mehr gänzlich von der Theologie getrennt. Die Bewegung der Erde könnte notwendigerweise die Bewegung von Gottes Thronsitz hervorrufen« (ebd., 114).
Die Herausbildung der modernen Wissenschaft würde eine religiöse, moralische und politische Revolution erforderlich machen. Um zu verstehen, wie der Geist des Mittelalters einer solchen, heute ersichtlich simplifikatorischen und wissenschaftlich problematischen, Kosmologie anhängen konnte, sollten wir ihn, fährt Kuhn fort, im Zusammenhang mit Kindern und »primitiven Kulturen« betrachten, die dazu neigen, ihre eigenen sozialen Verhältnisse und Ziele in die Ordnung der Natur zu projizieren. Wie die mittelalterliche Weltanschauung, so »neigt auch die von Kindern und primitiven Gesellschaften zum Animismus. Das heißt, Kinder und viele primitive Völker ziehen (im Gegensatz zu uns) nicht solche verbindlichen Trennungslinien zwischen der organischen und der anorganischen Natur, [13] zwischen lebenden und unbelebten Gegenständen. Der organische Bereich genießt ein begriffliches Vorrecht, und das Verhalten von Wolken, Feuer und Steinen wird eher unter Bezugnahme auf die inneren Triebe und Wünsche erklärt, von denen Menschen und vielleicht auch Tiere bewegt werden« (ebd., 96). Wer konnte der David für diesen mächtigen Goliath einer Zwei-Sphären-Theorie sein, die die europäische Gesellschaft in ihrem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt aufhielt? Nur mit den noch schwach entwickelten Frühformen der experimentellen Methode und dem Wagemut des einzig für Die Wahrheit kämpfenden Helden bewaffnet, erhoben sich die großen Wissenschaftler des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts wie Guerilleros aus dem Zerfall und der Korruption der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Die wissenschaftliche Revolution begann mit Kopernikus' mathematischer Hypothese, die das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild ersetzte. Sie fand ihre Fortsetzung in den theoretischen Verfeinerungen und der zunehmenden empirischen Unterstützung, die Galileis Forschungen (mit dem neuentwickelten Fernrohr) hervorbrachten. Und sie fand ihren Höhepunkt zweihundert Jahre später in Newtons universell gültigen Gesetzen der Mechanik. Die moderne Wissenschaft hatte uns mit der korrekten Anschauung der einen Welt, und von daher mit der bedeutsamsten Triebkraft für die Entwicklung der reinen Wissenschaft und des mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Fortschritts versehen. »Nach Newtons Tod im Jahre 1727«, erklärt Kuhn, »vertraten die meisten Wissenschaftler und gebildete Laien die Auffassung, das Universum sei ein unendlicher neutraler Raum, erfüllt von einer unendlichen Anzahl von Korpuskeln, deren Bewegungen durch einige wenige passiv wirkende Gesetze wie das der Trägheit und durch einige wenige aktiv wirkende Gesetze wie das der Schwerkraft gelenkt würden. ... Zuguterletzt war das zerbröckelnde aristotelische Universum durch eine umfassende und kohärente Weltanschauung ersetzt worden, und in der Entwicklung des menschlichen Naturbegriffs hatte ein neues Kapitel begonnen« (ebd., 260). Da das zerbröckelnde aristotelische Universum nicht nur eine Ansammlung von Naturanschauungen, sondern auch moralisch-politischer Provenienz war, versprach sein Zusammenbruch, daß die mittelalterlichen Beschränkungen für Physik und Astronomie ebenso aufgehoben werden würden wie für Moral und Politik. So wie sie erzählt wird, betont die Geschichte, daß die aus der wissenschaftlichen Revolution hervorgegangene neue Forschungsmethode die Projektion politischer Interessen und Werte auf die Ordnung der Natur verhindern würde. Im Gegensatz zu den Forschungsweisen des Mittelalters sucht die moderne Wissenschaft eine von moralischen, politischen und gesellschaftlichen Werten freie Erkenntnis. Eine wahrhaft wissenschaftliche Begründung zielt darauf ab, Behauptungen über Gesetzmäßigkeiten und ihnen zugrundeliegende kausale Determinanten in der Natur aufzustellen, denen alle entsprechend situierten Beobachter, unabhängig von ihren je persönlichen, gesellschaftlich-politischen Überzeugungen, zustimmen können. Der Blick durch Galileis Fernrohr gestattete allen die Erkenntnis, daß der Aufbau des Himmels nicht den mittelalterlichen Vorstellungen entsprach. Natürlich wollte nicht jeder sich der neuen Methode bedienen, um die wirklichen Gesetzmäßigkeiten der Natur zu entdecken.
»Der fortwährende Widerstand gegen die Ergebnisse teleskopischer Beobachtung ist für die tiefersitzende und längerwährende Opposition gegen den Kopernikanismus im siebzehnten Jahrhundert symptomatisch. Beides speiste sich aus derselben Quelle: aus einer unterbewußten Abneigung, der Zerstörung einer Kosmologie zuzustimmen, die jahrhundertelang für das unmittelbare wie auch das geistig-religiöse Alltagsleben grundlegend gewesen war« (ebd., 226).
Jedoch zeigt der Fortschritt, den die Wissenschaft seit Newton gemacht hat, daß quantitative Messungen und die Operationalisierung theoretischer Begriffe erfolgreiche Maßnahmen sind, um gesellschaftliche Werte aus der wissenschaftlichen Forschung zu eliminieren. Die physikalischen Wissenschaften können tatsachenbezogene Aussagen produzieren (und tun dies auch), und diese Aussagen ergeben zusammengenommen ein - zumindest zunehmend wertfreies Bild der Natur. Diese reine Wissenschaft ist ein auf Kooperation und Konsens basierendes Unternehmen und als solches das bedeutsamste Zeugnis für die schöpferische Kraft des Menschen. Cohen fügt hinzu:
»Vor allem vermögen wir in Newtons Werk das Ausmaß zu erkennen, in welchem die Wissenschaft eine kollektive und eine kumulative Tätigkeit darstellt. Zugleich ist es kennzeichnend für den Einfluß, den ein individuelles Genie auf die Zukunft kooperativer wissenschaftlicher Anstrengungen besitzen kann. An Newtons Errungenschaften sehen wir, wie die Wissenschaft durch heroische Bemühungen der Einbildungskraft weiter vorangebracht wird als durch das geduldige Sammeln und Sortieren von Myriaden einzelner Tatsachen. Wer könnte, nachdem er Newtons herausragenden Beitrag zum wissenschaftlichen Denken studiert hat, leugnen, daß die reine Wissenschaft das schöpferische Vermögen des menschlichen Geistes auf seinem Höhepunkt zeigt?« (Cohen 1960, 189f.)
Noch ein Zitat zum Schluß. Obwohl diese wissenschaftliche Weltanschauung unsere Naturerkenntnis beträchtlich erweitert und in der Folge umfassende gesellschaftliche Fortschritte gezeitigt hat, müssen wir nach wie vor wachsam gegenüber den alt-bösen Feinden sein: gegenüber irrationalen politischen und religiösen Denkweisen. Im folgenden beschreibt Rudolf Carnap einige Anschauungen der Mitglieder des Wiener Kreises, das heißt, der Gruppe, von der die im zwanzigsten Jahrhundert so einflußreiche Version unserer Geschichte stammt: die des Logischen Empirismus. Das Zitat stammt aus dem Jahre 1961.
»Ich denke, daß fast alle von uns die folgenden drei Ansichten für selbstverständlich und nicht weiter diskussionsbedürftig hielten. Erstens waren wir der Ansicht, daß der Mensch keine übernatürlichen Schutzmächte oder Feinde hat, und daß von daher alles, was zur Verbesserung der Lebensumstände unternommen werden kann, Aufgabe des Menschen selbst ist. Zweitens vertraten wir die Überzeugung, daß die Menschheit in der Lage ist, die Lebensbedingungen so zu verändern, daß vieles von dem, worunter wir heute leiden, vermieden werden kann, und daß die innere und äußere Lebenslage für das Individuum, für die Gemeinschaft und schließlich für die Menschheit insgesamt entscheidend verbessert werden wird. Drittens waren wir der Ansicht, daß alles willentliche Handeln die Erkenntnis der Welt zur Voraussetzung hat, daß die wissenschaftliche die beste Methode ist, um zu Erkenntnissen zu gelangen, und daß die Wissenschaft von daher als eines der wertvollsten Instrumente für die Verbesserung der Lebensbedingungen angesehen werden muß.«[6]
Probleme der Ursprungsgeschichte
Selbst in dieser verkürzten Form vermittelt die vertraute Geschichte von der Entstehung und Entwicklung der modernen Wissenschaft Hinweise auf die vielschichtigen und widersprüchlichen Bedeutungen, die die Wissenschaft für moderne Kulturen besitzt. Wir können diese Hinweise verfolgen, wenn wir die Geschichte nicht als ein Fenster betrachten, das den Blick auf die historischen Zusammenhänge freigibt, sondern wenn wir sie als undurchsichtige Oberfläche mit eigenen Formen und Bedeutungsstrukturen sehen.
Wissenschaftsgeschichte als Text
Wenn man sich diese bestimmte Darstellung als Geschichte oder Erzählung denkt, dann fallen einem drei Arten von Texten ein, mit denen sie gewisse Züge gemeinsam hat.
- liegt ihr Ursprung in der nicht-professionellen Geschichtsschreibung. Als universitäre Spezialfächer sind Wissenschaftstheorie und -geschichte relativ jung; sie entwickelten sich erst um die Jahrhundertwende. Auf diese Weise bildete sich die Geschichte heraus, ohne von der (zumindest dem Ansatz nach) kritischen Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Ursachen sozialer Phänomene profitieren zu können, denen die Geschichtsschreibung heute ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Ihre grundlegenden Umrisse entwickelten sich, zusammen mit der Herausbildung der modernen Wissenschaft selbst, im Verlauf mehrerer Jahrhunderte. Als man in der Wissenschaftsgeschichte und -theorie vor einhundert Jahren damit anfing, diese Erzählung auf professionelle Art und Weise niederzuschreiben, waren ihre Bedeutungen schon längst zum bewußten geistigen Erbteil der europäischen und amerikanischen Gesellschaft geworden. Von daher gibt es gute Gründe, sie in Analogie zur Ilias und Odyssee, zur Genesis oder zu Geschichten vierten Grades der amerikanischen Revolution zu betrachten. Bei all diesen Beispielen handelt es sich um offizielle und ausgearbeitete Versionen viel älterer Ursprungsgeschichten, deren gesellschaftliche Bedeutung bereits tief in das Selbstverständnis der Menschen, die sie aufschrieben und die ihnen lauschten, eingedrungen waren. Wie alle anderen Ursprungsgeschichten enthält auch diese wichtige Fragmente von Wahrheiten über Natur und Gesellschaft. Doch als Texte enthüllen diese Geschichten ungewollt ebensoviel über diejenigen, die sie aufschreiben und die ihnen gerne zuhören, wie über ihren expliziten thematischen Gegenstand. Unter dem Vorwand, den Menschen zu erzählen, »wo wir herkommen«, erzählen Ursprungsgeschichten den Menschen »wer wir sind«. Sie erzählen den Zuhörerinnen und Zuhörern, wie die menschliche Natur beschaffen ist und welche Ziele man anstreben solle, um ein mit der »natürlichen Ordnung« in Übereinstimmung befindliches »gutes Leben« führen zu können. Diese Eigenschaft besitzen Wissenschaftsgeschichten wie die von Kuhn und Cohen, die immanent verfahren: sie behaupten, daß die Entdeckungen der modernen Wissenschaft den Höhepunkt des menschlichen Fortschritts markieren und daß der durch die Wissenschaft repräsentierte Fortschritt voll und ganz in der wissenschaftlichen Methode beheimatet ist. Sie erzählen uns, »wer wir sind«: Menschen nämlich, die sich wissenschaftlicher Rationalität bedienen, um das gesellschaftliche Leben - und natürlich die Forschung - fortschrittlich zu gestalten.
- Ein zweiter, allgemeinerer Gesichtspunkt besteht darin, daß solche Ursprungsmythen Ausdrucksformen »folkloristischen Denkens« sind. Nicht-Europäer haben (vgl. das achte Kapitel) darauf hingewiesen, daß nicht nur ihre kulturellen Denkweisen mit Gewinn auf ihren folkloristischen Gehalt hin untersucht werden können. Für viele Intellektuelle wie für Menschen breiterer Schichten im heutigen Westen gehört diese Wissenschaftsgeschichte mitsamt der Ausarbeitung ihrer hauptsächlichen Themen durch Hume, Locke, Descartes, Kant und andere zu unserer folkloristischen Denkweise. Die Fähigkeit der Wissenschaft, begründbare Behauptungen über die hinter den Phänomenen verborgene Wirklichkeit aufzustellen, wird von uns ebensowenig in Zweifel gezogen, wie afrikanische Dorfbewohner es mit ihrer tradierten Weltanschauung tun. In ihren Anfängen wurde die wissenschaftliche Weltanschauung (neben anderen Gründen) als Ergebnis kritischen Denkens aufgenommen und übernommen, doch ist das nicht mehr der Grund, aus dem die meisten Menschen heute diese Anschauung vertreten. Kritisches Denken ist keine Eigenschaft westlichen Denkens per se, und ebensowenig sind folkloristische Denkweisen ausschließlich für nicht-westliches Denken charakteristisch.[7]
- Drittens schließlich haben die traditionellen Wissenschaftsgeschichten und -theorien eine gewisse Ähnlichkeit mit Autobiographien, vor allem mit solchen erfolgreicher und berühmter Persönlichkeiten. In diesem Fall betrachten wir die Autobiographie eines berühmten und erfolgreichen kognitiven Programms und einer gesellschaftlichen Institution. Autobiographien verfolgen eine selektive Berichterstattung: sie enthüllen das, was die Autorinnen und Autoren für wichtig halten, damit wir verstehen, wie sie zu den Personen werden konnten, die sie heute sind. Ihre Treue der Geschichte gegenüber ist durch die Wahrnehmung dessen begrenzt, was sie an ihrem Leben für wichtig halten; begrenzt auch durch Erinnerungslücken, durch den Unwillen und/ oder die Unfähigkeit, sich ins Gedächtnis zu rufen und zu berichten, welche Kompromisse man gemacht und welchen Preis man für den Erfolg gezahlt hat, und welche schmerzhaften und oft unterdrückten Prozesse man durchlaufen mußte, um erwachsen zu werden; und schließlich durch das Ausmaß, in dem man zu begreifen fähig ist, auf welche Weise Krisen und Errungenschaften, die als persönliche Ereignisse erfahren wurden, sich zumindest teilweise umfassenderen gesellschaftlichen Kräften verdanken oder durch diese schicksalhaft bestimmt sind. Alle diese Beschränkungen, denen Autobiographien unterliegen, gelten auch für die vertrauten Berichte über die Geburt der Wissenschaft.
Persönlichkeiten aus der Wissenschaft selbst, aus der Philosophie und der Geschichtsschreibung haben sich in Darstellungen mit jener berühmten Institution befaßt, die ihr privates und berufliches Leben bereichert hat. Diese Darstellungen weisen ihre je eigenen blinden Flecken auf: durch das, was diese Gelehrten in der Wissenschaftsgeschichte für wichtig halten, durch fehlerhaftes und verstümmeltes Quellenmaterial, durch den Unwillen oder die Unfähigkeit, zu erkennen und darzustellen, welche Kompromisse auch immer sie eingehen mußten, um für ihre Überzeugungen und Praxisformen gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung zu erlangen; und durch die unangemessenen Kategorien der Sozialwissenschaften im allgemeinen, die unsere Einsicht in die Triebkräfte gesellschaftlichen Wandels behindern. Ein verwirrender Aspekt in der Geschichte über die Herausbildung der modernen Wissenschaft betrifft ihre Behauptungen über die Beziehung zwischen Ideen und gesellschaftlichen Verhältnissen. In der Tat ist diese Beziehung einige Jahrzehnte lang in der Wissenschaftsgeschichte und -theorie heftig diskutiert worden.
Warum bestehen die weiter oben zitierten Wissenschaftshistoriker darauf, daß wissenschaftliche Ideen in den letzten Jahrhunderten die eigentliche und mächtigste Ursache des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen sind, obwohl sie erkennen, daß die für die praktische Umsetzung und gesellschaftliche Wirkungsweise dieser Ideen notwendige öffentliche Anerkennung umfassende soziale Veränderungen erforderlich machte? Natürlich können wir ohne weiteres der Ansicht zustimmen, daß Individuen aus allen möglichen Gründen zu ihren Überzeugungen gelangen, mithin auch über die kritische Reflexion der Unangemessenheit vorherrschender Ideen. Doch waren es gesellschaftliche Veränderungen im spätfeudalen und frühneuzeitlichen Europa, die in erster Linie für die allgemeine Annahme der neuen wissenschaftlichen Auffassungen von Natur und Forschung verantwortlich gewesen sind. Die wissenschaftlichen Ideen machten ihrerseits den sozialen Wandel zu einem gewissermaßen »natürlichen« und von daher moralisch akzeptableren Vorgang. Die Antwort auf meine rhetorische Frage ist nicht schwer zu finden. Eine vollständige Darstellung würde die Betrachtung der wechselseitigen Kausalbeziehungen zwischen Ideen und gesellschaftlichen Strukturen erforderlich machen, denn wissenschaftliche (und andere) Ideen sind weder eine unabhängige geschichtsmächtige Kraft noch bloße Nebenwirkungen oder Epiphänomene eigenständiger Veränderungen in und von gesellschaftlichen Strukturen. Doch erst seit kurzem entwickeln sich allgemeine Theorien, die die wechselseitigen Kausaleinflüsse zwischen Ideen und gesellschaftlichen Verhältnissen aufarbeiten. Im Verlauf dieses Jahrhunderts haben sich in der Geschichtsschreibung zwei rivalisierende Ansätze entwickelt, die für den Aufstieg der modernen Wissenschaft Erklärungen anbieten. Der eine Ansatz beruft sich auf interne Faktoren: er analysiert die Entwicklung der modernen Wissenschaft »als kognitive Transformation in der Geschichte der endogenen Entwicklung geistiger Strukturen«, während der auf externe Faktoren fixierte Ansatz »die Gründe für diese Transformation in den technischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen der Gesellschaft« suchte.
»Der Streitpunkt zwischen den beiden Ansätzen besteht darin, daß der interne Ansatz nicht nur versucht, die Entwicklung der Wissenschaft logisch zu rekonstruieren, sondern sie auch historisch zu erklären. Er geht von einer eigenständigen Geschichte geistiger Strukturen aus; die Entwicklung der Erkenntnisformen ist eine eigenständige Variable der kulturellen Evolution. Auf der anderen Seite betrachtet der externe Ansatz die gesellschaftlichen Strukturen und die Umwelt der Wissenschaft nicht einfach als kontingente Randbedingungen oder als eine komplementäre Dimension der Entwicklung logischer Denkstrukturen, sondern hält sie als für diese konstitutiv.«[8]
Wir alle sind mit einem Bild von Wissenschaft aufgewachsen, das uns durch den internen Ansatz vermittelt wurde. Während die auf externe Faktoren bezogene Darstellung ebenfalls als - innerhalb des marxistischen Diskurses angesiedelte - Ursprungsgeschichte, als folkloristisches Denken und als Autobiographie untersucht werden kann, sind die entsprechenden Eigenschaften des internen Ansatzes im vorherrschenden Diskurs der Aufklärung zu Hause.
In den frühen sechziger Jahren herrschte in der Wissenschaftsgeschichte die Ansicht vor, daß die Legitimität geistesgeschichtlicher Ansätze im Vormarsch begriffen und von daher die Diskussion über externe vs. interne Faktoren beendet sei. Sie wurde jedoch durch die Veröffentlichung von Kuhns Structure of Scientific Revolutions im Jahre 1962 neu eröffnet. Seitdem hat sich eine dritte Richtung in der Sozialgeschichte der Wissenschaft an einer Integration der beiden Ansätze versucht, während die traditionelle Auseinandersetzung innerhalb der beiden älteren Paradigmen fortgeführt wird.[9] Die neueren Versuche einer Synthese wollen zeigen, auf welche Weise kognitive Transformationen zur Akzeptanz bestimmter technischer, ökonomischer und kultureller Veränderungen beigetragen haben, und auf welche Weise spezifische gesellschaftliche Veränderungen in der Geschichte zu kognitiven Veränderungen führen konnten. Sie haben auch die gegenwärtigen Praktiken der Wissenschaft beleuchtet, indem sie das Zusammenspiel kognitiver und kultureller Elemente im wissenschaftlichen Laborbetrieb untersuchten. Wir können die Notwendigkeit einer Synthese erkennen, wenn wir die den beiden früheren Ansätzen immanenten Paradoxien ins Auge fassen.
Das Paradox des internen Ansatzes
Der interne Ansatz ging davon aus, daß eine rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsentwicklung zugleich die gesamte relevante Geschichte der Wissenschaft repräsentieren würde. Genau diese Annahme trieb die Erben des Logischen Positivismus (die sich heute für gewöhnlich als »Empiristen« bezeichnen) dazu, immer perfektere wissenschaftstheoretische Begründungslogiken zu konstruieren. Restbestände dieser Versuche finden sich in der Philosophie auch heute noch. Der interne Ansatz widmete sich dem Versuch, eine rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsentwicklung hervorzubringen, die durch keinerlei empirisches Material aus der Wissenschaftsgeschichte falsifizierbar wäre. Denn was für einen Sinn hätte schließlich eine Begründungslogik, aus der man den Schluß ziehen könnte, daß die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft, wo nicht gar die Gründe für ihre Vorherrschaft, irrational und nicht logisch begründbar wären? Jedoch ist die Entwicklung der Wissenschaft ein gesellschaftliches Phänomen. Wenn die Erben des logischen Positivismus die Regeln der Sozialforschung festzulegen suchen, die für ihr eigenes Verständnis der Wissenschaft konstitutiv sein sollen, dann führt die Fixierung auf interne Faktoren sie zu einem eigenartigen Paradoxon. Der altehrwürdige Streit zwischen naturalistischen und intentionalistischen Ansätzen in der Sozialwissenschaft findet sie erklärtermaßen auf Seiten der Naturalisten.[10] Wie ihre intentionalistischen Gegner erkennen sie an, daß menschliches Handeln nicht nur durch die für materielle Systeme gültigen Gesetzmäßigkeiten, sondern auch durch intentionale Strukturen determiniert ist, das heißt, durch kulturell umfassende Systeme von Begriffen, Regeln, Bräuchen und Denkweisen wie auch durch individuelle Wahrnehmungs- Motivations- und Zielstrukturen, die in die kulturellen Systeme eingebettet sind. Von daher behaupten die Intentionalisten, daß die besondere Beschaffenheit sozialwissenschaftlicher Themenbereiche es erforderlich mache, von der für die Ursachenerklärung von Naturphänomenen verwendeten Begründungslogik abzuweichen. Die Sozialforschung kann für uns nur die Bedeutungen interpretieren, die bestimmte Gesetzmäßigkeiten für die »Eingeborenen« einer bestimmten Kultur besitzen, um zu zeigen, warum Handlungsweisen und Institutionen, die uns als unverständlich und irrational erscheinen, von den Eingeborenen durchaus für rational gehalten werden. Andererseits insistiert die naturalistische Position darauf, daß es für gesellschaftliche und natürliche Phänomene nur eine Erklärungslogik gibt, nämlich die, die in den Naturwissenschaften entwickelt worden ist.
Wie können die Vertreter des Naturalismus angesichts der Tatsache, daß die Wissenschaftsentwicklung ein gesellschaftliches Phänomen ist, für die Geschichte der Wissenschaft einen internen Interpretationsansatz verteidigen? Ein durchgängiger Naturalismus würde die in den technischen, ökonomischen, kulturellen und geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Bedingungen liegenden Ursachen für die wissenschaftliche Revolution in seinen Forschungsbereich einbeziehen. Er würde anerkennen müssen, daß diese »externen« Ursachen nicht mit den expliziten Gründen identisch sind, aus denen einzelne oder in Gruppen organisierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von bestimmten Hypothesen überzeugt waren (ganz zu schweigen von den Gründen, aus denen wir heute noch davon überzeugt sind). Wie die Naturalisten gerne hervorheben, müssen wir, um erklären zu können, warum Menschen bestimmte Überzeugungen vertreten, die Ursachen für diese Überzeugungen benennen können, die aber nicht im geistigen Leben der Menschen, sondern in ihrer Umwelt zu finden sind. Von daher sollte der interne Ansatz in der Wissenschaftsgeschichte und -theorie so verstanden werden, daß er einzig für die Erklärung der Wissenschaftsentwicklung eine intentionalistische Herangehensweise befürwortet, während alle anderen gesellschaftlichen Phänomene eine naturalistische Erklärung erforderlich machen.
Aus der Sichtweise der Auseinandersetzung in der Philosophie der Sozialwissenschaften können wir also den internen Ansatz als unvollständigen Naturalismus kennzeichnen. Strenger gesagt, schützt er (wie weiter oben ausgeführt) seine Position, indem er sich auf einen Ursprungsmythos beruft, der den Einfluß wissenschaftlicher Rationalität auf die Erklärung des Ursprungs der Wissenschaft selbst ausschließt. Die Wissenschaftsentwicklung - und nur sie - muß mittels der Geschichten begriffen werden, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und eine wissenschaftliche Kultur über sich selbst erzählen. Der Aufstieg der Wissenschaften wird erklärt, indem man die Verstehensweisen der am Wissenschaftsprozeß unmittelbar Beteiligten interpretiert. Dieses Selbst-Verständnis der Wissenschaft ist inkohärent. Wenn die Wissenschaft das »Maß aller Dinge« sein soll, ist es begrifflich unmöglich, sie zu ihrem eigenen Maßstab zu machen. Für den internen Ansatz scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, als die Wissenschaft und ihre Behauptungen nach Maßstäben zu beurteilen, die sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben. Doch haben unterschiedliche Kulturen denkbar verschiedene Maßstäbe, um die Angemessenheit von Denk- und Handlungsformen zu beurteilen, und in den wenigsten Kulturen sind diese Maßstäbe wissenschaftlicher Art. Welche Gründe hätten wir denn, westliche Gesellschaften für fortschrittlicher als andere zu halten, wenn wir uns nicht auf Maßstäbe wissenschaftlicher Rationalität beriefen? Für den internen Ansatz bemißt sich die Fortschrittlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse nach der wissenschaftlichen Rationalität, die sie verkörpern; wird dies Modell aufgegeben, so droht der absolute Relativismus: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« Je erfolgreicher das gesellschaftliche Leben nach Kriterien wissenschaftlicher Rationalität sich organisiert, desto eindeutiger der Fortschritt der modernen Gesellschaft. So jedenfalls lautet das Credo des internen Ansatzes. Wir können das Problem, auf das er eine Antwort bildet, verstehen, doch die Beschränkung der Wissenschaftsgeschichte auf die Geschichte eines eigenständigen kognitiven Ansatzes bringt das Problem nicht zum Verschwinden.
Das Paradox des externen Ansatzes
Der externe Ansatz in der Wissenschaftsgeschichte wurde in erster Linie von Marxisten entwickelt. Boris Hessen, Edgar Zilsel und J.D. Bernal verstanden den wissenschaftlichen Fortschritt als Reaktion auf Verschiebungen in der ökonomischen Basis der Gesellschaft, d.h. in den Produktivkräften und in den sie beherrschenden Produktionsverhältnissen. 11 Konsequent weitergedacht unterstellt diese Politische Ökonomie der Wissenschaft, daß das menschliche Bewußtsein samt und sonders ein Produkt von Umwelteinflüssen ist, wie sie die ökonomischen, technologischen und politischen Verhältnisse einer Kultur darstellen, durch welche die Ideen »determiniert« sind. Dergestalt sind die wissenschaftlichen Denkweisen einer bestimmten Epoche, ja wissenschaftliche Rationalität und Logik selbst, nichts weiter als kulturelle Ausdrucksformen anderer sozialer Strukturen einer bestimmten Gesellschaft. Gesetzt, dies wäre der Fall, so bestünde die Furcht vor dem Relativismus zu Recht, denn wir besäßen keine transhistorischen Gründe mehr für die Annahme, daß das Universum nicht auf dem Rücken einer Schildkröte ruht, oder daß die Erde tatsächlich um die Sonne kreist, oder daß Newtons Gesetze die Natur adäquater beschreiben als aristotelische Anschauungen. Und wie könnte man darüber hinaus den externen Ansatz und seine Behauptungen selbst auf nichtrelativistische Weise begründen? Wenn es keinen Grund dafür gibt, die Angemessenheit von Denkweisen außerhalb ihres Zusammenhangs mit kulturellen Regelungen (die man gutheißen kann oder auch nicht) zu beurteilen, warum sollte man, wenn man der marxistischen Vision vom gesellschaftlichen Fortschritt nicht anhängt, die Darstellungen des externen Ansatzes plausibel finden?
Die Vertreter des externen Ansatzes führen angesichts dieser Bedrohung durch den Relativismus zwei verschiedene Argumente ins Feld, um ihre Entwürfe einer Nachfolgewissenschaft zu legitimieren.
Einerseits stimmen sie mit dem internen Ansatz darin überein, daß die kognitiven Strukturen reiner Wissenschaft transzendental und wertfrei sind; erst mit der Einbindung von Wissenschaft in einen bürgerlich beherrschten Staat wird für sie die Geschichte der wissenschaftlichen Behauptungen, Zwecke und Verwendungsweisen durch kulturelle Zielsetzungen verzerrt. Von daher kann der Kern der reinen Wissenschaft aus seiner bürgerlichen Schale herausgelöst und in Tätigkeiten und Institutionen überführt werden, die in dem Sinne transzendental sind, daß sie die Bedürfnisse und Interessen aller Menschen in der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft repräsentieren, nicht aber den partikularistischen Bedürfnissen der kapitalistischen Bourgeoisie dienlich sind. Dies Argument beschert uns ein Problem, das bereits mit dem internen Ansatz vermacht war: von allen menschlichen Hervorbringungen kann die reine Wissenschaft allein durch das Bewußtsein ihrer Schöpfer begriffen werden und nicht durch die naturalistischen Erklärungsweisen, welche diese reine Wissenschaft ihrerseits anempfiehlt.
Andererseits werden die kognitiven Strukturen der Wissenschaft als historische Entwicklungsformen legitimiert, die zur potentiellen Fortschrittlichkeit der sie ermöglichenden Technologien die Begleitmusik bilden. Dies Argument folgt aus der spezifisch marxistischen Behauptung, daß die Entstehung des Kapitalismus ursprünglich mit einer fortschrittlichen Organisation gesellschaftlicher Beziehungen einherging. Die Akkumulation von Kapital ermöglichte die Entwicklung von Technologien, mittels derer die für die Produktion von Nahrung, Kleidung, Behausung und anderer fundamentaler Bedürfnisse notwendige gesellschaftliche Arbeit ihrem Umfang nach reduziert und erleichtert werden konnte. Und die kognitiven Strukturen der Wissenschaft spiegeln die mit diesen Technologien entstandenen neuen gesellschaftlichen Verhältnisse wider. 12 Doch der Kapitalismus ist eine höchst unvollkommene Form der Vergesellschaftung von Arbeit: an der Herstellung von Produkten sind viele Hände beteiligt; doch bleiben Besitz und Kontrolle von Waren und Produktionsmitteln auf anachronistische Weise in privater Hand. Diese Argumentation zeigt uns einige der sozialen Ursachen für die kognitiven Strukturen der Wissenschaft, läßt uns aber darüber rätseln, ob ökonomische Rationalität und ökonomischer Fortschritt tatsächlich mit Rationalität und Fortschritt identisch sind. In welchem Ausmaß enthält auch diese Geschichte verzerrende Elemente von Ursprungsmythen, folkloristischem Denken und autobiographischen Darstellungen, die dem marxistischen Diskurs zu eigen sind? Gibt es nicht in diesen angeblich naturalistischen Darstellungen auch intentionalistische Elemente?
Auf diese Weise scheint die »interne Logik« beider Ansätze mit Fehlern behaftet. Keine Denkweise, auch nicht die wissenschaftliche und ihr kognitiver Kern, ist gegen kulturelle Einflüsse gefeit. Doch um die Entwicklung der wissenschaftlichen Weltanschauung zu erklären, genügt es ebenfalls nicht, lediglich die ökonomische, technologische und politische Geschichte der Klassenverhältnisse des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts zu begreifen. Wir wollen verstehen, wie diese und andere gesellschaftlichen Strukturen (von denen die auf externe Faktoren fixierte Geschichtsschreibung nicht einmal träumt) das menschliche Bewußtsein formen, doch wir wollen auch mit dem internen Ansatz weiterhin davon ausgehen, daß nicht alle Denkweisen gleichermaßen gut - d.h. wahr, rational, erstrebenswert - sind, unabhängig davon, was wir über die Gesellschaften denken, in denen sie entstanden sind. Die traditionelle Geschichte, die über die Entwicklung der modernen Wissenschaft erzählt wird, übt in unserer Kultur, deren gesellschaftliche Beziehungen zunehmend von wissenschaftlicher Rationalität durchdrungen werden, auf die Einbildungskraft und das Selbstbild der Intellektuellen wie auch der Allgemeinheit einen tiefen moralischen Einfluß aus. Will man die Wissenschaft historisieren, so muß man den Text betrachten und zugleich zwischen den Zeilen lesen: wir müssen die Beziehung zwischen dieser Geschichte und der tatsächlichen Geschichte (history) der Wissenschaft untersuchen. Das ist jedoch keine einfache Aufgabe, denn die beiden uns zur Verfügung stehenden Ansätze sind mit Fehlern behaftet.
Der interne Ansatz in der Wissenschaftsgeschichte ist außerstande, den nun offensichtlich scheinenden Einfluß der ökonomischen, technologischen und politischen Entwicklungen auf die Herausbildung wissenschaftlicher Begriffe und Institutionen zu erklären. Zudem läßt er keinen erkenntnistheoretischen Raum, um den Auswirkungen von stabilen und sich wandelnden Geschlechterverhältnissen auf wissenschaftliche Ideen und Praxisformen nachzugehen. Schließlich bleibt der Legitimationsgrund für den internen Ansatz im Dunkeln, denn seine Prämissen liegen im Widerstreit mit seiner ausdrücklichen Weisung, nach Ursachen zu forschen, die außerhalb des Bewußtseins liegen.
Der externe Ansatz wird überall durch den Relativismus bedroht. Warum sollten Veränderungen in ökonomischen, technologischen und politischen Strukturen die neuen Ideen, welche diese Strukturen widerspiegeln, zu besseren Ideen machen? Warum sollten wir nicht den externen Ansatz selbst als einfaches Epiphänomen gesellschaftlicher
Verhältnisse des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ansehen, der im Zuge der geschichtlichen Ereignisse anderen Ansätzen Platz zu machen hat? Und auch er läßt, wie sein feindlicher Bruder, keinen ontologischen oder erkenntnistheoretischen Raum für die Auswirkungen von Geschlechterverhältnissen auf Ideen und Praxisformen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß der durch die ökonomischen, technologischen und politischen Aspekte des Kapitalismus bewirkte »Fortschritt« nicht nur für die Opfer bürgerlicher und imperialistischer Zielsetzungen, sondern auch für die Frauen ein Rückschritt war.
Die mit den internen und externen Ansätzen vermachten Fehler sind also nicht zu bereinigen. Wie aber verhält es sich mit den neuen sozial-wissenschaftlichen Ansätzen zur Wissenschaftsgeschichte? Vermehren sie das Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnisse hinsichtlich vergeschlechtlichter Identitäten und Verhaltensformen, hinsichtlich institutionalisierter Geschlechterverhältnisse und hinsichtlich des Geschlechtersymbolismus?