Geschlecht und Wissenschaft: Zwei problematische Begriffe

Wenn feministische Kritikerinnen versuchen, eine Theorie zu konstruieren, in der das soziale Geschlecht als analytische Kategorie für die Naturwissenschaften Verwendung finden kann, stehen sie vor schwer überwindbaren Hindernissen. Der Grund dafür liegt nicht nur in ebenso vertrauten wie unangemessenen Vorstellungen darüber, was unter »Geschlecht« zu verstehen sei, sondern auch in bestimmten dogmatischen Auffassungen von Wissenschaft, mit denen selbst Feministinnen oftmals nicht kritisch genug verfahren.

Schwierigkeiten bei der Theoretisierung des Geschlechts

Die Notwendigkeit, den Begriff des sozialen Geschlechts theoretisch zu bearbeiten, ergab sich in Fächern wie der Anthropologie, der Geschichte und der Literaturwissenschaft erst, nachdem man die Schranken dreier anderer Projekte erkannt hatte. Das Projekt »Große Frauen« befaßte sich damit, den jeweiligen fachspezifischen Kanon mit den Stimmen bedeutender Frauen der Geschichte, Kunst, Literatur usw. anzureichern. Ihre Leistungen wurden aus einer nicht-sexistischen Perspektive neu bewertet. Ein weiteres Projekt könnte den Titel »Der Beitrag der Frauen zur Kulturentwicklung« tragen. Hier ging es um die Beteiligung von Frauen an Aktivitäten, die fachspezifisch bereits aufgearbeitet, als Themenbereiche insgesamt aber eher unterentwickelt und falsch beleuchtet geblieben waren: Kämpfe gegen Sklaverei und Alkoholmißbrauch, »Sammler«-Aktivitäten in den sogenannten Jägerkulturen, die Arbeit bedeutender literarischer Zirkel sind einige Beispiele für dieses Betätigungsfeld. Das Ziel bestand darin, ein weniger verzerrtes Bild des gesellschaftlichen Lebens zu zeichnen, und daraus ergab sich logischerweise die Forderung einer grundlegenden Revision bereits anerkannter Themenbereiche. Schließlich gab es noch das Projekt »Frauen als Opfer« (die »Viktimologie«), dessen Untersuchungen sich der verdrängten oder frauenfeindlich interpretierten Geschichte und gegenwärtigen Praxis von Vergewaltigung, sexuellem Mißbrauch, Prostitution, Inzest, Diskriminierung am Arbeitsplatz, Ausbeutung usw. annahmen. Nur indem sie auf diesen Gebieten gründliche Arbeit leisteten, erkannten feministische Wissenschaftlerinnen, daß diese Herangehensweisen letztlich unangemessen waren. Die Situation von Frauen, die es geschafft hatten, anerkannte Künstlerinnen zu werden oder eine bedeutsame Rolle in der Geschichte zu spielen, war per definitionem, verglichen mit der Lage der Frauen im allgemeinen, privilegiert. Ihr Leben bietet uns wenig Aufschluß über den Alltag der überwiegenden Mehrheit der Frauen, wie auch das Leben großer Männer kaum etwas über die Lebensumstände des »gemeinen Mannes<~ enthüllt. Des weiteren bewegte sich der Beitrag der Frauen zur traditionellen Geschichte und Kultur innerhalb der Grenzen dessen, was Männer aus ihrer Lebensperspektive heraus als Geschichte und Kultur definiert haben. Solche Analysen verschleiern eher, was die weibliche Aktivität in diesen männlich dominierten Feldern für Frauen wirklich bedeutete, und ebenso bleibt unklar, auf welche Weise das männliche Weltverständnis durch die tägliche Arbeit der Frauen geformt worden ist. [1] Und schließlich lassen die viktimologischen Studien den vielfältigen Kampf der Frauen gegen Misogynie und Ausbeutung oftmals unberücksichtigt. Frauen haben, wenn auch nicht unter selbstgeschaffenen Bedingungen, auf aktive Weise ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen, und wir müssen die Formen und Inhalte ihrer Kämpfe verstehen lernen. Diese drei Projekte haben wertvolle Einsichten in Bereiche geliefert, die von der traditionellen Forschung übergangen werden. Doch waren ihre Beschränkungen so offenkundig, daß Feministinnen die Notwendigkeit erkannten, »Geschlecht« als theoretische Kategorie und analytisches Werkzeug zu formulieren, mittels dessen Männern und Frauen in der geschlechtsspezifischen Teilung der gesellschaftlichen Erfahrung unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich ihrer selbst, ihrer Handlungen und Überzeugungen und ihrer Umwelt zugeschrieben werden können. In den Naturwissenschaften waren diese Projekte von eher geringem Nutzen. Von keiner anderen gesellschaftlichen Tätigkeit - den Fronteinsatz im Krieg vielleicht ausgenommen sind Frauen systematischer ausgeschlossen worden als von naturwissenschaftlicher Forschung. Die unvermeidlichen Hinweise auf Marie Curie und (in jüngster Zeit) Barbara McClintock einmal beiseite gesetzt, ist es wenigen Frauen gelungen, zu ihren Lebzeiten als Wissenschaftlerinnen Bedeutung zu erlangen. Eine Vielzahl historischer, soziologischer und psychologischer Studien bietet Erklärungen dafür an, doch die Tatsache bleibt, daß es nur wenigen »großen Frauen« vergönnt war, die Ruhmesblätter der Wissenschaft mit ihrer Handschrift zu versehen. Studien über den von Frauen geleisteten Beitrag zur Wissenschaft haben sich als fruchtbarer erwiesen, unterliegen insgesamt jedoch den gleichen Einschränkungen.[2] Der in allen fünf wissenschaftskritischen Projekten berücksichtigte Gesichtspunkt des Opferstatus von Frauen war vor allem deshalb wertvoll, weil er den Mythos zerstörte, daß die Wissenschaft, die wir gehabt haben, tatsächlich mit jener identisch sei, von der es zu Beginn des modernen Zeitalters heißen konnte, sie sei eine »Wissenschaft für das Volk« (Galilei). Die Tatsache, daß diese in den Human- und Sozialwissenschaften so nützlichen Ansätze in den Naturwissenschaften nur begrenzte Verwendungsmöglichkeiten gefunden haben, mußte den Wissenschaftskritikerinnen die Einsicht in die Notwendigkeit der angemesseneren Theoretisierung des sozialen Geschlechts als einer analytischen Kategorie versperren. Allerdings gibt es eine wichtige Ausnahme- In der Biologie haben kritische Ansätze zu weiter entwickelten und genaueren Einsichten in die Seins- und Verhaltensweisen von Frauen geführt (vgl. dazu Kapitel 5). Hier entsprang das Bedürfnis, den Geschlechtsbegriff als analytische Kategorie theoretisch zu entwickeln, zum einen aus der Beobachtung, daß Männer über Reproduktion und Reproduktionstechnologien signifikant anders denken als Frauen, zum zweiten aus der Frage, ob nicht die biologische Differenz als solche für Männer ein Gegenstand größeren Interesses ist als für Frauen, zum dritten aus der Hypothese, die Ausrichtung der wissenschaftlichen Methode auf (biologische) Differenzen liege im Androzentrismus, der solchen Problemstellungen innewohne, und zum vierten aus der Behauptung, die biologisch, anthropologisch und psychologisch orientierte Beschäftigung mit interaktiven Beziehungen zwischen Organismen, und zwischen Organismen und ihrer Umwelt könnte eine spezifisch weibliche Art und Weise der begrifflichen Erfassung sehr abstrakter Beziehungen widerspiegeln.[3]
Aber die Biologie ist innerhalb der feministischen Wissenschaftskritik nur ein Bezugspunkt unter anderen. Im allgemeinen herrscht bei vielen feministischen Kritikerinnen der Naturwissenschaft immer noch Unklarheit darüber, in welchen Bereichen die Entwicklung des sozialen Geschlechts als einer analytischen Kategorie notwendig wäre und welche Richtung eine solche Theoretisierung einschlagen müßte, während die meisten nichtfeministischen Wissenschaftler einschließlich der Historiker, Soziologen und Wissenschaftstheoretiker einem derartigen Ansinnen mit totalem Unverständnis begegnen. Immerhin können zumindest einige Kritikerinnen ihren sozial- und literaturwissenschaftlichen Hintergrund nutzen, um zu einem durch Kategorien des sozialen Geschlechts bestimmten Verständnis der Naturwissenschaft zu gelangen. Die Methoden der Psychoanalyse, der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Anthropologie, der Literaturwissenschaft und der politischen Theorie haben wertvolle Einsichten zu Tage gefördert; doch die naturwissenschaftliche Ausbildung (eingeschlossen die wissenschaftsphilosophische) steht diesen auf die sozialen Verhältnisse zielenden Erkenntnismethoden völlig ablehnend gegenüber, und die Geschlechtertheorie zielt auf die sozialen Verhältnisse. Es ist bezeichnend, daß weder Naturwissenschaftler noch Wissenschaftstheoretiker dazu angehalten werden, sich mit Psychoanalyse, Literaturwissenschaft oder jenen kritischen Interpretationsansätzen zu beschäftigen, die in Geschichtswissenschaft und Anthropologie den Status von Erkenntnismethoden besitzen. Kein Wunder, daß es schwierig für uns war, die Auswirkungen der symbolischen, strukturellen und individuellen Bedeutungen des sozialen Geschlechts auf die Naturwissenschaften theoretisch zu verarbeiten. In den Sozialwissenschaften gelang die Einführung des sozialen Geschlechts als theoretische Kategorie am leichtesten in jenen Forschungsbereichen, die von einer starken kritischen Tradition interpretativer Methoden geprägt sind. (»Kritisch« nenne ich sie, um die Theorie menschlichen Denkens und Handelns von jenen eher unreflektierten Interpretationen und Rationalisierungen abzugrenzen, die wir alle in der alltäglichen Erklärung unserer Handlungen und Vorstellungen uns selbst und anderen gegenüber verwenden.) Diese Traditionen gehen von der Hypothese aus, daß Menschen manchmal irrational denken und handeln, und dadurch ihre bewußten Ziele und/oder unbewußten Interessen unterlaufen. Die Ursachen dafür liegen in den widersprüchlichen gesellschaftlichen Bedingungen, in den Pattsituationen, innerhalb derer Menschen Handlungen ausführen und Überzeugungen sich aneignen müssen. Marx und Freud - um nur zwei Beispiele zu nennen - haben sich um die theoretische Aufhellung der gesellschaftlichen Bedingungen bemüht, die zu irrationalen Denk- und Handlungsmustern führen. Ihre methodologischen Vorschläge haben sich auf viele Bereiche der sozialwissenschaftlichen Forschung im Sinne kritisch-interpretativer Ansätze ausgewirkt. Es spielt dabei keine Rolle, ob die daraus entstandenen Richtungen und Schulen sich selbst als marxistisch oder freudianisch verstehen oder sich mit den Gesellschaftsphänomenen auseinandersetzen, die für Marx und Freud von Interesse gewesen sind. Diese Forschungsrichtungen halten es für legitim - und oftmals gar für unerläßlich - die gesellschaftlichen Ursprünge von Begriffssystemen und Verhaltensmustern zu reflektieren und diese Reflexion auf den Forscher selbst auszuweiten, mithin zu fragen, durch welche vorgegebenen Muster seine eigenen Annahmen und Aktivitäten geprägt sind. Hier gibt es nicht nur den begrifflichen Raum, sondern gewissermaßen auch die moralische Erlaubnis, die vergeschlechtlichten Aspekte von Begriffssystemen und die Umstände, unter denen Denkweisen sich bilden, zu reflektieren. Im Gegensatz dazu haben sich sozialwissenschaftliche Forschungsprogramme, die von Restbeständen einer empiristisch-positivistischen Wissenschaftstheorie beherrscht waren, gegen eine Übernahme des sozialen Geschlechts als theoretischer Kategorie gesperrt.[4] Sie waren bestenfalls dazu bereit, den Geschlechtsbegriff als eine weitere Variable zu akzeptieren, die innerhalb ihres Themenbereiches analysiert werden konnte. Doch galt sie in diesem Falle lediglich als eine Individuen und ihrem Verhalten zukommende Eigenschaft, die mit Gesellschaftsstrukturen und Begriffssystemen nichts zu tun hatte. Der Ursprung dieser durch und durch empiristischen und positivistischen Philosophie liegt in den physikalischen Wissenschaften. Ihre nicht auf Gesellschaft bezogene Thematik und der paradigmatische Status ihrer methodischen Verfahrensweisen schienen die kritische Reflexion über den Einfluß gesellschaftlicher Determinanten auf ihre Begriffsbildung von vornherein auszuschließen, und die vorherrschende Lehrmeinung geht ohne Zweifel davon aus, daß die Stärke der modernen Wissenschaft in einer solchen Ausschließung liegt. Die moderne Physik und Chemie, so heißt es, hätten jene anthropomorphisierenden Charakterzüge beseitigt, von denen nicht nur die mittelalterliche Wissenschaft, sondern auch die Denkweisen der Kinder und der »primitiven« Kulturen geprägt seien - von den Sozial- und Humanwissenschaften ganz zu schweigen. Und weil die gesellschaftliche Fortschrittlichkeit, der »Positivismus« der modernen Wissenschaft ganz und gar auf ihrer Methode beruht, gibt es natürlich gar keine Notwendigkeit, in der Physik, der Chemie oder der Biologie kritische Theoretiker und Theoretikerinnen auszubilden. Folglich ermuntern weder Ausbildung noch Wissenschaftsethos zur Entwicklung oder Aneignung jener kritischen Fähigkeiten und Interpretationsmethoden, die sich in den Sozialwissenschaften als so fruchtbar erwiesen haben. Jedoch sind Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -theorie selbst keine Naturwissenschaften. Ihre Themenbereiche liegen in den gesellschaftlichen Denk- und Praxisformen, die sich in der Wissenschaftstheorie auf Ideen und Vorstellungen beziehen, während sie in Wissenschaftssoziologie und -geschichte materieller Provenienz sind. Aber ob es nun um Ideen oder Wirklichkeiten geht - die gesellschaftlichen Denk- und Praxisformen sind der Gegenstand dieser Fächer. Hier, so könnte man denken, wären die kritisch-interpretativen Theorien und Fähigkeiten gefragt, um zu begreifen, auf welche Weise die Gesetzmäßigkeiten der Natur und die ihnen zugrundeliegenden Kausalitäten wissenschaftlich erklärt werden können und sollten. Die Wissenssoziologie vertritt diesen Ansatz, doch war sie stets so mit dem beschäftigt, was wir die »Soziologie des Irrtums« und die »Soziologie der Wissenden« nennen können, daß sie ihren Anspruch, eine Soziologie des Wissens zu sein, darüber vergaß.[5] Abgesehen davon ist auch diese Richtung immer eine Bastion des Androzentrismus gewesen. Gleichviel muß ihr Einfluß auf die Reflexion über Naturwissenschaft in der Wissenschaftstheorie oder den Naturwissenschaften selbst erst noch erfahrbar gemacht werden. Die Wissenssoziologie hat gerade erst damit begonnen, sich Wege in die traditionelle Soziologie und Geschichte der Wissenschaft zu bahnen. Philosophie, Soziologie und Geschichte der Naturwissenschaften sind von empiristischen Philosophieströmungen beherrscht worden, die allen Theorien über die gesellschaftliche Herausbildung von Denksystemen ablehnend gegenüberstanden. Doch nur solche Theorien könnten den Geschlechtsbegriff als Bestandteil wissenschaftlicher Denkschemata, als Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit von Wissenschaft oder als Aspekt der individuellen Identität von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen herausarbeiten. Aus diesen Gründen steht die feministische Kritik der Naturwissenschaften bei ihrem Versuch, das soziale Geschlecht als theoretische Kategorie einzuführen, vor noch größeren fachspezifischen Hindernissen als in Sozialwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunst. Woher rühren diese Schwierigkeiten? Offensichtlich haben die Anhänger der Naturwissenschaft recht ungewöhnliche Vorstellungen von der Art und Weise, Geschichte und Praxisformen der Wissenschaft angemessen zu begreifen. Es wird nämlich behauptet, diese Art gesellschaftlicher Aktivität müsse ausnahmsweise und ausnahmslos im Hinblick auf das Selbst-Verständnis interpretiert werden, das die wissenschaftlich Tätigen von ihrer eigenen Praxis haben - und das heißt nichts anderes, als die naive und unkritische Selbstinterpretation wissenschaftlichen Denkens und Handelns zum Maßstab zu machen. Anders ausgedrückt: Wissenschaftler berichten von ihren Aktivitäten, und Wissenschaftshistoriker und -theoretiker interpretieren diese Berichterstattung, so daß wir das Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnis »rational« erfassen können. Diese Rationalität unterscheidet sich aber in moralischer, politischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht von derjenigen, die Wissenschaftler benutzen, um ihre Vorhaben Sponsoren oder Wissenschaftskritikern gegenüber plausibel zu machen. In den Gesellschaftswissenschaften ist dieser Ansatz vertraut, der in seiner hermeneutischen und intentionalistischen Orientierung die kritische Untersuchung jener kausal-historischen Einflüsse auf das Wissenschaftswachstum vermeidet, die außerhalb des intellektuellen, moralischen und politischen Bewußtseins der Wissenschaftsadepten zu finden sind.[6] Thomas Kuhns alternative Geschichtsschreibung hat eine ganze Industrie von gesellschaftlich orientierten Studien zur Wissenschaftsgeschichte ins Leben gerufen, anhand derer das mystifikatorische Element solcher »rationalen Rekonstruktionen« deutlich wird.[7] Aber die traditionelle Wissenschaft verharrt gegenüber dieser kritischen Ursachenforschung ebenso in ihrer Kampfposition wie die große Anhängerschaft des traditionellen Wissenschaftsbildes. Aus dieser Perspektive mag der von mir vorgeschlagene Ansatz als ein Naturalismus verstanden werden, der in seiner Gründlichkeit selbst für Anhänger der Wissenschaft schwerlich akzeptabel erscheinen dürfte: Ich habe mir vorgenommen, jene kausalen Tendenzen im sozialen Leben aufzuweisen, die in allen Aspekten des Unternehmens »Wissenschaft« Spuren geschlechterorientierter Projekte hinterlassen.
Ist es ironisch zu verstehen, daß die uns als Paradigma kritisch-rationalen Denkens präsentierte Naturwissenschaft gerade jene Reflexion über ihr eigenes Wesen und ihre eigenen Unternehmungen im Keim zu ersticken sucht, deren Anwendung auf andere gesellschaftliche Praxen sie beharrlich einfordert? Dies mag verneint werden, wenn wir das, was die Wissenschaft über sich selbst erzählt, als eine Art Ursprungsmythos verstehen. Das Selbstportrait der Wissenschaft ist eine mythische Erzählung darüber, welche Art von Leuten »zu uns« gehört und welches Schicksal Natur und wissenschaftliche Rationalität für uns bereithalten. Aus der Anthropologie wissen wir, daß Ursprungsmythen häufig genau gegen die Kategorien verstoßen, die sie hervorbringen. So schreiben etwa andere Kulturen ihre Entstehung dem Inzest, der Sodomie, dem Kannibalismus oder der sexuellen Vereinigung von Göttern und Sterblichen zu, d.h. Handlungen, die in diesen Kulturen selbst natürlich dem Verbot unterliegen. Der Ursprungsmythos unserer wissenschaftlichen Kultur erzählt uns, daß wir (zumindest teilweise) durch jene kritische Reflexion über das Verhältnis von mittelalterlicher Forschung und Gesellschaft entstanden sind, die in unserer wissenschaftlichen Kultur dem Denktabu verfällt. Das aber ist eine magische, wenn nicht gar religiöse oder mystische Vorstellung von der idealen Suche nach Erkenntnis, die die Selbstanwendung der von ihr vorgeschriebenen kategorialen Bestimmungen und Verfahrensweisen ausschließt. Sie empfiehlt uns, alles durch die kausale Analyse und die kritische Betrachtung tradierter Überzeugungen zu begreifen - alles außer der Wissenschaft selbst.

Die Dogmen des Empirismus

Für die feministische Wissenschaftskritik sind empiristische Konzeptionen der Wissenschaft ein ernsthaftes Hindernis, vor allem dann, wenn die Wissenschaft selbst empiristisch orientiert ist. Ich denke, wir sollten diese mystifizierenden Annahmen als Reflexionen und Ergänzungen der - Philosophen wohlbekannten - »Dogmen des Empirismus« betrachten. In den fünfziger Jahren benannte der Wissenschaftstheoretiker Willard Van Orman Quine zwei Dogmen des Empirismus, von denen er meinte, daß sie aufgegeben werden sollten. »Der moderne Empirismus ist zum großen Teil durch zwei Dogmen bedingt worden. Das eine besteht in der Annahme einer unüberbrückbaren Kluft zwischen analytischen Wahrheiten, die auf tatsachenunabhängigen Bedeutungen beruhen und synthetischen Wahrheiten, die auf Tatsachen beruhen. Das andere Dogma ist der Reduktionismus, d.h. die Annahme, jede sinnvolle Aussage sei einem logischen Konstrukt äquivalent, das auf Themen beruht, die sich auf unmittelbare Erfahrung beziehen.«[8] Quines Argument war, daß beide Dogmen schlecht begründet seien und daß mit ihrem Fall auch die vermeintlich gesicherte Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und spekulativer Metaphysik relativiert würde. Zudem würden wir erkennen, daß für die Beurteilung der Angemessenheit wissenschaftlicher Behauptungen pragmatische Maßstäbe am geeignetsten seien. Seither haben Wissenschaftshistoriker und -soziologen wie auch Philosophen Quines Verwerfung dieser Dogmen unterstützt. Untersuchungen zur gesellschaftlichen Konstruktion dessen, was für uns innerhalb und außerhalb der Wissenschaftsgeschichte - als »wirklich« gilt, lassen den Glauben an wertfreie Beschreibungen unmittelbarer Erfahrung, auf die unsere Erkenntnisbehauptungen »reduzierbar« oder denen sie zumindest äquivalent wären, als höchst unplausibel erscheinen. Darüber hinaus besteht heutzutage weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich Quines erster Behauptung, daß wir, wenn der epistemologische Einschnitt sich vollzieht, niemals sicher sein können, ob wir dem Druck unserer Sprache oder dem unserer Erfahrung nachgeben. Tatsachen können von ihren Bedeutungen nicht abgelöst werden und infolgedessen gibt es der Art nach letztlich keinen Unterschied zwischen der Prüfung der logischen und der empirischen Angemessenheit einer Behauptung oder eines Arguments. In beiden Fällen können wir nur auf die (gesellschaftliche) Erfahrung zurückgreifen, die in (kulturell geformter) Sprache ihren Ausdruck findet. (Mit den durch Sprache und Erfahrung vermittelten gesellschaftlichen Veränderungen hat sich Quine nicht befaßt.) Quine empfahl, die traditionellen philosophischen Fragestellungen durch pragmatische und behavioristische zu ersetzen, damit an die Stelle der (in seinen Augen) überholten Philosophie eine (in seinen Augen) wissenschaftliche Problematik treten könne. Wir können die pragmatischen Tendenzen seines Denkens akzeptieren, ohne seinem Behaviorismus zustimmen zu müssen. Seinen Plan, die Philosophie durch das zu ersetzen, was vielen Theoretikern als eine immer noch viel zu reduktionistische und empiristische Sozialwissenschaft erscheint, brauchen wir nicht zu übernehmen. Die philosophischen Fragestellungen, mit denen Quine sich auseinandersetzte, dienten in ihrer zeitgenössischen Form dazu, die Entstehung der modernen Wissenschaft zu erklären;[9] Philosophen und Wissenschaftler erwiesen den von Quine angegriffenen Dogmen erklärtermaßen ihre Reverenz. Doch wird am Widerstand der Naturwissenschaften gegen feministische Kritik wie auch an den theoretischen und politischen Widersprüchen innerhalb dieser Kritik selbst eines deutlich: die empiristischen Dogmen (von denen es im übrigen mehr als nur zwei gibt) bestimmen weiterhin das Bild, das sich die Gelehrten wie auch die Allgemeinheit von der Wissenschaft machen. An dieser Stelle möchte ich im Zusammenhang mit den von Quine kritisierten Annahmen eine Reihe von Reflexionen und Ergänzungen diskutieren, die unserer Fähigkeit, auch die Wissenschaft als eine ganz und gar gesellschaftliche Praxisform zu verstehen, begriffliche Hindernisse in den Weg legen. Ich denke, daß diese Art von überzogenem Empirismus immer noch die meisten feministischen Ansätze zur Wissenschaftskritik heimsucht und einer angemessenen Theoretisierung des sozialen Geschlechts im Wege steht. Darüber hinaus ist es der Glaube an diese Dogmen, der Wissenschaftler und traditionell ausgerichtete Wissenschaftstheoretiker und -historiker dazu veranlaßt, selbst die Idee einer feministischen Wissenschaftskritik abzulehnen.
Auf eines dieser Dogmen habe ich bereits hingewiesen: es ist der Glaube, die Wissenschaft sei ein fundamental einzigartiger Typ gesellschaftlicher Tätigkeit. Ähnlich wie andere Ursprungsmythen behauptet auch die Ideologie der Wissenschaft, daß diese selbst gegen die von ihr hervorgebrachten Kategorien verstoße. Der Versuch, so hören wir, das Wesen und die Struktur der wissenschaftlichen Tätigkeit auf eben die Weise zu ergründen, welche die Wissenschaft für alle anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten empfiehlt, würde für den menschlichen Verstand nicht förderlich, sondern ihm eher abträglich sein. Dieser Glaube macht die Wissenschaft zum Heiligtum und die Wissenschaftler möglicherweise zu Übermenschen. Zumindest würden sie selbst und die Anhänger der Wissenschaft es gerne so sehen. Dieser Glaube beschränkt die menschliche Vernunft, und zwar aus Gründen, die religiös oder mystisch zu nennen man nicht zögern sollte.
Anhand der folgenden Hypothesen (die sich noch nicht einmal auf den Geschlechtsbegriff beziehen) können wir verdeutlichen, daß das Problem nicht in den Behauptungen der feministischen Kritik, sondern in unangemessenen Auffassungen von wissenschaftlicher Rationalität liegt.

  • A . Der Beitrag der Physik zur sozialen Gerechtigkeit ist vorhersehbarerweise relativ unerheblich, denn auf diesem Gebiet sind die Hindernisse politisch-moralischer Provenienz und nicht der Unkenntnis der Naturgesetze geschuldet.
  • B. »Mehr Wissenschaft« führt in einer aus Schichten bestehenden Gesellschaft eher dazu, die Schichtenbildung zu intensivieren.
  • C. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mögen als Individuen von erhabensten persönlichen Zielen und gesellschaftlichen Idealen sich leiten lassen, aber ihre Tätigkeit als solche hat in erster Linie die Funktion, den Profit der Herrschenden zu vermehren und die gesellschaftliche Kontrolle über die Beherrschten aufrechtzuerhalten.

Diese Behauptungen mögen wahr oder falsch sein; ich denke, daß eher das erstere der Fall ist. Ob sie mit den Tatsachen in der Welt übereinstimmen oder nicht, müssen empirische Untersuchungen erweisen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft jedoch hält sie schlichtweg für blasphemisch. In ihren Augen sind es keine kühnen Hypothesen, die hinsichtlich ihrer möglichen Widerlegbarkeit wissenschaftlich untersucht werden sollten, sondern psychologisch, moralisch und politisch bedrohliche Herausforderungen des westlichen Glaubens an den im Wachstum empirisch gesicherter Erkenntnisse liegenden Fortschritt. Zudem scheinen sie auch die Intelligenz und Moral der brillanten Frauen und Männer in Frage zu stellen, die mit den besten Absichten der Welt die Naturwissenschaften studieren und betreiben. Normalerweise werden diese Behauptungen mit hochgezogenen Augenbrauen, einem (nicht an die Sprecherin gerichteten) wissenden Lächeln oder offen feindseligen Blicken beantwortet mit Reaktionen also, die alles andere als Beispiele vernünftigen Argumentierens darstellen. Sie können aber auch von denen, die zuhören, als Ausdruck persönlichen Gekränktseins aufgefaßt werden. Die Antwort lautet dann: »Sie hassen wohl die Wissenschaftler.« - als ob man nur aus persönlicher schlechter Erfahrung oder einem Zustand geistiger Verwirrung heraus diese Hypothesen der weiteren Untersuchung für wert erachtete. Stellungnahmen dieser Art eröffnen nicht nur die Möglichkeit der interessanten empirischen Entdeckung, daß wir uns über die Fortschrittlichkeit der heutigen Wissenschaft getäuscht haben, sondern geben auch Anlaß zur Konfrontation mit moralischen und politischen Werten, die mit jenen unvereinbar sind, die (wie die meisten Menschen annehmen) der westlichen Gesellschaft die erwünschte Dynamik und Richtung verleihen. Offensichtlich steht hier mehr auf dem Spiel als die bloße Überprüfung von Hypothesen - so wie es auch in der gesellschaftlichen Übernahme des kopernikanischen Weltbildes um mehr ging als um das Verhältnis zwischen Kopernikus' Hypothesen und den Beweisen, die der Blick durch Galileis Fernrohr erbringen konnte.
Was die Heiligkeit der Wissenschaft mit dem Tabu belegt, ist die Möglichkeit, sie wie jede andere Institution oder gesellschaftliche Praxisform zu untersuchen. Wenn man in den oben angeführten Behauptungen »Wissenschaft« durch »Romane«, »Schauspiele«, »Heirat« oder »öffentlich geförderte Erziehungseinrichtungen« ersetzte, wären viele Leute empört (oder würden die Behauptungen einfach für Schwachsinn halten), aber die Hypothesen würden nicht jenes tiefe Gefühl der Bedrohung unserer moralischen, politischen und psychologischen Intuitionen hervorrufen. Warum wird die Vorstellung, auch die Naturwissenschaft sei ein historisch veränderbares Ensemble gesellschaftlicher Tätigkeiten und Praxisformen, mit dem Tabu belegt? Warum wird nicht anerkannt, daß eine gründliche und wissenschaftliche Würdigung der Wissenschaft davon ausgehen muß, daß die Denk- und Praxisformen der Wissenschaft Gesetzmäßigkeiten und Kausalitäten gehorchen, die ihrerseits beschrieben und erklärt werden können? Und woher die Annahme, die wissenschaftlich Tätigen und ihre Anhängerschaft wüßten am besten über die Gründe und Bedeutungen ihrer eigenen Tätigkeit Bescheid? Welcher anderen Gemeinschaft würden wir das letzte Wort über die Gründe, Folgen und gesellschaftlichen Bedeutungen ihrer jeweiligen Überzeugungen und Institutionen überlassen? Wir sollten versuchen, die bevorzugten geistigen Strukturen und Verfahrensweisen der Wissenschaft als kulturspezifische Konstruktionen zu verstehen und nicht als geheiligte Gebote, die der Menschheit bei der Geburt der modernen Wissenschaft verkündet worden sind, weil wir sonst nicht begreifen, wie der Geschlechtersymbolismus, die vergeschlechtlichte Struktur der Wissenschaft und die männliche Identität und Verhaltensweise individueller Wissenschaftler ihre Spuren in den Problemstellungen und Begriffen, den Theorien und Methoden, den Interpretationen und Bedeutungen, den Zielen und ethischen Vorstellungen der Wissenschaft hinterlassen konnten.
Wir wollen die Verteidigungslinien, die der Glaube an die Heiligkeit der Wissenschaft gezogen hat, ein Stück weit nachzeichnen. Wissenschaft und Gesellschaft, so heißt es, seien analytisch getrennte Bereiche. Dementsprechend sind gesellschaftliche Werte etwas anderes als Tatsachen (und ihrer Bestimmung abträglich); die kulturellen Bedeutungen wissenschaftlicher Behauptungen sind von ihrem tatsächlichen Aussagegehalt zu unterscheiden (und für diesen ohne Belang), die Reflexion über gesellschaftlich nützliche und schädliche Formen von Wissenschaft ist von der Beurteilung ihres fortschrittlichen Charakters zu unterscheiden (und für diesen bedeutungslos); der gesellschaftliche Ursprung wissenschaftlicher Problemstellungen, Begriffe und Theorien ist von ihrer Gültigkeit (oder Geltung) zu unterscheiden (und für diese ohne Belang). Diese Annahmen werden (auf die eine oder andere Weise) immer dann verteidigt, wenn eine gesellschaftlich orientierte Wissenschaftskritik sich zu Wort meldet. Darüber hinaus gestatten diese Annahmen die Fortführung solcher Diskussionen, die davon ausgehen, daß die Sprachen, Bedeutungen und Strukturen der Wissenschaft in einzigartiger Weise außerhalb der Gesellschaft stehen (wie ein flüchtiger Blick in die geläufigen wissenschaftstheoretischen Publikationen zeigt). Diese Annahmen strukturieren die Auseinandersetzung um internalistische vs. externalistische Ansätze in der Wissenschaftsgeschichte; ihnen ist es zu verdanken, daß die meisten Anhänger der Wissenschaft unter »Wissenschaftsgeschichte« nur die Geschichte der bewußt vorgetragenen wissenschaftlichen Annahmen verstehen.
Die Verteidiger der analytischen Trennung von Gesellschaft und Wissenschaft werden sagen, daß letztere vielleicht nicht gegen alle gesellschaftlichen Einflüsse immun sei; jeder kann ja sehen, daß die Neigungen einzelner Forscherinnen und Forscher die Wissenschaftsgeschichte geprägt haben - warum würden wir sonst einigen Nobelpreise verleihen und anderen nicht? Und natürlich haben die Prioritäten der von Wirtschaft und Staat verteilten Subventionen einen Einfluß auf die Auswahl von Forschungsobjekten. Und es ist auch richtig, daß minderwertige Forschung bisweilen langlebiger ist als sie sein sollte, weil die mißlungenen Interpretationen ihrer Ergebnisse gesellschaftliche Zustimmung erfahren: man denke etwa an den Lyssenkoismus und die rassistische »Wissenschaft« der Nazis. Und natürlich resultiert die Begeisterung für die moderne Wissenschaft im wesentlichen aus den Wertsetzungen einer demokratischen Gesellschaft, denn Wissenschaft wird durch bestimmte gesellschaftliche Werte konstituiert, doch ist sie dann am wissenschaftlichsten, wenn sie solche Werte weder empfiehlt noch verteidigt. Was die Verteidiger der grundsätzlichen Wertfreiheit und Reinheit der Wissenschaft wirklich meinen, ist ihrem Bekunden nach folgendes: völlig immun gegen soziale Einflüsse sind Logik und Methodologie der Wissenschaft und der von ihnen hervorgebrachte empirische Kern wissenschaftlicher Tatsachen; Logik und Methodologie werden auf lange Sicht in den wissenschaftlichen Forschungsergebnissen die gesellschaftliche Spreu vom Weizen der Tatsachen trennen. Wir aber werden versuchen, den reinen, wertfreien Kern der Wissenschaft, der für die der wissenschaftlichen Methode angeblich innewohnende Fortschrittlichkeit verantwortlich ist, aus Wissenschaftsmodellen der Physik, aus der mathematischen Sprache der Wissenschaft und aus logischen Argumentationsweisen herauszuschälen. Wenn, wie ich zeigen möchte, die reine Wissenschaft hier nicht aufzufinden ist, wo sollen wir dann nach ihr suchen? Jedenfalls wissen wir, wo der geschichtliche Ursprung für den mystischen Glauben liegt, die der Wissenschaft innewohnende Fortschrittlichkeit verdanke sich einer klaren Trennung: hier die Logik und die Tatsachen, dort die gesellschaftlichen Ursprünge, Verwendungsweisen und Bedeutungen von Wissenschaft. Das neunte Kapitel untersucht die politischen Gründe, die die Übernahme dieses Glaubens befördert haben. Vor Newton gab es diese positivistische Sichtweise von Wissenschaft nicht. (Obwohl der Terminus »Positivismus« erst viel später auftauchte, sind entsprechende Vorstellungen bereits im Denken des späten siebzehnten Jahrhunderts nachweisbar.) Die Trennung existiert heute faktisch nicht mehr, doch ihre Fetischisierung dauert fort.

Wissenschaft als einzigartige Methode oder als Ensemble von Sätzen

Wie will der Feminismus den Beweis für die Behauptung antreten, die Wissenschaft sei vom sozialen Geschlecht geprägt? Muß gezeigt werden, daß die wissenschaftliche Methode sexistisch ist? Muß eine entgeschlechtlichte Wissenschaft neue Methoden der Erkenntnissuche entwickeln? Oder muß der Feminismus zeigen, daß die am besten bestätigten wissenschaftlichen Behauptungen sexistisch sind? Muß gezeigt werden, daß die von Newton und Einstein formulierten Gesetze sexistisch sind, damit ein plausibles Argument für den vergeschlechtlichten Charakter der Wissenschaft vorgewiesen werden kann? Die geläufige Anschauung (oder Lehrmeinung) setzt die Einzigartigkeit der Wissenschaft in ihre Methode, die verläßliche Beschreibungen und Erklärungen kausal bestimmter Gesetzmäßigkeiten in der Natur liefert. Wissenschaftliche Texte sprechen von der Bedeutung wertfreier Beobachtungen als Prüfmaßstab für Hypothesen und legen besonderen Nachdruck auf das Sammeln von Beobachtungen mittels der »experimentellen Methode«. Für diese sei, so wird erklärt, die verfeinerte Beobachtung, die Newton und Galilei zum Sieg über Ptolemäus und Aristoteles verhalf, charakteristisch. Doch bleibt unklar, was denn nun an dieser Methode so einzigartig ist. Zum einen verwenden die verschiedenen Naturwissenschaften verschiedene Methoden; schon in dieser Hinsicht gibt es zwischen Astronomie, Teilchenphysik und Molekularbiologie erhebliche Unterschiede. Zum anderen spielt in einigen Wissenschaftsbereichen, die als besonders rigoros und wertfrei gelten - wie etwa Astronomie und Geologie - das kontrollierte Experiment eine äußerst geringe Rolle. Zudem handelt es sich bei diesem nicht um eine Erfindung der Moderne, immerhin war Aristoteles ein Experimentator. Des weiteren dürfte es schwierig sein, jene formal-methodologischen Charakterzüge der Erkenntnissuche zu bestimmen, mit deren Hilfe man die Bauern prämoderner Agrargesellschaften aus den Reihen der Wissenschaftler ausschließen kann, während junge, optimal ausgebildete Mitglieder biochemischer Forschungsteams darin verbleiben. Wenn es in der Wissenschaftstheorie zum Schwur kommt, dann ringen Induktion und Deduktion um die Ehre, das Herz der wissenschaftlichen Methode sein zu dürfen. Jedenfalls wird es so verlautbart[10] Aber vermutlich bedienen sich auch Kinder, Affen und Hunde regelmäßig der induktiven und deduktiven Methode. Diese Betrachtungen nähren den Verdacht, daß Wissenschaft zugleich mehr und weniger ist als jede mögliche Definition ihrer Methode.
Angesichts solcher Argumente verlegt ein führender Wissenschaftstheoretiker den Unterschied zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Erklärungen in die Haltung, die die Wissenschaft ihren Behauptungen gegenüber einnimmt[11] Was also eine Annahme oder Tätigkeit wissenschaftlich macht, wird durch ein psychologisches Moment bestimmt. In allen anderen Formen der Erkenntnissuche gibt es Annahmen, die als geheiligt angesehen werden und sich der Widerlegung durch Experimente und Erfahrungen entziehen; nicht-westliche, »primitive« Kulturen, Theologie, Psychoanalyse, marxistische Politische Ökonomie und Astrologie sind beliebte Beispiele für die Konstruktion von Pseudo-Erklärungen. Nur die Wissenschaft, so wird gesagt, halte alle ihre Annahmen für die Widerlegung durch Erfahrung offen. Doch läßt sich für gewisse wissenschaftliche Forschungsbereiche leicht zeigen, daß auch hier die Tendenz zur Immunisierung grundlegender Annahmen gegen Kritik besteht. Warum sollte die Situation für das wissenschaftliche Weltbild als ganzes anders sein? Was (so könnte man fragen) ist mit der Annahme, daß es keine unverursachten physikalischen Ereignisse gibt? Oder mit der Behauptung, wir könnten die physikalischen Ereignisse oder Vorgänge von den nicht-physikalischen sinnvoll unterscheiden?
Angesichts solcher Erwägungen ist schwer einzusehen, warum eine prononciert feministische Wissenschaft eine neue Methode hervorbringen müßte, zumindest wenn »wissenschaftliche Methode« nicht mehr bedeutet als

  1. Hypothesen durch experimentelle Beobachtung zu überprüfen,
  2. sich induktiver oder deduktiver Verfahrensweisen zu bedienen, oder
  3. alle Annahmen und Behauptungen für prinzipiell kritisierbar zu halten.

Die ersten beiden Praxisformen sind keineswegs ausschließlich für die moderne Wissenschaft charakteristisch, die dritte entspricht nicht der allgemeinen Vorstellung von methodologisch rigoroser Forschung. Was wir in diesem Dogma vorfinden, ist eine Reduktion: der Fortschrittscharakter, der der Wissenschaft angeblich innewohnt, wird zu einer mythologisierten und dunklen Idee ihrer Methode (und genau dies sollten Feministinnen kritisieren, wenn sie den Positivismus in Frage stellen; sie tun es allerdings nicht immer). Doch die Charakteristika dieser Methode können nicht einmal auf plausible Art und Weise kenntlich gemacht werden. Eine zweite, nicht weniger unklare Konzeption ist die aus philosophischen und wissenschaftlichen Reflexionen hervorgegangene Auffassung von der Wissenschaft als einem paradigmatischen Ensemble von Sätzen. Die mathematischen Formulierungen von Newtons Gesetzen der Mechanik oder Einsteins Relativitätstheorie sind die am häufigsten zitierten Beispiele. Wenn die Kritik (so wird behauptet) nicht nachweisen kann, daß diese Formulierungen wertabhängig sind, dann ist die Hypothese von der grundlegenden gesellschaftlichen Wertgebundenheit der Wissenschaft hinfällig - von geschlechterorientierten Werten ganz zu schweigen. Warum aber sollten wir die Physik weiterhin für das Paradigma wissenschaftlicher Erkenntnissuche halten? Und ist es wirklich wahr, daß mathematische Aussagen ganz und gar unbefleckt sind von gesellschaftlichen Fingerabdrücken? Gibt es so etwas wie reine Mathematik?

Physik als Paradigma

Wie Physiker, Chemiker und Wissenschaftstheoretiker glauben auch die meisten von uns, daß die Physik das Paradigma der Wissenschaft ist und man sich Wissenschaft ohne das Paradigma der Physik gar nicht vorstellen kann. Unfaßbar scheint der Gedanke, in einer zukünftigen Wissenschaft könnte die Physik unter ferner liefen rangieren und sich als wenig beachtete Nebensache mit abseitigen Problemchen beschäftigen, die für unsere Lebensweise kaum noch von Bedeutung sind. Vielleicht sind bereits selbst heute ihre Problemstellungen, Methoden und bevorzugten Terminologien ausgesprochen untypische Beispiele wissenschaftlicher Forschung, die auf andere Bereiche nicht übertragen werden sollten. Dieser Gedanke tut unserer Anerkennung der geschichtlichen Ursachen für den paradigmatischen Status der Physik keinen Abbruch: Newtons Theorien konnten viele Phänomene sehr viel einleuchtender erklären als die aristotelische Physik es vermochte; und dieser Erfolg nährte den optimistischen Gedanken, Newtons »Methode« könne für alle Forschungsgebiete gleichermaßen fruchtbar sein. Tatsächlich ist die mechanische Theorie, die Metaphysik der Newtonschen Gesetze, in vielen Bereichen der Physik immer noch ein nützlicher Leitfaden für die Forschung, wenn auch ihre Grenzen in zunehmendem Maße sichtbar werden. Kuhn hat gezeigt, daß paradigmatische Theorien in bestimmten Forschungsbereichen ihre richtungweisende Kraft verlieren können. Wäre das nicht auch eine für die Wissenschaft insgesamt mögliche Entwicklung? Wenn es Gründe für die Annahme gibt, die Physik werde auch in Zukunft das Paradigma der Wissenschaft sein, so wird der Feminismus nur dann »beweisen« können, daß die Wissenschaft wie jede andere menschliche Tätigkeit der Vergeschlechtlichung unterliegt, wenn er zeigt, auf welche Weise die Problemstellungen, Begriffe, Theorien, Ausdrucksformen und Methoden der modernen Physik geschlechtergebunden sind. Das gilt insbesondere (so behaupten jedenfalls Philosophen, Mathematiker und Physiker) für die Gesetze der Mechanik und für die Relativitätstheorie. Hier aber können wir sicherlich die wertneutrale logische Struktur und den empirischen Gehalt wissenschaftlicher Annahmen von ihren gesellschaftlichen Ursprüngen, Bedeutungen und Anwendungen abgrenzen. Von daher könnte die feministische Kritik nur auf »weniger strenge« oder »weniger ausgereifte« Wissenschaftsformen wie etwa die Biologie und die Sozialwissenschaften zielen. Der Widerstand gegen die Überzeugungskraft feministischer Kritik macht sich an der Wertfreiheit mathematischer Formulierungen physikalischer Gesetze fest. Auf diese Weise scheint die Kritik die Behauptung zu unterstützen, nur die »unseriöse Wissenschaft« kenne Fälle von Androzentrismus und Sexismus, von denen die Wissenschaft aber befreit werden könne, wenn sie sich dem methodologischen Vorbild der Physik unterordne.
Tatsächlich aber haben Sozialwissenschaftler gute Gründe für die Annahme geliefert, daß die sozialwissenschaftliche Forschung metaphysische Annahmen und Methoden erforderlich macht, die sich von denen der Physik grundsätzlich unterscheiden - und diese Gründe sprechen dafür, daß der Status der Physik als Modell von Wissenschaft überhaupt unhaltbar geworden ist.[12] Meine Argumentation wird dahin gehen, daß eine kritische und selbstreflexive Sozialwissenschaft das Modell für alle Wissenschaften darstellen sollte. Wenn es in der Physik irgendwelche besonderen Erfordernisse für angemessene Erklärungen gibt, dann sind es eben besondere Erfordernisse. (Wir werden sehen, daß die Biologie in vielen Bereichen eher als Sozialwissenschaft aufgefaßt und begrifflich bestimmt werden sollte. Als Brücke zwischen oder, postmodernistisch, als Schmelztiegel für - Natur und Gesellschaft, Natur und Kultur, muß die Biologie häufig von metaphysischen und methodologischen Voraussetzungen ausgehen, die der Physik und Chemie fremd sind.) Wie läßt sich nun das Argument, in den Sozialwissenschaften unterliege die Forschung anderen Determinanten als in der Physik, für die Behauptung des nicht-paradigmatischen Charakters physikalischer Erklärungsmuster nutzbar machen? Zum ersten sind die thematischen Gegenstände der Physik von so erheblich geringerer Komplexität als die der Biologie und Sozialwissenschaft, daß der Unterschied eher qualitativer als nur quantitativer Provenienz ist. Die Physik bezieht sich entweder auf einfache Systeme - wie etwa das Sonnensystem - oder auf einfache Aspekte von komplexen Systemen (z. B. auf bestimmte Phänomene in physiologischen oder ökologischen Systemen, die die Physik erklären kann). Ein Hauptgrund für die Einfachheit dieser Systeme und für die Fähigkeit, anhand ihrer Modelle verläßliche Vorhersagen zu machen, besteht darin, daß sie als in sich geschlossen und deterministisch konzipiert sind. Dennoch kann die menschliche Tätigkeit für das Funktionieren des Sonnensystems Folgen haben, wenn wir zum Beispiel unseren Planeten in die Luft sprengen. Doch gehören die Gesetzmäßigkeiten und Kausalitäten derartiger »Einmischungen« eigentlich nicht zum beruflichen Alltagsgeschäft der Physik. Während die Sozialwissenschaften die physikalischen Einflüsse auf die von ihnen untersuchten Phänomene berücksichtigen müssen, sind die Themenbereiche der Physik auf jene Gegenstände, Ereignisse und Prozesse beschränkt, die sich gesellschaftlichen Einflüssen gegenüber abgrenzen lassen. Zum zweiten erfordern die Begriffe und Hypothesen der Physik ebenso gesellschaftliche Interpretationshandlungen wie die der Sozialwissenschaften. Die gesellschaftlichen Bedeutungen, die die Erklärungen der Physik für die Physiker und für »den Mann und die Frau auf der Straße« besitzen, sind notwendige Bestandteile dieser Erklärungen und keine wissenschaftlich belanglosen historischen Zufälle. Vielleicht ist es reizvoll, sich vorzustellen, daß die mathematischen Formulierungen der Newtonschen Gesetze genau deshalb die Bewegungen der Materie erklären, weil es für uns moderne Menschen keiner großen Anstrengung bedarf, um einigermaßen zu verstehen, was diese Formeln umgangssprachlich bedeuten. Doch würden wir eine Formel, die so lang ist, daß ein Computer eine Stunde bräuchte, um sie zu lesen, für eine objektbezogene Erklärung halten? Sicherlich nicht. Eine Erklärung ist eine Art sozialer Errungenschaft. Eine angebliche Erklärung, die von keinem Menschen begriffen werden kann, zählt nicht als Erklärung. Anders ausgedrückt: Newtons Erklärungen umfassen nicht nur die mathematischen Formulierungen seiner Gesetze, sondern auch die Interpretationen dieser Formeln, anhand derer wir erkennen können, auf welche Fälle die Formeln zutreffen. Der Ausdruck »1+1=2« ist nur dann sinnvoll, wenn wir wissen, was unter »1«, unter » +«, unter » =« usw. zu verstehen ist. Die Geschichte der Chemie kann zum Teil als ein Kampf um die Bedeutung dessen verstanden werden, was in der chemischen »Addition« als Zeichen gelten sollte. Und die Diskussion um die angemessenen Bedeutungen und Referenzobjekte solcher anscheinend eindeutigen Themen wird nicht nur in der Physik und der Chemie geführt. Einem berühmten Physiker wird die Bemerkung zugeschrieben, wir würden, wenn wir einen Löwen und ein Kaninchen in einen Käfig sperrten, eine Stunde später wohl kaum noch zwei Tiere vorfinden. Wissenschaftliche Formeln gleichen Urteilen in der Rechtsprechung: die Gesetze erlangen nur dadurch Bedeutung, daß man lernt (oder entscheidet), wie sie anzuwenden sind, und dieser Vorgang ist ein gesellschaftlicher Interpretationsprozeß. Noch auf andere Weise ist die gesellschaftliche Interpretation ein fundamentaler Bestandteil der physikalischen Gesetze. Wir finden es heute, im Gegensatz zu den Europäern des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts, nicht mehr seltsam oder moralisch verwerflich, die Natur als eine Art Maschine aufzufassen. Diese Analogie ist so tief in unser kulturelles Bewußtsein eingedrungen, daß wir es nicht einmal mehr bemerken, wenn wir uns darauf beziehen. Doch gilt dergleichen nicht für Begriffe oder Hypothesen, die durch ungewohnte gesellschaftliche Analogien »interpretiert« werden. »Nature is like a >speak bitternis< meeting« wäre als Begriffsbestimmung vielleicht in anderen Kulturen als der unseren ein nützlicher Leitfaden für die wissenschaftliche Forschung (chinesische Ökologen könnten diese Metapher möglicherweise für brauchbar halten). Eine »Erklärung«, die wir nicht be/greifen können, ist keine Erklärung. Sicher gibt es Zeiten, in denen sich Interpretationen direkt auf gesellschaftliche oder politische Metaphern stützen, und Zeiten, in denen sie das nicht tun, immer aber wird irgendeine gesellschaftliche Interpretationsleistung notwendig sein, damit wir uns über die Anwendungsweise der Theorie verständigen können. Die Interpretation formaler »Texte« mittels vertrauter gesellschaftlicher Modelle und Analogien ist für physikalische Erklärungen von zentraler Bedeutung.[13]
Drittens muß die Evolutionsbiologie oder die Wirtschaftsgeographie das zweckgerichtete und erlernte Handeln von Menschen oder eventuell auch Tieren (wie etwa Nahrungssuche und Partnerwahl nichtmenschlicher Arten) berücksichtigen, wohingegen die Physik selbstreflexive und intentional gerichtete Ursachen bei der Bewegung materieller Teilchen nicht in ihre Betrachtung miteinzubeziehen braucht, weil bei den beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten materieller Bewegung solche Ursachen keine Rolle spielen. Ich erwähne die Evolutionsbiologie und die Wirtschaftsgeographie, um darauf hinzuweisen, wie weit das Gesellschaftliche in das hineinreicht, was wir als »natürlich« bezeichnen. Wenn wir erklären wollen, wie Affen sich an ihre Umwelt angepaßt (oder diese geschaffen) haben oder wie die Aufforstungspraktiken seit Beginn der menschlichen Existenz gehandhabt wurden, dann müssen wir genau die Art von zweckorientiertem und erlerntem Verhalten (können wir es wagen, von »Tätigkeit« zu sprechen?) berücksichtigen, das von der Sozialforschung thematisiert wird. In dem Maße, wie die uns umgebende Welt mehr und mehr von den Gegen- und Rückständen gesellschaftlicher Tätigkeit durchdrungen wird, vermindern sich jene »Außenbezirke«, auf welche die in der Physik so fruchtbaren Erklärungsmuster anwendbar sind. Die Geschichte des »Fortschritts« unserer Gattung ist zugleich die Geschichte des Verschwindens der reinen Natur. Lächerlich (und kaum erwähnenswert) ist die Annahme, die Physik könnte das Modell für anthropologische Erklärungen liefern, die uns alles Wissenswerte über Gesetzmäßigkeiten und Ursachen verschiedener Verwandtschaftsstrukturen mitteilen. Ebenso ist sie kein Vorbild für historische Erklärungen. Wenn wir zum Beispiel die Beziehungen zwischen Staatsformen und Praxen der Kindererziehung untersuchen wollen, müssen wir auf andere Strukturen von Gesetzmäßigkeit und Kausalität rekurrieren. Der ganz und gar vernünftige Ausschluß des intentionalen und erlernten Verhaltens aus dem Themenbereich der Physik ist, so lautet mein Vorschlag, ein guter Grund, die physikalische Forschung als atypische Form wissenschaftlicher Erkenntnissuche zu betrachten.
Viertens schließlich bedarf die Erklärung gesellschaftlicher Phänomene einer bestimmten interpretatorischen Fähigkeit, zu der es in der Physik kein Analogon gibt: es geht darum, die Bedeutungen und Zielsetzungen zu erfassen, die ein intentionaler Akt für den Handelnden besitzt. Tatsächlich gehen die Unterschiede zwischen Physik und Sozialforschung hinsichtlich der jeweiligen ontologischen Annahmen und Methoden noch sehr viel weiter als eine solche Aussage vermuten läßt. In der Sozialforschung wollen wir auch Ursprünge, Formen und Vorherrschaft offensichtlich irrationaler, doch zugleich kulturell umfassender Denk- und Handlungsschemata erklären - ein Thema, das nach Freud und Marx von vielen Gesellschaftstheoretikern zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht worden ist. Warum sollten wir also eine Wissenschaft als Erkenntnismodell wählen, die für solche Thematiken keinen Begriffsapparat besitzt? Mehr noch: vielleicht wären sogar physikalische Erklärungen verläßlicher und fruchtbarer, wenn die Physiker dazu ausgebildet würden, die gesellschaftlichen Ursprünge und die oftmals irrationalen gesellschaftlichen Implikationen ihrer Begriffssysteme kritisch zu untersuchen. Möglicherweise könnte die Physik von der Frage profitieren, warum eine wissenschaftliche Weltsicht, deren Paradigma die Physik ist, die Geschichte dieser Wissenschaft bei der Forderung nach kritischer Ursachenforschung nicht berücksichtigt. Nur wenn wir auf der analytischen Trennung von Wissenschaft und Gesellschaft bestehen, können wir die Fiktion aufrechterhalten, Erklärungen irrationalen Denkens und Verhaltens wären prinzipiell außerstande, unser Verständnis für die von der Physik erklärte Welt zu verbessern. Soweit die Gründe dafür, das Paradigma der Physik als wissenschaftliches Erkenntnismodell von Grund auf in Frage zu stellen. Wenn die Physik diesen Status verliert, dann brauchen Feministinnen nicht die Wertgebundenheit der Newtonschen Gesetze oder der Relativitätstheorie zu »beweisen«, um zu zeigen, daß die symbolischen, strukturellen und individuellen Bedeutungen des sozialen Geschlechts in der heutigen Wissenschaft tiefe Spuren hinterlassen haben. Statt dessen sollten wir die Physik einfach als das andere Ende des Kontinuums wertgebundener Forschungstraditionen betrachten. Selbst wenn es gute historische Gründe dafür gibt, warum die Physik im philosophischen und wissenschaftlichen Denken eine so zentrale Position einnehmen konnte, müssen wir fragen, ob ihr paradigmatischer Status heutzutage nicht anachronistisch geworden ist und eine Reflexion direkt androzentrischer, bürgerlich-westlicher Anschauungen darstellt. Ich möchte damit aber keinesfalls jene Ansätze ad acta legen, die zeigen wollen, auf welche Weise Newtons und Einsteins Naturgesetze vom Geschlechtersymbolismus beeinflußt sein könnten. Solche Projekte mögen den Anschein des Unmöglichen besitzen, doch gibt es keinen Grund, sie für prinzipiell aussichtslos zu halten. Erfolge dieser Art würden der feministischen Behauptung, auch die Naturwissenschaften seien alles andere als geschlechterneutral, ein sehr viel höheres Maß an Plausibilität zukommen lassen. Im fünften, achten und neunten Kapitel untersuche ich einige der androzentrischen und bürgerlichen Werte, die tatsächlich in die Natur hineinprojiziert worden sind, und werde dabei zeigen, daß die moderne Astronomie und Physik die Natur nicht weniger anthropomorphisieren als ihre Vorläufer, die mittelalterlichen Wissenschaften, es taten. Doch hier geht es mir um einen anderen Punkt. Meine Argumentation besagt, daß ein solches Projekt nicht in Angriff genommen werden muß, um uns davon zu überzeugen, daß die moderne Wissenschaft androzentrisch ist. Statt dessen sollten wir die Physik nicht als Modell für die wissenschaftliche Forschung insgesamt, sondern insofern als untypisch begreifen, als ihre ontologischen und methodologischen Annahmen tatsächlich in der Lage sind, wertfreie Forschungsresultate abzusichern.

Reine Mathematik*

(*Gegenüber der amerikanischen Originalausgabe ist der folgende Absatz gekürzt. Die Kürzungen stammen von der Autorin. (A.d.Ü.)
Die Annahme, daß die Mathematik keine formalen gesellschaftlichen Dimensionen besitzt daß die »externe« Geschichte der Mathematik in ihren »internen« geistigen Strukturen keine Spuren hinterlassen hat - führte dazu, die Wissenschaft im wesentlichen als ein Ensemble von Sätzen (wie Newtons Gesetze der Mechanik) und die Physik als Paradigma der Wissenschaft zu begreifen. Denn wenn die von der modernen Physik beschriebene und erklärte Natur »die Sprache der Mathematik spricht« (wie Galilei behauptete), und wenn der kognitive Gehalt der Mathematik keine gesellschaftlichen Merkmale aufweist, dann sind die Aussagen der Physik ebenfalls von gesellschaftlichen Implikationen nicht betroffen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß physikalische Erklärungen nicht auf mathematische »Sätze«, die frei sind von gesellschaftlichen Interpretationen, »reduziert« werden können. Doch beruht das Plädoyer des Dogmatikers für einen wertfreien Kern reiner Wissenschaft sogar auf noch schwächeren Grundlagen, als das eben angeführte Argument vermuten läßt. Selbst wenn man die Gesetze der Physik auf mathematische Formeln »reduzieren« könnte, gibt es keinen hinreichenden Grund für die Annahme, daß diese Formeln selbst wertfrei sind. Natürlich ist allgemein bekannt, daß das Feld mathematischer Untersuchungen eine gesellschaftliche Geschichte hat. Die Mathematiker haben sich zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen mathematischen Problemen befaßt. Unterschiedliche Begriffe, Berechnungsstrategien und Beweismethoden wurden in ganz bestimmten historischen Situationen »entdeckt«. Doch soll diese Sozialgeschichte der Mathematik zu ihren kognitiven und logischen Strukturen in einem rein äußerlichen Verhältnis stehen und dort keine weiteren Spuren hinterlassen haben. Die mathematischen »Entdeckungen« seien, so wird behauptet, lediglich Beispiele für das kumulative und fortschreitende Wachstum mathematischer Erkenntnis. Bisweilen wird behauptet, daß der Feminismus, wenn er den Wert des sozialen Geschlechts als Kategorie für die Wissenschaftsanalyse nachweisen will, den Androzentrismus mathematischer Begriffe und Beweismethoden aufzuzeigen habe, um sodann eine alternative, feministische Mathematik hervorzubringen. Vielleicht könnten Feministinnen sogar demonstrieren, daß die moderne Logik sexistisch ist und daß es eine nicht-sexistische, alternative Logik geben könne. Wer so argumentiert, hofft, damit nicht nur die Idee einer radikalen feministischen Wissenschaftskritik, sondern auch die Möglichkeit einer von feministischen Prinzipien geleiteten alternativen Wissenschaft ad absurdum geführt zu haben. Ich möchte nicht dahingehend argumentieren, daß die Mathematik de facto männlich strukturiert ist; ob aber eine reine Mathematik mehr ist als ein bloßer Mythos, muß anhand von zwei Überlegungen als zweifelhaft erscheinen. Erstens kann kein Begriffssystem aus sich selbst heraus begründet werden, weil sonst die Gefahr des circulus vitiosus droht. Die Axiome der Mathematik bilden da keine Ausnahme. Führende Mathematiker weisen darauf hin, daß der abschließende Test für die Angemessenheit eines Begriffs oder Beweises immer pragmatischer Provenienz war: »Gelingt« es ihm, die Gesetzmäßigkeiten in der Welt zu erklären, für die eine Erklärung intendiert war? Die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte mathematischer Philosophie ist ein Kampf um das Wesen mathematischer »Wahrheiten«, der schließlich zu dieser pragmatischen Auffassung geführt hat. Aus thematischen Gründen können wir hier keinen Überblick über diese Geschichte geben. [14] Doch ist diese mittlerweile weitverbreitete (wenngleich in der Mathematik nicht allgemein anerkannte) Auffassung vom Status mathematischer »Wahrheiten« die Grundlage dafür, »Entdeckungen« in der Geschichte der Mathematik gesellschaftlich zu verorten, d.h. als Reaktionen auf die Erkenntnis zu begreifen, daß auch mathematische Begriffe und Theorien im Hinblick auf den soziohistorischen Kontext getestet werden, den zu erklären sie entwickelt worden sind. Zweitens (und das unterstützt dieses Argument) ist in der Geschichte der Mathematik darauf hingewiesen worden, daß mathematische Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt für wahr gehalten wurden, später gelegentlich für falsch erklärt worden sind. Die Plausibilität oder Nützlichkeit mathematischer Begriffe, die manchmal als widersprüchlich erschienen, mußte gesellschaftlich ausgehandelt oder vereinbart werden.[15] Die gesellschaftlichen Repräsentationsformen des Denkens über mathematische Gegenstände unterliegen der Veränderung, und dieser Prozeß, der in der Mathematik zu Vereinbarungen über kulturell geprägte Bilder geführt hat, ist (wie ein Kommentator bemerkt) mit jener Regelung vergleichbar, mittels derer wir kriegsbedingte patriotische Tötungshandlungen von der moralischen und rechtlichen Kategorie des Mordes ausnehmen.[16] Es mag schwierig sein, sich vorzustellen, welche geschlechterbedingten Praxisformen die An- und Übernahme bestimmter mathematischer Begriffe beeinflußt haben könnten, doch ist die Möglichkeit nicht a priori durch die Behauptung auszuschließen, der intellektuell-logische Gehalt der Mathematik sei in keiner Weise gesellschaftlich determiniert. »Gut, gut«, mag unser hartnäckiger Dogmatiker behaupten, »aber in letzter Hinsicht wurzelt die Mathematik in der Logik, und die Logik ist frei von gesellschaftlichen Einflüssen.« Aber in diesem Jahrhundert haben Mathematiker vergeblich versucht, die Axiome der Mathematik mit logischen Prinzipien zu begründen, die weniger zweifelhaft und kontraintuitiv waren als das, was sie begründen sollten. Ob mithin der Logik die Aufgabe zugewiesen werden kann, den mathematischen Wahrheiten ein festes Fundament zu verschaffen, bleibt ungewiß. Zudem haben einige Feministinnen die Androzentrik bestimmter logischer Annahmen nachzuweisen versucht. So enthält zum Beispiel ein »formale Semantik« genannter Zweig der Logik, Merrill und Jaakko Hintikka zufolge, metaphysische Einheiten, die einer maskulinen, nicht aber femininen Art der Objektindividuation entsprechen.[17] Studien dieser Art sind von unschätzbarem Wert für die Suche nach gesellschaftlichen Spuren in angeblich rein formalen Denkweisen und eröffnen für die Zukunft fruchtbare Forschungsprogramme. Doch selbst wenn es diese Studien nicht gäbe oder keine weiteren mehr entstünden, bleibt die Frage, ob derartige Analysen logischer und mathematischer Formen notwendig sind, um das soziale Geschlecht als analytische Kategorie der Wissenschaftskritik theoretisch verfügbar zu machen. Auch an dieser Stelle geht es mir nicht darum, solche Untersuchungen für überflüssig zu erklären, sondern ich möchte nachweisen, daß diese Argumentationsstrategie kontraproduktiv (und irrational!) ist. Diese Art von Widerstand gegen feministische Kritik zahlt einen hohen Preis: die Wissenschaft wird auf mathematische oder logische Aussagen reduziert und dadurch wird zugleich die fundamentale Annahme unterlaufen, daß die Einschätzung der Angemessenheit wissenschaftlicher Behauptungen von der nachweisbaren Verbindung dieser Behauptungen mit beobachtbaren Entitäten in der Welt abhängen sollte. Im Grunde sollte der Hinweis auf die fächerspezifische Verwendung mathematischer Theorien ausreichen. In der Physik ist die Mathematik von größerem Nutzen als in der Biologie oder den Wirtschaftswissenschaften, während sie in Anthropologie und Geschichtswissenschaft kaum gebraucht wird. Der Grad ihrer Anwendung bemißt sich nach dem jeweiligen für die Thematik der einzelnen Forschungsbereiche typischen Grad von Einfachheit, von Abstraktion und von intentionalem und irrationalem Verhalten. Wenn wir Quines Hinwendung zum Pragmatismus folgen, können wir sagen, daß Mathematik und Logik - im Unterschied zu Anthropologie und Geschichtswissenschaft - lediglich Aspekte der Welt »betrachten«, die durch formale Beschreibung weniger verzerrt werden - was nicht heißt, daß sie von jeglicher Verzerrung frei wären. Wir haben Konzeptionen wissenschaftlicher Tätigkeit und wissenschaftlicher Behauptungen untersucht, die auf doppelte Weise problematisch sind. Sie sind problematisch für die feministische Theorie, weil sie die Art und Weise, in der Wissenschaftler, Philosophen und Gesellschaftstheoretiker über Wissenschaft denken, der feministischen Intervention entziehen. Sie sind ein Problem in der feministischen Theorie, weil der Glaube selbst noch an Spuren dieser Dogmen es uns unmöglich macht zu erkennen, wie unzureichend unsere Einsicht in die Vergeschlechtlichung von Wissenschaft noch immer ist.

Das soziale Geschlecht: individuell, strukturell, symbolisch und immer asymmetrisch

Auch eine unangemessene Bestimmung des Geschlechterbegriffs schafft der feministischen Kritik Probleme. In der Kritik selbst führt die fehlerhafte Bestimmung auf zweifache Weise zu einer Verdoppelung der unvollständigen, wo nicht gar verdrehten Auffassungen des Geschlechterbegriffs, die für die vorherrschenden Denkrichtungen charakteristisch sind. Die erste ist das Resultat einer ausschließlichen Konzentration auf lediglich ein oder zwei gesellschaftliche Erscheinungsformen des sozialen Geschlechts, wobei die Beziehungen zwischen den bevorzugten Ausdrucksformen des Geschlechtersymbolismus, der konkreten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und den zugerechneten männlichen und weiblichen Identitäten und Verhaltensformen undeutlich werden. Diese in jeder Kultur existenten - und eminent wichtigen - Beziehungen können sich sowohl gegenseitig unterstützen als auch in Gegensatz zueinander geraten. Die zweite ergibt sich aus der falschen Annahme, die in den Individuen, in menschlichen Tätigkeiten und in symbolischen Tätigkeiten auftretenden Geschlechterdifferenzen verhielten sich moralisch und politisch symmetrisch zueinander. Ein weiteres Problem neben der Verwendung dieser beiden unangemessenen Geschlechterbegriffe ergibt sich aus der Existenz widerstreitender Ansichten darüber, welche Strategien am geeignetsten sind, um die Erkenntnissuche vom Androzentrismus zu befreien. Werfen wir nun einen näheren Blick auf diese drei Probleme.
Die Beziehungen zwischen den symbolischen, strukturellen und individuellen Aspekten des sozialen Geschlechts werden von einigen feministischen Wissenschaftskritikerinnen nicht einmal erkannt, geschweige denn theoretisch berücksichtigt. In den folgenden Kapiteln werde ich mich damit noch befassen und will von daher hier nur zwei Beispiele dieser theoretisch unterentwickelten Herangehensweise an das Verhältnis von Geschlecht und Wissenschaft beschreiben. Im ersten Beispiel geht es um die Unterstützung, die zwei Geschlechterformen der dritten zukommen lassen, im zweiten um einen Gegensatz zwischen zwei Formen, welcher der dritten zum Ausdruck verhilft. Studien zur Gleichberechtigung konzentrieren sich auf die individuelle Geschlechterproblematik, d.h. darauf, wie Frauen innerhalb der gesellschaftlichen Struktur der Wissenschaft diskriminiert werden, und auf welche Weise Wissenschaft und geschlechtsspezifische Sozialisation die Frauen daran hindern, Wissenschaftlerinnen zu werden und zu bleiben. Anhand dieser Faktoren erklären die Studien den niedrigen Anteil von Frauen in Laboratorien, wissenschaftlichen Seminaren, Gesellschaften und Publikationen, und sie kritisieren die durch unsere Kultur geförderten charakteristischen Merkmale weiblicher Identitäts- und Verhaltensformen, die verhindern, daß Mädchen und Frauen sich die für die wissenschaftliche Tätigkeit notwendigen Motivationen und Fähigkeiten aneignen. Um dies zu erreichen, müssen andere Sozialisations- und Verhaltensformen von Kindheit an eingeübt werden, damit der Anteil wissenschaftlich tätiger Frauen sich vergrößern kann. Doch übersehen diese Theoretikerinnen der Gleichberechtigung sehr oft, daß noch andere Faktoren in gleicher Weise für die geringe Anzahl von Frauen in der Wissenschaft und für die fehlende Motivation bei Mädchen verantwortlich sind: sie übersehen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Gesamtgesellschaft und den Geschlechtersymbolismus, an dem die Wissenschaft teilhat. Hausarbeit und Kindererziehung erfordern den Einsatz von Gefühlen ebenso wie den von geistigen und körperlichen Kräften, von Kopf- und Handarbeit. Solange die Männer nicht bereit sind, solche Tätigkeiten auszuüben, solange wird die »geistige und körperliche Arbeit« der Wissenschaft nicht als ein für Frauen mögliches und attraktives Betätigungsfeld angesehen werden. Darüber hinaus erwartet die Forderung nach Gleichberechtigung von den Frauen, daß sie bedeutende Aspekte ihrer Geschlechteridentität gegen die männliche Version eintauschen, während ein vergleichbarer Prozeß der »Entgeschlechtlichung« für Männer nicht vorgesehen ist. Ich will damit nicht die wahrhaft amazonischen Bemühungen jener Feministinnen trivialisieren, die sich in der Arbeit an solchen Projekten über ein Jahrhundert lang heldinnenhaft verausgabt haben und immensen Feindseligkeiten ausgesetzt waren. Es gibt zweifellos gute politische Gründe dafür, daß sie keine Kampagne gestartet haben, um männliche Wissenschaftler zur Teilnahme an der Kindererziehung und zur Transformation (Umorientierung) ihrer geschlechterspezifischen Wünsche und Bedürfnisse zu bewegen. Doch haben ihre Bemühungen nicht die erwarteten Resultate gezeitigt. Das liegt zum Teil an ihrer nicht allzu tiefgängigen Gesellschaftsanalyse, die die grundlegenden Ursachen für die Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft verfehlt: die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Gesellschaft und die begeisterte Beteiligung der Wissenschaft an den Symbolisierungen unserer Kultur.
Das zweite Beispiel ist die Kritik an der Wissenschaft als »Text«. Einige dieser Ansätze scheinen davon auszugehen, daß wir die Wissenschaft vom Androzentrismus befreien könnten, wenn wir nur die Aufmerksamkeit auf jene Denk- und Verhaltensweisen lenken würden, die allgemein als weiblich gelten, nichtsdestotrotz aber für (männliche) Wissenschaftler geschichtlich kennzeichnend gewesen sind. Die Wissenschaft sei, so lautet ihr Vorschlag, durch intuitives Denken, durch die Wertschätzung von Beziehungsgefügen und durch ein fürsorgliches Verhalten der Natur und neuen Hypothesen gegenüber ebenso befördert worden wie durch formale Logik und Mathematik, durch mechanistische Theorien und durch das »harte Testen« von Hypothesen, bei denen die Natur »auf die Folter gespannt« wird. Man könnte die Wissenschaft vom Androzentrismus befreien, wenn man jene Symbolisierung in Frage stellt, die die wissenschaftliche Tätigkeit einzig mit einem männlichen Vorzeichen versieht. Auch diese Kritik hat sich in der Tat als wertvoll erwiesen und unser Verständnis davon, wie die Wissenschaft Geschlechterideologien einsetzt, in hohem Maße bereichert. Doch übersieht sie die bewußten oder unbewußten Motivationen für Geschlechtersymbolisierungen, die durch Konflikte zwischen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Gesellschaft und den Bedürfnissen individueller männlicher Identität entstehen. Der Totemismus des sozialen Geschlechts in der Wissenschaft erhält seinen Antrieb oft aus wahrgenommenen Gegensätzen oder Konflikten zwischen den Bedürfnissen männlicher Identität und drohenden oder real existierenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen.
Die zweite unangemessene Definition des Geschlechtsbegriffs geht von der Annahme aus, Männlichkeit und Weiblichkeit seien nichts als partielle, aber miteinander kombinierbare Ausdrucksformen menschlicher Symbolsysteme, gesellschaftlicher Arbeitsteilungen und individueller Identitäten und Verhaltensweisen. Viele feministische Kritikerinnen sind offensichtlich der Auffassung, man könne die unerwünschten Charakteristika des Männlichen und Weiblichen abstreifen, um so zu den eigentlichen, positiven Kernen zu gelangen, die in ihrer Partialität moralisch und politisch symmetrisch sind. In den Augen dieser Theoretikerinnen besteht das Problem für den Feminismus darin, daß die Wissenschaft das Männliche für das Menschliche gehalten und das Weibliche dabei unterschlagen hat. Aber Weiblichkeit und Männlichkeit lassen sich nicht so einfach miteinander verbinden, denn »Männlichkeit« bedeutet vor allem den Ausschluß all dessen und die rechtmäßige Herrschaft über das, was kulturell als weiblich definiert ist. Wie Simone de Beauvoir hervorgehoben hat, muß die Männlichkeit die Frau als das »Andere« konstruieren, [18] während Weiblichkeit (als Konstrukt) all das in sich aufnimmt, was als nicht-männlich definiert wird und im übrigen ihrer Beherrschung durch das Männliche fügsam zustimmt. Von daher kann diese Konzeption der Geschlechterdifferenz nicht erklären, warum in den meisten Kulturen politische Macht und moralische Wertsetzung von Männern auf Kosten der Frauen monopolisiert wurden. Sowohl im menschlichen Denken als auch in der gesellschaftlichen Organisation und in individuellen Identitäts- und Verhaltensformen ist das soziale Geschlecht eine asymmetrische Kategorie.
Schließlich lassen sich in drei Vorschlägen zu einer adäquaten Zielbestimmung feministischer Wissenschaftskritik sehr unterschiedliche Einschätzungen des Geschlechtsbegriffs beobachten. Ein Ansatz argumentiert, daß wir versuchen sollten, die männliche Stimme, mit der die Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart gesprochen hat, durch eine weibliche zu ersetzen. Wir sollten die Bewertung männlicher und weiblicher Interessen in und an der Erkenntnissuche umkehren und die Vergeschlechtlichung der Wissenschaft beibehalten. Wir sollten eine Wissenschaft für Frauen fordern.[19] Der zweite Ansatz zielt auf eine Erkenntnissuche, die nicht weiblich, sondern feministisch orientiert ist. [20] Er hält die Glorifizierung des - männlichen oder weiblichen - Geschlechts in bezug auf eine allumfassende menschliche Wissenschaft für schädlich. Der dritte Ansatz behauptet, daß die Ziele der ersten beiden immer noch durch männlich bestimmte metaphysische und erkenntnistheoretische Rahmenbedingungen begrenzt sind. Zu beseitigen wäre, so lautet die Forderung, die defensive androzentrische Vorstellung eines »transzendentalen Ichs«, das mit einer einzigen Stimme spricht und den Annäherungsgrad unserer erkenntnisorientierten Behauptungen an die »eine, wahre Geschichte« von der Welt beurteilt. Statt dessen sollten wir anstelle von substantialistisch vereinheitlichten Identitäten wechselseitig aufeinander bezogene Selbstheiten, die solidarisch verbündet sind, entwickeln und eine entsprechend »dezentrierte« Erkenntnissuche ins Leben rufen.[21] Und für diese sollten wir eine Form und einen Zweck finden, die, wie immer ihre sonstigen Vorteile beschaffen sein mögen, wahrscheinlich wenig Ähnlichkeit mit dem normalen Wissenschaftsbild besitzen würden. In späteren Kapiteln werde ich die Spannungen zwischen diesen drei Ansätzen untersuchen, und die Gründe darlegen, aus denen diese Spannungen nicht beseitigt, sondern aufrechterhalten werden sollten. Eine angemessene Theoretisierung des sozialen Geschlechts wird uns immer zur Frage führen, wie der Geschlechtersymbolismus, die konkrete geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Konstituierung vergeschlechtlichter Identitäten und Begehrensformen in einer bestimmten Kultur einander wechselseitig beeinflussen. Diese und ähnliche Fragen sind nicht nur für die europäische Wissenschaftskultur des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts, sondern auch für alle wissenschaftsorientierten Kulturen späterer Jahrhunderte von großer Bedeutung. Darüber hinaus muß eine Situation, in der männliche Wissenschaftler eine Tätigkeit fortführen, die ihnen als spezifisch weiblich erscheinen müßte, oder Denkweisen anhängen, die in ihrer Kultur als weiblich gelten, deswegen erklärt werden, weil Gehalt und Bewertung dessen, was als männlich und weiblich gilt, »logisch« asymmetrisch sind. Zu fragen ist auch nach dem oftmals irrationalen Verhältnis zwischen dem asymmetrischen Geschlechtersymbolismus von Denk- und Handlungsformen einerseits und der asymmetrischen Sexualordnung und den Formen vergeschlechtlichter persönlicher Identität andererseits. Und wir müssen die Zwecke und Ziele jener Formen der Erkenntnissuche kritisch begutachten, die als Ergebnis der feministischen Revolution gedacht und vorgestellt werden. Wenn wir diese Revolution auf die Naturwissenschaften übertragen wollen, müssen wir unser Verständnis für die Vielschichtigkeit des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Vergeschlechtlichungsformen der Wissenschaft vertiefen und die Dogmen des Empirismus endgültig ad acta legen. Ich habe erläutert, inwiefern wissenschaftliche, philosophische und populäre Auffassungen von Naturwissenschaft der feministischen Kritik besonders feindlich gesonnen sind. Dieser Widerstand mag verständlich erscheinen, wenn man die Geschlechterdifferenz entweder als »natürliche« Elaboration des biologischen Unterschieds denkt oder als kulturell hervorgebrachte Charakterzüge versteht, die ausschließlich Individuen und ihrem Verhalten zugeschrieben werden können. Und er wird auch dann verständlich erscheinen, wenn man einen strikt empirischen Begriff von Wissenschaft hat. Diese Feindseligkeit wird durch eine Reihe von aufeinander bezogenen empiristischen Dogmen unterfüttert und begründet. Es handelt sich um eine Immunisierungsstrategie, die das wissenschaftliche Unterfangen gegen jene kritisch-kausale Überprüfung absichern soll, die die Wissenschaft für alle anderen Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft empfiehlt. Wenn wir diese Dogmen über Bord würfen, könnten wir zum alternativen Verständnis von Wissenschaft als einer ganz und gar gesellschaftlichen Tätigkeit gelangen, die sich in ihren soziokulturellen Besonderheiten von religiösen, erzieherischen, wirtschaftlichen und familiären Tätigkeiten nicht weiter unterscheidet. Wir könnten dann wertvolle kritische Interpretationsansätze für alle als wissenschaftlich geltenden Tätigkeiten (eingeschlossen diejenigen, die wissenschaftliche Tätigkeit möglich machen) finden: Auswahl der Problemstellungen; Formulierung und Bewertung von Hypothesen; Planung und Durchführung von Experimenten; Interpretation von Ergebnissen; Motivation, Erziehung und Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses; Organisierung der wissenschaftlichen Arbeit und der sie unterstützenden Dienstleistungen (in Familien und psychiatrischen Praxen wie auch in Laboratorien), die es einigen Menschen ermöglichen, wissenschaftlich tätig zu sein; Auswahl, Finanzierung und Entwicklung der für die wissenschaftliche Forschung notwendigen und durch sie ermöglichten Technologien; Zuordnung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedeutungen und Werte zur wissenschaftlichen wie zur moralischen, politischen und emotionalen Vernunft. Der Feminismus geht davon aus, daß niemand der Vergeschlechtlichung entkommt, auch Männer nicht, allem überlieferten Glauben zum Trotz. Er argumentiert, daß Männlichkeit zumindest ebensoweit von einem Bewunderung verdienenden Paradigma entfernt ist, wie sie es diesbezüglich von der Weiblichkeit behauptet hat. Der Feminismus ist auch der Ansicht, das soziale Geschlecht sei eine grundlegende Kategorie, mittels derer allen Entitäten in der Welt Bedeutung und Wert verliehen werde und gesellschaftliche Beziehungen strukturiert würden. Wenn wir die Wissenschaft als eine ganz und gar gesellschaftliche Tätigkeit betrachteten, könnten wir zu verstehen beginnen, auf welch unüberschaubare Weise auch sie durch die Bedeutungen des sozialen Geschlechts strukturiert ist. Alles, was zwischen uns und diesem Projekt steht, sind unangemessene Theorien über das soziale Geschlecht, die Dogmen des Empirismus und ein gutes Stück politischen Kampfes.