Frauen suchen nach neuen Formen der Selbstverwirklichung und des menschlichen Zusammenlebens

Überlegungen zur Kontinuität von Ehe und Familie nach 1945

  • Der vorliegende Aufsatz ist entstanden im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekts »Stellung von Frauen in der Arbeitswelt und in der Familie in Deutschland 1945-1949. Ein Beitrag zur Erforschun des weiblichen Lebenszusammenhanges in der Hachkriegszeit»

I. Die allgemeine Problemstellung

Obgleich in den letzten 15 Jahren ein verstärktes Interesse an der unmittelbaren Nachkriegszeit hervorgetreten ist [1] und wir inzwischen auch über Quellen zum Nachkriegsalltag verfügen,[2] so fehlen uns dennoch genaue Vorstellungen von den Formen des menschlichen Zusammenlebens in den Jahren nach 1945. Vor allem herrscht weitgehende Ratlosigkeit  bei  dem  Versuch,  die   Selbstbestimmungsbemühungen  der Frauen und ihr Streben nach neuen Formen der mitmenschlichen Beziehungen in diesen Jahren der „Auflösung" zu beurteilen. Handelt es sich um eine Zeit des Verfalls der Sitten und der Moral? Oder sind gerade diese Jahre für die Entwicklung selbstbewußterer und freierer weiblicher Lebensformen bahnbrechend? Oder ist es sogar richtig, von einer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Beziehungsarbeit [3] von Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu sprechen, von einer „unbeachteten Produktionsweise", die aber das gesamtgesellschaftliche Überleben in diesen Jahren der Not erst ermöglichte?[4] Eine noch weitverbreitete Interpretation der Ehe und der Familie in dieser Zeit nach 1945 läßt sich in dem Bild eines totalen Zusammenbruches des öffentlich-politischen Lebens einerseits und einer unerschütterlichen Kraft und Kontinuität der Ehe und Familie andererseits fassen. Einen fast klassischen Ausdruck dieser Deutungsweise der Ehe und Familie im Rahmen der Nachkriegsgesellschaft und ihrer Handlungsmöglichkeiten finden wir in der Darstellung zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland von Theodor Eschenburg. Hier heißt es:

  • »Der >Tag Null< nach dem völligen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems hätte vielleicht die Chance für eine grundlegende Neuordnung bieten können. Aber danach war den Deutschen in ihrem Elend nicht zumute. Der Mangel an politischen Ideen und Plänen zur Neu- oder Umgestaltung demokratischer Einrichtungen und Verfahren war offenkundig, wurde aber als solcher nicht so sehr empfunden. Man neigte dazu, das Weimarer Institutionengefüge, das von der nationalsozialistischen Usurpation zerschlagen war, aber mit den Verbesserungen, die sich nach den Erfahrungen als notwendig erwiesen hatten, zu übernehmen. Die politische Apathie war nicht nur Hilflosigkeit, sondern auch Folge der Erschöpfung. Man hatte überlebt, man wollte weiterleben und etwas besser leben. Das krisenfeste Sozialgebilde war die Familie. Ihr galten die meisten persönlichen Anstrengungen.«[5]

Während  unter  gesamtgesellschaftlichem  Gesichtspunkt vom  „Tag Null", von „politischer Apathie", „Hilflosigkeit" und „Erschöpfung" die Rede ist, wird der Familie eine unerschütterliche Krisenfestigkeit bescheinigt. Ihr galten, so heißt es, die meisten „persönlichen Anstrengungen", Anstrengungen allerdings, die bei dieser Darstellungsweise von   einer   gesamtgesellschaftlichen   politischen   Bedeutungslosigkeit sind.  Denn im Gegensatz zur Wertung des  „Persönlichen" in der frauengeschichtlichen Perspektive - „Das Private ist politisch" - besitzt hier das Persönliche nicht eine politisch-gesellschaftliche Qualität.[6]
Diese Vorstellung einer ungebrochenen Kontinuität der intakten Familie bei der gleichzeitigen gesamtgesellschaftlichen Diskontinuität stößt inzwischen nicht nur aus feministischer Sicht auf Ablehnung. Hier wird vor allem bemängelt, daß in unangemessener Weise zwischen einem persönlichen, von Frauen verwalteten Bereich von historischer und gesamtgesellschaftlicher Belanglosigkeit und einem gesellschaftlich-öffentlichen Bereich, dem die eigentliche historische Bedeutung zukommt, unterschieden wird.[7]
Auch in der neueren Fachwissenschaft ist diese dualistische Sicht, die scharf zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich trennt, inzwischen korrigiert worden.[8] Zwar steht in fachwissenschaftlicher Sicht fest, daß die Familie als Institution langfristig, d.h. über die fünfziger und sechziger Jahre hinaus, „gestärkt aus der Notsituation der Nachkriegszeit hervorging", allerdings wird betont, daß sie in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg eine Phase der Desintegration durchlaufen habe. Nach Dieter Wirth „erscheint es durchaus berechtigt, in der unmittelbaren Nachkriegszeit von einer kurzfristigen Destabilisierungstendenz der Familie zu sprechen" (Hervorhebungen d. Verf.).[9] Mit diesem fachwissenschaftlichen Befund kommen wir unserer Fragestellung näher.

Frauen in der Geschichte III
Denn uns interessiert hier dreierlei:
Erstens: Wie ist aus der Sicht der Frauen diese kurze „Destabilisierungstendenz der Familie" erfahren und aus der eigenen Lebensperspektive bewertet worden? Kann aus feministischer Perspektive nur negativ von der „Auflösung" der Ehe und Familie gesprochen werden? Zweitens: Welches sind die Ursachen der kurzfristigen Auflösungstendenz und der raschen langfristigen Stabilisierung der Familie? Können wir aus dieser Tatsache Rückschlüsse zur Bedeutung der häuslichen und außerhäuslichen Entwicklung in der Nachkriegszeit ziehen? Und drittens: Wie beurteilen wir aus unserer heutigen Sicht diese kurze Phase der DeStabilisierung der Ehe und Familie? Kann sie als eine verpaßte Chance für die individuelle weibliche Selbstverwirklichung und für die gesellschaftliche Anerkennung von Frauenarbeit im weitesten Sinn gewertet werden? Oder erkennen wir nicht vielmehr an diesem Beispiel die tiefliegenden, gesamtgesellschaftlichen sozio-ökonomischen Bedingungen, die in einer kapitalistischen Industriegesellschaft die Emanzipation der Frauen mitbestimmen, d.h. vor allem auch die, die der Emanzipation der Frauen in unserem System entgegenstehen.

II. Interpretationsansätze

Die Grundlage dieser Unterrichtseinheit bieten vorwiegend von Frauen verfaßte Artikel zur Ehe und Familie, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit in verschiedenen Frauenzeitschriften erschienen sind. Sie bestätigen zunächst das eben gezeichnete Bild der kurzfristigen Krise der Ehe und Familie und des Suchens der Frauen nach neuen Wegen der Gestaltung des eigenen Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen einerseits und der langfristigen Restabilisierung der Ehe und Familie andererseits.
Aus diesen Quellen können wir einige Erkenntnisse zu der Erfahrungsund Sichtweise von Frauen in dieser Zeit herausarbeiten, die in der fachwissenschaftlichen Literatur noch kaum Erwähnung gefunden haben. Denn die Geschichtswissenschaft hat sich nur sehr zögernd auf die spezifische Frage der Frauenerfahrungen und der Frauenemanzipation im Zusammenhang mit dieser „Desorganisationstendenz" der Familie nach 1945 eingelassen. Diese weiterreichende Frage nach möglichen emanzipatorischen Tendenzen für die Frauen in dieser Zeit der „Auflösung" hat die Fachwissenschaft bisher weitgehend ausgespart.[10] In dieser Unterrichtseinheit gilt es, die kurzfristige, aber tiefgreifende Krise der ehelichen und familialen Beziehungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit der zweifachen Frage nach den möglichen Selbstbe-stimmungs- und Selbstverwirklichungschancen für Frauen und nach möglichen neuen Lebensformen und Normen für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen zu verbinden.
Zugleich stehen wir vor der Frage, ob nicht die Familie als formale Struktur entscheidenden Veränderungen unterworfen war, da sich doch inhaltlich in der tatsächlichen Gestaltung des mitmenschlichen Lebens so vieles verändert hatte, das im Widerspruch zu dieser formalen Familienstruktur mit ihren festgefügten geschlechtsspezifischen Rollenverteilungen stand. Damit steht diese Unterrichtseinheit im Zusammenhang mit der weiterreichenden, heute mit neuem Nachdruck gestellten Frage nach „verpaßten Chancen" der Neuordnung nach 1945 insgesamt.[11] Wurden im Hinblick auf die Arbeits- und Rollenzuweisungen der Frauen in den Familien Chancen zur Veränderung verpaßt? Die Ergebnisse sowohl der familiengeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaft als auch der Frauengeschichtsforschung werden berücksichtigt. Folgen wir den familiengeschichtlichen Forschungsergebnissen, so waren unmittelbar nach 1945 die Frauen nicht bereit, ihre inzwischen zentrale Position in der Familie wiede auzugeben:

  • »Nicht mehr sie (d.h. die Männer) standen im Mittelpunkt der Familie, sondern ihre Frauen und diese waren oft genug - wenigstens anfänglich - nicht bereit, diese Position wieder aufzugeben.«[12]

In dieser Dominanz der Frauen sieht Wirth die wichtigste Ursache für die bis etwa 1948 vorherrschende Desorganisationstendenz in der Ehe und der Famili„Für die unmittelbare Nachkriegszeit, bis etwa 1948 überwiegt die Desorganisationstendenz. Die wichtigste Ursache dafür ist darin zu sehen, daß die emotionalen Beziehungen, auf die die moderne Kleinfamilie im wesentlichen gründet, den starken Belastungen, die die Kriegs- und Nachkriegszeit mit sich brachte, vielfach nicht gewachsen waren."[13]
Hiernach liegt die Erklärung für die kurzfristige Desintegration der Familie in der deutschen Nachkriegsgesellschaft in der Grenze der Belastbarkeit der emotionalen Beziehungen der Ehepartner, Belastungen, die in dieser Zeit vor allem zu einer unerträglichen Überforderung für die Frauen wurden.
Diese These von der Überforderung der Frauen nach 1945 wird in der Unterrichtseinheit aufgegriffen. Allerdings lösen wir uns von dem Kleinfamilienmodell, das den Überlegungen von Wirth zugrundeliegt. Folgen wir den Überlegungen von Wirth, so ist der Erhalt der Familie vornehmlich von den „emotionalen Bindungen ihrer Mitglieder" abhängig.

  • »Gerade weil sie (die moderne Kleinfamilie) in der Hauptsache auf den emotionalen Bindungen ihrer Mitglieder beruht, ist sie einerseits Umwelteinflüssen gegenüber umso anfälliger geworden, andererseits jedoch kann sie dadurch - vorausgesetzt, die emotionalen Beziehungen sind nicht schon bereits belastet - sehr viel flexibler darauf reagieren als jede andere Familienform.«[14]

Diese Sichtweise ist zu eng. Sie übersieht die unverzichtbare funktionale Bedeutung der Familie in kapitalistischen Systemen. Zugleich wird die Emotionalität allzu einseitig als eine familienbezogene Verhaltensweise der Frauen gedeutet, wobei die emotionalen Konflikte und Emanzipationsbedürfnisse der Frauen ebenso aus dem Blickfeld geraten wie die materielle Bedeutung der Beziehungsarbeit der Frauen. Nach den vorliegenden Quellen ist es auch nicht möglich, in eindeutiger Weise davon zu sprechen, daß die Frauen zunächst mehrheitlich unmittelbar nach 1945 an ihrer zentralen Position in der Familie festhielten, um dann nach 1948 sich wiederum mehrheitlich der traditionellen Familienstruktur zu unterwerfen. Eine so eindeutige Zäsur ist nicht möglich. Die familiengeschichtlich orientierte Erklärung dafür, daß die Ehe und Familie nach einer kurzen Phase der Instabilität insgesamt gestärkt aus der Nachkriegszeit hervorging, darf allerdings auch aus frauengeschichtlicher Sicht nicht vorschnell beiseite geschoben werden. Denn sie findet in den hier abgedruckten Quellen zunächst eine Bestätigung. Auch einige Autorinnen der Artikel in den Frauenzeitschriften bemühen sich vorwiegend darum, die Ehe „zu retten" und die unkonventionellen Frauenwünsche und -forderungen dieser Jahre als „egozentrisch" abzutun.
Frauenäußerungen zur Rettung der Familie finden wir aber schon vor 1948. Sie lassen sich kontinuierlich seit 1945 verfolgen. Dennoch gibt es gegenläufige Tendenzen. In den Frauenzeitschriften werden auch die Erfahrungen und die Konflikte der Frauen in diesen Jahren der größeren Selbständigkeit reflektiert. Fragen nach neuen Lebensformen, nach einer „neuen Moral" werden gestellt. Die Frage, ob sich nicht aus den Erfahrungen der größeren Selbständigkeit auch dauerhaftere Konsequenzen für die eigene Lebensführung und für das gesellschaftliche Bewußtsein ziehen lassen, ist auch in diesen Jahren von Frauen selbst gestellt worden.[15] Diese Erfahrungen mit der größeren Selbständigkeit, der Befreiung von moralischen Normen, die die Freiheit, vor allem die sexuelle Freiheit, nur vom Mann her und zu seinen Gunsten definierten, wurden aber eher bewußtlos gemacht. Sie wurden nicht auf ihre gesellschaftliche Bedeutung hin überprüft. Sie blieben unbegriffen und gesamtgesellschaftlich folgenlos. Für uns stellt sich die Frage: Haben wir einen gesamtgesellschaftlichen Maßstab, den wir anlegen können, der auch der Beziehungsarbeit der Frauen gerecht wird? Zur Klärung des aufgeworfenen Problems ist es sinnvoll, die Ergebnisse der Frauenforschung und der Frauengeschichtsforschung heranzuziehen. Beide Forschungszweige haben systematisch analysiert, in welchem Verhältnis Reproduktionsarbeit, deren gesellschaftliche Trägerinnen - gegenwärtig als Resultat eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses - die Frauen als Ehefrauen, Mütter, Hausfrauen und Geliebte sind, zum Produktionssektor steht.[16]
Hausarbeit im Kapitalismus ist hier als Funktion für den Produktionssektor ausgewiesen. Sie produziert und reproduziert Arbeitskraft. Hausfrauenarbeit als Kinderaufzucht und materielle und psychische Reproduktion von Produktionsarbeitern ist in dieser Form an die Existenz der Lohnarbeit verbunden. Lohnarbeit folgt den Gesetzen des kapitalistischen Marktes. Der Mensch ist interessant unter dem Aspekt des Mittels für die Produktion. Die Arbeit, die er liefert, muß nach kapitalistischen Produktionskriterien verwertbar sein. Die Anforderungen an die Qualität der Arbeit sind dem Stand der jeweiligen historischen Produktionsstufe unterworfen. Ebenso wechselt die Qualität der Arbeit nach der jeweiligen Stellung des Arbeiters im Produktionsprozeß. Nur vermittelt über Kapitalverwertung, damit eingeschlossen die Austauschbarkeit der Produkte auf den Märkten dient die Arbeit der menschlichen Bedürfnisbefriedigung. Der Zweck der Kapitalverwertung bestimmt die Form der Lohnarbeit. Sie muß kalkulierbar sein, unterliegt einem festen Zeitrhythmus und ist nach Kriterien der Rationalität,   Verwertbarkeit,   Sachlichkeit  und   Effizienz   organisiert.   Dieser Verwertungszweck duldet keine Ausfälle des Arbeiters über einen längeren Zeitraum, ebenso kann im Produktionsprozeß nicht die Erneuerung der Arbeit, ihre Reproduktion geleistet werden. Diesen kapitalimmanenten Zweck erfüllt der Reproduktionsbereich, der unter kapitalistischen Produktionsbedingungen in Form der unbezahlten Hausarbeit existiert, und dessen Träger als Resultat einer historischen Entwicklung die Frauen geworden sind.
Hausarbeit ist nicht unmittelbar Arbeit für den kapitalistischen Verwer-
ijfo    tungszusammenhang, sondern erfüllt die Funktion der ständigen Erneuerung der lebendigen Arbeitskraft vermittelt über die Befriedigung unmittelbarer menschlicher Bedürfnisse, über materielle und psychische Versorgungsleistungen. Erscheinen die materiellen Tätigkeiten wie Kochen, Putzen, Waschen etc. noch als Arbeit, im alltäglichen Sprachgebrauch .Hausarbeit' genannt, so ist das für die psychische Dimension der Hausarbeit dem Schein nach nicht ohne weiteres ersichtlich. Die Fähigkeit zuzuhören, Verständnis für die Wünsche von (Ehe-)Mann und Kindern aufzubringen, die Frustrationen aus dem „eigentlichen" Arbeitsbereich oder der Schule aufzufangen, das Gefühl der Geborgenheit in stabilen menschlichen Beziehungen zu vermitteln, Regressionsbedürfnisse zuzulassen (zu Hause kann man „Mensch" sein), geschieht scheinbar aus Liebe zu nahestehenden Personen und ist auch Liebe, ein Gefühl, das sich gegen seine unmittelbare Funktio-
nalisierung  für  den   Produktionsprozeß   sperrt. Gleichzeitig  erfüllt
 Hausarbeit aber die Funktion, die Arbeitskraft in der Form wiederherzustellen, daß sie im Produktionszusammenhang verwertbar bleibt. Sie ist in dieser psychischen Dimension „Liebe" und ist es nicht. Die funktionale Bezogenheit der Hausarbeit auf das kapitalistische Verwertungsbedürfnis nach wiederhergestellter Arbeitskraft, charakterisiert die Hausarbeit als strukturell widersprüchliche Tätigkeit. Ihr Inhalt, die unmittelbare menschliche Bedürfnisbefriedigung, ist funktional auf kapitalistische Verwertungszusammenhänge bezogen und ist in ihrer Qualität sowohl mittelbar als auch unmittelbar weitgehend durch diesen Zweck bestimmt. Was sich hier wie die Denunziation des Gefühls „Liebe" anhört, ist die Hereinnahme ihrer Bezogenheit auf kapitalistische Produktionsverhältnisse, für die Liebe sich als ausgesprochener Störfaktor erweisen würde, wäre die Produktion nach Kriterien der Menschenliebe organisiert.
Gegen diese systematische Betrachtung des Verhältnisses von Reproduktionsarbeit als Hausfrauenarbeit und Lohnarbeit spricht nicht, daß materielle und psychische Versorgung tendenziell stärker außerhalb des häuslichen Reproduktionsbereiches gesellschaftlich organisiert werden, nämlich als Berufsfelder in der Dimension der materiellen und psychischen Versorgung. Die Verwissenschaftlichung des „Mutterberufes", wissenschaftlich fundierte Erziehungsstrategien, der Angebotsboom der psychotherapeutischen Versorgungsleistung verweist eher auf einen historischen Wandel, dem der Reproduktionsbereich unterworfen ist. Reproduktion wird käuflich, ihr gesellschaftlicher Charakter, der in ihrer abgetrennten Organisationsform als Hausarbeit auf der Erfahrungsebene verlorengeht, tritt deutlicher zutage. Gleichzeitig zeigt sich jedoch, daß die Reproduktionsleistungen nicht in ihrer Gesamtheit in die Gesellschaft hineinverlagert werden können. Es bleibt ein Rest, der sich gegen seine unmittelbare gesellschaftliche Organisation sperrt.
Zur Charakterisierung der Hausarbeit im Kapitalismus als strukturell widersprüchliche Tätigkeit lassen sich insbesondere folgende Punkte benennen:

  1. Hausarbeit muß die Einheit von materiellen und psychischen Versorgungsleistungen gewährleisten. Da das menschliche Arbeitsvermögen, welches sie reproduzieren soll, nur im lebendigen Menschen existiert, muß sie sowohl Bedürfnisse nach der Seite der materiellen Existenzsicherung befriedigen als auch das Bedürfnis nach menschlichen Beziehungen. Der Begriff der Hausarbeit muß demnach inhaltlich um die psychische Dimension erweitert werden
  2. Die psychische Versorgung konstituiert Beziehungen, in denen Werte wie Vertrauen, Geborgenheit, Sicherheit, Stabilität, Liebe vermittelt werden. Diese Werte werden zum großen Teil über die materiellen Versorgungsleistungen transportiert, die Liebe, die „durch den Magen" geht, werden aber auch explizit zur Verfügung gestellt und rücken in die Nähe psychotherapeutischer Arbeit.
  3. Der Beziehungsaspekt der Hausarbeit ist unmittelbarer Bestandteil der Arbeit. Damit existiert ein Widerspruch zwischen dem materiellen und psychischen Aspekt der Hausarbeit. Materielle Reproduktionsleistungen folgen Kriterien der Rationalität, Effizienz, lassen sich ökonomisch nach Maßgabe des geringsten Zeitaufwandes organisieren, während die emotionale Seite der Hausarbeit an den „ganzen Menschen" appelliert. Auf der Erfahrungsebene erscheint das als eigenständiges Interesse am Menschen, während materielle Hausarbeit als „Zumutung" gegen die eigene Identität abgegrenzt werden kann. Die Qualifikation für die psychische Seite der Hausarbeit wird im weiblichen Lebenslauf im Prozeß der Sozialisation erworben. Auch dies erklärt, warum die Erfahrung nicht zwischen „Arbeit" und „eigentlichen menschlichen Bedürfnissen" unterscheiden kann
  4. Die immanente Logik der Hausarbeit ist nicht an Kriterien objektiver   Leistungsmessung  und  der  sozialen  Funktionsfähigkeit   der Adressaten orientiert, sondern konstituiert langfristig stabile Beziehungen mit der Möglichkeit der Regression der Familienmitglieder. Zwischen Hausarbeit und Lohnarbeit existiert damit ein struktureller Gegensatz, der sich u. a. im Widerstand beider Bereiche gegeneinander ausdrückt. Die menschlichen Bedürfnisse, die in der Reproduktionssphäre unmittelbar befriedigt werden, setzen kapitalistischen Organisationsformen immanente Schranken. Die Reproduktionssphäre läßt sich nicht gänzlich in kapitalistische Dienstleistungen auflösen. Ihre Subsumtion unter das Kapitalverhältnis vermittelt sich zum einen über ihre ökonomische Voraussetzung, die Höhe des Lohneinkommens des Mannes, wie über gesellschaftliche Rahmenbedingungen,  die  durch   Familienpolitik, Steuergesetzgebung etc. gesetzt  werden.[17]   Die mangelnde  Durchkapitalisierung  der Hausarbeit ist nicht Ausdruck ihrer Rückständigkeit, sondern notwendige Bedingung für ihre spezifische Funktion der Reproduktion von lebendigen Menschen. Sie ist zwar gesellschaftlich bestimmt, ihre besondere Existenzform ist nur denkbar unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, sie umschließt jedoch ein Reservat von Menschlichkeit, das sich unmittelbaren Verwertungsinteressen widersetzt.
  5. Gerade weil die Familie und damit die Hausfrauenarbeit von der Organisationsform der Lohnarbeit abhängig ist, sollen im häuslichen Bereich „Gegenerfahrungen" zu der harten Welt draußen vermittelt werden, die die Defizite und Schäden derer ausgleicht, die aus dem Produktionsbereich kommen. Familie ist der private Raum, in dem das „eigentliche Leben" stattfindet, obwohl sie den Bedingungen des Gesamtsystems der Lohnarbeit unterworfen ist. Mittels Ideologisierung der häuslichen Verhältnisse scheinen diese der „natürliche" Rahmen für menschliche Regressionsbedürfnisse und Reproduktionserfordernisse zu sein. Die historisch gewachsene Form wird zur anthropologischen Konstante, ist in ihrer Bestimmtheit aber notwendiger Bestandteil des Systems gesellschaftlicher Arbeitsteilung unter kapitalistischen Bedingungen.

Reproduktion und Produktion ist keine Erfindung des Kapitalismus. Sie sind vielmehr die zwei Komponenten eines identischen Prozesses: der Arbeit ums Überleben von Menschen unter arbeitsteiligen gesellschaftlichen Bedingungen. So bestimmt sind sie zunächst gesellschaftlich unspezifische Tätigkeiten. Ihre besondere kapitalistische Ausformung erhalten sie dadurch, daß beide Bereiche abgetrennte Sphären bilden, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, unvermittelt nebeneinanderstehen. Nur die bezahlte Arbeit, die Lohnarbeit erscheint als Arbeit, während die unbezahlte Hausarbeit den Schein von „Liebesdiensten" annimmt und von Frauen geleistet wird. Die geschlechtliche Zuschreibung der verschiedenen Tätigkeiten - die Hausarbeit als weibliches Ressort, der öffentliche Bereich als gesellschaftlich organisierte Lohnarbeit - ist Resultat einer historischen Entwicklung, der Anpassung der geschlechtlichen Arbeitsteilung an kapitalistische Verwertungsbedürfnisse.
Diese Sicht der widersprüchlichen Struktur der Beziehungsarbeit, die sich vom familiengeschichtlichen Ansatz abhebt, verweist uns auf die „Ökonomie des Hauses" und die Einschätzung dieser „weiblichen Produktionsweise".
Diese „Ökonomie des Hauses" ist in frauengeschichtlicher Sicht für die Funktionsfähigkeit der auf Fortschritt und ökonomisches Wachstum angelegten industriekapitalistischen Gesellschaft unverzichtbar; sie bleibt aber ihrem Wesen nach gestaltlos; sie bietet für die Frau keine Grundlage zur individuellen Identifikation mit dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß.[18]
Die gesamtgesellschaftliche Einschätzung der weiblichen Produktionsweise ist für die Interpretation unseres Unterrichtsthemas zentral. Denn hier wird angenommen, daß Frauen, trotz ihrer am Haus orientierten Arbeitsleistungen, die unverzichtbar sind, auf eine individuelle Identifikation mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung verzichten müssen, d. h. daß diese Beziehungsarbeit, wie wir es in den vorliegenden Quellen beschrieben finden, in ihrer möglichen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung unbegriffen bleibt.[19] Diese Deutung der Beziehungsarbeit im Hinblick auf die Selbstverwirklichung und das Identitätsbewußtsein von Frauen nach 1945 ist weitreichend. Denn wir gelangen somit zu dem Ergebnis, daß trotz der immensen Leistung von Frauen gerade im Beziehungsbereich nach 1945 wir unter einem gesamtgesellschaftlichen Aspekt weiterhin von einer Identitätsbeschädigung der Frauen sprechen müssen. Sie waren nicht in der Lage, traditionelle Rollenzumutungen im ehelichen und familialen Bereich zu durchschauen und zu durchbrechen.
Diese These einer Identitätsbeschädigung der Frauen, die sich auch über die Jahre 1945-1949 hinweg verfolgen läßt, ist gerade im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion bemerkenswert. Sie scheint zunächst im Widerspruch zu der Annahme, die wir in der gegenwärtigen Frauengeschichtsforschung finden, zu stehen, daß die weibliche Produktionsweise der männlichen überlegen ist. Diese These von der „wesensmäßigen" Überlegenheit der weiblichen Produktionsweise wird gerade in Verbindung mit der Qualität ihrer Beziehungsarbeit gebraucht. Diese überlegene Qualität der weiblichen Beziehungsarbeit ist aber nicht, und darauf macht uns die Geschichte der Beziehungsarbeit der Frauen nach 1945 aufmerksam, eine zeitlose Kategorie. Sie ist bestenfalls eine historische Möglichkeit, eine weibliche Utopie, die erst die realen Bedingungen ihrer Verwirklichungsmöglichkeiten begreifen muß. Die These von der überlegenen Produktionsweise der Frauen beruht auf der richtigen Annahme, daß die männlichen Utopien der Gesellschaft „auf die männlich strukturierte Arbeit begrenzt bleiben und übersehen, daß aber erst mit den ,weiblichen' Prinzipien die Hoffnung für ein menschlicheres Wachstum dieser Gesellschaft gegeben ist"[20]. Sie läßt sich allerdings nicht losgelöst von der konkreten historischen Situation verallgemeinern, um in einer historisch unzulässigen Weise die Überlegenheit des Weiblichen zu hypostasieren. Wir haben es hier mit einer neuen Weiblichkeitsideologie zu tun, die den Gefahren der Mütterlichkeitsideologie der Vergangenheit unterliegt. Dieser spekulative Gedankengang, der heute in vielfältigen gesellschaftlichen Modellen und Alternativkonzepten auftaucht, läßt sich nur mit Bedacht auf die unmittelbare Nachkriegszeit übertragen. Dieser Bezug liegt zweifellos in besonderer Weise nahe, da angesichts des täglich erfahrbaren wirtschaftlichen Zusammenbruchs 1945 und des scheinbar totalen Rückfalls der Gesellschaft in den vor-kapitalisti-schen,   „archaischen   Zustand   einer   Natural-   und   Subsistenzwirtschaft"[21] die „weibliche" Ökonomie des Hauses plötzlich eine offenkundig lebenswichtige Funktion für die Gesellschaft hatte und sich für eine kurze Zeit sogar dem Anschein nach, d.h. auch in den täglichen Erfahrungen der Menschen im Nachkriegsalltag, als der kapitalistischen Produktionsweise überlegene Produktionsweise erwies. An dieser Stelle sprechen wir bewußt von der nur scheinbaren Überlegenheit der Frauenarbeit in der erweiterten Reproduktionssphäre in den Jahren nach dem Krieg, da die Restauration des kapitalistischen Wirtschaftssystems schon vor der Kapitulation im Mai  1945 in vollem Gange war.[22]
Die Restauration wurde allerdings erst nach der Währungsreform für weite Teile der Bevölkerung eine erfahrbare Größe. Allerdings wird bei diesem Abwägen deutlich, daß sich die Arbeitsleistung in den beiden Bereichen der Produktion und der Reproduktion nur sehr bedingt vergleichen läßt. Die kapitalistische Produktion nach 1945 war zweifellos den Reproduktionstätigkeiten der Frauen in der Nachkriegszeit langfristig wirtschaftlich überlegen. Dennoch wird die Reproduktionstätigkeit der Frauen in diesen Jahren in vielen Fällen als überlegen erfahren. Diese Überlegenheit sollte aber nach dem Selbstverständnis der Mehrzahl der Frauen in dieser Zeit nicht sichtbar werden oder gar als eine öffentliche Form der gesellschaftlichen Produktion Anerkennung suchen. Im Selbstverständnis der meisten Frauen sollte die Beziehungsarbeit weiterhin privat bleiben. Gerade die Quellen machen deutlich, daß die weibliche Erfahrung der subjektiven Überlegenheit einhergeht mit der bewußten weiblichen Strategie, den männlichen „Herr-im-Haus"-Standpunkt nicht anzutasten.
Versuchen wir diesen utopischen Gehalt der weiblichen Produktionsweise zu fassen, so können wir davon ausgehen, daß die Reproduktionstätigkeiten der Frauen in den Jahren nach 1945 sowohl in ihrer moralischen als auch möglicherweise in ihrer ökonomischen Substanz eine überlegene Qualität in sich bargen, daß sie sich aber in der Nachkriegsgesellschaft, die weiterhin von den bürgerlich-kapitalistischen Produktionsnormen bestimmt wurde, nicht auswirkten. Für die Beurteilung der Beziehungsarbeit der Frauen in diesen Jahren kommt hinzu, daß in der Zeit des „Zusammenbruchs" auch die bürgerlich-kapitalistischen Produktionsnormen scheinbar ihre gesellschaftlich regulierende Kraft eingebüßt hatten. Diese Normen setzten sich allerdings, wie die Kontinuität der Familienstruktur deutlich macht, hinter dem Rücken der Bevölkerung, insbesondere der weiblichen Bevölkerung, durch.
Damit stoßen wir auf das Kernproblem dieses Interpretationsansatzes: Um der weiblichen Arbeit im Reproduktionsbereich, insbesondere der weiblichen Beziehungsarbeit, gerecht zu werden, müssen wir andere, d.h. nicht vom Produktionssystem abgeleitete Maßstäbe anlegen. Wir müssen uns bei der Beurteilung der Beziehungsarbeit der Frauen auch mit „weiblichen" Prinzipien, die sich an der Utopie des menschlichen Wachstums orientieren und somit das kapitalistische Lohn- und Wertsystem sprengen, beschäftigen. Die weiblichen Prinzipien bleiben aber Utopie, bleiben nicht realisierte historische Hoffnung, finden sie nicht in der Gesamtgesellschaft Anerkennung, d. h. gehen sie nicht mit einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung einher.

Frauen in der Geschichte III
Die vorliegenden Quellen werden daher unter der Fragestellung der möglichen Überlegenheit der weiblichen Ökonomie diskutiert, allerdings in kritischer und eman-zipatorischer Absicht. Denn eine rational reflektierte gesellschaftliche Einschätzung und Bewertung ihrer Beziehungsarbeit war den Frauen in der Nachkriegszeit nicht möglich. Eine sorgfältige Analyse der Quellen in dem gesamtgesellschaftlichen Kontext der Zeit nach 1945 zeigt, daß die häusliche Ökonomie sich auch in den Jahren unmittelbar nach 1945 nicht in einem gesellschaftlichen Freiraum behaupten konnte, daß dieser gesellschaftliche Bezug jedoch nicht wahrgenommen wurde. Gerade die Frauen in den Jahren nach 1945 mußten die für sie bittere Erfahrung machen, daß ihre Lebensformen und Lebenserwartungen zwar objektiv die Normen der 1945 in rudimentärer Weise noch funktionierenden bürgerlichen, männlich-kapitalistischen Gesellschaft sprengten, zugleich auch gesellschaftlich notwendige Arbeit darstellten, daß aber gerade ihre Arbeitsweise, die spezifisch weibliche Ökonomie des Hauses durch die Bedingungen und die sinngebenden Normen außerhalb des Hauses, d. h. durch die Werte des nur scheinbar kaputten Kapitalismus weiterhin entscheidend bestimmt wurde. Die Erkenntnis von Brecht, daß über das Fleisch in der Suppe nicht in der Küche entschieden wird, blieb auch in diesen Jahren gültig, als in Deutschland das Fleisch in der Suppe noch fehlte. Diese Erkenntnis wurde in diesen Jahren sowohl von den Männern als auch von den Frauen, die die Aufbauleistungen dieser Jahre auf sich nahmen, verdrängt.
Die frauengeschichtliche Perspektive macht uns auf die ungeheure Kraft und die physische und psychische Überlebensarbeit der Frauen in den Jahren unmittelbar nach 1945 aufmerksam. Diese Arbeit blieb aber trotz der Erfahrung eines scheinbar totalen wirtschaftlichen Zusammenbruchs in einem für sie nicht erkennbaren Sinne den Gesetzen des Marktes unterworfen. Dieser Tatbestand ist allerdings nicht nur frauenspezifisch. Auch die Arbeiter erkannten in den Hungerjahren 1946 und 1947 nicht, daß sie Mehrarbeit für die kapitalistische Restauration leisteten, die sich nicht nach den Bedürfnissen des Nachkriegsalltags, sondern nach den Erfordernissen des Marktes richtete. Halten wir uns diese Problematik der auf das Überleben gerichteten Frauenarbeit in der Nachkriegszeit vor Augen, so dürfen wir uns bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Bedeutung dieser kurzfristigen Überlebensarbeit der Frauen nicht zu Überschätzungen verleiten lassen. Denn die Mehrzahl der Frauen hat, in Übereinstimmung mit ihren Männern, erst in der kapitalistischen Wirtschaft und der mit ihr funktionierenden, wieder voll hergestellten bürgerlichen Gesellschaft ihre über das männliche System vermittelte, allerdings, wie wir feststellten, beschädigte Identität gefunden. Denn diese Identität ist verbunden mit der Zustimmung zu engen weiblichen Rollenzuweisungen, die die Beziehungsarbeit in-Ehe und Familie allein in die Verantwortung der Frau stellen.
Aus dieser Feststellung folgt, daß wir nach dem gesamtgesellschaftlichen Maßstab die nach 1945 geleistete Frauenarbeit nicht allzu hoch einschätzen dürfen. Sie bleibt aber bedeutsam auch für uns heute, versuchen wir - im Gegensatz zur Entwicklung der 50er Jahre - bei der Beurteilung der Frauenarbeit diese am kapitalistischen Markt orientierten Maßstäbe der patriarchalisch bestimmten bürgerlichen Gesellschaft zu sprengen.

III. Die leitende didaktische Zielsetzung

Unser historischer Lernprozeß orientiert sich am Lernziel der geschlechtsspezifischen Identitätsfindung. Aus der Einführung in die Problemstellung und die Interpretationsmöglichkeiten ist aber schon deutlich geworden, daß weibliche Identiät nicht als eine fest umrissene historische Größe Schülerinnen) vermittelt werden kann. Einsicht in die weibliche Identitätsbildung setzt aber auch Einsicht in die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der weiblichen Beziehungsarbeit voraus. Das Suchen nach neuen Formen der weiblichen Selbstverwirklichung nach 1945 macht uns auf die Offenheit des Lernziels der geschlechtsspezifischen Identitätsfindung aufmerksam.
In den Jahren nach 1945 stehen die Identitätserfahrungen von Frauen in einem widerspruchsvollen Verhältnis zu ihrer traditionellen Rolle in der Familie. Gerade dieser Widerspruch zwischen dem Selbstbestimmungsanspruch der Frauen und ihren traditionellen Rollenzuweisungen, der sich in den Identitätskrisen von Mädchen und Frauen in der Nachkriegszeit widerspiegelt, wird in dieser Unterrichtseinheit aufgedeckt. Die individuellen Formen der weiblichen Verarbeitung dieser Widersprüche und die gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser widerspruchsvollen Erfahrungen sind der wichtige Gegenstand des historischen Lernprozesses. Dieser historische Lernprozeß orientiert sich somit am Lernziel der kritisch-reflexiven, geschlechtsspezifischen Identitätsbildung.
Diese allgemeine Lernzielorientierung läßt sich durch drei unterschiedliche Zielsetzungen konkretisieren:

  1. Ein flüchtiger Blick in den Alltag der Nachkriegszeit, in die kaputten
Familien, in die zerstörten Häuser, in die täglichen Anormalitäten, die
tief in das mitmenschliche Zusammenleben und in die Beziehungen
der Geschlechter hineinragten, genügt, um Mißtrauen gegenüber der
These von der Gleichzeitigkeit der stabilen Familie und des totalen Zu
sammenbruchs im Jahre 1945 zu hegen. Die Vorstellung ist jedoch im
mer noch weit verbreitet. Daher gilt es zunächst auf die historische Di
mension der Ehe und Familie hinzuweisen. Die Schüler(innen) sollen
erkennen, daß die Institution Ehe und Familie nicht eine unveränderli
che, überhistorische Größe darstellt, sondern daß sie vielmehr erst im
historischen Prozeß entstanden und grundlegenden Veränderungen un
terworfen ist. Die Auflösungserscheinungen der Ehe und Familie sind
1945 eine historische Realität.
  2. Die Unterrichtsreihe ist nicht primär aus der familiengeschichtli
chen, sondern aus der frauengeschichtlichen Perspektive konzipiert worden. Daher stehen die Veränderungen der Frauenerfahrungen und der Frauenrollen im Mittelpunkt. Die Schüler(innen) sollen erkennen, daß mit den Veränderungen der Frauenrolle in dem Bereich der Familie sich auch veränderte Möglichkeiten für die Selbstbestimmung der Frauen innerhalb und außerhalb des Hauses ergaben. Die Schülerinnen) sollen lernen, die Konflikte zwischen dem Selbstbestimmungsanspruch der Frauen und den traditionellen Rollenzuweisungen, die die Frauen in ihren Emanzipationsmöglichkeiten benachteiligen, zu erkennen und Konfliktlösungen, die nicht falsche Kompromisse seitens der Frauen darstellen, zu suchen. Hier gilt es, realistische gesellschaftliche Alternativen zu der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und zur frauenzentrierten Familienform zu diskutieren.
  3. Die kurzfristigen Alternativversuche von Frauen nach 1945 machen deutlich, daß eine Veränderung der spezifischen Rollenzuweisung der Frauen im Rahmen der Familie und Ehe nur im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang möglich ist. Die Schüler(innen) sollen erkennen, daß die weiblichen Rollenzuweisungen in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die mit unserem industriekapitalistischen Wirtschaftssystem verbunden ist, wurzeln, d.h. daß Veränderungen in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Ehe und Familie von einer Veränderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auch in den außerhäuslichen gesellschaftlichen Bereichen begleitet sein müssen.[23]

IV. Die Struktur des Lernprozesse

1. Erster Lernschritt: Die Gegenwartsproblematik

Ausgangspunkt des Lernprozesses sind die Sozialisationserfahrungen und die Einstellungen der Schüler(innen) zum Thema: Ehe, Familie, Partnerschaft. Dabei liegt es auch nahe, daß die Schüler(innen) das Gespräch mit älteren Frauen ihrer Umgebung, mit ihren Großmüttern und Tanten suchen, um mehr über die Erfahrungen von Frauen in den Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit zu lernen.[24] Diskussionen von Schilderungen aus dieser Zeit (vgl. Text von Hans W. RICHTER) und Bilder (vgl. Abbildung 1) führen zu einer weiteren Problematisierung des Themas. Schließlich können die Thesen von Th. Eschenburg und Dieter Wirth (s. S. 234, 237) eingeführt werden, um zu weiterführenden Leitfragen zu gelangen. Für die Gesamteinheit steht die These von der Kontinuität der Familie einerseits und der Bedeutung von Frauenerfahrungen 1945 andererseits im Mittelpunkt

Hans Werner Richter: Unterhaltungen am Schienenstrang
Die deutschen Mädchen

  • In allen Gesprächen am Schienenstrang unserer Zeit kommt man irgendwann
auf die deutschen Mädchen zurück. Irgendwo sieht man aus dem Abteilfenster
einen Neger mit einem deutschen Mädchen über die Straße gehen, und schon
beginnt das Gespräch. „Nein, die deutschen Mädchen, wissen Sie, wer hätte das
erwartet. Dieses Absinken der Moral. Dieser Mangel an Nationalgefühl." Man
hat so viel von ihnen erwartet, an Haltung, an Nationalgefühl, an Ehre und
Würde. Nun haben sie das nicht gehalten. Nun sind sie an allem schuld. „Ha
ben Sie das in Hamburg gesehen", sagt da ein älterer Herr mit einem Kneifer
und unrasierten, eingefallenen Wangen zu einem jüngeren, der sich, sehr ge
pflegt, eine amerikanische Zigarette anzündet, „alle Tommies mit deutschen
Mädchen. Das geht zu weit, das geht entschieden zu weit." Darauf der Jüngere:
„Da müssen Sie erst mal nach Frankfurt kommen. Da können Sie was erleben."
Eine alte Frau, die sehr weit gereist aussieht, mischt sich ein: „Was reden Sie da.
Hunger tut weh. Und schließlich, es gibt auch noch anständige Mädchen. Aber
die Männer, die etwas taugen, sind schon sechs Jahre fort. Nun sitzen sie in Ge
fangenschaft. Wer will das den Mädchen da übelnehmen!" Der alte Herr mit
dem Kneifer wird etwas erregt. „Aber bedenken Sie, für einen Kaugummi, für
Schokolade, für Zigaretten, nein, das ist unmöglich."„Warum denn nicht", sagt
der Jüngere, „schließlich stehen die Sachen hoch im Kurs auf dem Schwarz
markt." Die alte Frau sieht zum Fenster hinaus. „Das verstehen Sie nicht", sagt
$§$    sie „nein, das verstehen Sie nicht."

Aus: KLAUS WAGENBACH (Hg.): Lesebuch. Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1959. Berlin 1980, S. 46-47 (geschrieben 1946)

Texte dieser Art sind geeignet, die Schülerinnen und Schüler auf die Unsicherheit in den Beziehungsnormen in dieser Zeit aufmerksam zu machen. Wie sollten sich die Mädchen, die Frauen verhalten? Sollten sie sich an die traditionellen Normen halten, sollten sie neue Wege bei der Wahl ihrer Partner und der Gestaltung ihrer Beziehungen wählen? Die Vermutungen und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler dienen als Leitfragen für den weiteren Unterricht.

2. Zweiter Lernschritt:

Der Umgang mit den historischen Materialien

Die hier ausgewählten Materialien, die nur aus der sehr beschränkten Perspektive der Frauenzeitschriften Fragen nach den Beziehungen zwischen den Geschlechtern nach 1945 beleuchten, spiegeln ähnlich wie die Reportageliteratur dieser Jahre den „erzwungenen Alltag"; sie sind Ausdruck sowohl der erlittenen und der nur sehr partiell wahrgenommenen als auch der gedachten, der erträumten Wirklichkeit, Ausdruck der Lebenskrisen, der Hoffnungen und Nöte und vor allem der Bedürfnisse der Frauen in diesen Jahren der materiellen und psychischen Not.[25] Die Materialien werden hier unter den drei Gesichtspunkten erstens der Krise der bürgerlichen Ehe, zweitens der neuen Formen des Zusammenlebens und drittens des Ja der Frauen zur traditionellen Ehe- und Familienform zusammengefaßt.
Beim. Themenbereich: „Krise der bürgerlichen Ehe (Q 1 und Q 2)"muß an einige Tatsachen erinnert werden, die das Verhältnis der Geschlechter in diesen Jahren entscheidend beeinflußt haben:
Nach dem Krieg lebten in Deutschland 7 Millionen mehr Frauen als Männer, besonders die männliche Altersgruppe der 20- bis 45jähri-gen stellte einen unverhältnismäßig geringen Teil der Gesamtbevölkerung.[26] Das bedeutete für viele Frauen im heiratsfähigen Alter keinerlei realistische Aussicht auf die Ehe. Diese Frauen waren gezwungen zu arbeiten und - wollten sie nicht zeitlebens allein bleiben - neue Lebensformen zu antizipieren. Möglichkeiten von Frauenwohngemeinschaften, Kinder kriegen ohne Partner und ein theoretisches Konzept, die „Mutterfamilie", das sogar dem Parlamentarischen Rat vorgelegt wurde, waren in der Diskussion.
Infolge des „Zusammenbruches" sind die Scheidungsziffern sprunghaft angestiegen. In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahre 1947 21 965 Ehen geschieden, 1948 war die Zahl der Ehescheidungen auf 240 48 angewachsen. Damit hatte sich die Scheidungsrate im Vergleich mit dem letzten Friedensjahr 1938 fast verdreifacht.[27]
Über mehrere Jahre hinweg bewegten sich Männer und Frauen in völlig verschiedenen Lebenswelten. Kriegsalltag an der Front und in der Truppe im Kreis von Männern und Kriegsalltag zu Hause, von Frauen, Kindern und Alten dominiert, boten so gut wie keinerlei Berührungspunkte. Beide Partner gingen getrennt durch große Gefahren hindurch und mußten sie individuell meistern. Gemeinsame Erfahrungen waren auf Briefe und Erzählungen reduziert; Kinder wurden geboren, die in den ersten Lebensjahren in der Hauptsache von Frauen umgeben waren.
Die Frauen mußten lernen, ohne Männer zu leben. Dies brachte für Frauen den Zwang zum Erwerb, zum Weiterführen der häuslichen Notwendigkeiten und zum eigenständigen Gestalten der menschlichen Beziehungen mit sich.
Den aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Männern begegneten Gefährtinnen, die ihnen oft fremd geworden waren, eine Umgebung, in der sie sich nicht zurechtfanden. Die Wohnung, sofern nicht zerbombt, bot oft Flüchtlingen und ausgebombten Verwandten zusätzlich Raum. Der Lebensstandard war für die meisten auf ein Minimum herabgesunken, die Daheimgebliebenen kämpften buchstäblich ums eigene Überleben. Jeder war sich in dieser extremen Situation in erster Linie selbst der Nächste. Die Situation wurde verschärft, wenn der heimgekehrte Mann ungeachtet des in der langen Zeit seiner Abwesenheit erworbenen neuen Selbstbewußtseins der Frau und der Entfremdung von Frau und Kindern seinen alten Platz als Familienoberhaupt wieder einnehmen wollte. Erschwerend für die Männer kam hinzu, daß der Kriegsausgang von ihnen häufig als persönliches Versagen interpretiert wurde, daß viele Männer physisch und psychisch krank zurückkamen, daß sie ihre alten Arbeitsplätze meist nicht mehr einnehmen konnten und neue nicht so bald fanden, kurz, daß sie der traditionellen Männerrolle in keiner Weise mehr gerecht werden konnten.
Die Belastungen für das Zusammenleben und für die Fortsetzung von Ehe- und Familienbeziehungen kommen in den zahlreichen Frauenzeitschriften immer wieder, wie in dem hier von Vanna Brenner aufgezeigten Konflikt, zum Ausdruck: „Es ist gefährlich, allein zu leben, zu arbeiten, sein Kind aufzuziehen und zu merken, daß man es kann."

  • Q 1.  Vanna Brenner: Briefe der Liebe
    „Als ich zittern und beten konnte um Bert - da ging es mir gut", sagten Sie. „Es war wie ein silberner Panzer, ein Schutz gegen das Leben. Jetzt hält mich der Panzer nicht mehr, und ich falle zusammen. Ich bin haltlos. Ich weiß es mir nicht zu erklären. Ich liebe Bert. Aber er ist zu lange weg. Die ersten Jahre dachte ich bei jeder Entscheidung an ihn. Ich beriet mich in Gedanken mit ihm; oft glaubte ich, seine Stimmer zu hören, die mir in klaren Worten das Richtige anriet. Aber die Stimme ist verstummt. Sie antwortet nicht, wenn ich frage. Ich frage auch nicht menr- Ich entscheide selbst. Das geht ausgezeichnet und bringt mich zur Verzweiflung, weil es so ausgezeichnet geht. Ich weiß nicht, ob er sich von mir oder ich mich von ihm entfernt habe. Aber ich weiß - ach, es ist furchtbar zu sagen - daß ich unter dem Entferntsein nicht mehr leide. Oft denke ich mit Schrecken statt mit Freude an die Zukunft. Wie wird es sein, wenn er zurückkommt? Es ist gefährlich, allein zu leben, zu arbeiten, sein Kind aufzuziehen und zu merken, daß man es kann."
    Aus: Der Regenbogen 6/1946 (1), S. 3.

Der Psychologe und Eheberater Walter von Hollander meldete sich in der Frauenzeitschrift ,Welt der Frau' mit einer Artikelserie „Wie überwinden wir die Ehekrise?" zu Wort (Q 2). Seine Fallbeispiele geben uns nicht nur Einblick in die zwischenmenschlichen Probleme dieser Jahre; sie führen auch zu weiteren Fragen nach möglichen Veränderungen der geschlechtsspezifischen Arbeits- und Rollenteilung.

  • Q 2.   Walter von Hollander: Wie überwinden wir die Ehekrise?

    „Wir wollen heute über ein Problem sprechen, das bisher in der Nachkriegsöffentlichkeit wenig behandelt worden ist, weil akutere, tödlichere Nöte im Vordergrund stehen. Wir meinen das Problem der Ehezerrüttung, der Ehetrennungen, der Ehescheidungen. Die seelischen Nöte, in welche die Einzelnen dadurch geraten sind, beginnen eine allgemeine Gefahr zu werden. Der Zusammenbruch zahlloser Ehen verstärkt das Chaos, das die äußeren Niederbrüche rings um uns angerichtet haben. Deshalb scheint es uns nötig, die Tatsachen objektiv aufzuzeichnen und darüber nachzudenken, wie sich Abhilfe schaffen läßt. Zunächst ein paar Fälle, die mir zufällig begegnet sind und deren innere Gleichförmigkeit sie charakteristisch für die gegenwärtige Situation erscheinen lassen. Fall 1: Heiratsjahrgang 1942. Liebesheirat. Er war ein erfolgreicher Fliegeroffizier, stürzte 1943 ab, lag ein Jahr mit Wirbelsäulenverstauchung im Krankenhaus und ist noch heute gehbehindert, leidet an Schwindelanfällen, Kopfweh, Schlaflosigkeit. Sie: Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, 1943/45 eingezogen als Wehr-machtshelferin zu einem höheren Stab. Sehr hübsch, von den Männern sehr verwöhnt. Jetzige Lage: Seine ziemlich reichen Eltern wurden in Berlin getötet. Ihre sind in Mecklenburg verschollen. Sie hat eine kleine Stellung als Stenotypistin in einem Hamburger Betrieb. Er wollte mit einem Rest von Ersparnissen studieren, wurde aber von der Hamburger Universität abgelehnt. So sitzt er krank, stellungslos, hoffnungslos in dem kalten Zimmer, das sie sich mühsam genug erobert haben. Wenn sie, erschöpft von Arbeit und Einkauf, heimkommt, gibt es Streit um die nichtigsten Dinge. Ursache: Er ist in seinem männlichen Empfinden tödlich verletzt, weil sie ihn im Augenblick ernährt. Eines Tages kommt ein Herr des ehemaligen Wehrmachtsstabes, jetzt Kaufmann in Hamburg, zu ihr zu Besuch. Sie lebt an diesem netten Abend auf, ist freundlich, lebendig, froh, aus der trüben Gegenwart in angenehmere Erinnerungen zurückzutauchen. Am anderen Tag geht der Mann zum Anwalt und läßt die Ehescheidung einreichen mit der Begründung, sie habe ihn während ihrer Wehrmachtszeit betrogen. Daran ist kein wahres Wort. Aber sie weiß noch nicht, ob sie gegen die Klage etwas unternehmen soll. Denn, so sagt sie, aus unserer Ehe wird ja doch nichts mehr.Fall 2: Er, der etwa 35jährige Inhaber eines Kohlen- und Transportgeschäftes in der Nähe von Hannover. Sie, [28] Jahre, Bauerntochter aus Friesland. Vernunftehe, die bis zum Kriege ganz gut ging. Zwei Kinder. Der Mann war während des ganzen Krieges Soldat, aber meist auf recht gemütlichen Posten verwendet. Die Frau führte das Geschäft durch alle Fährnisse des Krieges, zuerst allein, dann mit Hilfe zweier kriegsgefangener Franzosen, die sie und die Kinder auf eine nette Art verwöhnten. Wahrscheinlich, daß sie sich in einen der Franzosen ein wenig verliebt hatte. Aber es ist nichts vorgefallen, woraus man ihr einen Vorwurf hätte machen können. Allerdings lernte sie etwas kennen, was sie noch nicht kannte: zarte Verehrung. So mag ihr der Abschied bei Kriegsende schwer gefallen sein. Der Mann kam wieder, arbeitsentwöhnt, trat in seine Rechte ein, aber nicht in seine Pflichten. Er vernachlässigte das Geschäft. Die Frau mußte arbeiten wie am Anfang des Krieges. Er tat nichts als kommandieren und kritisieren. Eines Tages packte sie ihre Kinder auf und fuhr zu ihren Eltern nach Friesland. Nachbarn verdächtigten die Frau. Scheidungsklage, gegen die sich die Frau aus Gründen der Reputation zur Wehr setzt. Aber zurückkehren will sie nicht, weil der Mann - wie sie sagt - ,nichts mehr wert, für immer verlottert ist'." Aus: Welt der Frau 4/1946 (1).

2. Themenbereich: „Neue Formen des Zusammenlebens und die weibliche Suche nach einer eigenen Identität (Q 3 - Q 6)". Hier sei wieder an die Ausgangssituation 1945 erinnert. Familiäre und eheliche Konflikte konnten in diesen Jahren nicht ausbleiben. Die Bande des Ehevertrages erwiesen sich als künstlich; sie vermochten nicht mehr zu binden, was durch extreme individuelle Erfahrungen und ein verändertes Rollenverständnis von Mann und Frau auseinanderstrebte. Die Ehe wurde vor dem erstarkten Bewußtsein weiblicher Identität als Anachronismus, als ein künstliches Gebilde erfahren, das in chaotischen Zeiten geradezu hinderlich wurde. Der Krieg und die Folgezeit ließ bei Männern wie bei Frauen neue Bedürfnisse  erwachen.
Angesichts dieser Verschärfung der Spannungen zwischen den Geschlechtern war es in den Augen der Zeitgenossen eine noch unentschiedene Frage, ob Frauen neue Wege der Selbstbestimmung und der Lebensgestaltung einschlagen würden.

  • „Die Frauen haben sich während des Krieges in einem männlich todbedrohten und männlich berufserfüllten Leben großartig bewährt. Sie haben - nur wer die Augen schließt, kann das leugnen - oft im Sexuellen ein Leben geführt, das sich bisher der Mann, mit Recht oder Unrecht, vorbehalten hatte. Nun gibt es unzählige Frauen - vielleicht sind es die meisten -, die nur allzu gern die Last des männlichen Lebens wieder an den Mann zurückgeben würden, während nicht alle ebenso bereit sind, die Lust des männlichen Lebens, seine relative Ungebundenheit, aufzugeben."

In den Frauenzeitschriften finden sich kaum theoretische Abhandlungen zu neuen Lebensformen und zu freieren Moralvorstellungen. Die Bejahung der „modernen Lebensverhältnisse" (Q 3) in der „Genossin", der Frauenzeitschrift der SPD, blieb eine der wenigen Ausnahmen. Häufiger dagegen waren die Überlegungen, ob nicht die erzwungene Berufstätigkeit der Frauen zum neuen Typ der „eheunwilligen Frau" (Q 4) geführt habe. Das würde die Vermutung nahelegen, daß keine gewollte Entscheidung der Frauen vorlag, sondern daß die Alternative „Beruf" für die Ledigen, die durch den Männermangel keine Heiratsaussichten hatten, oft der einzige realistische  Ausweg  war.
Bei der Interpretation dieser Quelle muß daran erinnert werden, daß der Anteil der erwerbstätigen Frauen an der Bevölkerung keineswegs nach dem Kriege angestiegen ist. In den ersten beiden Nachkriegsjahren blieb die weibliche Erwerbsquote „deutlich unter dem Anteil der erwerbstätigen Frauen an der Bevölkerung der Jahre 1933 und 1939".***432.8.28**

Frauen in der Geschichte III
Bestimmend für alle Frauen war das Bewußtsein, in einer Zeit der moralischen Auflösung zu leben. Sie suchten nach den Gründen für das „Versagen" der Frauen (Q 5) und nach Wegen, die neue Freiheit „zu nutzen" (Q 6). Dabei waren sie überzeugt, daß „etwas falsch an jener so fest eingebürgerten Lebensordnung sei". Aber was? An diesen Quellen stellt sich uns die Frage, ob die Analyse der Gesellschaft tiefgreifend, die Vorstellungen von dem Leben der Frauen „von morgen" weitreichend gewesen sind.

  • Q 3. Hermine Zöller: Liebesgott mit verbundenen Augen

    Neben der beruflichen und politischen Freiheit, die sich die moderne Frau errungen hat, hat sie ihre selbständigen Schritte auch auf ein Gebiet gewagt, das bisher unumschränktes Recht der Männerwelt war: Die erotische Freiheit außerhalb des Rahmens einer Ehe.
    Das heute geltende Gesellschaftsrecht der Monogamie verlangt zwar von beiden Geschlechtern eheliche Treue, in Wirklichkeit wird sie aber nur von der Frau gefordert, beim Mann blieb diese Forderung eine bloße Phrase. Seit Bestehen der Ehe hat sich der Mann das Recht genommen, vor und in der Ehe Abenteuer zu erleben. Seinem guten Ruf hat dies nichts getan, die Verdammung traf diejenigen Frauen, mit denen er es tat, sie waren geächtet und ausgestoßen. Inzwischen hat sich die Haltung der Geschlechter etwas gewandelt. In der Praxis sieht es heute doch so aus, daß Liebesleute sich auch vor der Ehe oder auch außerhalb einer Ehe einander hingeben. Unsere Sitte übersieht das einfach. Wenn man sich aber einmal die Schicksale so vieler junger Menschen betrachtet, so scheint es, als ob die Durchschnittsfrau von heute nur einen Schritt vorwärts getan hat, aber mit einem Fuß noch in der alten Zeit steht. Mir scheint, als ob den modernen Liebesverhältnissen noch der altmodische Zopf anhängt. Die Frau hat alle Verantwortung allein zu tragen, für den Fall, daß diese freie Liebe sichtbare Folgen hat und nicht in einer bürgerlichen Ehe endet." Aus Genossin 7/1949 (12), S. 221.254
     

  • Q 4.  Wollen alle Mädchen heiraten?

    „Ein neuer Typ unseres Gesellschaftslebens: die eheunwillige Frau. Heiratsunwillige Frauen hat es immer gegeben - aber sie waren kein Typ, sondern Einzelerscheinungen. Die Männer pflegen sie mit einem echt männlichen Gesamturteil abzutun und sprechen vom Fuchs und den Trauben. Ein Geschlecht denkt und spricht merkwürdigerweise vom anderen immer nur als Kollektiv. ,Ach ja, die Männer!' seufzen die Frauen und füllen mit der Ausdrucksfähigkeit dieser Worte mehrere Bände - und ,Nun ja, Frauen!' sagen die Männer, und das bedeutet ein ganzes Lexikon summarischer Urteile. Dem eigenen Geschlecht steht man jedoch gern recht komplizierte Differenzierungen zu. Eins der konservativsten Kapitel, an dem niemand zu deuten sich befugt findet, ist ,die natürliche Bestimmung der Frau als Gattin und Mutter' - man übersieht dabei aber, daß die Natur selbst schon eine ganze Weile Kopf steht. Es war ja auch .natürliche Bestimmung' von 10 Jahrgängen junger Männer, treusorgende Familienväter zu werden, statt auf dem Schlachtfeld zu sterben. Der akute Männermangel und der entgegenstehende Frauenüberschuß zeigen nun die Folgen auf, die zum großen Teil noch gar nicht abzusehen sind. Eine dieser Folgen ist -es klingt paradox -, das Mädchen, das nicht heiraten will'. Ich denke an irgendeine - beispielsweise an Kitty, 32 Jahre alt, Directrice in einem Warenhaus, 320 Mark Monatsgehalt. Davon kann sie leben und sich noch einige Annehmlichkeiten erlauben, auf die sie in der Ehe mit ihrem Freund Franz wahrscheinlich verzichten müßte. ..
    Nein - Kitty kann sich nur verschlechtern, wenn sie heiratet. Und sie ist sich der Konsequenzen ihres Nein voll bewußt - nämlich, daß sie Franz in absehbarer Zeit verlieren wird. Es gibt viele Kittys. Der Krieg hat Frauen in gutbezahlte Berufe und Stellungen gebracht, die vorher den Männern vorbehalten waren. Da sind sie nun drin und verteidigen ihre ,goldene Freiheit'.
    Es wäre ein Leichtes gewesen, ein paar tausend Kittys, Greten, Lilos und Annelies zu befragen, ob sie tatsächlich heiratsunwillig sind; aber die Antworten wären nur mit Skepsis aufzunehmen gewesen. Viele von diesen berufstätigen älteren Mädchen wissen auch nicht um ihre Kitty-Wirklichkeit und werden sich ihrer erst bewußt, wenn wider Erwarten doch noch so ein rares Mangelexemplar Mann anklopft und dann tödlich beleidigt ist, weil Kitty zögert - und schließlich Nein sagt. Deshalb habe ich in einer Reihe großer Betriebe mit viel weiblichem Personal auch die Personalkartei ausgezogen und die Mädchen nach ihrem Verdienst gruppiert. Dabei kamen mehrere überraschende Ergebnisse zutage: Jedes dritte berufstätige Mädchen, das im Jahr 1948 geheiratet hatte, war 28 Jahre alt oder älter. Es stimmt also nicht, daß die älteren keine reelle Chance mehr haben. Vielleicht fiel ihre Wohnung ins Gewicht, ihr Verdienst, ihre Aussteuer, die der jüngeren Kollegin noch fehlte - jedenfalls hatten diese alten Mädchen in den Augen der Männer diese Vorzüge, die sie begehrenswert machten.
     

  • Das gleiche Recht, nicht nur das Herz, sondern auch wirtschaftliche Überlegungen sprechen zu lassen, nehmen nun aber auch die Mädchen für sich in Anspruch: unter den 28jährigen und älteren, die sich in eine Ehe stürzen, sind Mädchen, die mehr als 150 Mark im Monat verdienen, dennoch mit etwa 12% vertreten, solche mit über 200 Mark noch mit 3 %. Wir haben keinen Anlaß, sie für häßlicher als die Wenigerverdienenden zu halten, wir können im Gegenteil annehmen, daß sie sich im Durchschnitt besser kleiden, öfter zum Friseur gehen, im Äußeren ebenfalls den Männern kein abfallendes Bild bieten. Diese alten Mädchen fühlen sich offensichtlich in ihrem Beruf so wohl, daß sie umso weniger an einer späteren Ehe interessiert sind, je mehr sie verdienen. Sicherlich hätten sie früher gern geheiratet und hatten, als sie ihre Berufsstelle antraten, lediglich die Absicht, die paar Jahre bis zu einer späteren Heirat mehr oder weniger unlustig in untergeordneter Stellung zu arbeiten. Inzwischen sind sie aber in selbständige und leitende Stellungen hineingewachsen und haben in ihrer Arbeit ein gewisses Hochgefühl entdeckt, sie haben ihren Beruf liebgewonnen. Er bedeutet ihnen etwas, was sie nicht ohne weiteres aufgeben möchten, wenn ein Mann kommt und ihnen anbietet, sein Essen zu kochen statt über Verkäuferinnen zu kommandieren, oder seine Schuhe zu putzen statt mit 10000 Mark in der Tasche für die Firma zum Einkauf zu fahren und nach Strich und Faden hofiert zu werden. Ein großer Teil von ihnen will wirklich nicht mehr heiraten.
     
  • Man ist geneigt, diese Kittys als eine Zeiterscheinung zu werten und abzuwarten, daß sie als soziologische Massenerscheinung aus unserem Gesellschaftsleben wieder verschwinden. Die ganz Jungen, meint man, welche wieder Männer in genügender Anzahl gegenüber haben, werden heiraten. Diese Kalkulation ist fehlerhaft, denn inzwischen ist die eheunwillige Frau auch im Ausland, das keinen Frauenüberschuß hat, ein wichtiger Faktor geworden. Die heiratsunwillige Frau ist ursächlich keine Folge des Männermangels (der hat ihr Hervortreten nur beschleunigt), sondern ist eine Folge der berufstätigen Frau schlechthin, die entdeckt hat, daß sie sich nicht nur in der Ehe, sondern auch im Beruf verwirklichen kann." Aus: Die Frau 13/1949, S. 17.
     
  • Q 5. Frauen im Heute

    „Immer wieder hört man von heimkehrenden Soldaten und auch anderen Leuten abschätzend über die deutsche Frau reden. Von ihrem moralischen Versagen, von ihrer Treulosigkeit, von ihrer billigen Preisgabe usw. Dies geht stellenweise so weit, daß der heimkehrende Soldat sich nicht scheut, die deutsche Frau öffentlich zu beleidigen. Wenn ich zufällig Zeuge solcher Reden bin, dann gehe ich traurig und grübelnd meiner Wege. Ist es wahr, was diese Soldaten behaupten? Oder sind es nur Einzelfälle, die es immer schon und zu allen Zeiten gab? Wie kommen diese Männer, die es vielfach selbst mit der Treue meist nicht gar so genau nahmen, zu diesem harten und überheblichen Urteil? Liegt dies nun an der Urfeindschaft der Geschlechter, oder ist es so, daß jene, die so bitter enttäuscht sind, in der Frau etwas Hohes und Heiliges sehen und es nicht verwinden können, daß sie in der Tat auch nur ein schwacher Mensch ist und kein Engel.
    Einen gewissen Prozentsatz von Minderwertigen beiderlei Geschlechtes hat es immer schon gegeben, auch zu Friedenszeiten. Aber was diese heimkehrenden Soldaten so bitter und arrogant werden läßt, ist die Tatsache, daß darüber hinaus manche andere den strengen Pfad der Tugend und Ehre verließ und schwach geworden, die Treue verletzte. Der Hort der Reinheit und der Geborgenheit ist in seinen tiefsten Fundamenten erschüttert. So schwer und bitter die Feststellung dieser Tatsache ist, so darf um der Wahrheit willen auch nicht verschwiegen werden, daß trotz allem der größte Teil unserer Frauen intakt ist, daß sie wie durch ein Wunder stark und rein blieben und daß der alte Spruch, in dem es heißt, daß die Frau die beste ist, von der man nicht redet, immer noch gilt und daß es solche Frauen, Gott sei Dank, noch in der Mehrzahl gibt, die still im Hintergrund stehend, ihren Pflichten lebten und den Hort hüteten. Nach dieser kleinen Auseinandersetzung sei es gestattet, nun auch noch nach den Gründen zu forschen, die dazu beitragen, daß Frauen in dem strittigen Punkte versagten, vielleicht sogar mehr versagten, als dies je nach einem anderen Kriege der Fall war.
    War es denn nicht so, daß unser Volk systematisch und mit satanischer Tücke viele Jahre hindurch bearbeitet wurde, um so den Zielen des Naziregimes gefügig gemacht zu werden? Der Nazilehren entwurzelten die Menschen. Da wo Persönlichkeit, Charakter, Wissen und Menschenführung im öffentlichen Leben gefordert wurden, war die Frau in den letzten zwölf Jahren ausgeschaltet. Zwei Gebiete nur standen ihr offen, auf denen sie sich betätigen konnte, die Arbeit im Dienste der Mütterbetreuung und Arbeit im Dienste der Arbeiterinnenbetreuung. Beide Dienste, gut an sich, doch verderblich im Hinblick auf das Ziel: .Mutterschaft um jeden Preis', .Erhaltung und Pflege der Arbeitskraft zur Fortsetzung des Krieges'. Gerade hierin tritt uns die erniedrigte Stellung der Frau im Nationalsozialismus deutlich vor Augen. Sie ist nicht mehr Eigenpersönlichkeit, sondern nur noch Werkzeug in der Hand des Mannes. Die Seelen hungerten, und die Herzen litten Not. Da mußten die Schwachen unter ihnen verkommen und die, denen der innere seelische Halt fehlte, die sich selbst und ihrer innersten Überzeugung untreu geworden waren, sie mußten moralisch Schaden nehmen.
    Der männermordende Krieg nahm ungezählten Frauen den naturbestimmten Mann. Das Schicksal dieser Frauen aber ließ man im Unbestimmten, ohne Ziel, ohne wirkliche Aufgaben. Zuchtanstalten waren wohl schon vorgesehen, teilweise wohl auch schon im Betrieb, doch war das nicht schon der Auftakt zu dem, was wir heute erleben? Kann man denn bei einer solchen Frauenführung etwas anderes erwarten?Sittliche Entrüstung war zu allen Zeiten wohlfeil. Doch etwas anderes ist es, den Schäden auf den Grund zu gehen. Sind wir uns des Dichters Worte in Wahrheit bewußt, der da sagt: ,Es steht und fällt ein Volk mit seinen Frauen', dann dürfen wir nicht ruhen und rasten, bis die Irrlehren des Nationalsozialismus in unserm Volke endgültig überwunden und die moralischen Schäden ausgemerzt sind. Nicht eher werden wir wieder aufstehen, als bis hier Ordnung geschaffen wurde." Aus: Frauenwelt 3/1946 (1), S. 6.
     

  • Q 6. Maria Neher: Faßt das Leben ins Auge.

    Ein Wort an die Frauen von morgen „Wir wagen ein Wort an die Jugend. An die jungen Mädchen, die Frauen von morgen! Wir bitten euch, schaut nicht zurück! Schaut voraus und faßt das Leben ins Auge, das euch erwartet! Erschreckt nicht, bleibt nicht kalt! Euch ist Zeit gegeben, eines Lebens Zeit, euer Leben zu gestalten! Euch sind Möglichkeiten gegeben, Möglichkeiten des Wirkens, des gesteigerten Lebens. Kein Zweifel, daß ihr allzu früh der Kindheit Entrissenen berufen seid, entscheidend zu wirken!
    Mit dem Vergangenen aufzuräumen, ist euch erspart. Ihr kämpftet gegen Windmühlen, wenn euch einfallen sollte, Schranken, die die Vergangenheit vor eurer Freiheit aufgerichtet hat, niederreißen zu wollen. Sie Fielen längst. Ihr seid frei. Eure Gleichberechtigung, euer Zugelassensein zum ganzen, ungeteilten Leben, ist Gut, mit dem ihr wuchern könnt. Nun, in diesem männerarmen Jahrhundert, ist es an euch, aus eurem Leben mehr und anderes zu machen als Getriebenheit, Berufseinerlei, Hausfrauenalltag, Muttersorge und Altersresignation. Wie kann das geschehen?
    Die Frauen wissen die ihnen gegebene Freiheit noch nicht zu nützen. Sie stellen sich noch immer auf ein Leben ein, das von Vorurteilen eingeschränkt ist und dessen Hauptmerkmal die Abhängigkeit vom Manne ist.
    Die uns erkämpfte Freiheit bedeutet aber zuerst und vor allem die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der Unabhängigkeit vom Mann. Es ist ein Unterschied, ob ein Mädchen sich in seiner Lebensplanung von vornherein darauf einstellt, daß es heiratet und alle weitere Sorge für die Existenz vom Mann getragen wird, oder ob es sein Leben als selbständiger Mensch plant, der sich eine Aufgabe stellt, ein Ziel steckt, dessen Erreichen auch durch die Verbindung mit einem Manne und durch Geburt und Erziehung von Kindern nicht vereitelt, sondern höchstens verzögert wird. Es ist selbstverständlich, daß der Mann, solange die Frau sich ausschließlich der Familie widmet - und das wird immer nötig sein, solange die Kinder klein sind - die Sorge für den Unterhalt allein trägt. Das Verhältnis von Mann und Frau aber wird klarer und wahrhaftiger, wenn der Mann in der Frau den selbständigen Menschen achtet, der sich auch ohne ihn ernähren könnte, der sich seinen geachteten Platz in der Gesellschaft erworben hat und der an der Erfüllung einer überpersönlichen Aufgabe arbeitet. Es ist heute nicht so sicher für ein junges Mädchen, ob es einen Mann findet. Statistiken sprechen von erheblichem Frauenüberschuß. Welch ein trauriges Los für die vielen, die niemals daran denken, daß sie in Freiheit ihr Leben gestalten können, daß ihnen alle Schönheit, aller Reichtum, alle Befriedigung eines ausgefüllten Menschenlebens zuteil werden kann.
    Der Möglichkeiten und Spielarten sind viele. Die Junggesellin, die sich in einem der unzähligen Berufe eine Spitzenstellung erkämpft, sich eine kleine Wohnung einrichtet, ihren Umgang, ihre Freuden, ihre Erholung mit Geschmack wählt, ist keine Seltenheit mehr. Es gibt Mädchen, die Neigung und Fähigkeit veranlassen, sich auf ein Wirken in der Öffentlichkeit vorzubereiten. Das bedeutet keinen Verzicht auf Ehe und Mutterschaft. Ministerinnen, die Mann und Kinder und fast dienstbotenlosen Haushalt haben, die in der Regierung ihres Landes entscheidend mitreden, mit unverminderter Persönlichkeitskraft Gattin und Mutter und gepflegte, attrakive Frau sind, gibt es in Skandinavien. Es ist oft nur eine Frage der Substanz, der Tüchtigkeit, der umsichtigen Planung. Die noch immer weitverbreitete Meinung, daß Haushalt und Familie alle Kraft brauchen und daß Mann und Kinder vernachlässigt würden, wenn die Frau sich weitere Aufgaben stellt, wird heute schon durch eine Reihe von Frauenpersönlichkeiten Lügen gestraft, denen die wunderbare Synthese eines Lebens gelingt, in dem Gattin- und Mutterpflichten und überpersönliche Aufgaben in Harmonie zusammenklingen.
    Das Technische ist untergeordnet. Es ist zu lösen. Der Mann, der das Eigenleben der Frau achtet und sich nicht scheut, einen Teil der häuslichen Pflichten zu übernehmen, wird nicht zögern, die tägliche Routinearbeit durch technische Hilfsmittel zu erleichtern und zu verringern. Alle die Verrichtungen, die früher im Leben der Frau eine so bedeutende und belastende Rolle gespielt haben, die große Wäsche, der Hausputz, sinken zu Nebensächlichkeiten herab. Nicht soll sich das Leben der Frauen in ihrer ewigen Wiederkehr erschöpfen. Es ist eine Tatsache, daß eine Reihe von Frauen schon heute, unter den noch erschwerten Umständen der Nachkriegszeit, den Haushalt ohne Mädchen nebenher erledigen und den größten Teil ihrer Kraft einem Beruf oder einer überpersönlichen Aufgabe widmen.
    Jugend voran! Hier ist euer Feld, ihr jungen Mädchen! Wagt euch ins Unbekannte hinaus.
    Wie, wenn es euch gelänge, aus den Schranken des häuslichen Kreises in die Weite der Freiheit einer Persönlichkeitsentwicklung durchzubrechen, die euch anders als bisher, menschlich und geistig, dem Mann an die Seite stellte? Was das kranke Europa braucht, wonach die kranke Welt hungert, das ist Wandlung und Umkehr zu jener Menschlichkeit, die endlich allen Menschen Frieden und Brot sichert. Jene Wandlung wird nur dann möglich, wenn die vom Manne geschaffenen Ordnungen von Frauengeist durchsetzt werden, wenn die Zeitprobleme von jenem hohen geläuterten Geist gelöst werden, der von Männer- und Frauenpersönlichkeiten gleicherweise verkörpert wird. Es bedarf einer neuen Frauenorganisation, dieses Ziel zu verwirklichen. Jugend voran! Die Hoffnung ruht auf der kleinen Zahl, die den Schritt fester tut." Aus: Regenbogen 5/1949 (4), S. 3.

3.  Themenbereich: „Das Ja der Frauen zur Ehe und Familie (Q 7 -QU)11
Die Artikel, in denen Frauen zur Rückkehr zu den traditionellen Verhaltensweisen ermutigt werden, überwiegen in den Frauenzeitschriften. Frauen wird geraten, die eigenen Wünsche zurückzustellen (Q 7), auf die skeptische Frage von Walter von Hollander: „Ist die Ehe noch zu retten?" wird trotzig erwidert: „Ja. Die Ehe ist noch zu retten." Auch in der „Genossin" fehlen bald die Hinweise auf alternative Lebensformen, auf das Recht der Frau auf freie Liebe, auf eine „Ehe ohne Trauschein" oder eine neue Moral. Die „Gleichberechtigung" der Frauen wird „einmal anders gesehen" (Q 9): „Wenn eine Frau es versteht, sich ihrem Manne anzupassen, (dann) wird dies die schönste Bestätigung ihrer von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fesseln der Vergangenheit befreiten Persönlichkeit sein." „Man" legt wieder Wert auf den guten Umgangston (Q 11), der „wesensmäßige (Q 11) Unterschied der Geschlechter wird wieder berücksichtigt.

  • Q 7. Leserbrief und Antwort „An die Redaktion der Frauenwelt

    Sie deuteten in Ihrer Zeitschrift an, daß Sie durch Gedankenaustausch auf Probleme einzugehen wünschen, die viele Frauen weder einem Arzt noch ihren nächsten Freunden vorzutragen wagen, und die vielleicht doch Rat und Hilfe finden könnten. Ich möchte Ihnen nachstehend sogleich eine Bitte vortragen, -vielleicht - aber auch nur vielleicht könnten Sie hier ein gutes Werk tun, indem die Antwort, um die in Ihrer Zeitschrift gebeten wird, einen Ausweg weist. Ich bin zehn Jahre verheiratet und habe drei Kinder im Alter von 5 bis 8 Jahren. Mein Mann ist reiner Wissenschaftler, unpraktisch, verträumt und absolut phlegmatisch in jeder Weise, dabei außerordentlich rechtlich denkend und pflichtbewußt. Er würde niemals imstande sein, auch nur das kleinste Unrecht zu tun, - trotzdem ist er von einem Egoismus, der mich allmählich zum Erliegen bringt. Wenn nichts geschieht, wird sich eine Katastrophe nicht vermeiden lassen.
    Ich lernte meinen Mann kennen, als ich bereits 30 Jahre alt war, und ich sehnte mich nach einem ruhigen und glücklichen Eheleben. Zunächst ging alles gut, seine ruhigere und meine temperamentvollere Art ergänzten sich glücklich. Dann kam der Krieg, der uns die meiste Zeit trennte. In der Nachkriegszeit begann die Tragödie. Mein Mann war noch ruhiger geworden, und ich mußte alle Geschäftsverbindungen aufrechthalten, verdiente auch gut durch Modellieren. Es kam so weit, daß ich meinem Manne sagen mußte, daß ich nicht nur seine Wirtschafterin und Verdienerin sei, sondern eine gesunde Frau, die ihren Mann auch als Mann zu haben wünschte. Mit Einverständnis meines Mannes fuhr ich schließlich mit einem Manne fort, der meine Art besser verstand. Mein Mann war einverstanden, kein Aufbegehren in ihm. Wegen der Kinder möchte ich mich nicht scheiden lassen, ich liebe meinen Mann ja auch noch. Aber an der Seite dieses schwunglosen Mannes werde ich nie mehr irgendwelchen Schwung oder Lebensfreude haben können. Ich muß in diesem spießbürgerlichen Leben vergehen. Ich erwarte nichts Unmögliches von meiner Ehe. Nur sehne ich mich nach wahrem Leben, nach hellen Stunden, die kommen, wenn man seine Arbeit gut getan hat. Wir haben uns nach entgegengesetzter Richtung entwickelt, da ich durch meinen Beruf vorwärtskam. Das ist unsere Tragik, aus der ich keinen Ausweg weiß.
    Liebe Frau H. E.
    Zu einem Glück in der Ehe kommt man wohl nur dann, wenn man es gelernt hat, alle persönlichen Wünsche zurückzustellen und sich dem Guten, das immer da ist, ganz zu öffnen. Der Kernpunkt für Ihre Schwierigkeiten liegt in Ihrer allzu großen Verschiedenheit, das empfinden Sie ja selbst. Sie haben sich recht genau gekennzeichnet, wir wissen aber wenig von Ihrem Mann. Der Ausfluß Ihres Temperamentes ist die künstlerische Arbeit. Das Temperament Ihres Mannes weist zur sachlichen wissenschaftlichen Arbeit. Wäre es Ihnen nicht doch möglich, einmal ganz stille in sich selbst zu werden und auf den anderen Menschen zu lauschen, die Nerven so weit zu bändigen, daß sie nicht durch den anderen gereizt werden? Wie viel ist es in der heutigen Zeit, einen .hochanständigen, pflichtbewußten und rechtlich denkenden' Mann zu haben. Wenn er wirklich Wissenschaftler ist, hat er auch beachtliche geistige Qualitäten, und es ist ihm nicht als Minus anzurechnen, wenn er von seinen Gedanken so absorbiert wird, daß er für das Praktische keinen Sinn hat. Den wird er auch nicht gehabt haben, als Sie ihn kennen lernten, nur daß damals die äußeren Lebensumstände nicht so schwer waren und das nicht so ins Auge fiel. Stellen Sie Ihrem Mann Ihre größere Lebenstüchtigkeit nicht zu sehr vor Augen, lassen Sie ihn nicht Ihre innere Abwehr gegen seine Art, die durch die Nachkriegsverhältnisse verstärkt wurde, spüren. Ich glaube, daß er sich Ihnen vielleicht dann in tiefer Verbundenheit wieder mehr nähert. Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann. Ihre L. S." Aus: Frauenwelt 22/1948 (3), S. 28 und 1/1949 (4), S. 28
     

  • Q 8. Rosine Speicher: Die Ehe ist noch zu retten

    „Die Frau sucht in der Ehe immer noch Geborgenheit für sich und das, was aus der Ehe hervorgehen soll - das Kind. Sie will, zuweilen ganz unbewußt, de Kommenden das Nest bereiten, auch wenn es nicht immer mit Daunen gepolstert werden kann. Aus dieser, dem tiefsten Wesen der Frau entsprechenden seelischen Haltung quillt Wille und Vorsatz zur Schaffung gefestigter Verhältnisse, die sich in der Ablehnung des Bohemehaften, Unsteten, Unsicheren äußern und positiv auf Sparsamkeit und häusliche Ordnung gerichtet sind. Das instinktiv Mütterliche gibt auch dem Verhältnis zum Manne, in dem der zukünftige Vater gesehen wird, das Gepräge. Auch wo das Sakrament der Ehe nicht gesehen oder anerkannt wird, besteht die instinktive Empfindung, daß das Dritte im Leben von Mann und Frau, das Kind, die Wärme des ehelichen Heimes fordert. Diese Instinktsicherheit zum ethischen Postulat zu formen, kann und wird eine starke Bindung der Frau an die Ehe werden, ein Kraftmagnet, von einer Ausstrahlung, die die Eheklippen der Gegenwart von der Frau her umschiffen läßt. Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß die deutlich gemachte frauliche Mentalität gleichbedeutend sei mit dem Wunsche nach einer Versorgungsehe. Die Frau der Gegenwart will eine gewisse bürgerliche Sicherheit nicht oder nicht nur vom Manne her sich schaffen lassen, sie will den Zeitumständen  entsprechend durchaus ihr Teil mit dazu beitragen. . ..
    Es kommt natürlich darauf an, was unter bürgerlich verstanden wird. Eine ausschließlich auf materiellen Besitz gegründete Gemeinschaft wird im allgemeinen das Ideal der Ehe nicht erfüllen, aber das Streben von Mann und Frau nach Sicherheit ist geeignet, die Ehe zu festigen. Nicht anders ist es im Bezug auf das physische und geistige Besitzrecht, das die Vorstellung vieler  Eheleute beherrscht. Es kann dem inneren, ethischen Gehalt der Ehe und ihrer Festigung nur zu Gute kommen, wenn der Wille vorhanden ist, die Freiheit des Ehepartners zu respektieren, ihm ein Anrecht auf Eigenleben und eigene Entwicklung zuzubilligen. Das Eigenleben in der Ehe findet aber dort seine Grenze, wo zum Wesen der Ehe gehörende Postulate, z.B. die Treue oder die pflichtmäßige Sorge für die Familie verletzt werden. Wie stark z. B. Untreue die Ehe gefärdet, lehrt die Erfahrung, daß ein hoher Prozentsatz aller Ehescheidungen durch das Dazwischentreten eines Dritten herbeigeführt wird. Für die Frau würde ein den Ehepartner überhaupt nicht verpflichtendes Zusammenleben, das ja an sich nicht Ehe genannt werden könnte, ganz andere Risiken bedeuten als für den Mann. Zerbricht der Mann die Ehe, dann hat die Frau häufig das Beste verloren, was sie besitzt, ihre Jugend und ihre Frische. Die Bedeutung dieses Verlustes braucht in ihren Folgen, besonders auch in Hinsicht auf die Existenzsicherheit, nicht dargetan zu werden. Nur in seltenen Fällen und nur bei Vorhandensein von Kindern kann Untreue der Frau (mag sie auch ethisch bedauerlicher sein als beim Manne) für den männlichen Ehepartner die gleichen schweren Wirkungen haben.
    Irgendwo wurde einmal gesagt, die Ehekrisis bestünde darin, daß die heutigen Menschen zu schwach seien, eine Ehe zu führen. Es mag viel Wahres an dieser Meinung sein. Die Menschen der Gegenwart, die Verantwortung und Pflicht klein schreiben, denen alle die Eigenschaften mangeln, deren Fehlen das Leben auch außerhalb der Ehe recht unliebenswert macht, so z. B. gegenseitige Achtung, Ehrfurcht, höfliche Formen, Einfühlung in den Anderen, Hilfsbereitschaft, werden die Ehe, welche Opferbereitschaft und Zurückstellung mancher Wünsche erheischt, nicht erfüllen können.
    Die Diskussionen um die Ehe melden häufig Wünsche und Forderungen an, die aus egozentrischem Denken kommen, so der abstruse, für die Frauen beleidigende Vorschlag einer Ehe zu dritt. Ist denn das unbeherrschte männliche Triebleben - denn das erotische Verhältnis zu dritt, man vermeide in diesem Zusammenhang das Wort Ehe, ist männlich bedingt - eine so bedeutende Angelegenheit, daß sie die Gemüter ernsthaft beschäftigen muß? Allzuselten wird erwogen, daß eine gute Eheführung etwas dinglich voraussetzt, was jeder Mensch an sich haben sollte, nämlich eine gute Erziehung. Unbeherrschtheit, Sichgehenlassen, Voranstellung der eigenen Person müssen Spannungen und Dissonanzen im Eheleben hervorrufen. Aus der ungemütlichen Atmosphäre, der egozentrischen Unbescheidenheit und Rücksichtslosigkeit führt der Weg zum Eheverfall. Ein weiteres unentbehrliches Faktum eines gesunden Ehelebens muß aufgezeigt werden: Die gegenseitige Achtung. Wo sie fehlt, ist das Eheband zerrissen, auch wenn die äußere Verbindung besteht.
    Die Frage: ,Ist die Ehe noch zu retten' bedingt auch einen Blick auf die staatliche Ehegesetzgebung. Man darf wohl sagen, daß sie nicht als Stütze der Ehe angesprochen werden kann. Man kuriert an Symptomen der Krankheit und läßt die Krankheit weiter schwelen. Die Erleichterung der Ehescheidung, die Lockerung der Sorgepflicht für die Familie zugunsten einer zweiten ehelichen Verbindung sind nicht dazu angetan, das Gefüge der Ehe zu festigen. Wohin Kriegs-ehen und Ferntrauungen führen, wird ersichtlich durch die Scheidungswelle, die solche Eheparodien zur Folge haben. Wie stark die sakramentale Unauflöslichkeit, darüber hinaus aber der Ernst aller Ehefragen aus dem Bewußtsein verdrängt ist, wurde durch eine Diskussion ersichtlich, die unmittelbar nach dem Kriege zu einer Zeit als furchtbare Massen- und Einzelschicksale bleigewichtig über Deutschland lagerten, die Dringlichkeit der richterlichen Entscheidung für beantragte Scheidungen leichtfertig geschlossener Ehe behandelte. Die Ehe ist zu retten von fraulich mütterlichen Impulsen her, die einer ethischen und verstandesmäßigen Fundierung bedürfen. Die Frau erfaßt intuitiv ihre Sendung zur Ordnung der sexual-ethischen und ehelichen Angelegenheiten, die in ihre Aufgabe, Leben zu gebären, einbezogen ist. Mag Bindungslosig-keit und pöbelhafte Sucht zur Entpflichtung an der Ehe rütteln, die seherische frauliche Lebensnähe wird einen Damm aufrichten und das Strombett für neues Leben hüten." Aus: Frauenwelt 13/1948 (3), S. 3.
     

  • Q 9. Friedl Widera:

    Die Gleichberechtigung der Frau - einmal anders gesehen „Gleichberechtigung der Frau, dieser Begriff umschließt nicht nur einen gewaltigen Abschnitt im Kampf der Frau um ihre Rechte, er ebnet ihr auch viele Wege, die sie bis heute nur mit Mühe beschreiten konnte. Doch von diesen Dingen sollen die folgenden Zeilen nicht handeln. Diese Fragen seien den Frauen vorbehalten, die die Materie aus ihrer dauernden Beschäftigung damit bis ins kleinste beherrschen.
    Etwas anderes möchte ich sagen: wie gestaltet sich das persönliche Verhältnis zwischen Mann und Frau in einer Zeit, die der Frau ihre Fesseln nahm? Die um die Jahrhundertwende mächtig aufbrechende Frauenbewegung forderte die Gleichberechtigung der Frau auf politischem, auf wirtschaftlichem Gebiet und verwechselte im Überschwang ihrer Forderungen und ihres Kampfes häufig Gleichberechtigung mit Gleichwertigkeit. Und auch heute scheint es mir manchmal so auszusehen, als ob die Begriffe nicht genau abgegrenzt wären. Übersehen wir dabei nicht, daß die Persönlichkeitswerte von Mann und Frau gänzlich verschieden waren, sind und bleiben werden. Das heißt nicht, daß die Frau minderwertig ist, aber Liebe, Ehe und Mutterschaft haben ihr Wesen anders geprägt. Das ist kein Nachteil, im Gegenteil, hierin gerade liegt vielleicht ihre größte Stärke.
    Die berufstätige, verheiratete Frau hat es ungleich schwerer, als die Nur-Haus-frau. Ihr Selbstbewußtsein ist geweckt und gesteigert, und nicht alle Männer vertragen und verstehen das. Es gibt Konflikte und Auseinandersetzungen. Hier bedarf es des ganzen Einfühlungsvermögens der Frau in die männliche Mentalität. Er möchte doch der Führende in dem Verhältnis zu seiner Frau sein, sich als Mann anerkannt sehen und das ist auch ganz natürlich. Die kluge Frau wird sich diesem Verlangen ihres Mannes anpassen, was ihr, wenn sie ihn wirklich liebt, auch nicht schwer fallen dürfte. Sie wird dafür sorgen, daß sein heimisches Behagen durch ihre Berufstätigkeit nicht leidet, sei es, daß sie so viel Spannkraft aufbringt, für eine geräuschlose Abwicklung des Hauswesens selbst zu sorgen oder daß sie eine Hilfe für alle die Dinge heranzieht, für die ihre Kraft oder Zeit nicht ausreichen. Wichtige Entscheidungen wird sie nicht von sich aus treffen, sondern mit ihrem Mann gemeinsam beraten, selbst dann, wenn ihre Meinung zu den Dingen vorher festliegt. Auch wird sie nicht vergessen, daß sie in erster Linie Frau ist, daß sie nie als ,nüchtern-sachlicher' Berufsmensch ,ihm' gegenübersteht, sondern daß fraulicher Reiz und frauliches Wesen sie immer begleiten. Sie wird Zeit haben für ihn, wenn es auch manchmal schwer für sie ist, und sie soll auch nicht vergessen, für ihn ,schön' zu sein und nicht gerade dann mit Stopfkorb und Hausschürze sich ihm präsentieren, wenn er z. B. das Bedürfnis nach einem behaglichen Abend mit seiner Frau hat. Seinem männlichen Willen wird sie sich auch dann beugen, wenn der Anlaß hierzu wichtig genug ist. Der Mann selber aber wird dankbar anerkennen, wenn seine Frau, selbstbewußt und stolz, frei von wirtschaftlicher Abhängigkeit, trotzdem ganz Frau bleibt und ihm immer von neuem reizvoll und begehrenswert erscheint. Das ist aber die andere Seite der .Gleichberechtigung', eine nicht einfache, aber darum umso schönere Aufgabe der berufstätigen Frau. Letzten Endes wird das höchste Glück der Frau doch bestimmt von der Zweisamkeit und diejenigen von uns, die dieses Glück in der Zeit des Frauenüberschusses erleben dürfen, dürfen es nicht durch falsch verstandene Gleichberechtigung' gefährden. Wenn die Frau es versteht, sich ihrem Manne anzupassen und seine Gefährtin in guten und bösen Tagen zu sein, ihm nicht die Führerrolle in der Ehe zu nehmen, dann wird dies die schönste Bestätigung ihrer von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fesseln der Vergangenheit befreiten Persönlichkeit sein." Aus: Genossin 3/1949 (12), S. 95f.
     

  • Q 10. Anita Frank: Vom neuen Ton zum guten Ton

    „Den natürlichen Anstand wollen wir in unserem Umgang mit Menschen anstreben, besonders im äußeren Verhältnis zwischen Dame und Herr. Daß Nachlässigkeit auf diesem Gebiet auch heute noch als wirklich großer Fehler empfunden wird, bewies mir neulich ein kleines Vorkommnis: -Während der Semesterferien hatte eine Studentin bei der Erntearbeit einen Kollegen kennen gelernt. Im frohen Schaffenseifer hatte das junge Mädchen gern ihren Ehrgeiz darin gesetzt, auch bei schweren Arbeiten ihre Kräfte zu zeigen. Die Bewunderung des Kollegen hatte ihr besonders imponiert. Sie wurde ihm sehr zugetan. Aber dann fuhren sie gemeinsam wieder zurück und der Herr Kollege fand nichts Besonderes dabei, daß seine bisherige Arbeitskameradin ihre Koffer selbst zur Station schleppte und sie dann mit hochrotem Gesicht ins Gepäcknetz stemmte. Sie hatte ja die Garben auch hochgegabelt! Aber dem jungen Mädchen war dies nicht so einerlei: jedenfalls gab sie ihm deshalb einen Korb, als er sie um ihre Hand bat. Kleinigkeiten? Durchaus nicht! Auch die moderne gleichberechtigte Frau ist Dame!
    Wenn wir - eben als Damen - mit einem Lächeln die Entschuldigung der Herren hinnehmen, daß ihnen der Krieg das Gefühl für das Schickliche verkümmern ließ, so liegt es an uns, es zu pflegen. Allmählich beginnt der Mann wieder, sich auf seine natürlichen - und weiß Gott nicht belastenden - Ritterpflichten zu besinnen.
    Der Frau ist ihre einstige Unbefangenheit in vielen Dingen zurückgegeben und auch die Freude, sich gewisser Formen zu bedienen, die ihr volles Gewicht klar haben, wenn sie nicht einseitig gehandhabt werden. Gewiß ist hier heute manches überholt, was uns einst von Bedeutung schien; aber selbstverständlich bleiben im Verkehr der Geschlechter untereinander immer Dinge wie diese: daß der Herr zuerst der Dame vorgestellt wird und nicht die Dame dem Herrn, daß die Dame bei der Vorstellung eines Herrn in Gesellschaft sich nicht erhebt, wenn sie gerade sitzt, sondern seine Begrüßung gelassen entgegennimmt, daß der Herr, wenn er mit ihr unterwegs ist, an ihrer linken Seite geht - außer an Stellen und bei Gelegenheiten, wo es für die Dame unangenehm ist, rechts zu gehen. Im Auto sitzt der Herr rechts, damit er der Dame beim Aussteigen leichter behilflich sein kann. Steuert der Herr selbst den Wagen, dann wird er als Mann von Welt stets aussteigen, um den Schlag zu öffnen und nicht einfach über die Dame hinweg zur Tür greifen. Bei schlechtem Wetter allerdings wird ihn die Dame bitten, davon abzusehen. Sollte ihr dann tatsächlich noch ein Kavalier der alten Schule begegnen, der ihr als Fremder wegen des Regens seinen Schirm und Geleit anbietet, dann darf sie dies freundlich annehmen. Sie wird selbst beurteilen können, ob es sich dabei um eine ritterliche Geste handelt oder um einen plumpen Annäherungsversuch.
    Sie nimmt alle diese kleinen selbstverständlichen Höflichkeiten oder Ritterlichkeiten mit ebenso selbstverständlicher Freundlichkeit und Gelassenheit hin, sie gleitet darüber hinweg mit eben der Anmut der Frau, die alle diese Dinge ja selbstverständlich macht.
    Daß der Herr der Dame z. B. den Platz in der Straßenbahn überläßt, wird noch einigermaßen als verbindlich anerkannt. Auf keinen Fall, aber darf er seine Tasche auf den Knien der Begleiterin ablegen. Müssen beide stehen, dann wird es die Dame als ritterlich empfinden, wenn sie leicht gestützt wird. (Die Herren der Schöpfung sind offenbar schlechte Psychologen, sonst würden sie diesem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit, die der Mann bietet, auch bei emanzipierten' Frauen leichter nachkommen.) Beim Aussteigen geht der Herr voraus, um der Dame dann behilflich sein zu können. Wenn irgend möglich, wird der Herr dann auch die Umsteigebahn der Dame abwarten. - Ist es auf der Treppe nicht möglich, nebeneinander zu gehen, so geht der Herr sowohl aufwärts wie abwärts voraus. - Im Restaurant geht es selbstverständlich auch nicht an, daß der Herr seine Begleiterin durch die Tischreihen vor sich herschiebt, um einen Platz zu suchen. Hier geht er selbst voraus oder - wenn das Lokal sehr besetzt ist -bittet er die Dame, einstweilen am Eingang warten zu wollen. Jetzt bietet sich der Dame die günstige Gelegenheit, Ihre Frisur zu richten oder mit Lippenstift und Puder nachzuhelfen. Diese Verrichtungen im Angesicht des Partners am Tisch vorzunehmen, zeugt nie von Bildung oder Geschmack. Wenn dann der Herr sich nach den Wünschen seiner Begleiterin erkundigt hat, denn er legte ihr
    die Speisekarte vor, tut die Dame gut, ihre Wünsche nach den Möglichkeiten zu
richten. Kluge Frauen wissen nämlich, daß die Versicherung ihres Verehrers, die
Sterne für sie vom Himmel zu holen, sehr ehrlich gemeint sein kann, aber sie
verzichtet trotzdem auf die Sterne. Bis die Speisen aufgetragen werden und
rfj'i?    aucn während des Essens - die Dame läßt sich bedienen! Nicht ihm hausmütterlich die Brötchen streichen! - ist eine nette Unterhaltung angebracht. Es würde nicht gerade von Geist zeugen, wenn es sich nur um Magenfragen handelte. Und dann denke man daran: Wie man ißt, so ist man! Ein Kapitel für sich ist der Handkuß, ein anderes die Frage: zieht man nun in jedem Falle den Handschuh zur Begrüßung ab? Im letzteren Falle sind die Auffassungen geteilt. Manche Leute, Herren oder Damen, fühlen sich durchaus nicht beleidigt, wenn der Handschuh bei der Begrüßung anbehalten wird, andere finden es geschmacklos oder unliebenswürdig. Hier kann nur das feine Gefühl des Einzelnen unterscheiden und der jeweilige Impuls, denn es kommt bei einer Begrüßung ja immer ein wenig auf den Grad der menschlichen Beziehung an. Beim Handkuß, der ein so reizvolles Mittelding zwischen Galanterie und dem Ausdruck wirklicher Ehrerbietung ist, geht es natürlich darum, ob die Dame den Handschuh anbehält oder nicht.
    Im ersteren Falle kann der Handkuß nur angedeutet werden, im anderen wird er, nur angedeutet, eher als Nachlässigkeit denn als Auszeichnung wirken. Bei welcher Gelegenheit der Handkuß angebracht erscheint, das schreibt nicht nur das eigene Gefühl, sondern auch die Sitte vor, die es für überflüssig, ja unpassend hält, die Hand der Frau etwa auch bei einer Begegnung in der Trambahn oder auf der Straße zu küssen. Einem jungen Mädchen küßt der Herr für gewöhnlich nicht die Hand. Tut er es dennoch, so darf schon ein größerer Grad von Vertrautlichkeit als selbstverständlich und bestimmend angenommen werden. - Vorschriften für einen Handkuß an sich bestehen nicht, er ist Sache des Feingefühls beim Manne - und gewiß gibt es wiederum auch Frauen (sie müssen ja nicht gerade in der Mehrzahl sein), die die Form dieser Huldigung bei der heute oft betonten Kameradschaftlichkeit zwischen den Geschlechtern für veraltet halten. Aber - sind alle Dinge, die wohl etwas von ihrer äußeren Berechtigung, nicht aber ihren tieferen Sinn verloren haben, ,veraltet'? Geht es nicht immer noch und immer wieder, bei allem heutigen Verhältnis der Geschlechter zu einander, um die feineren, die kaum spürbaren Schwingungen zwischen Mann und Frau, die dem Leben hin und wieder noch reizvolle Tönungen abgewinnen?"
    Aus: Frauenwelt 16/1948 (3), S. 11
     

  • Q 11. Lotte König: Mann und Frau
    Frauenwirken (.. .) geht nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Der Mann spricht zur Welt, aber die Welt spricht zur Frau. Sie erfaßt sie wesentlich nicht mit dem Verstand, der ihr deswegen nicht fehlt, sondern mit Ahnung, Intuition, Gefühl. Mit diesen Mitteln der Erkenntnis kann sie zwar nicht analysieren wie der Mann, aber es wohnt ihnen eine ganz andere Sicherheit inne. Ein Mann kann hin- und hergerissen werden von seinen widerspruchsvollen Gedanken über entscheidende Fragen. Eine in ihren Instinkten gesunde, im Fühlen unverbildete Frau aber wird stets eine große Sicherheit haben, was in solchen Lagen zu geschehen hat. Für sie gibt es ein Wissen in menschlichen Dingen, das ihr gegeben ist. Daher die Stellung, die die Mütter auch bei Völkern einnahm, bei denen der Einfluß der Frauen sonst aufs äußerste eingeschränkt war, in der Antike, bei den Germanen und den Chinesen. Physiologisch einbezogen in den Fluß des Lebens, ja gebärend ein Teil des Lebens selbst, könnte die Frau aus einem göttlichen Reichtum heraus leben, wo nicht der Neid auf den Mann, der es Jeichter hat', ihn ihr in Lasten verkehrt. Deswegen sind wir ja nicht ,zum Dienen geboren' oder nur für .Kirche, Küche, Kinderstube' befähigt. Von Eingriffen in das Reich der Männer, wie sie Dr. Lise Meitner gelungen sind, abgesehen, können wir nicht nur wichtige Positionen des öffentlichen Lebens beziehen, wir müssen es sogar, wenn sich dies Fiasko der männlichen Welt, das wir eben erleben, nicht wiederholen soll. Aber wir werden dort Frauen bleiben.Eine große Eigenständigkeit, eben gar nicht das Sich-Selbst-Aufgeben, ist auch
in der Ehe notwendig, wenn die Frau ihrem Mann sein soll was sie sein kann.
Sie muß nicht nur stark aus sich leben können, sie muß, wenn sie mehr sein will
als ein erotisches Spielzeug, gelegentlich Kraft genug haben, um dem Mann da
von mitteilen zu können. Männer, wollen nicht - wie eine falsche Erziehung die
jungen Mädchen immer noch lehrt - immer genötigt sein, zu imponieren, sie
wollen auch einmal sehr klein und sehr müde sein dürfen. Und bisweilen ist es,
trotz der Herrschaft über die Welt, sogar sehr fraglich, ob sie wirklich das
,Starke Geschlecht' sind. Auf all das reagieren viele Frauen auch wieder mit Er
bitterung. Sie hatten sich das so ganz anders gedacht und machen nun den
Mann dafür verantwortlich, daß er ihren Mädchenträumen nicht entspricht.
I    Und doch finge da erst die Liebe an. Statt dessen züchten sie die außerordentlich häufige Erscheinung des 'unverstandenen Mannes' heran. Alleinstehenden Frauen begegnet er erstaunlich oft, und es ist nicht nur die Ausrede derer, die für außereheliche Freundschaften eine moralische Berechtigung suchen. Oft tut da einer den Mund auf, der schon sehr lange überhaupt nicht mehr geredet hatte. Und es könnte doch auch seine Frau sein, die ihm zuhört. Sie würde wohl ihren Mann nicht wiedererkennen. Eine kluge Nervenärztin sagte einmal zu mir in bezug auf die unausstehlich grantigen Mannsbilder': ,Wenn Männer brüllen, schreien sie nach Liebe!' Das war großartig. - Die meisten Partner schwieriger Ehen warten immer darauf, daß nun der andere kommt und das Entscheidende sagt oder tut, und darum geschieht nie etwas. Ja, warum sagen oder tun wir es denn nicht selbst? Wenn schon ein Mensch glaubt ein Prestige zu haben (aber wer echtes Selbstbewußtsein hat, kennt keins) - verliert man denn in Gottesnamen an Prestige, wenn man das Schwerere zu tun bereit und fähig ist?" Aus: Der Regenbogen 7/1946 (1), S. 5.

Die Quellenanalyse bestätigt vordergründig die These von einer kurzfristigen Destabilisierung und einer fast ungebrochenen Fortführung der Ehe und der Familie in ihrer traditionellen Funktion. Uns geht es allerdings primär darum, wie die Verfasserinnen dieser Artikel diese „Auflösung" der Ehe und Familie für ihre Leserinnen verarbeiteten. In den Artikeln zur ideologischen Rechtfertigung der traditionellen weiblichen Rollenzuweisungen kommt die Absicht der Verfasserinnen besonders deutlich zum Ausdruck. Angesichts der Zerrissenheit, der Des-paratheit und der Anormalität der weiblichen Erfahrungen in diesen Jahren galt es, allen Realitäten zum Trotz, eine Welt der moralischen Integration aufzurichten. Diese Welt beruhte in den Köpfen der Menschen damals vor allem auf der Eindeutigkeit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Geschlechterrollenzuweisung, eine Eindeutigkeit, die der kapitalistisch-bürgerlichen Industriegesellschaft mit der frauenzentrierten Familie entsprach und die in ideologischer Hinsicht weder durch den Krieg noch durch die Wirren der Nachkriegszeit grundlegend in Frage gestellt wurde. Diese Tatsache ist zunächst verwunderlich. Denn in den letzten Kriegsjahren und in der Zeit unmittelbar nach 1945 hatte sich eine faktische Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung vollzogen. Dieser veränderten Realität entsprach aber keineswegs eine veränderte Einstellung. Im Gegenteil. Die Ideologie von der wesensmäßigen Arbeit der Frau hat sich, wie diese Artikel zeigen, in der Zeit nach 1945 verstärkt behaupten können. Wir müssen auch annehmen, daß diese Vorstellungen einer heilen, frauenzentrierten Ehe und Familie den Wünschen und Sehnsüchten der Frauen dieser Jahre entsprachen.
Folgen wir dem bestimmenden Tenor dieser Artikel, so steht fest, daß auch Frauen in ihrer Mehrheit die traditionelle Familien- und Ehestruktur und die mit ihr verbundenen Rollenzuweisungen und Rollenzumutungen bejahten. Nur selten wurden unter den Frauen Gegenstimmen laut, die alternative Lebensformen oder veränderte Rollenzuweisungen zwischen den Geschlechtern forderten. Die älteren Traditionen aus der liberalen und sozialistischen Frauenbewegung mit einem entschiedeneren Eintreten für freie Liebe, für die Rechte der alleinstehenden Mutter und für eine grundlegende Reform des bürgerlichen Ehe- und Familienrechts schienen 1945 ebenso verschüttet wie die Erinnerungen an die freieren Lebensformen der Frauen der zwanziger Jahre.[29]
Bei der Auswertung dieser Materialien sollte zunächst dieser Befund der Dominanz der traditionellen Ehe- und Familienauffassung allen Erschütterungen zum Trotz erarbeitet werden. Darüberhinaus müssen aber die Schüler(innen) auch versuchen, diesen Tatbestand zu erklären. Warum hat sich für die Frauen bei dem sogenannten Punkt Null so wenig geändert? Haben sie eine Veränderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen gewollt? Oder ist es überhaupt realistisch, auf Grund der Struktur der bürgerlichen, industriekapitalistischen Gesellschaft, die sich auch 1945 in den westlichen Zonen Deutschlands im wesentlichen ohne Bruch trotz des offensichtlichen „Zusammenbruchs" durchsetzen konnte, von Veränderungsmöglichkeiten in der primären hausgebundenen Rollenzuweisung der Frauen zu sprechen? Wie beurteilen wir die Bereitschaft der Mehrzahl der Frauen, sich 1945 den traditionellen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere der traditionellen Ehe- und Familienstruktur anzupassen?
Frauen in der Geschichte III

3. Dritter Lernschritt: Was folgt aus den bisherigen Überlegungen?

Die vorliegenden Quellen gaben erste Hinweise zur Beantwortung der drei Leitfragen der Unterrichtseinheit (s. S. 235). Obwohl wir eine Kontinuität der formalen Struktur von Ehe und Familie feststellen, so wurden Ehe und Familie in ihrer Substanz nach 1945 kurzfristig in Frage gestellt.
Frauen hatten den Konflikt zwischen den Erfahrungen ihrer Selbständigkeit und den traditionellen Rollenerwartungen empfunden; dieser Konflikt wurde aber nicht durch ein bewußtes, die frauenzentrierte, männerbeherrschte Familienordnung veränderndes Handeln gelöst. Frauen hatten keine Einsicht in die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Arbeit in der erweiterten Reproduktionssphäre nach 1945. Daher haben sie keine neuen Vorstellungen von veränderten Rollenzuweisungen entwickelt noch konnten sie auf ältere Konzeptionen zurückgreifen. Eine eindeutige Distanzierung von der nationalsozialistischen Frauenideologie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung erfolgte nicht in dem notwendigen Maße.
Aus der Quellenanalyse läßt sich dieser Tatbestand erfassen, denn die Materialien geben uns Aufschluß über die vorherrschenden, vorwiegend traditionellen Vorstellungen der Frauen über Ehe und Familie, die zwar mit ihren Erfahrungen im Alltag in Konflikt gerieten, die aber letztlich für sie als Handlungsnormen bestimmend gewesen sind. Auf Grund dieser Einsicht in die Kontinuität der Ehe und Familie als einer normativen Größe, unabhängig von den realen Arbeitsleistungen und den Erfahrungen der Frauen, wird es möglich, die tieferliegenden Ursachen für die Stabilität der Ehe- und Familienauffassung in der Nachkriegszeit zu erörtern. Der weiterführenden, uns heute interessierenden Frage nach den Chancen einer Veränderung der fixierten geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen können wir auf dieser Basis nachgehen. Die weiterführende Diskussion dieser Lernergebnisse kann von drei Einsichten bestimmt werden:
erstens, in die Bedeutung von Ehe und Familie in ihrer bisherigen Form (Hausarbeit als Nur-Frauenarbeit und weitere frauenspezifische Rollenzumutungen) für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Wirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung; zweitens, in die besondere Betroffenheit von Frauen durch die Krisen der bürgerlichen Gesellschaft und
drittens, in die Notwendigkeit, auch patriarchalische Normen und Arbeitszuweisungen im Produktions- und Reproduktionsbereich zu verändern, soll die „weibliche Ökonomie", d.h. auch die normative Überlegenheit der weiblichen Beziehungsarbeit, gesellschaftliche Geltung erlangen.

  • a) Zur funktionalen Bedeutung der Frauenarbeit in Ehe und Familie in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft
    Die starke Betonung der Ehe und Familie als „Urquelle und Quelle des Volkes"[30] ist, wie vorliegende Materialien zeigen, nicht erst eine Erscheinung der Restauration der 50er Jahre, sondern auch in diesen Jahren des „Aufbruchs" Ausdruck der fast ungebrochenen normativen Geltung der bürgerlichen Ehe- und Familienauffassung und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als einer für die bürgerliche Gesellschaft unverzichtbaren Ideologie. Aus den Quellen wurde sichtbar, daß die Frauen noch 1945 mehrheitlich die äußere Form der Ehe und Familie in ihrer traditionellen Gestalt akzeptierten, auch wenn sie in diesen Jahren die Erfahrung machten, daß weder sie selbst noch ihre Ehemänner diesen Rollen als unter der väterlich-männlichen Gewalt stehende Hausfrau und Mutter und die Familie ernährender und beherrschender Ehemann und Vater entsprachen. Hier ist zu fragen, ob die Frauen „freiwillig" oder auf Grund ihrer Sozialisation sich den gegebenen patriarchalischen Strukturen unterwarfen.[31] Die Schülerinnen) können sich aber vor allem an diesem Beispiel die funktionale Bedeutung der Beziehungsarbeit der Frauen im Kontext der bürgerlichkapitalistischen Industriegesellschaft deutlich machen. Frauen haben sich 1945 gegenüber dieser Funktionsbestimmung in Ehe und Familie nicht behaupten können.
     
  • b) Zur spezifischen Betroffenheit der Frauen in der Krise der bürgerli
chen Gesellschaft
    Es ist bekannt, daß Frauen in besonderer Weise von den wirtschaftlichen Krisen im Industriekapitalismus betroffen sind. [32] Diese spezifische Betroffenheit läßt sich an Hand unserer Quellen auch im Bereich der weiblichen Beziehungsarbeit erkennen. Wir haben immer wieder nach den Chancen der Frauen 1945 gefragt, d.h. nach ihren Möglichkeiten, traditionelle Rollenzumutungen, die auf Kosten ihrer Selbstbestimmung gingen, zu beseitigen. An diesen Quellen wird deutlich, daß die größere Freiheit für Frauen in diesen Jahren, insbesondere die größeren sexuellen Freiheiten, den Frauen zum Nachteil gereichte, weil sie allein in einer weiterhin patriarchalisch bestimmten Gesellschaft die Folgen freier Beziehungen tragen mußten. Folgen nicht grundlegende Änderungen in Ehe- und Familienrecht und Rechte für alleinerziehende Mütter usw., so erweisen sich diese Krisenzeiten als besonders belastend für die Frauen. Sie sind in höherem Maße als die Männer betroffen, insbesondere wenn sie größere Selbständigkeit in den Beziehungen anstreben.
     
  • c) Zur notwendigen Veränderung der patriarchalischen Normen der bür
gerlichen Gesellschaft
    An anderer Stelle (s. S. 242-246) wurde die These von der „Überlegenheit" der weiblichen Produktionsweise diskutiert. Gerade in der Nachkriegszeit schien sich die Überlegenheit der weiblichen Arbeit in der Reproduktionssphäre, insbesondere in der Beziehungsarbeit der Frauen unter Beweis stellen zu können. Eine solche „Überlegenheit" ist jedoch weder von den Frauen erkannt worden, noch hat sie sich gesellschaftlich Geltung verschaffen können. Sie blieb auf das „Private" verwiesen. An diesem Beispiel wird deutlich, daß sich die „Überlegenheit" der weiblichen Produktionsweise nicht auf einen „weiblichen Lebenszusammenhang", der sich vom Mann ablöst und aus der Gesamtgesellschaft herausnimmt, beschränken kann. Diese „Überlegenheit" kann sich nur durchsetzen, wenn die wertsetzenden Normen der bürgerlichen Lohngesellschaft von Frauen und Männern durchbrochen werden.

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