Das eine sein und das andere auch...

Über die Widersprüchlichkeit des Frauenbildes am Beispiel der Mädchenliteratur

I.

Ich will im folgenden nicht über die Widersprüche in den von Literatur und Kulturgeschichte entworfenen Weiblichkeitsbildern allgemein sprechen, sondern lediglich - unter dem Aspekt der Widersprüchlichkeit - das Frauenbild der Mädchenliteratur vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts darstellen, auf die allgemeinen Weiblichkeitsbilder gehe ich nur insoweit ein, als sie zum Verständnis der Mädchenliteratur notwendig sind. Da Literatur für Mädchen aus den unteren Schichten in dieser Zeit eine noch geringere Rolle spielt als später, beschränke ich mich auf die bürgerliche Mädchenliteratur, das Schwergewicht wird dabei auf der Mädchenliteratur gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts liegen. [1]
Widersprüche im Frauenbild der Mädchenliteratur hat es schon seit den Anfängen der Mädchenliteratur im frühen 18. Jahrhundert gegeben. Bei LEPRINCE DE BEAUMONT ist es z. B. der Gegensatz zwischen der Frau als einem dem Manne gleichberechtigtem Vernunftwesen und ihrer absoluten, noch theologisch begründeten Gehorsamspflicht gegenüber dem Mann. Bei CAMPE (im Väterlichen Rath von 1789) ist es der Gegensatz zwischen der Gleichheit der Frau als Mensch (begründet über die allgemeinen Menschenrechte) und der besonderen Bestimmung über ihren Stand, die sie zu den Aufgaben und Tugenden der Hausfrau, Gattin und Mutter verpflichtet - darin eingeschlossen ist auch das Sichabfinden mit der abhängigen, eingeschränkten Situation der Frau, die CAMPE - noch in der Tradition der Hausväterliteratur stehend unbeschönigt ausspricht. [2]
Der Widerspruch bzw. die Widersprüchlichkeit, auf die ich hier näher eingehen möchte, ist jedoch eine andere, erst später einsetzende und vor allem tiefergehende, nämlich die, die durch die Idealisierung der Frau seit Ende des 18. Jahrhunderts in die Mädchenliteratur hineinkommt. Dabei möchte ich die These aufstellen, daß, während die Widersprüche in den aufklärerischen Texten noch offen dargestellt werden, ja, bei CAMPE z. T. sogar als solche artikuliert werden, sie in der Mädchenliteratur des 19. Jahrhunderts durch die Verinnerlichung der Geschlechterrolle nicht nur tiefer in die Psyche der Frau hineinwandern, sondern auch zunehmend unsichtbarer werden und sich deswegen beim naiven Lesen immer weniger greifen lassen.

II.

Widersprüche in den idealisierenden Weiblichkeitsvorstellungen sind nicht erst durch die triviallsierende Rezeption der Mädchenliteratur entstanden, sondern bereits im Denken von Empfindsamkeit, Klassik und Romantik angelegt, wo zum erstenmal diese idealisierenden Bilder aufgestellt und entwickelt wurden. Als Beispiel greife ich SCHILLERS schöne Seele aus "Über Anmut und Würde" heraus, den klassischen Text, der die Mädchenliteratur (wenn auch wahrscheinlich nicht auf direktem Wege) wohl am nachhaltigsten beeinflußt hat. Bei SCHILLER überwindet die schöne Seele (die zunächst noch nicht geschlechtsspezifisch festcelegt ist) die Dichotomie von Vernunft und Sinnlichkeit, von Sittlichkeit und Neigung, sie handelt moralisch in Übereinstimmung mit der Sinnlichkeit. Diese Utopie des ganzen, mit sich selbst versöhnten Menschen, die auch zum zentralen Anliegen von SCHILLERs ästhetischer Erziehung wird (der ästhetische Zustand, in dem die gegensätzlich wirkenden Vermögen des Menschen sich in freiem Spiel vereinigen, wird zur Durchgangsstufe für die politische Freiheit), wird von SCHILLER nun tendenziell mit der Frau verknüpft, die schöne Seele, so heißt es, sei mehr bei dem weiblichen als bei dem männlichen Geschlecht zu finden aufgrund des "zärteren" weiblichen Körpers und aufgrund des weibllichen Charakters. [3] Diese hohe Meinung von dem Charakter der Frau, lange genug als Beleg für die Hochschätzung der Frau durch die Klassik interpretiert, stellt zunächst tatsächlich eine positivere Einschätzung dar als das Frauenbild der Hausväterliteratur, die die Frau, unter Berufung auf die Bibel, als "minderes Werkzeug" betrachtete. So spricht es durchaus für die Höherbewertung der Frau, daß nicht nur der Mann, sondern auch sie zum Träger vorwärtsweisender Utopien werden kann und ihr damit Hand lungspotential zugestanden wird, das über ihren gegenwärtigen Zustand hinausweist.
Kritisch wird diese Einschätzung aber, sobald die Frau in erster Linie oder (wie in der Populärliteratur) sogar ausschließlich zu solch utopischer Weiterentwicklung für fähig erklärt wird. Das auf eine zu erreichende Zukunft gerichtete Ideal, das auf das Seinsollen der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung hinweist, das also aufzeigt, wie gesellschaftliche Widersprüche überwunden werden können, wird nun auf die Frau der Gegenwart projiziert; die gesellschaftlichen Widersprüche, die eine Harmonie von Vernunft und Sinnlichkeit (noch) verhindern, sollen bei der Frau aufgrund ihres Geschlechtscharakters partiell aufgehoben sein. Durch diese Verkürzung und — was mindestens ebenso wichtig ist - durch die gleichzeitige Beibehaltung ihrer faktischen Unterprivilegierung wird das Ideal zur Fessel für die reale Frau, zur Norm, an der ihr Verhalten gemessen wird, es hindert sie nicht nur an ihrer individuellen Selbstverwirklichung (zu der auch Irrtümer und Fehler, Enttäuschungen und negative Erfahrungen gehören), sondern stürzt sie in unlösbare Konflikte, weil von ihr Unlösbares verlangt wird. Als schöne Seele soll sie auf einmal stärker sein als die Gesellschaft, soll sie fähig sein, die gesellschaftlichen Widersprüche in sich aufzuheben.
Hier liegt für mich der erste wesentliche Widerspruch der idealistischen Frauenbilder: Die Frau soll in der von kapitalistisch-patriarchalischen Normen geprägten bürgerlichen Gesellschaft leben und gleichzeitig ein Ideal erfüllen, das diese gesellschaftlichen Normen transzendiert, sie soll als historisches Wesen gleichsam außerhalb der Geschichte stehen. Von dieser gesellschaftlichen Sonderstellung der Frau ist der Schritt zur Frau als Naturwesen nicht mehr weit. So sinkt bereits SCHILLERs schöne Seele tendenziell zum bloßen Naturwesen herab, dem keine sittliche Würde zukommt, da es bereits als Naturwesen mit der Sittlichkeit übereinstimmt. [4] Aus der gesellschaftlichen Sonderstellung der Frau ergibt sich schließlich auch der zweite grundlegende Widerspruch der idealistischen Weiblichkeitsbilder. Er wird um so deutlicher, je mehr sich diese auf die konkrete Realität beziehen: Die der Frau zugeschriebenen idealen Eigenschaften, die als Gegenbild zur bürgerlichen Realität entworfen sind, werden dazu benutzt, die Frau für eben diese Realität für unfähig zu erklären, bzw. es werden umgekehrt die für die Bewältigung der Realität notwendigen männlichen Eigenschaften als Verstoß gegen ihre idealische Natur gesehen. Die Idealisierung der Frau mündet damit in die Rechtfertigung und Verschleierung ihrer realen Abhängigkeit vom Mann und ihrer Fixierung aufs Haus.

  • In welchem Kontext die Idealisierung der bürgerlichen Frau steht, soll hier nur angedeutet werden. Entscheidend ist wohl zweierlei gewesen - zum einen die allmähliche Auflösung der alten Haushaltsfamilie durch die zunehmend stärkere Herauslagerung der Erwerbsarbeit des Mannes, zum andern die Nichteinlösung der bürgerlichen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in eben diesem Berufsalltag, der statt von den bürgerlichen Idealen vom Konkurrenzkampf des sich entwickelnden Frühliberalismus bestimmt war. Die Abgehobenheit der entstehenden bürgerlichen Kleinfamilie vom gesellschaftlichen Bereich förderte nun nicht nur eine Intimisierung des familiären Binnenraums, sondern leistete (bei zunehmender Verinnerlichung der bürgerlichen Ideale) auch der Projektion Vorschub, daß im Bereich des Privaten zu verwirklichen sei, was in der Sphäre des Erwerbs nicht möglich war: Freundschaft, Liebe, Solidarität, das Private wird zum Ort der Möglichkeit von Humanität. Durch diese Aufladung des Privaten zum Bereich des eigentlich Humanen kommt aber auch der Frau als Repräsentantin der Familie eine zentrale Rolle zu, sie wird zur Trägerin der bürgerlichen Kulturideale.

III.

Bereits in CAMPES Väterlichem Rath für meine Tochter (1789), der sich noch stark an der Wirtschaftsgemeinschaft des oikos orientiert und wie die Hausväterliteratur den Arbeitstugenden der Hausmutter breiten Raum gibt, findet sich die Gegenüberstellung von entfremdetem Berufsalltag und friedlichem häuslichem Bereich, für den die Frau die Verantwortung trägt. Aufgabe der Frau in ihrer Eigenschaft als Gattin ist es, den Mann zu beglücken, ihm "den Schweiß von der Wange zu wischen und ihm Heiterkeit, Freude und Muth ins Herz zu lächeln", damit er "von seinen schweren und sorgenvollen Arbeiten" ausruhen kann. [5] Im Unterschied zur späteren Mädchenliteratur werden die von der Frau verlangten emotionalen Leistungen freilich noch deutlich als Arbeit sichtbar. So werden sie nicht als Eigenschaften dargestellt, die der Frau von Natur aus zukommen und die sie nur auszubilden braucht, sondern es sind Tugenden, die von ihr als moralischer Person - CAMPE rekurriert hier auf das Gebot der Pflichterfüllung im kantischen Sinne - zu erwerben sind und durchaus moralische Selbstüberwindung kosten.
Erst seit den 90er Jahren wurden in der Mädchenliteratur die Weiblichkeitsbilder der deutschen Klassik rezipiert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen geschah dies freilich - in einem für die Mädchenliteratur typischen Eklektizismus - nur in Verbindung mit anderen ideologischen Paradigmen. Bezeichnend für die Prüderie der Mädchenliteratur ist dabei die Tatsache, daß die rousseauistische Ausrichtung der Mädchenerziehung auf das erotische Gefallen des Mannes nur vorübergehend Eingang findet. Was sich statt dessen in der Mädchenliteratur der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts durchsetzt, ist die Umformung des klassischen Frauenbildes im christlich-idealistischen Sinne, wobei auch romantische Anteile eine Rolle spielen; zugleich wird festgehalten an einigen philanthropischen Vorstellungen, so vor allem an der dreifachen Bestimmung als Hausfrau, Gattin und Mutter und an der moralischen Begründung ihrer Pflichten. So steht bei JAKOB GLATZ, dem ersten ausgesprochenen Mädchenbuchschriftsteller, beides nebeneinander: die Verklärung der Frauen als "schöner, frommer Seele", als "Freudebringende Wesen", die überall "Anmuth und Lust" verbreiten, ja sogar als "Engel" und "Stellvertreter" Christi auf Erden apostrophiert werden [6] und auf der anderen Seite das bieder-beschränkte Leben der Hausfrau, die sich den Launen des Mannes fügen muß und deren Lebensmühsal so groß ist, daß sie der Tröstungen der Religion in einer ganz besonderen Weise bedarf. Vermittlungsglied zwischen den beiden unterschiedlichen Paradigmen ist die romantische Vorstellung von der Frau als hingebungsvoll liebender Weiblichkeit: Die weibliche Liebesfähigkeit ist der Grund dafür, daß die Frau Jesus nähersteht als der Mann; sie ist aber auch der Grund dafür, daß die Frau sich dem Mann liebend unterwirft. Der utopische Gehalt, den die klassisch-romantischen Weiblichkeitsbilder noch haben, geht damit in der Mädchenliteratur verloren; übrig bleibt die durch die Idealisierung geleistete Verklärung der schlechten Realität.
Der Widerspruch zwischen den unterschiedlichen Rollenanforderungen geht bei GLATZ tiefer als bei CAMPE, von der Frau wird nicht nur verlangt, daß sie die Tugend der freudigen Ergebenheit aufgrund ihrer Pflicht als Gattin erwirbt, sondern daß sie sich dem Manne aus Liebe unterwirft. Diese Identität von Pflicht und Neigung soll sich nach außen manifestieren durch die "schöne" Haltung der Frau - wie die Bilder von den "wahren Blumen in dem großen Garten der Menschheit" oder dem "Veilchen", "das in stiller Bescheidenheit blüht", deutlich machen. [7] Dabei geht es nicht mehr wie bei Schiller um das freie Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Vernunft, sondern um die Reduktion beider Vermögen, um die Dämpfung der Lebendigkeit der Frau auf eine Haltung heiterer Gottergebenheit, wobei gerade diese Dämpfung als "schön" empfunden wird. [8] Nicht zufällig ist für die christlich-idealistische Mädchenliteratur eine Abkehr vom Leben insgesamt und eine jenseitsorientierte Frömmigkeit charakteristisch, die den Tod als Tor zum eigentlichen Leben betrachtet. Die Entsinnlichung kann dabei so weit gehen, daß die Frau noch nicht einmal mehr im Mann sinnliche Begierden weckt, wenn er sich in sie verliebt, dann in ein engelhaftes Wesen, eine Lilie, die er nur noch wie eine Heilige verehren kann. [9]
Wichtig an der Ästhetisierung der Demut scheint mir, daß sie nicht nur dazu dient, den Mann die Unterdrückung der Frau ästhetisch genießen zu lassen, sondern auch dazu, sie der Frau selbst zu idealisieren. Das eigene Leiden wird erhoben in ein mildes, verklärendes Licht; es kommt nur auf die Haltung an, mit der man ihm begegnet. Eine so verstandene ästhetische Haltung macht eine Veränderung der Realität überflüssig: "Der schönen Seele werden selbst Dornen zu Rosen, und überall breitet sich vor ihrem Blick ein Himmel aus. [10]

IV.

Ich mache jetzt einen Sprung bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, übergehe also die biedermeierlich beeinflußte Mädchenliteratur, die die Abhängigkeit der Frau vom Mann idyllisiert zum häuslichen Familienglück, das von der Liebe, Zufriedenheit und Frömmigkeit beider Ehegatten bestimmt ist. Ich gehe auch nicht näher auf die erste Phase der Backfischliteratur ein, die sich aus den Biedermeiererzählungen entwickelt und vor allem mit den Namen THEKLA von GUMPERT (Töchteralbum, 1855ff.) und CLEMENTINE HELM (Backfischchen's Leiden und Freuden, 1863) verknüpft ist. Im Unterschied zur vorangegangenen Literatur werden nun die Mädchenfiguren, die noch nicht an die weibliche Rolle angepaßt sind, nicht ausschließlich moralisch bewertet (und verurteilt), sondern bereits aus einer psychologischen Perspektive betrachtet, das Unangepaßtsein der Mädchen erscheint als Ausdruck ihres Noch-nicht-Erwachsenseins. Moralischer Grundtenor und moralische Grundstruktur der Geschichten bleiben gleichwohl erhalten.
Das Neue der zweiten Phase der Backfischliteratur, auf die ich im folgenden näher eingehen möchte und die ich mit dem Erscheinen des Trotzkopf von EMMY von RHODEN (1885), eines der bis heute erfolgreichsten Mädchenbücher, ansetzen würde, [11] besteht darin, daß die Psychologisierung der Hauptfigur (und damit auch der vermittelten Normen) noch weiter verstärkt wird und gleichberechtigt neben die aus dem 18. Jahrhundert tradierte moralischdidaktische Grundstruktur der Geschichten tritt. Damit verbunden ist - zumindest scheinbar - eine größere Liberalität gegenüber dem noch nicht an die weibliche Rolle angepaßten Mädchen. Ilse, der Trotzkopf, ist am Anfang alles andere als eine gesittete junge Dame, sie tollt herum wie ein Junge, agiert sich körperlich aus, trägt zerrissene, aber bequeme Kleidung, in der sie sich frei bewegen kann, und das Schlimmste von allem: Sie wagt es, in ganz "unweiblicher" Weise auch negative Gefühle wie Haß, Wut und Zorn zu
äußern und ihrem eigenen Willen zu folgen - sie tut das, wozu sie Lust hat. Obwohl diese Eigenschaften deutlich als negativ dargestellt werden und erzieherische Konsequenzen haben (Ilse wird ins Pensionat geschickt, damit dort ihr Wille gebrochen und sie zu einer sittsamen jungen Dame erzogen wird), wird Ilse dennoch als sympathisch dargestellt. Sympathisch ist das an ihr, was verrät, daß sie trotz alledem alle Eigenschaften hat, um ihrem künftigen Mann eine liebende Ehefrau zu werden: Sie hängt voll stürmischer Liebe an ihrem Vater; sie ist auf die Liebe anderer angewiesen und leidet unter Liebesentzug; sie ist offen, so daß man ihr bis ins Herz sehen kann, sexuell völlig unschuldig und - so werden ihre Eigenschaften zumindest im Rahmen des Buches verstanden - spontan und von kindlicher Natürlichkeit. [12] Auch später nach Ilses Wandlung zur sittsamen jungen Dame, die sich in ihre Pflichten als erwachsene Frau fügt, wird immer wieder betont, daß sie die Natürlichkeit und Unbefangenheit eines Kindes behalten hat - Eigenschaften, die jetzt ausschließlich positiv gesehen werden.
Was hier mit einer Verspätung von mehreren Jahrzehnten in der Mädchenliteratur auftaucht, ist - freilich modifiziert und abgeschwächt - die romantische Vorstellung der Mädchenzeit, wie sie vor allem von E. M. ARNDT entworfen wurde. [13] Ihr zugrunde liegt die Vorstellung von der Frau als pflanzenhaftem, in vorbewußter Harmonie mit sich selbst lebendem Naturwesen: Im Gegensatz zur ernsten, grübelnden Natur des Mannes gehört die Frau, so ARNDT, "wie der Vogel in der Luft" mehr den Blumen und den Sternen an; sie, für die das ganze Leben "ein bunter Traum mit einem mannigfaltigen Gestaltenspiel" ist, steht der spielerisch leichten Natur näher als der des Mannes. [14] Diese kindliche Natürlichkeit der Frau aber darf, auch wenn sie sich in "kleinen Thorheiten und Kinderspielen" äußert, keineswegs beschnitten werden; ansonsten bestünde die Gefahr, die Wurzel der Weiblichkeit selbst zu treffen. [15] Dem jungen Mädchen wird dabei in ganz besonderer Weise ein Schonraum zugestanden: Der Phase der weiblichen Pubertät, in der es "unerbittlich spröde alles Männliche von sich stößt und auch dem Weiblichen unhold ist", darf nicht durch Erziehung entgegengewirkt werden, [16] statt dessen sollte man der Natur selbst vertrauen, die die Erziehung des Mädchens zur liebenden Frau und Mutter von sich aus vollendet, nämlich durch Ehe und Mutterschaft. Diese Weiblichkeitsvorstellung ist Teil einer Liebes- und Ehekonzeption, die die erotische Spannung zwischen den Geschlechtern in den Mittelpunkt stellt, erotische Spannung aber entsteht bei ARNDT durch "Ungleichheit, Kampf, Widerstand", durch von der Frau entfachten "süßen Streit", in dem letztlich der Mann der Sieger bleibt. [17] Eine bloß tugendhafte Frau ist dagegen für ihn langweilig; sie kann in dem Manne keine Leidenschaft wecken. Im Trotzkopf wird die der Frau zugeschriebene Natürlichkeit, die für den Mann ja nicht nur etwas Verlockendes, sondern ebenso sehr etwas Bedrohliches hat, nicht nur mit großer Verspätung, sondern auch nur in reduzierter Form aufgenommen. Das Mädchen als fröhliches, spontanes, eigenwilliges Kindwesen erscheint erst dann wirklich positiv, nachdem die alte Warn- und Strafpädagogik wirksam geworden und in Ilse eine leidvolle innere Umkehr bewirkt hat. Am Ende ist Ilse paradoxerweise beides: sittsame junge Dame, die gelernt hat, ihre Spontaneität um wesentliche Bereiche zu beschneiden, und natürliches, spontan reagierendes Mädchen, das sich noch voll mit seinen Gefühlen identifiziert und sie unbefangen anderen Menschen zeigen kann. Durch diese Erfüllung widersprüchlicher Rollenanforderungen wird Ilse am Ende zum Idealbild des jungen Mädchens; dabei ist es (im Gegensatz zum 1. Teil des Buches) gerade ihre Natürlichkeit, die sie, wie wiederholt hervorgehoben wird, so wohltuend von anderen Mädchen unterscheidet. Wie bei ARNDT steht auch im Trotzkopf hinter der positiven Bewertung der Natürlichkeit letztlich die erotische Ausstrahlung, die gerade sie für den Mann hat. Zwar wird Ilse nur deswegen, weil sie sich der weiblichen Rolle angepaßt hat, am Ende mit der Liebe eines hübschen und standesgemäßen jungen Mannes belohnt, seine Liebe gewinnt sie jedoch primär aufgrund ihrer Spontaneität und kindlichen Natürlichkeit. Die Musterschülerin Rosa dagegen, eine Nachfolgerin der tugendhaften Hauptfiguren der früheren Mädchenliteratur, erscheint als langweilig und reizlos, als erotisch unattraktiv. Selbst die Trotzköpfigkeit der noch ungezähmten Ilse zu Beginn der Erzählung ist von hier aus gesehen nicht nur negativ, ihr Trotz ist zwar moralisch verwerflich (und wird deswegen auch von den Frauenfiguren, den Hüterinnen von Sitte und Anstand" verurteilt), die Männer beurteilen Ilse dagegen von Anfang an sehr viel positiver, ja, geraten teilweise über sie ins Schwärmen. Später, nach Ilses Wandlung, wird der erotische Reiz des sich entziehenden, verweigernden Mädchens noch etwas deutlicher angesprochen (auch wenn die Erotik immer unterschwellig bleibt). Der Mann erscheint als siegreicher Jäger, das Mädchen als fliehendes Tier, dem am Ende jede Rückzugsmöglichkeit abgeschnitten ist ("Nun war sie gefangen .... Sie drückte die Hand fest auf das stürmisch klopfende Herz und wandte sich um. Scheu, wie eine wilde Taube, die sich im Netz gefangen hat, erhob sie das braune Auge und sah ihn an."). [18] Dieses Zusammenspiel von Verfolgung und Flucht, von Erobern und Erobertwerden wird durch Vorausdeutungen und Verzögerungen trotz aller andeutenden Erzählweise so in Szene gesetzt, daß es von der Leserin lustvoll genossen werden kann. In der darauffolgenden Liebesszene schließlich stehen moralisches Argumentationsmuster und erotische Spannung im Sinne ARNDTs wieder nebeneinander. Ilses innerer Kampf, ob sie dem Manne, den sie liebt, ihr Jawort geben soll, erscheint auf der psychischen Ebene als weiblicher Widerstand, der ihren erotischen Reiz für den Mann erhöht, und auf der moralischen Ebene als Trotz, den erst die warnende Erinnerung an die Geschichte von Luzie, einer Abschreckgeschichte in der Tradition der moralischen Beispielerzählungen des 18. Jahrhunderts, zum Schweigen bringen kann; erst dann kann Ilse als liebende Frau reagieren und ihr Jawort geben.
Wenn auch der Trotzkopf auf den moralischen Gestus nicht verzichtet, schließt er sich mit der Übernahme der auf Eroberung und Widerstand beruhenden erotischen Grundspannung zwischen den Geschlechtern doch einer bereits von ROUSSEAU formulierten und von ARNDT weitergeführten Bestimmung des Geschlechterverhältnisses an, das sich als Verinnerlichung der ökonomischen, sozialen und moralischen Abhängigkeit der Frau vom Mann beschreiben läßt; die Unterwerfung der Frau unter den Mann und die Herrschaft des Mannes über die Frau erscheinen nun als Merkmal der männlichen und weiblichen Triebstruktur, auf deren Unterschiedlichkeit die gegenseitige sexuelle Anziehung beruht. Daß die Mädchenliteratur diese bis in die Triebstruktur hineinreichende Psychologisierung der Geschlechterrollen erst über hundert Jahre nach ROUSSEAU und mehr als ein halbes Jahrhundert nach ARNDT übernimmt, zeigt, wieviel Sprengkraft eine selbst so eingebundene Sexualität für den Erziehungsalltag, dem die Mädchenliteratur sich ja mehr anpaßte als die Hochliteratur, im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch hatte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war dagegen die Verinnerlichung und Erotisierung der Geschlechterrollen schon so weit fortgeschritten, daß sie selbst bei dem behüteten bürgerlichen Mädchen als etwas Bekanntes, Vertrautes (wenn auch nie offen Ausgesprochenes) vorausgesetzt bzw. unterschwellig darauf rekurriert werden konnte. Die offene moralische Argumentation, die - im Unterschied zur spätaufklärerischen Mädchenliteratur - im 19. Jahrhundert nicht mehr im Denken der Zeit verankert war, erschien dagegen zunehmend antiquierter, weil ohne Legitimationskraft. [19] (Man braucht dabei noch nicht einmal an die erstarkende Frauenbewegung zu denken, die moralische Argumentation allgemein war ja diskreditiert durch den philosophischen Idealismus und später die Milieutheorie.) Freilich wollte die Mädchenliteratur aufgrund ihres pädagogischen Anspruchs offensichtlich noch nicht ganz auf die moralische Argumentation verzichten, weswegen es zu dem Nebeneinander zweier Erziehungstraditionen kommt - der aufklärerisch-moralischen und der romantischen Tradition. Diese Vermischung, deren innere Widersprüchlichkeit beim naiven Lesen aufgrund der gewählten Erzählstrategie nicht weiter auffällt, ist sicherlich ein wesentlicher Grund für den großen Erfolg des Trotzkopf, dessen Grundstruktur bis heute unzählige Nachahmungen gefunden hat.

V.

Eine noch weitergehende Form der Entdidaktisierung bei gleichzeitig zunehmender Psychologisierung findet sich zwei Jahrzehnte später bei ELSE URY, mit der ich meinen Gang durch die Mädchenliteratur abschließen möchte. Das neue Mädchenbild, das sie entwirft, findet sich vor allem in der wahrscheinlich bereits während des Ersten Weltkriegs geschriebenen, aber erst nach 1918 erschienenen Nesthäkchen-Serie, deren Beliebtheit mit der des Trotzkopf auf einer Stufe steht, es findet sich jedoch auch bereits in einem früheren Buch, auf das ich näher eingehen möchte, und zwar in Studierte Mädel von 1906, das der erste große Erfolg der Autorin wurde. [20]
So wie der Trotzkopf im Verhältnis zur ersten Phase der Backfischliteratur, so ist auch das Buch Studierte Mädel in Relation zu den Trotzkopfbüchern wieder ein Stück moderner, d. h. der neuen gesamtgesellschaftlichen Situation besser angepaßt, indem es in bestimmter Weise auf die veränderte Situation der bürgerlichen Frau und die Forderungen der Frauenbewegung eingeht. Die Erzählung bietet der Leserin zwei Mädchenfiguren als Identifikationsmuster an, die ein Leben führen, wie es 1906 nur wenigen Frauen möglich war und in der Mädchenliteratur völlig neu ist. Hilde und Daisy gehen aufs Gymnasium, machen Abitur, studieren Medizin (und zwar auswärts, weit weg vom elterlichen Zuhause in einer eigenen Studentenbude) und unternehmen zusammen mit einer anderen Frau eine mehrtätige Bergwanderung. [21] Die eine der beiden Hauptfiguren, freilich die, die erzählerisch nachgeordnet ist, bricht ihr Medizinstudium mit der Verlobung offensichtlich nicht ab, sondern überzeugt aufgrund ihrer Persönlichkeit den von ihr geliebten Mann, daß "Weiblichkeit und Frauenstudium" sich nicht ausschließen und eine Frau, die einen akademischen Beruf erlernt, dem Manne beides zugleich sein kann - "geliebtes Weib" und "treue Gefährtin im Beruf. [22] Ganz neu für das Mädchenbuch: Nicht das Mädchen muß am Ende ihr Unrecht einsehen und sich fügen (d. h. dem Manne bzw. den gesellschaftlichen Normen nachgeben), sondern der Mann erkennt sein Unrecht an und nimmt sein Vorurteil gegen studierte Frauen zurück.
Diese Position, die sich mit wichtigen Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung deckt, ist freilich nur die eine Seite des von ELSE URY entworfenen Frauenbildes. Die Aufnahme der Emanzipationsforderungen geschieht - wie auch im gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung - nur unter der Prämisse, daß die Frau dabei ihre weibliche Natur nicht verliert, als weibliche Natur aber werden liebevolle Sanftheit und aufopferungsvolle Mütterlichkeit verstanden. Dalsy muß das Wunder vollbringen, als Ärztin einmal die im Krankenhaus geltenden ,männlichen' Normen zu erfüllen, nämlich Sachlichkeit, Distanziertheit, Unterdrückung von Emotionalität, und zugleich doch auch den sog. weiblichen Normenanforderungen nachkommen. Was ihr das Herz des skeptischen Mannes endgültig gewinnt, ist die Tatsache, daß sie in mütterlicher Liebe sich den kranken Kindern zuwendet (Höhepunkt: Sie singt einem schwer erkrankten Kind zur Beruhigung mit zarter, süßer Stimme ein Schlaflied). Wieder soll die Frau also - wenn auch jetzt nicht im Bereich der Familie, als Ausgleich zum entfremdeten Berufsalltag, sondern innerhalb der beruflichen Sphäre selbst - das miteinander verbinden, was in der gesellschaftlichen Realität auseinandergerissen ist und was zu verbinden ein wünschenswertes gesamtgesellschaftliches Ziel ist (und deswegen auch nicht von den Frauen allein erreicht werden kann): Rationalität und Emotionalität, sog. Sachzwänge und Menschlichkeit, konkret aufs Krankenhaus bezogen: den Patienten trotz Zeitmangel, trotz einer aufs Naturwissenschaftliche beschränkten Ausbildung nicht als anonymen Fall, sondern als leidenden, individuellen Menschen zu sehen.
Das Widersprüchliche des in Studierte Mädel entworfenen Frauenbildes liegt allerdings noch auf einer anderen Ebene. Positiver als die Frau, die auch noch nach der Verlobung weiterstudiert, wird die Frau dargestellt, die ihr Studium vorzeitig abbricht, um zu heiraten und dem Manne den Haushalt zu führen, sie ist vor allem insofern positiver, als sie die größere erotische Ausstrahlung hat, der hier wesentlich breiterer Raum zugestanden wird als im Trotzkopf. Ihre erotische Ausstrahlung besteht wieder in ihrer (zumindest im Rahmen der Erzählung behaupteten) Natürlichkeit, Spontaneität und kindlichen Unbefangenheit. So ist Hilde, eine beliebte, aufgeweckte, schnoddrig-burschikos sprechende und häufig zu Streichen aufgelegte Schülerin, temperamentvoll, couragiert, sorglos und voller Lebensfreude, außerdem ist sie schmuselig, liebevoll und überschwenglich in ihren Gefühlsäußerungen. Der sinnliche Reiz des spontanen, weniger angepaßten Mädchens wird mit klischeehaften Reizwörtern offen ausgesprochen: Sie ist ein "blühendes junges Ding", dem alle Studenten spontan huldigen, mit "frischen roten Lippen", heißen erregten Wangen und blitzenden, leuchtenden oder bettelnden Augen, dabei doch nicht gefallsüchtig, sondern von kindlichnatürlichem Wesen, zu dem sich die einfache Landbevölker-ung sofort hingezogen fühlt, und mit einem Lachen, das ganz "von innen heraus" kommt und selbst den tiefsten Groll hinwegschmelzen läßt. [23] Wenn der zukünftige Ehemann über sie sagt: "Wie der Frühlingswind ist sie, das kleine Ding, ... süß und herbe zugleich, eigenwillig und ungestüm, und dabei doch von köstlicher, erquickender Frische," [24] so ist darin das Wesentliche ihrer Attraktivität zusammengefaßt: Sie ist Naturwesen (Frühlingswind), trotzdem harmlos-kindlich (das kleine Ding) und schließlich abweisend und anziehend zugleich, nämlich scheinbar autonom und dennoch auf den Mann ihre Reize ausübend (herb und süß, eigenwillig und von erquickender Frische).
Der positiven Seite von Hildes Natürlichkeit entspricht eine negativ bewertete Kehrseite, die wie im Trotzkopf als Trotzköpfigkeit und Eigensinn bezeichnet wird. Der Höhepunkt von Hildes Unangepaßtheit hat freilich einen etwas anderen Charakter als im Trotzkopf. Es geht nicht mehr um die öffentliche Gehorsamsverweigerung gegenüber einer Lehrerin, sondern um den Konflikt zwischen ihr und einem Mann; dieser ist zwar ihr Mathematiklehrer, zugleich aber ihr zukünftiger Ehemann, zu dem sie sich bereits zu diesem Zeitpunkt stark hingezogen fühlt. Hilde stellt sich in dieser Szene als "emanzipierte" Frau gegen den über solch "unweibliches" Verhalten schockierten Mann und Lehrer: Auf einem Schulausflug raucht sie eine Zigarette und besitzt (in den Augen der Erzählerin) die Frechheit, dies nicht nur vor dem Lehrer mit Gleichberechtigungsargumenten zu rechtfertigen, sondern auch "unbekümmert" um seine Gegenwart einfach weiterzurauchen. Anschließend wagt sie es, sich bei ihm nicht für ihr Verhalten zu entschuldigen; lieber hätte sie sich "zerhacken" lassen. [25] Im Unterschied zum Trotzkopf überwiegt jedoch von Anfang an die positive Seite der Natürlichkeit, nie wird Hilde als so böse' dargestellt wie Ilse; niemals wird sie moralisch so sehr verurteilt wie diese. Wenn sie etwas falsch macht aus "Eigensinn", dann leidet sie selbst am meisten darunter; durch ihren Eigensinn stößt sie nämlich immer wieder den geliebten Mann vor den Kopf. Ein weiterer Unterschied besteht in der inhaltlichen Bestimmung des "Eigensinns". Es ist nicht mehr der Verstoß gegen die Regeln des Dameseins, sondern ein Verstoß gegen die liebende, sanfte Weiblichkeit. Diesem Zurücktreten des Ideals der Dame entspricht auf der anderen Seite die breitere und positivere Darstellung der Natürlichkeit, beides spiegelt eine Entwicklung wider, die sich aus den geänderten Lebensverhältnissen der bürgerlichen Frau ergab (Berufstätigkeit, Studium, Sport). [26] - Im Unterschied zum Idealbild der Dame läßt sich das Bild der sanften Weiblichkeit - zumindest scheinbar - auch leichter mit der neuen Natürlichkeit vereinbaren, indem es auf die Natur der Frau rekurriert, ist es wie dieses Teil des modernen Paradigmas der Psychologisierung der Geschlechterrollen.
Wie schon im Trotzkopf, nur wieder breiter ausgeführt, erhöht die "Trotzköpfigkeit" des Mädchens wesentlich ihren erotischen Reiz für den Mann, obwohl er sich gerade deswegen von ihr abgestoßen fühlt; gerade die widerspenstige, zumindest partiell unangepaßte Frau weckt in ihm den Wunsch, sie zu besitzen. Ein ähnliches Gefühl von Anziehung und Abstoßung - wenn auch mit dem Wunsch, sich selbst zu unterwerfen - empfindet das Mädchen gegenüber dem Mann, was sie mehr noch anzieht als die emotionale Zuwendung, die er ihr gibt, ist das, was sie abstößt, nämlich seine männliche Überlegenheit, Arroganz und Kühle, deretwegen sie ihn manchmal geradezu haßt. [27] Noch stärker als im Trotzkopf äußert sich also hier die ökonomische, soziale und moralische Abhängigkeit der Frau vom Mann nicht mehr direkt, sondern in erster Linie in dem masochistischen Genießen der eigenen Unterlegenheit und Passivität.
Neu gegenüber dem Trotzkopf und auch anders als in der späteren Nesthäkchenreihe ist die Tatsache, daß die sich aus der Anziehung und Abstoßung ergebende unterschwellige Erotik zu einem wesentlichen Movens der Handlungsstruktur wird; der Handlungsstrang mit den meisten Spannungsbögen wird nicht von Hildes Wandlung (und erst recht nicht von den Erlebnissen der Mädchen als Schülerinnen und Studentinnen) gestellt, sondern von der sich mit Hindernissen entwickelnden Liebesbeziehung der beiden Hauptfiguren zu ihren zukünftigen Ehemännern. Die moralisch-didaktische Grundstruktur der Beispielerzählung ist dagegen nur in Umrissen erkennbar, als Motiv ist sie freilich immer noch da. So wird Hildes "Trotz" einmal entwicklungspsychologisch erklärt im ARNDTschen Sinne (dem jungen Mädchen muß man Zeit lassen, "das zarte weibliche Empfinden in sich langsam zur Reife zu bringen"). [28] auf dieser Ebene kommt die Wandlung nach einiger Zeit von allein, sobald nur der richtige Mann auftritt. Zugleich wird Hildes (relative) Unangepaßtheit aus einer moralischen Perspektive betrachtet, wie das gewählte Vokabular (Trotzköpfigkeit, Eigensinn, eigenwillige Verstocktheit) deutlich macht. [29] Im Unterschied zum Trotzkopf entscheiden jetzt jedoch nicht mehr Eltern und Lehrer über die Moralität des Mädchens, sondern der zukünftige Ehemann (und zwar nicht in seiner Eigenschaft als Lehrer, sondern als Mann): Er benutzt die moralisch wertenden Vokabeln, er erwartet, daß das Mädchen ihn um Entschuldigung bittet, er verfolgt ihr gegenüber bestimmte "Erziehungsprinzipien", und er unterwirft das Mädchen über längere Zeit hinweg bewußt einer Prüfung, ob sie nämlich reif genug ist für die Ehe. [30] Der Mann ist also nicht nur die Instanz, die über die erotische Anziehung der Frau entscheidet, sondern zugleich die Instanz, die über ihren moralischen Wert urteilt; die Moral wird an die Erotik angehängt, der Mann zur alles entscheidenden Instanz. Die Unterschiedlichkeit beider Ebenen wird damit weniger deutlich als im Trotzkopf, die Erotik im wesentlichen reduziert zum Vehikel für die alte Moral. Was es heißt, sich aus Liebe zum Mann zum liebenden, sanften Weib zu wandeln, wird am Beispiel der lebenslustigen, frechen, energiegeladenen Hilde - wenn auch verhüllt durch die erotische Aufladung - überaus deutlich. Ihr Jawort gibt sie dem Mann im Zustand völliger Hilf- und Willenlosigkeit, als sie, aus einer Ohnmacht aufwachend, sich in den kräftigen Armen ihres'männlichen Retters wiederfindet - sie, die vorher nie in einer gefährlichen Situation dargestellt wurde und vorher ohne Abenteuer eine Bergwanderung mit zwei Frauen machte, muß nun bei Gewitter und Schneesturm von dem Mann aus einer Gletscherspalte gerettet werden. Deutlicher läßt sich wohl nicht signalisieren, daß die Frau sich mit ihrem Jawort dem Mann ausliefert, sich ihm, wie es heißt, "gegeben" hat. [31] Gleichzeitig besteht wieder das Paradox, daß die Frau zwischen moralischer Anforderung und erotischer Ausstrahlung einen kunstvollen Balanceakt ausüben muß: Das Mädchen Hilde gefällt ihrem zukünftigen Mann erotisch, weil sie moralisch weniger würdig ist, sie wird von ihm aber erst geheiratet, nachdem sie sich moralisch würdig erwiesen hat (im Sinne der Anpassung an die von ihr als Frau verlangten Normen). Im Trotzkopf dagegen war die Reihenfolge noch umgekehrt: Ilse gefällt ihrem zukünftigen Mann erst, ja begegnet ihm erst, nachdem sie moralisch geläutert ist. In der Ehe fällt Hilde dann die zermürbende Aufgabe zu, sowohl ergebene Ehefrau und emsige Hausfrau zu sein, deren Lebensenergie nun dabei draufgeht, wie "ein Irrwisch" durch die Wohnung zu fegen, [32] als auch ihre Natürlichkeit und Spontaneität zu behalten, durch die sie allererst ihren Mann an sich gefesselt hat.

VI.

Das, was sich als Fazit meines Durchgangs durch die Mädchenliteratur ziehen läßt, fasse ich im folgenden der Kürze wegen in fünf Punkten zusammen.

  1. Die Weiblichkeitsbilder der Mädchenliteratur unterscheiden sich von denen der hohen Literatur und denen der fortgeschrittenen Erziehungstheorien dadurch, daß sie in den meisten Fällen - vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts - dem historisch jeweils entwickeltsten Bewußtseinsstand hinterherhinken (gleichgültig, welche Widersprüche auch immer in diesem enthalten sind); damit verbunden ist eine Vermischung unterschiedlicher ideologischer Paradigmata. Festgehalten wird vor allem - lange über das 18. Jahrhundert hinaus - an der moralisch-didaktischen Ausrichtung der Spätaufklärung, Züge des romantischen Frauenbildes und die romantische Konzeption einer nichteingreifenden Erziehung werden in größerem Umfang erst mit der zweiten Phase der Backfischliteratur aufgenommen. Der Grund hierfür liegt für mich in dem pädagogischen Selbstverständnis der Kinder- und Jugendbuchautoren: Während der Sollcharakter der dargestellten Wirklichkeit in der hohen Literatur seit dem Werther (1774) durchbrochen ist, wird Kindern und Jugendlichen (und unteren Schichten) Wirklichkeit meist weiterhin so gezeigt, wie sie sein soll; es wird nicht Wirklichkeit vermittelt, wie sie von dem fortgeschrittensten Bewußtsein jeweils erfaßt wurde, sondern eine moralisch aufbereitete Interpretation von Wirklichkeit, die aufgrund ihrer Traditionalität, ja Konventionalität für den Erwachsenen nichts Verunsicherndes mehr hat.
  2. Die moralische Bestimmung des Geschlechterverhältnisses, im 18. Jahrhundert noch offen ausgesprochen, bleibt zwar erhalten, sie wird im 19. Jahrhundert aber zunehmend indirekter. Neben sie tritt immer stärker die Psychologisieruiig und Erotisierung der Geschlechterrollen, bis sie zu Anfang des 20. Jahrhunderts in moderneren Mädchenbüchern wie denen von ELSE URY eindeutig in den Vordergrund tritt. Die Abhängigkeit der Frau und die patriarchalische Herrschaft des Mannes, durch Studium und Berufstätigkeit- der bürgerlichen Frau teilweise in Frage gestellt, sind nun Teil der männlichen und weiblichen Psyche, auf deren Unterschiedlichkeit die erotische Anziehung der Geschlechter beruht. Diese zunehmende Verinnerlichung der Geschlechterrollen läßt sich als Teil eines umfassenderen, längeren, bereits init dem Ausgang des Mittelalters einsetzenden "Prozesses der Zivilisation" (N. ELIAS) verstehen, warum sich freilich gerade um die Jahrhundertwende die Erotisierung des Geschlechterverhältnisses so sehr durchsetzt, daß sie selbst in die prüde Mädchenliteratur eindringt, ist eine Frage, die einer ausführlicheren Untersuchung bedürfte. [33]
  3. Mit der Verinnerlichung der Geschlechterrollen werden die Widersprüche in den von der Mädchenliteratur entworfenen Weiblichkeitsbildern nicht nur zunehmend unsichtbarer, sondern es wird auch immer stärker die ganze Person der Frau in die an sie gestellten Rollenanforderungen einbezogen. Von der Frau wird nicht mehr nur Unterwerfung aufgrund des Gebotes Gottes verlangt (wie in der Hausväterliteratur), nicht mehr nur freudige Ergebung aus moralischer Pflichterfüllung (wie bei CAMPE), auch nicht nur die "schöne" Haltung der Ergebenheit wie bei GLATZ, von ihr wird vielmehr verlangt, daß sie den Mann aufgrund ihrer Natürlichkeit, Lebendigkeit und Kindlichkeit bzw. aufgrund ihres vorbewußten Bei-Sich-Selbstseins erotisch anzieht, zugleich soll sie jedoch nur das wollen, was er von ihr als Ehefrau und Hausfrau verlangt.
    Interpretieren läßt sich diese Entwicklung auf zweierlei Weise - einmal als Verschärfung des Rollenkonflikts der Frau, als typische double-bind-Situation, die die Frau krank machen muß; zugleich aber auch als Möglichkeit eines Schritts zur Befreiung, da die der Frau zugestandene Natürlichkeit und Spontaneität zumindest die Chance in sich birgt, in einem anderen als dem zugebilligten Sinn benutzt zu werden. In der Mädchenliteratur freilich ist diese Chance äußerst gering; [34] der Widerspruch zwischen Natürlichkeit, Sexualität und Anpassung an den Mann wird nicht ausformuliert, was allererst Voraussetzung für eine In-Frage-Stellung wäre, sondern zugedeckt. Das soll im folgenden noch etwas näher ausgeführt werden.
  4. Durch die verspätete Rezeption und die Vermischung mit anderen Ideologemen geht in der Mädchenliteratur die utopische Dimension, die die Weiblichkeitsbilder in der hohen Literatur und den fortgeschrittenen Erziehungstheorien zumindest partiell noch haben, verloren; übrig bleibt die bessere, weil modernere Legitimationsfunktion des neuen Weiblichkeitsbildes. Bei GLATZ z. B. wird die Idee der romantischen Liebesehe so umgeformt, daß daraus nicht nur die Sinnlichkeit eliminiert wird, sondern mit ihrer Hilfe auch die Unterwerfung der Frau unter den Mann neu begründet wird. Wenn schließlich um die Wende zum 20. Jahrhundert der Erotik in der Mädchenliteratur ein größerer Raum zugestanden wird, dann nicht, um dem Mädchen mehr Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zu geben; die Erotik bleibt vielmehr eingebunden in ein klares ObenUnten-Gefälle, aus der sich allererst die erotische Spannung zwischen den Geschlechtern ergibt, die Frau, die nicht bereit ist zur liebenden Unterwerfung unter den Mann, ist erotisch auch nicht begehrenswert. Ebenso bleibt von der dem Mädchen zugestandenen Natürlichkeit nur so viel übrig, wie sie braucht, um dem ernsten, vom entfremdeten Berufsalltag geprägten Mann attraktiv zu erscheinen.
  5. Im Unterschied zur hohen Literatur, die die Widersprüchlichkeit der Weiblichkeitsbilder und den Konflikt, der daraus mit der Realität entsteht, zumindest ansatzweise zeigt, deckt die Mädchenliteratur Widersprüche und Konflikte gerade zu. Sie erweckt bei der Leserin den Anschein, daß es möglich ist, angepaßte Ehefrau zu sein und die eigene Spontaneität zu bewahren, und sie nährt die Illusion, daß Anpassung und Glück (d. h. Erfolg in der Realität) miteinander gekoppelt sind. Als Beispiel vergleiche man E. URYS Studierte Mädel (1906) mit FONTANES Effi Briest (1895) und IBSENS Nora (1879). Das Bild der Frau als spontanem, lebensfrohem Kindwesen, das keck gegen die gesellschaftlichen Normen verstößt (wenn auch nur gegen einige wenige), und die Vorstellung von dem Manne als demjenigen, der, ernst und verantwortungsbewußt, auf der Seite der Realität und der herrschenden Normen steht - diese Geschlechterpolarität prägt das Verhältnis von Mann und Frau in allen drei Werken. Während bei E. URY freilich die Gegensätzlichkeit der Geschlechter als Grundlage einer befriedigenden und dauernden Liebesehe dargestellt wird, sehen die Ehebeziehungen bei FONTANE und IBSEN ganz anders aus: Effi wird von ihrem Mann erotisch gerade nicht angezogen, sondern sucht Befriedigung in der Beziehung mit einem Geliebten ein Verhältnis, das nach sieben Jahren ans Licht kommt und zur Verstoßung Effis aus der Gesellschaft und schließlich zu ihrem Tod führt; Nora erkennt, daß sie von ihrem Mann nicht als erwachsene Frau, sondern als Puppe behandelt wird, und verläßt Mann und Kinder, um zu sich selbst zu finden. Die harmonisierende, wirklichkeitsverfälschende Mädchenliteratur mag dabei in einer Hinsicht mehr den Wünschen, Gefühlen und Träumen der Leserinnen entsprochen haben als IBSENS Nora, stellte die Mädchenliteratur doch gerade jene Normen als glücksverheißend dar, nach denen sie seit der frühesten Kindheit geformt worden waren und mit denen zu brechen (wie Nora es tut) ungeheure Energie und die Bereitschaft zu etwas völlig Neuem, Ungewissen kostete.

Darin wird auch der Grund für die massenhafte Verbreitung der Mädchenliteratur und der trivialen Frauenliteratur liegen, schaffte sie es doch, der vom Rollenkonflikt zermürbten Frau wenigstens momentan - wenn auch nur durch den Genuß einer Illusion - Befriedigung zu gewähren.

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