Vorwort

Durch die intensive Frauengeschichtsforschung [1] der letzten Jahre und die engagierte und höchst kontroverse Diskussion um die Spezifik der Frauengeschichte als einer historisch-sozialwissenschaftlichen Disziplin [2] sind neue, wissenschaftliche Fragestellungen erarbeitet und forschungswürdige Inhalte untersucht worden, die traditionelle Forschungsansätze und Interpretationsrahmen der Geschichtswissenschaft sprengen oder zumindest in Frage stellen. Hierzu gehört auch die Entdeckung des Forschungsgegenstandes Weiblichkeit als einer sozialen, historischen Kategorie.
Mit diesem neuartigen, für unsere Gesellschaft jedoch grundlegenden Phänomen der Weiblichkeit befaßt sich der dritte Band der Reihe >Frauen in der Geschichte<. Alle Beiträge gehen von der Erkenntnis aus und tragen zu ihr bei, daß Weiblichkeit keineswegs als eine selbstverständliche Erscheinung zu betrachten ist, die sich umstandslos aus der 'natürlichen' Verfassung der Frau ableitet. Weiblichkeit gehört vielmehr zu den von der Frauengeschichtsforschung entdeckten Themen, die bisher unbekannte sozialgeschichtliche Daten zutage fördern und die darüber hinaus uns langsam, aber mit Sicherheit zu einer Revision herkömmlicher Annahmen zur Struktur unserer historisch gewordenen Gesellschaft, insbesondere zur sozio-ökonomischen und zur ideologisch-normativen Basis der bürgerlichen Welt der Neuzeit führen. Schon die Darstellungen von Gisela Bock und Barbara Duden, von Elisabeth Badinter, Karin Hausen oder Sibylle Meyer, um nur einige grundlegende oder neuere Arbeiten zu nennen,[3] haben uns darauf aufmerksam gemacht, daß so selbstverständlich erscheinende Phänomene wie der Haushalt, die Mutterliebe, die Geschlechterstereotypen männlich - weiblich oder die repräsentative Rolle der Frauen keineswegs ,von jeher' bestanden haben.
In vergleichbarer Weise tragen auch die Beiträge dieses Bandes zu einer Vertiefung der Einsicht in die Bedeutung der Frauentätigkeiten für die  kulturelle  Definition  des  Geschlechterverhältnisses  in  der Geschichte der Neuzeit bei. Durch die Rekonstruktion einzelner Etappen
in der Geschichte der Weiblichkeit werden die kulturelle Ausprägung, der normative Gehalt und die soziale Funktion verschiedener Vorstellungen von Weiblichkeit sichtbar. Ein bisher vergessenes, unterdrücktes Thema der neuzeitlichen Geschichte wird somit vorgestellt.    Die Beiträge dieses Bandes führen zu weiteren grundlegenden Problemen der Frauen- und der allgemeinen Geschichtsbetrachtung, die allerdings erst in einem weiteren Band dieser Reihe genauer verfolgt werden.[4] Denn die Frauenforschung gewinnt langsam die Qualität eines fachwissenschaftlichen Korrektivs, das geeignet ist, unreflektiert verwandte Begriffe unseres historisch-gesellschaftlichen Denkens auf ihren empirischen Gehalt und ihre Vorurteilsstruktur hin zu überprüfen,[5] neue Dimensionen der historischen Erfahrung zu erschließen und das
theoretische und methodische Arsenal der historischen Interpretation erheblich zu bereichern. Ansätze dazu sind in einigen Aufsätzen dieses
Bandes schon spürbar.
An der hier vorgestellten Geschichte der Weiblichkeit seit dem späten Mittelalter bis an die Schwelle unserer Gegenwart werden strukturelle Defizite in den konstitutiven Kategorien unseres Daseins wie Gesellschaft, Rationalität und Menschlichkeit im Hinblick auf die Besonderheit Frau sichtbar.[6] In der Frauenforschung hat die Erfahrung des Ausschlusses der Frauen aus der gesellschaftlichen Definitionsmacht zur Forderung nach einer kritischen Überprüfung dieser Kernbegriffe unserer neuzeitlichen, wissenschaftlichen Kultur und zu einer Neubestimmung zentraler Kategorien der geschlechtlichen Identität geführt.[7] Indem die Beiträge dieses Bandes diese historische Entwicklung der Definition zweier Kulturen aufzeigen und uns auf die Errungenschaften, aber auch auf die materiellen und die menschlichen Kosten dieser Polarisierung und Dichotomisierung der Wirkungs- und Lebensbereiche von Frauen und Männern aufmerksam machen, unterstüzen sie die Bemühung, einen von Männern beherrschten Diskurs zu durchbrechen. Auch dieser Band will Forschung und Lehre im Bereich der Frauengeschichte fördern und anregen. Daher wurden auch unterrichtspraktische Arbeiten aufgenommen, die zu einer stärkeren Berücksichtigung der Frauengeschichte im Geschichtsunterricht ermutigen möchten. Dieser Band will Materialien liefern, anhand deren konkret (und kontrovers) diskutiert werden kann, was es heißt, >Feminismus als politische Praxis<[8] in die deutsche Hochschule und Schule einzubringen.
Bochum/Bonn, im Januar 1983    
Annette Kuhn
Jörn Rüsen

Texttyp

Vorwort