Befreiung durch Bildung

»Wissen heißt leben...« Der Kampf der Frauen um die Bildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Frankreich)

I. Das "andere Geschlecht" - die Frau als natürliche Erzieherin ihrer Kinder.

1. Rousseau

"Von der Gesundheit der Frauen hängt die der Kinder ab, von ihrer Sorgfalt hängt die erste Erziehung der Männer ab, von den Frauen hängen ihre Sitten und Leidenschaften, ihre Neigungen und Vergnügungen, ja ihr Glück ab. Die ganze Erziehung der Frauen muß daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen." [1]

Diese Worte ROUSSEAUs könnten als Leitmotiv über der Mädchenerziehung des 19. Jahrhunderts stehen. Die Frau - Mensch zwar und doch besonderes Wesen - scheint von Natur aus dazu bestimmt, Kinder zu erziehen und dem Mann das Glück in der Familie zu bereiten. Ihre eigene Erziehung muß folglich auf diese Aufgaben ausgerichtet sein, will sie in Übereinstimmung mit ihrer "Natur" Mensch sein dürfen. Die Frau ist gedacht als Ergänzung des Mannes. Sophies Tugenden und Fehler sind auf Emile hin konzipiert, sie ist "für ihn geschaffen wie keine andere. Sie ist die Frau für den Mann" [2].
Die sich ergänzenden Geschlechtermerkmale

  • Stärke - Schwäche,
  • Verstand - Gefühl,
  • Rationalität - Empfindsamkeit,
  • Wissenschaftliche Denkfähigkeit - Intuition,
  • Erfindung - Anwendung,
  • Grobheit - Sanftmut,
  • Aggressivität - Zurückhaltung,
  • Kampfesmut - Friedfertigkeit,
  • Werbendes Verhalten - Schamgefühl,
     

Arbeit außer Hause - Arbeit im Hause
sind bei ROUSSEAU eindeutig in dem Rahmen geschlechtsspezifischer Unterdrückung gefaßt: Dem Mann die Herrschaft, der Frau die Unterwerfung:

"Bestimmt, einem so unvollkommenen Wesen wie einem Mann zu gehorchen, der oft selbst voller Laster und immer voller Fehler ist, muß sie frühzeitig lernen, Unrecht zu erdulden und Übergriffe eines Mannes zu ertragen, ohne sich zu beklagen."[3]

Mit seinen Theorien zur Weiblichkeit und Mädchenerziehung festigt ROUSSEAU ideologisch die neue Form der Männerherrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. Überlebt hatten sich im Laufe des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft (14.-18. Jh.) die patriarchalischen Herrschaftsformen der Ständeordnung. Mit der Entstehung einer Gesellschaft von Individuen auf der Basis freier Lohnarbeit verschwindet die Grundlage für die einstmals scheinbar gottgegebene, festgefügte Standeshierarchie. An die Stelle offener gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse zwischen "Oben" und "Unten" tritt die auf Geld beruhende Macht, die ihre Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen hinter scheinbar gleichen Verträgen freier Individuen verbirgt. Auch das Herrschaftsverhältnis zwische Mann und Frau wird individualisiert und zugleich als neue Form verallgemeinert: die eine Sophie, geschaffen für den einen Emile, ist doch zugleich "die Frau für den Mann".
Die Eigenschaften, die ROUSSEAU der Frau zuspricht, treffen in seiner Zeit nur auf eine Klasse der Gesellschaft zu: die Bourgeoisie. Hier, bei den Gewerbetreibenden, Händlern und Beamten, hatte sich zuerst das Bewußtsein herausgebildet, daß der Mann "Unterhaltung" und "Erholung" braucht, "wenn er erschöpft sein Arbeitszimmer verläßt". [4] Die emotionale Tätigkeit der Frau im Hinblick auf den Mann und ihre materielle Grundlage in der sich verändernden Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ist inzwischen genügend diskutiert worden. [5] Hinzu kommt eine zweite emotionale Aufgabe für die Frau im Hinblick auf die Kindererziehung, die sich aus der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft ergibt. An das bürgerliche Individuum werden ganz andere Anforderungen gestellt als an den Menschen der Ständegesellschaft. Moralische und psychische Fähigkeiten im Rahmen einer inneren Wertordnung der Menschen treten zunehmend an die Stelle der Anforderungen, die durch äußerlich vorgegebene Normen gesetzt sind.
"Die Verhältnisse ändern sich ständig, der Geist des Jahrhunderts ist unruhig und stürzt von Generation zu Generation alles um", schreibt ROUSSEAU im ersten Buch des "Emile". [6] Man kann sich auf die äußere Ordnung nicht mehr verlassen - nur indem der Mensch in sich die Werte entwickelt, die ihn lenken, gelingt es ihm, zu innerer Ruhe und seinen Weg in der Gesellschaft zu finden. Die Ausbildung solcher Fähigkeiten wie z. B. Selbstwertgefühl, das nicht von anderen abhängt, Verständnis für andere, Selbstkontrolle und Triebverzicht, erfordert eine Erziehung - wie ROUSSEAU am Beispeil des Emile demonstriert - voll liebevoller Anteilnahme und Einfühlung. Eine Erziehung, die weder von den bezahlten Domestiken zu leisten ist, die sich in den Kreisen des Adels und des reichen Bürgertums der Kindererziehung annahmen, noch von einer hart arbeitenden Bauersfrau oder Arbeiterin.
Die "Entstehung der Kindheit", wie Rousseau sie in Emile als eigene Daseinsform des Menschen beschreibt, erfordert auch die Entstehung einer neuen Form von Mutterschaft. [7] Die sanftmütige, liebevolle, ihre Kinder selbst nährende, pflegende und erziehende Mutter kann es jedoch in dieser Zeit erst in den Schichten real geben, in denen die Frau einerseits von hauswirtschaftlicher Tätigkeit, von Land- und Lohnarbeit und andererseits von Repräsentationspflichten so weit freigestellt ist, daß sie sich in vollem Umfang ihren Kindern widmen kann. Wenn ROUSSEAU dieses Frauenbild zum Ideal der Weiblichkeit schlechthin verallgemeinert, so trifft er damit eine gesellschaftliche Tendenz, die einer allgemeinen Notwendigkeit der emotionalen Reproduktion von Mann und Kindern im Zusammenhang mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise entspringt. Nach und nach wird dieses Frauenbild auf alle Schichten der Gesellschaft - wenn auch mit unterschiedlicher realer Durchsetzungskraft - übertragen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß ROUSSEAUs Rede von der Frau als "natürlicher Erzieherin" ihrer Kinder und verständnisvoller und einfühlsamer Gefährtin des Mannes das gesamte 19. Jahrhundert bis in heutige CDU-Verlautbarungen den Diskurs zur Erziehung der Frau bestimmt.
So offenkundig wie diese Theorie heute zur Zementierung patriarchalischer Unterdrückung verwandt wird, so deutlich ROUSSEAU selbst damit die Herrschaft des Mannes rechtfertigt, so läßt sich ihre zeitgenössische Wirkung doch nicht in diesem einfachen Rahmen fassen. Immerhin gestand ROUSSEAU der Frau das Mensch-Sein und damit verbunden (eine gewisse) Denkfähigkeit und Selbstbestimmung zu. Er läßt Sophie ihren Gatten selbst wählen und startet damit einen massiven Angriff auf die in allen Klassen der Gesellschaft noch übliche Konventionsehe, in der die Frau von den Eltern nach materiellen Gesichtspunkten verkauft wurde. Er erlaubt Sophie - allerdings in einem eng gesteckten Rahmen - Urteilsvermögen zu entwickeln und sich zu bilden, ein Privileg, das bisher nur den Frauen der herrschenden Klasse zugestanden wurde. Er gesteht ihr eine körperliche Bewegungsfreiheit zu, die aufräumt mit den herrschenden Schönheitsidealen der eng geschnürten Leiber und - trotz aller Körperfeindlichkeit - ein eigenes Körpergefühl zuläßt. Und er wertet die Mutterschaft in einem Maße auf, daß sie genügend Argumente hergibt, um damit die Befreiung der Frau aus den Fesseln des herrschenden Patriarchats zu fordern.

2. Die Saint-Simonisten

Die Berufung auf die Frau als natürliche Erzieherin ihrer Kinder hat immer auch schon die Grundvoraussetzung der ROUSSEAUschen Theorie akzeptiert: daß die Frau das "andere", den Mann ergänzende Geschlecht ist. Allerdings muß diese theoretische Annahme nicht notwendigerweise wie bei ROUSSEAU zu einer Hierarchie zwischen Mann und Frau führen.
Die Saint-Simonisten beispielsweise, die ebenfalls die Theorie der Geschlechterpolarität vertraten, predigten die Gleichheit von Mann und Frau in allen Rängen der Gesellschaft. [8] Ihr Ideal war die Besetzung aller Positionen mit einem Paar, denn erst Mann und Frau gemeinsam bilden das "soziale Individuum". Entsprechend dieser Theorie waren Frauen in allen Stufen ihrer Organisation gleichberechtigt vertreten, bis auf die Spitzenposition des "Vaters", für die keine Frau, die unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen geknechtet wurde, für würdig befunden wurde. Die Idealstruktur wurde allerdings auch hier beibehalten: den weiblichen Teil, das Gefühl, repräsentierte ENFANTIN, den männlichen, den Verstand, BAZARD.
Nach heftigen Diskussionen über die moralischen Maximen der Gruppe trennte sich BAZARD mit seinen Anhängern von den Anhängern ENFANTINS. Diese Auseinandersetzungen, die besonders um die Rolle der Frau in der Gesellschaft geführt wurden, brachten auch ein neues Bewußtsein über das "Anders-Sein" der Frau hervor: Wenn es richtig ist, daß die Frau "anders" als der Mann ist, daß sie durch ihr Gefühl und ihre besondere Liebesfähigkeit soziale Bindungen und Werte schafft, wenn sie dazu bestimmt ist, morallische Instanz in der Familie und im Staat zu sein, dann ist es inkonsequent, sie in bestehende männliche Ordnungen einzubinden. Dann müssen die Frauen selbst entscheiden, welchen Weg der Freiheit sie beschreiten wollen und wie die zukünftige Gesellschaft nach ihren Vorstellungen aussehen soll. Diese Theorie, von den meisten saint-simonistischen Frauen mit getragen und entwikkelt, führte zu einem außerordentlich starken Selbstbewußtsein der Frauen und zu einer Argumentationsweise aüf der Basis des "Anderssein", die uns bis heute vertraut ist.

II. Die Frau ist dem Manne gleich

1. CONDORCET

Neben ROUSSEAU gibt es im 18. Jahrhundert noch eine sehr starke Position des Rationalismus, der in der Frau das vernunftbegabte Wesen sieht, das dem Manne prinzipiell gleich ist.
Konsequent zu Ende gedacht hatte diese Theorie im 17./18. Jahrhundert nur POULAIN DE LA BARRE, der die Unterschiede zwischen Mann und Frau auf ihre Erziehung zurückführt und die Frauen - bei entsprechender Erziehung - für fähig hält, sämtliche Funktionen im Erwerbsleben, Staat und Kirche zu übernehmen. [9] CONDORCET ist da etwas vorsichtiger. Er hält es immerhin für möglich, wenn auch nicht bewiesen, daß es eine geistige Überlegenheit der Männer geben könne, "die nicht notwendige Folge eines Unterschiedes in der Erziehung" sei." [10] Aber dies ändert seiner Meinung nach nichts daran, daß die Frau Vernunft besitzt (wenn auch ihre eigene und nicht die der Männer) und alle sonstigen sinnlichen und moralischen Fähigkeiten aufweist, die den Menschen auszeichnen. Folglich ist sie dem Manne gleich und dementsprechend auch mit gleichen Rechten auszustatten. Allerdings unterstellt CONDORCET wie ROUSSEAU, daß die Frau in erster Linie für das Leben im Hause geschaffen ist, und er beruhigt seine möglichen Kritiker: Man muß "nicht glauben, daß Frauen, weil sie Mitglieder der Nationalversammlung werden können, gleich Kinder, Haushalt und Nadel aufgeben. Sie wären dadurch eher besser geeignet, ihre Kinder zu erziehen, Menschen zu bilden.
Natürlich stillt die Frau ihre Kinder, versorgt sie in ihren ersten Lebensjahren. Durch diese Aufgaben ans Haus gebunden, schwächer als der Mann, ist es auch natürlich, daß sie ein zurückgezogeneres, häuslicheres Leben führt. (...) Das kann ein Grund sein, sie bei Wahlen nicht zu bevorzugen, aber das kann nicht die Begründung für einen gesetzlichen Ausschluß sein."***90.9.11**
Erst die "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" der OLYMPE DE GOUGES leistet die konsequente Umsetzung des Gleichheitsgedankens in die politische Realität der bürgerlichen Rechte." ***90.9.12**

2. Die Theorie der Neigungen bei FOURIER und den Saint-Simonisten

Die Vorstellung von der Gleichheit von Mann und Frau taucht bei den Philosophen der Folgezeit, insbesondere bei FOURIER und den SaintSimonisten, noch in einer besonderen Form auf der Theorie der Neigungen. Danach sind zwar alle Menschen prinzipiell gleich, unterschiedlich jedoch in ihren natürlichen Anlagen, die die Erziehung zu erkennen und zu fördern hat. Entsprechend ihren Neigungen und persönlichen Fähigkeiten werden die Menschen einen ihnen angemessenen Platz in der Gesellschaft ausfüllen. Unter der Voraussetzung, daß die individuellen Neigungen die Möglichkeit hatten, sich frei zu entfalten, daß es keine Privilegien der Geburt (Erbe) oder des Standes mehr gibt und dafür unter den Menschen freie Verbindungen (Assoziationen) eingegagen werden, wird die Gesellschaft einer von Natur aus vorgesehenen und durch die Zivilisation verfälschten Harmonie zugeführt werden.
FOURIER wendet die Theorie der Neigungen auch konsequent auf die Frauen an. Seiner Meinung nach haben keineswegs alle Frauen eine natürliche Neigung zur Hausarbeit und folglich wird man auch die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten gesellschaftlich so organisieren müssen, daß nicht jede Frau daran gebunden ist, sondern sich wie alle Individuen dieser Gesellschaft ihren Tätigkeitsbereich frei wählen kann." ***90.9.13**
Bei den Saint-Simonisten scheint sich die Theorie der Neigungen auf den ersten Blick mit der von der Ergänzung der Geschlechter zu widersprechen. Wieso neigen die Frauen von Natur aus zu mehr Gefühl, zur Erziehung ihrer Kinder, zu den moralischen Aufgaben in der Gesellschaft? Sind sie als Menschen nicht gleich den Männern mit unterschiedlichen Neigungen ausgestattet? Doch, würden die Saint-Simonisten antworten, die Mutterschaft begrenzt sie ja nicht auf den häuslichen Kreis der Familie. Sie haben das gleiche Recht ihre Fähigkeiten auszubilden wie die Männer, das gleiche Recht auf außerhäusliche Arbeit, auf Stellen in Kunst, Wissenschaft und Industrie. Nur wird die Ausübung ihrer Fähigkeiten eben immer auch geprägt sein durch ihre Weiblichkeit: Wenn sie z. B. Politik machen, werden sie sich der sozialen Verantwortung bewußt sein, die die Mutterschaft mit sich bringt, und zu Friedfertigkeit und Versöhnung neigen - im Gegensatz zu den eher von rationalem Kalkül und Aggressivität bestimmten Männern. ***90.9.14**

III. Die Argumente der Frauen für eine bessere Erziehung

Ob nun das Gleichsein oder das Anderssein der Frau bei den beschriebenen Theorien im Vordergrund steht, eines ist ihnen allen gemeinsam: die Vorstellung, daß der Erziehung eine ganz entscheidende Bedeutung bei der Durchsetzung einer neuen Gesellschaft zukommt. Über den Weg der Erziehung soll zunächst der Mensch als Individuum verändert werden, der dann, so hoffen die Reformer, zusammen mit Gleichgesinnten und ebenso Erzogenen das neu gewonnene Bewußtsein auch in eine neue Lebenspraxis umsetzen wird. Von daher erklärt sich die Bedeutung, die die Frauen aus der Zuschreibung "natürliche Erzieherinnen ihrer Kinder" zu sein, gewinnen. Ein großer Teil der Verantwortung für die Erziehung der zukünftigen Generation lastet auf ihren Schultern. Insofern bilden sie nicht nur Menschen, sondern auch künftige Staatsbürger heran - was, so meinen die Frauen, den Staat veranlassen sollte, die Erziehung von Mädchen und zukünftigen Müttern ernst zu nehmen. Schon die Frauen des 3. Standes, die sich 1789 anläßlich der Einberufung der Generalstände an den König wandten, begründeten ihre Forderung nach besserer Erziehung mit diesem Argument:
"Wir wollen aus der Unwissenheit herauskommen, um unseren Kindern eine solide und vernünftige Erziehung geben zu können, um sie zu Untertanen heranzubilden, die würdig sind Ihnen zu dienen." [15]

Eine Stimme von 1833:

"In den Händen der Frau liegt das ganze Geschick des Mannes, mit ihr beginnt er sein Leben (...) deshalb ist es wichtig, ihre geistigen Fortschritte auszudehnen und gut zu lenken." [16]

FLORA TRISTAN:
"Ich fordere Rechte für die Frau, weil dies das einzige Mittel ist, sich mit ihrer Erziehung zu beschäftigen, und weil von der Erziehung der Frau die des Menschen im allgemeinen abhängt und insbesondere die des Mannes aus dem Volke." [17]
AMÉLIE PRAY 1848:

"Allein die Mutter ist dazu berufen, die zukünftige Generation zu retten." [18]

Die Reihe der Zitate ließe sich endlos fortsetzen. Es gibt praktisch keinen Artikel in dieser Zeit, in dem sich die Frauen nicht darauf berufen, die natürlichen Erzieherinnen ihrer Kinder und damit letztlich der Menschheit zu sein.
Auch das Argument, daß die Frau die Gefährtin des Mannes ist, dient den Frauen zur Begründung ihrer Forderung nach besserer Erziehung:

Enthaltet uns nicht die Kenntnisse vor, die uns instand setzen können, euch die Männer - sei es mit unserem Rat, sei es mit unserer Arbeit zu helfen", schreibt Mme B ... B ... 1789. [19] Und die junge Arbeiterin und Fourieristin, MARIE-REINE GUINDORF, 1833:

Wie soll denn dieser Mann, der seine Fähigkeiten ausgebildet hat, sich zu Hause wohlfühlen, wenn ihm gegenüber nur eine unwissende Frau steht, die ihn nicht verstehen kann? [20]
Oder DÉSIRÉE GAY, ebenfalls Arbeiterin und frühere Saint-Simonistin, die 1848 die Frauen zusammenruft, um sich über die neue Organisation der Arbeit Gedanken zu machen:

"Möge jede Frau ihre Erfahrung, ihr Wissen, ihre Ideen einbringen! Damit wir uns alle gemeinsam auf die Höhe unserer Mission erheben können, die wir als Frauen der Versöhnung, als intelligente und hingebungsvolle Gefährtinnen des Mannes zu erfüllen haben!" [21]

Diese Äußerungen mögen stellvertretend für die Meinung vieler Frauen genügen. Auch die fortschrittlichsten unter ihnen verzichten nicht auf das Argument, daß eine bessere Erziehung der Frau den Männern eine verständnisvollere Partnerin bescheren werde.
Schließlich und nicht zuletzt beanspruchen die Frauen das Recht auf eine angemessene Erziehung für sich, weil sie Menschen sind und ihnen die gleichen Rechte zustehen wie den Männern.
"Die Natur hat uns dazu geschaffen, euch Männern gleich zu sein, eure Gefährtinnen und eure Freundinnen", mit dieser Begründung fordern Bürgerinnen 1791 von der Nationalversammlung u. a. "eine moralische Erziehung für Mädchen gleich ihren Brüdern". [22] An der prinzipiellen Gleichheit von Männern und Frauen hegen die kämpferischen Frauen der Juli-Monarchie und der II. Republik keinen Zweifel mehr - bei aller zugestandenen Verschiedenheit in den gesellschaftlichen Aufgaben. Solange die bestehenden Gesetze und Institutionen die Gleichheit und Freiheit der Frauen verhindern, bleibt die Beschwörung des Gleichheitsgrundsatzes eines der wichtigsten Argumente in ihrem Kampf um eine angemessene Erziehung.
Um sich als freier Mensch zu entfalten, ist es notwendig, ein eigenes Urteil zu haben und nicht abhängig von der Meinung anderer zu sein. Die Frauen lernen jedoch nur, "wie ein Chamäleon die Meinungen des Freundes oder des Augenblicks widerzuspiegeln", ihr "freies Urteil unter dem Willen eines Herrn zu beugen", so die Direktorin eines fortschrittlichen Mädchenpensionats, JOSÉPHINE BACHELLERY, 1848 [23] Eine vernünftige Bildung gehört zur Entfaltung der Menschenwürde und wird auch deshalb von den Frauen eingeklagt.
Die Argumentation auf der Basis des Gleichheitsgrundsatzes und der Menschenwürde wird oft ergänzt durch den Hinweis auf die gesellschaftliche Realität, in der Frauen nicht nur als Anhängsel des Mannes auftauch.en, sondern oft genug allein verantwortlich für ihre Familie sorgen müssen. Dies galt besonders für die Frauen des 3. Standes, die kein Vermögen hatten, auf das sie zurückgreifen konnten. Mme B... B ... hält den Männern vor: Im Falle eures Todes "können wir euch nicht ersetzen mit den Nichtigkeiten, mit denen man uns den Kopf vollgestopft hat" [24]

IV. Kritik an der bestehenden Erziehung

Die Kritik an den "Nichtigkeiten", mit denen man den Töchtern der höheren Stände "den Kopf vollgestopft hat", häufen sich nach der französischen Revolution. Hören wir eine Frau von 1848: "Anstatt den Frauen nützliche Dinge beizubringen, hat man sie zur Frivolität erzogen; das war das Mittel, um ihnen das Vergessen ihrer eigenen Würde leichterzumachen (...)
Klavierspielen, tanzen oder singen, das war die Basis dessen, was man eine glänzende Erziehung nannte. Glänzend ja, solide nein." [25]
Der "Lack der frivolen Erziehung" muß ab, wenn sich die Frauen emanzipieren und nicht ihre Meinung wie Fähnchen im Wind drehen wollen, betont JOSÉPHINE BACHELLERY. [26] Die Zeitschrift "Die Politik der Frauen" (La politique des femmes) veröffentlicht 1848 einen Dialog zwischen zwei jungen Mädchen, aus dem auch die materiellen Gründe für die Kritik an der Nutzlosigkeit und Frivolität der Erziehung der höheren Töchter hervorgehen. Das Arbeitermädchen hält dem "reichen Fräulein" vor:
"Aber Fräulein, Ihre Eltern sind noch jung, sie können ihr Vermögen verlieren, was werden Sie dann tun? Sie wären darauf angewiesen, Almosen zu erbetteln, denn Sie haben keinen Beruf..." [27]
Das Vertrauen in die materielle Sicherheit der herrschenden Klasse ist erschüttert, nachdem viele adlige Familien ihren Stand und ihr Vermögen, verloren hatten und ihre Töchter sich nicht selten gezwungen sahen, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. So bilden die vorangegangenen sozialen Erschütterungen sowie eine allgemein zunehmende gesellschaftliche Mobilität auf der Basis des Geldes ein weiteres Argument für eine bessere Ausbildung der Mädchen.
Doch die Kritik der Frauen beschränkt sich nicht auf die gesellschaftliche Nutzlosigkeit der Mädchenbildung. Sie prangern darüber hinaus an, daß sie nur zum Gefallen der Männer erzogen werden, als niedliche Püppchen und Haremsdamen. So fordert Mme B ... B. .
"Erzieht uns nicht mehr so, als wären wir zu den Vergnügungen des Harems bestimmt." [28]

Und FLORA TRISTAN konstatiert:

"Man hat sie also dazu erzogen, ein nettes Püppchen und eine Sklavin zu sein, die dazu bestimmt ist, ihren Herrn zu zerstreuen und zu bedienen." [29]
Immerhin gab es für die "privilegierten Frauen" des Adels und der wohlhabenden Bourgeoisie noch eine höhere Ausbildung, um sie auf ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen vorzubereiten. Anders ging es den Mädchen des dritten Standes, die ohne Vermögen waren. Ihre Erziehung bestand darin, "sie zur Schule zu schicken, zu einem Lehrer, der selbst kaum ein Wort der Sprache versteht, die er lehrt. Dort bleiben sie, bis sie die Gebete der Messe auf Französisch und der Vesper auf Latein lesen können. Sind die ersten Pflichten der Religion erfüllt, lehrt man sie arbeiten. [30]
Ihre Berufsausbildung ist nicht gesichert. Viele Mädchen arbeiten als Heimarbeiterinnen oder in den Werkstätten und entstehenden Manufakturen ohne besondere Ausbildung. Die handwerklichen Berufe, in denen den Mädchen eine Lehre offensteht, befinden sich seit der Auflösung der Zünfte unter erheblichem Konkurrenzdruck. Dies beschreiben die Bukettmacherinnen und Blumenhändlerinnen in einer Petition an den König. [31] Während die Zunft strenge Regelungen für die Berufsausbildung und den Erwerb der Meisterschaft vorsah, die nicht nur die qualifizierte Ausbildung ihrer Mitglieder, sondern auch die Stabilität ihrer Löhne sicherten, drängen nun unausgebildete Mädchen in ihren Beruf, die die Löhne drücken und eine dreijährige Lehre zum Luxus werden lassen. So entsteht die Praxis, die von vielen Frauen hart kritisiert wird, die Lehre zu einer frühzeitigen Ausbeutung verkommen zu lassen, ohne daß die Mädchen dabei viel lernen.

V. Forderungen der Frauen während der französischen Revolution

Um den Mißständen in der Mädchenbildung abzuhelfen, fordern die Frauen des 3. Standes schon in ihrer Petition von 1789

unentgeltliche staatliche Mädchenschulen (die nicht die gleichen Bildungsinhalte wie die Jungenschulen vermitteln sollen, sondern ein frauenspezifisches Bildungsprogramm - keine Wissenschaft, sondern Herzenstugenden) und
eine angemessene Berufsausbildung bezogen auf frauenspezifische Berufe und Ämter (die noch vom Staat zu schaffen wären).

Mme DE MOURET, die Begründerin der "Annales de l'Education du Sexe", legte 1790 der Nationalversammlung einen "Erziehungsplan für die Jugend" vor, in dem die Mädchenbildung großen Raum einnahm. Sie setzte sich für eine umfassende geistige und körperliche Erziehung der Mädchen ein. Gegen die angebliche "Schwäche" des weiblichen Geschlechts empfiehlt sie kräftigende Körperübungen, die Mängel im logischen Denken der Frauen hofft sie mit Hilfe eines von ihr verfaßten Büchleins über "die Kunst des Denkens" zu beheben. 1790 veröffentlichte Mme DE GENLIS ihren "Discours sur la suppression des couvents, des religieuses et sur L Éducation des femmes", in dem sie eine staatliche Mädchenerziehung fordert, die die Ausbildung in den Klöstern überflüssig machen soll. Allerdings läuft ihr Plan im wesentlichen auf die Einrichtung von staatlichen Mädchenpensionaten hinaus, die sich in ihrem Lehrplan - bis auf eine stärkere Einbeziehung der Hauswirtschaft und des Studiums der republikanischen Gesetze - nur sehr wenig von der traditionellen Klostererziehung unterscheiden. [32]
Weitergehend ist der Plan der Mme DE BASTIDE, die 1790 der Nationalversammlung die Einrichtung einer Druckereiwerkstatt als Ausbildungsbetrieb für Frauen im Zusammenhang mit einer höheren Schule vorschlägt. Sie verwendet dabei den Begriff "lycée", der damals die Höhere Schule für Jungen bezeichnete und dessen Übertragung auf die Mädchenbildung LEGOUVÉ 1864 noch nicht offen wagte." [33] In ihrer Argumentation steht Mme DE BASTIDE ganz in der ROUSSEAUschen Tradition: Die Druckerei scheint ihr deshalb besonders für Frauen geeignet, weil diese "von Natur aus zu sitzender Tätigkeit neigen, geschickt und geduldig sind", während Männer "Mühe haben, mehrere Stunden eingeschlossen und ausschließlich mit Kleinarbeiten beschäftigt zu sein". [34] Doch darüber hinaus sieht sie die reale Notwendigkeit, für Frauen neue Arbeitsplätze und Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen, da "die üblichen Arbeiten der Frauen nicht genügen, um die Existenz einer Familie zu sichern". [35] Die Druckerei wird ihnen nach einigen Monaten Lehrzeit materielle Unabhängigkeit sichern, die Schule wird ihnen sowohl berufsbezogene Kenntnisse als auch ein allgemeines Wissen vermitteln, das ihnen später als Mütter dienlich sein wird, um ihre Kinder angemessen zu erziehen. Der Lehrplan ist umfassend: Neben den frauenspezifischen Fertigkeiten wie Zeichnen, Malerei, Gravur und Musik sollen sie auch - wie die Jungen - Sprachen, Geschichte, Geographie und Moral lernen. Die Schülerinnen befassen sich mit den Künsten wie mit den Wissenschaften und können sich entsprechend "ihrer Intelligenz, ihrem Geschmack und den zuvor erworbenen Kenntnissen" unter Anleitung des Schulleiters bestimmte Fachgebiete zu intensiverem Studium aussuchen.
Schulleiter und Lehrer des Lyzeums sind männlichen Geschlechts - was in dieser Zeit für den Anspruch an eine qualifizierte Ausbildung spricht, da es noch keine augebildeten Lehrerinnen gab. Eine jederzeit frei zugängliche Bibliothek soll die vorhandenen Bildungsmöglichkeiten ergänzen. Das gesamte Ausbildungswerk voll vom Staat bzw. der Kommune von Paris getragen werden. Seine Adressaten sind in erster Linie Frauen der "besitzlosen Klasse", für die der Zugang zu Werkstatt, Bibliothek und Schule frei ist. Frauen mit Vermögen können zu den Kursen des Lyzeums zugelassen werden, müssen dann jedoch 3 Louisdor pro Jahr bezahlen.
Dieser ausgesprochen kühne Plan der Mme DE BASTIDE ist seiner Zeit weit voraus. Fast ein ganzes Jahrhundert sollte vergehen, bis tatsächlich die ersten staatlichen Berufsschulen und Ausbildungswerkstätten für Frauen gegründet wurden (1881).

VI. Was tat der Staat für die Mädchenbildung?

Die Gesetzgebung zur Mädchenbildung in der französischen Revolution war mager. Zwar führte die Nationalversammlung langjährige Debatten über die Reform des Schulwesens, ihre Beschlüsse beschränkten sich jedoch letztendlich auf das Gesetz von LAKANAL über die Einrichtung von Grundschulen (1793) und seine Ergänzung durch 2 Paragraphen zur Mädchenbildung (1795). Diese besagen:

  1. Jede Grundschule ist in zwei Abteilungen geteilt, eine für Jungen, eine für Mädchen. Folglich gibt es einen Lehrer und eine Lehrerin.
  2. Die Mädchen sollen lesen, schreiben, rechnen und die Grundbegriffe der republikanischen Moral lernen. Sie sollen in nützlichen und allgemein üblichen Handarbeiten verschiedener Art ausgebildet werden". (Dieser letzte Satz fehlt in den Lernvorschriften für die Jungen, der erste Satz ist gleich.) [36]

Die Schule ist nicht unentgeltlich, wie viele Frauen und u. a. CONDORCET forderten, der Lehrer wird von den Schülern bezahlt, von denen nur ein Viertel zu den sozialen Härtefällen gerechnet werden darf, die umsonst Unterricht bekommen. Diese Regelung trifft wiederum die Mädchen besonders hart, deren Bildung für die Haushalte der Armen ein überflüssiger Aufwand scheint. Immerhin wurde mit diesem Gesetz die Möglichkeit geschaffen, Mädchenschulen einzurichten oder Mädchen in bestehende Schulen aufzunehmen. Dies war um so wichtiger, als es nach der Auflösung der Klöster praktisch keine Grundschulen für Mädchen gab, da ihre Betreuung im Ancien R~gime ganz der Initiative der Nonnen überlassen blieb. Es gab zwar genug Frauen, die auch vor 1795 bereit waren, die Aufgabe der Mädchenbildung zu übernehmen, doch fanden sie in der Revolutionsregierung wenig Unterstützung. Als die Schwestern der Charité 1791 in Dijon auf Anordnung der städtischen Behörden ihre Schulen schlossen, boten Frauen des dortigen "Club des femmes" der Stadt an, den Unterricht für die Mädchen weiterzuführen soweit bekannt ist, ohne Erfolg. Zumindest wurde die Entscheidung über den Antrag über ein Jahr lang verschleppt. [37] Dem Gesetz LAKANAL war in der Praxis nur ein geringer Erfolg beschieden. Eine Zählung von 1832 ergibt in ganz Frankreich eine Zahl von 1014 Mädchenschulen. [38] Unter dem Konsulat wurde die Debatte über die Mädchenbildung mit den Argumenten weitergeführt, die MIRABEAU und TALLEYRAND schon 1791 im Anschluß an ROUSSEAU vorgebracht hatten: daß die Frauen für den inneren Bereich der Familie zuständig sind und folglich im Hause erzogen werden sollen. Die Vorstellungen CONDORCETs von einer gleichen gemeinsamen und unentgeltlichen Erziehung von Jungen und Mädchen wurden als "Bildungsluxus" abgetan.[39] Die Gesetzgebung des napoleonischen Kaiserreichs äußert sich nicht zur Mädchenbildung. Von den Universitäten und Gymnasien werden Mädchen ausdrücklich ausgeschlossen.
Im Bereich der höheren Bildung der Mädchen blieb letztlich alles beim alten. Sie wurden als Kinder im Hause unterrichtet, als Jugendliche in den Klöstern, die nun wieder ihre Tore öffneten, und Pensionaten, wo sie in erster Linie in den "geselligen Künsten" unterrichtet wurden. Die Restauration ermutigte viele Klöster, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, wodurch die Pensionen zunehmend unter Konkurrenzdruck gerieten. Leidtragende dieser Entwicklung waren die Lehrerinnen, die bald nur noch einen Hungerlohn erhielten.
Die Frage nach der Grundschule für Mädchen erhob sich erst wieder 1833 im Zusammenhang mit der Diskussion des Gesetzes GUIZOT über das allgemeine Schulwesen. Obwohl die Regierung ursprünglich beabsichtigte, auch Mädchenschulen einzurichten, ist im verabschiedeten Gesetzestext kein Wort davon zu lesen. Die Mädchenschule erwies sich in der parlamentarischen Debatte als "politisch nicht durchsetzbar". [40] VICTOR COUSIN bezeichnete sie als "Luxusschule", schließlich sei nicht einzusehen, warum die Mädchen auf dem Lande und in kleineren Städten nicht Jungenschulen besuchen könnten - ein zynisches Argument angesichts der traditionell gerade auf dem Lande verwurzelten und durch die Kirche geförderten Abneigung gegen die Koedukation. Ein zynisches Argument auch deshalb, weil die gleichen Männer, die hier, um Finanzen zu sparen, die Mädchen in Jungenschulen schicken wollen, dort mit der Andersartigkeit der Frau argumentieren.

VII. Die Frauenbewegung der Julimonarchie

Währenddessen gerieten die Mängel der Mädchenerziehung immer deutlicher ins öffentliche Bewußtsein. Mit der Julirevolution (1830) setzten sich wieder Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderung und Fortschritt durch,bei der Bourgeoisie verbunden mit ihren klasseneigenen Interessen an der Liberalisierung der Industrie; im Proletariat verknüpft mit den (sehr bald enttäuschten) Erwartungen an eine Verbesserung der materiellen Lebenssituation. Die Frauen beider Klassen traten an die Öffentlichkeit, um sich - mit unterschiedlichen Schwerpunkten - gegen ihre Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Etwa gleichzeitig wurden 1832 zwei feministische Zeitschriften gegründet: "Die freie Frau" (La femme libre) von den Pariser Arbeiterinnen DÉSIRÉE VÉRET (GAY), MARIE-REINE GUINDORF und JEANNE-VICTOIRE JACOB, "Le journal des femmes" von der begüterten FANNY DE RICHOMME. Die Frauenbewegung nahm einen ungeheuren Aufschwung, bald war die Frauenfrage in aller Munde, interessierte nicht nur die Betroffenen selbst, sondern weite Kreise einer liberalen Öffentlichkeit. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Mädchenerziehung, für viele die entscheidende Ursache für die "Benachteiligung" der Frau in der Gesellschaft.

1. Eine Stellungnahme zum Schulgesetz von 1833

Das Gesetz von Guizot war von den Frauen teils mit Enttäuschung, teils mit Empörung aufgenommen worden. MARIE-REINE GUINDORF kritisiert in der "Tribune des femmes" (Folgetitel von "La femme libre") folgende Punkte:

  1. Mit der Beschränkung auf die Grundschule setzt das Gesetz einen viel zu engen Rahmen für die Volkserziehung - statt allen Kindern "gleiche Entwicklungschancen" zu geben, werden die Kinder niederer Schichten von vornherein von der höheren Bildung ausgeschlossen.
  2. Bildung, ein selbstverständliches Recht aller Menschen, wird mit diesem Gesetz für die Armen zum demütigenden Almosen, denn die Schule ist beitragspflichtig; wer kein Schulgeld bezahlen kann, muß sich ein Armutszeugnis ausstellen lassen.
  3. Schlimmer noch als die Jungen trifft dieses Gesetz die Mädchen der niederen Schichten, die praktisch keinen Zugang zur Bildung erhalten.

"Ihr seid gegenüber den Söhnen des Volkes noch großzügiger als gegenüber seinen Töchtern. Aber seht doch, wenn ihr ihm eine Erziehung gebt, müßt ihr sie auch derjenigen geben, die die Gefährtin seines Lebens sein soll." [41]
MARIE-REINEs Alternative: Gleich welcher Herkunft und welchen Geschlechts

"eine gemeinsame Erziehung für alle Kinder, die jedem die Möglichkeit geben wird, seine Fähigkeiten in dem Beruf zu entwickeln, für den er am geeignetsten ist". [42]

Allerdings weiß MARIE-REINE auch, daß ein solcher Vorschlag gegenwärtig kaum zu realisieren wäre. Deshalb stellt sie an den Staat nur die Forderung, die Schulen auch ohne Armutszeugnis für alle diejenigen zu öffnen, die kein Schulgeld bezahlen können. Dafür schlägt sie vor, zur Selbsthilfe zu greifen:

"Alle Frauen müssen sehen, daß es an der Zeit ist, selbst für die Verbesserung ihrer Lage zu arbeiten."

Die Frauen der höheren Schichten "mit dem Privileg der Bildung und des Vermögens" werden aufgefordert, ihren Schwestern aus dem Volke unentgeltlich Kurse zu geben - allerdings nicht als "Wohltätige Damen", sondern als Lehrerinnen. [43]

2. Alternativen der Frauen

Schon hatten Frauen in der "Freien Gesellschaft für Volksbildung" angefangen, Kurse für Mädchen und Frauen einzurichten. Ende 1833 entsteht in Nancy eine Vereinigung von Frauen, "L'Athénée de bien faisanc", die sich die Aufgabe stellt, für 50 Mädchen eine höhere Schulbildung unentgeltlich anzubieten. Die Aktion - soweit wir wissen, die erste ihrer Art - wird von SUZANNE VOILQUIN, der Herausgeberin der "Tribune des femmes", begeistert begrüßt, da die Frauen "außerhalb des männlichen Einflusses" selbst gehandelt haben. [44] Allerdings kritisiert sie noch den Namen, der entgegen den fortschrittlichen Intentionen der Initiatorinnen des Projekts noch an frühere Wohltätigkeiten erinnert. Fortschrittlich sind die Damen des "Athénée de bienfaisance" wirklich. Sicher sind auch für sie "die Frauen die ersten Lehrerinnen ihrer Kinder beiderlei Geschlechts" [45]. Aber sie leiten daraus keine Beschränkung der weiblichen Fähigkeiten ab. Ihrer Meinung nach sind die Frauen genauso für die Wissenschaften und geistigen Arbeiten geeignet wie die Männer. Sie sind nicht oberflächlich, wie sie sogar selbst oft glauben: "nur die Erziehung, nicht die Natur ist schuld an diesem Mangel" [46]. Demzufolge sollen die Mädchen auch ernsthaft in den Naturwissenschaften ausgebildet werden, um alle ihre Anlagen zu fördern.

"Es mag ja sein, daß die Frauen nicht auf die gleiche Weise studieren wie der Mann (...), aber was macht das? Zweifellos wäre ihre Art genauso viel wert wie die der Männer: Indem sie an der gleichen Wissenschaft anders arbeiten, erhalten sie wahrscheinlich neue und unerwartete Resultate. [47]

Wenig später (Anfang 1834) gründet EUGÉNIE NIBOYET, ehemalige Saint-Simonistin und Herausgeberin der Zeitschrift "Le Conseiller des femmes" (Ratgeber für Frauen) das "Athénée des femmes" in Lyon, eine weiterbildende Schule für Frauen und zukünftige Lehrerinnen. vvv[48] Männer haben keinen Zutritt zu den Kursen, es sei denn durch eine ausdrückliche Erlaubnis der Führungskommission. Alle Veranstaltungen sind unentgeltlich. Jedes Mitglied des "Athénée" hat das Recht, Kurse nach seiner Wahl anzubieten. Das Lehrprogramm wird von der "Kommission" beschlossen. Die Kommission, bestehend aus 9 Mitgliedern, wird von der Vollversammlung in geheimer Wahl gewählt, und zwar alle drei Monate jeweils die Hälfte der Kommissionsmitglieder. So entsteht eine Art rotierendes Verfahren, das eine maximale Beteiligung aller an der Leitung und Organisation des "Athénée" ermöglicht, ohne daß die Einzelnen zu sehr überlastet würden. Alle 14 Tage treffen sich die Mitglieder, um sich über ihre unterschiedlichen Arbeiten zu informieren. Die Kosten für die Schule - geplant sind auch eine Bibliothek und ein Lesesaal - werden z. T. durch die Beiträge der Mitglieder (20 F jährlich), z. T. durch Spenden abgedeckt. Sicher ist, daß das "Athénée des femmes" 1834 seine Arbeit aufgenommen hat [49]. Wie lange aber die Gesellschaft bestand, wissen wir nicht. Der "Conseiller des femmes", der zum Vereinsorgan des "Athénée des femmes" wurde, stellte im September 1834 sein Erscheinen ein, EUGENIE NIBOYET führte die Zeitschrift fort unter dem Namen "Mosaique Lyonnaise". Möglicherweise ist dies ein Indiz für das Scheitern des Projekts.

3. "Mit welchen Mitteln läßt sich der geistige Fortschritt fördern und nutzen,
der bei den Frauen zutage tritt?"

Die Aktivitäten und Überlegungen der Frauen zur Veränderung ihrer Situation blieben in der Öffentlichkeit nicht unbeachtet.
Im August 1833 begann die Pariser "Gesellschaft für Lehrmethoden", eine Vereinigung liberaler Pädagogen, eine Reihe von Diskussionsveranstaltungen unter der Frage: "Mit welchen Mitteln läßt sich der geistige Fortschritt fördern und nutzen, der bei den Frauen zutage tritt?" Fünf Monate lang stand diese Frage im Brennpunkt der Diskussion um die Erziehung der Frau. Frauen beteiligten sich in großem Umfang an den Sitzungen und Auseinandersetzungen. Die "Tribune des femmes" und "Le Journal des femmes" druckten regelmäßig Beiträge ab, die von Frauen gehalten wurden; im "Conseiller des femmes" erscheint ein Artikel von Mme D'INVILLIERS; SUZANNE VOILQUIN kommentiert darüber hinaus die Sitzungen. Die Artikel in den Zeitschriften unterscheiden sich sehr deutlich durch die Interessenlage der Referentinnen. In "Le Journal des femmes" und "Le Conseiller des femmes" kommen ausschließlich Frauen zu Wort, die eine höhere Bildung genossen haben und zu den höheren Ständen (Adel und Bourgeoisie) gehören, während sich die "Tribune des femmes" vor allem der "Töchter des Volkes" annimmt.
Bis auf Mlle DUDRÉZANE gibt es unter den "privilegierten Frauen" keine, die die bestehende Gesellschaft verändern möchte; Mlle DUDREZÜ,NE fordert immerhin die Männer auf, ihre Gesetze "par une sage réforme" so zu ändern, daß die Gleichheit der Geschlechter und "der Sinn für Moral" in der Gesellschaft zum Tragen kommen. Ihre Kritik an der bestehenden Erziehung bezieht sich in erster Linie auf die der höheren Töchter: "Die Tage ihrer Jugend sind müßig geblieben oder waren nur mit unnützen Beschäftigungen angefüllt." [59]
Mme DAMINOIS, ganz in ROUSSEAUs Bild von Weiblichkeit befangen, beklagt vor allem, daß die Töchter nicht lernen, ihre Aufgaben als spätere Ehefrauen und Mütter angemessen zu erfüllen. Allerdings beschränkt sie sich nicht auf diesen engen Rahmen, sondern preist auch die Frau glücklich, die sich ohne die Bande der Ehe und der Mutterschaft mit "männlicher Seele" ganz "der Poesie, den Künsten" gewidmet hat. Sie findet, daß gerade die wohlhabenden Frauen mehr Möglichkeiten als die Männer haben, sich "ganz intellektuellen Studien" zu widmen, da sie sich nicht um die materielle Seite des Lebens zu kümmern haben. Mme DAMINOIS' Vorschläge zur Verbesserung der Erziehung der Frauen beschränken sich darauf,

  • eine Schrift zu verfassen, um die Mängel der bestehenden Erziehung darzulegen und ihre Ausbreitung zu verhindern,
  • einen unentgeltlichen Kurs über Kindererziehung für Frauen aller Klassen "an gewissen Feiertagen" einzurichten.

CLÉMENCE ROBERT kritisiert ebenfalls die Bildung der höheren Töchter und vor allem die ausschließliche Beschäftigung mit den "geselligen Künsten", Gesang, Klavierspiel, Malerei. Statt dessen findet sie es wichtig, sich auch mit Literatur zu befassen, da sie der Art weiblicher Inspiration weitgehend entspreche. Darüber hinaus tritt sie dafür ein, daß Frauen auch denken und sich ein eigenes Urteil bilden lernen, denn: "Wissen ist das Glück der Seele und ihre Freiheit; Wissen heißt den Raum und die Zeit besitzen, ( ... ) Wissen heißt leben, die Beschränkung auf Unwissenheit ist fast Mord." [51] Doch gleich folgt die bange Frage: "Aber ist die Wissenschaft gefahrlos für die Frauen?" Nein, so die Antwort, das ist sie nicht. Deshalb muß jeder Schritt zum Wissen begleitet sein von einer moralischen Erziehung, die den Wunsch nach einer wissenschaftlichen Karriere zugunsten der Vorteile der "Herzensgüte" wieder zurückdrängt. Welche Selbstbescheidung für eine Frau, für die Wissen Leben bedeutet!

"Die Frau darf und will nicht aufhören, Frau zu sein; sie fühlt, daß sie bei einem Rollenwechsel alles zu verlieren und nichts zu gewinnen hätte, aber sie kann auch Fortschritte machen, ohne ihr Geschlecht zu verleugnen",

so steckt Mme D'INVILLIERS den Rahmen für die weibliche Bildung. [52] Religion und Moral sollen die Basis ihrer Erziehung sein, damit sie die Bedeutung ihrer sozialen Pflichten im Staat und ihre privaten Aufgaben als Ehefrau und Mutter begreift. Darüber hinaus sollen die Frauen jedoch auch Zugang zu den Wissenschaften, Künsten und Literatur wie auch zu Berufen des Handels und der Verwaltung erhalten und entsprechend ihren Neigungen ausgebildet werden. Dabei ist die Wissenschaft allerdings nur für einige wenige, nicht für die Mehrzahl der Ehefrauen und Mütter gedacht. Prinzipiell aber fordert sie:

"Öffnet jeder Frau die Laufbahn, die ihrer Eignung entspricht!" [53]

SUZANNE VOILQUIN kritisiert die Einseitigkeit und Oberflächlichkeit, mit der die meisten "privilegierten Frauen" das Problem ihrer Meinung nach angehen. Statt sich mit "Kleinigkeiten einer partikularen Erziehung" auseinanderzusetzen, Einzellösungen wie bessere Pensionate oder Zutritt zu den Akademien anzubieten, müsse man sich die Frage der Mädchenerziehung grundsätzlich in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang stellen: "Täuschen wir uns nicht, diese Frage ist vielschichtig, sie umfaßt die ganze Frau, sie berührt ihr ganzes Leben." [54] Die Erziehung der Frau betrifft ihre Stellung in der Gesellschaft und ihre sämtlichen moralischen, physischen und intellektuellen Bedürfnisse. Deshalb ist die Frage nach der Entfaltung der weiblichen Fähigkeiten untrennbar verknüpft mit "der vollständigen Emanzipation der Frau". [54] D. h., die "Mittel, um den großen geistigen Fortschritt bei den Frauen zu fördern und zu nutzen", bestehen in der Anerkennung der Gleichheit zwischen Mann und Frau und "der Anwendung aller Konsequenzen dieses großen Prinzips auf die Lebenspraxis". Solange die "Gleichheit der Geschlechter noch keine soziale Tatsache ist", bleiben "auch die wohlwollendsten Absichten ohne Resultat". [56] So wundert sich SUZANNE dann auch nicht, daß die monatelangen Debatten tatsächlich ohne Resultat blieben, da die Frage "unlösbar sei", wie der Präsident der Gesellschaft Ende Januar zugibt.
Für SUZANNE folgt aus diesen Überlegungen, daß "praktisch alles zu reformieren ist". Doch dieser Gedanke erschreckt sie nicht - er markiert das Ziel, nicht den Weg. Mit dem Ziel einer neuen Gesellschaft vor Augen, in der Mann und Frau gleich sind, läßt sich auch sinnvoll diskutieren, welche Maßnahmen in der Gegenwart zur Verbesserung der Situation der Frau zu treffen sind. Die Diskussion wird dann eine andere Richtung nehmen:

"Man wird den talentierten Frauen nicht mehr zuhören, die sich darauf beschränken zu fordern, was ihnen niemand zu verweigern gedenkt",

sondern

"die geheimen Leiden, Sehnsüchte und Zukunftshoffnungen der Frauen werden zur Sprache kommen". [57]

Prinzipiell unterstützt SUZANNE alle Vorschläge, die bisher zur Verbesserung der Erziehung der Frauen gemacht wurden, ohne darin eine grundsätzliche Lösung zu sehen.
Eine Korrespondentin der "Tribune des femmes" formuliert ihre Kritik an der bisherigen Diskussion noch schärfer. Die Mehrzahl der Frauen habe nicht offen über die "wirklichen Leiden" ihres Geschlechts gesprochen, sondern sei gekommen, um sich zu profilieren, "ihre Rede vorzulesen oder ihre Persönlichkeit zu verteidigen" und gegenseitig Lob und Anerkennung auszutauschen. Von einer Einigkeit der Frauen könne keine Rede sein, die meisten Damen hätten sich damit begnügt, Phrasen zu dreschen und Effekte zu haschen. [58]
Demgegenüber wird SUZANNE VOILQUINs Bemühen deutlich, durch ihren Bericht und Kommentar über die verschiedenen Beiträge auch die Kritik und Bedürfnisse der "privilegierten Frauen" ernst zu nehmen und weiterzugeben, sofern sie nicht offen reaktionär sind. Dies entspricht ihrem konstanten Bemühen um Solidarität aller Frauen." [59]
Unzweifelhaft genießen die "Frauen der Gesellschaft" einen Freiraum und Möglichkeiten, sich zu bilden, die die weniger privilegierten Frauen nicht haben. Deshalb, schreibt ANGALINE PIGNOT, eine junge Lehrerin, ist es gerade wichtig, den von der Bildung ausgeschlossenen Frauen zuzuhören, um die Leiden einer mangelnden Erziehung und die Bedeutung von Wissen für die Mädchen zu begreifen. [60]
MARIE-REINE GUINDORF hat als Arbeiterin die Mängel der herrschenden Erziehungspraxis zu spüren bekommen, in ihrem Beitrag knüpft sie an diesen Erfahrungen an. In den vorhandenen Grundschulen lernen die Mädchen gerade lesen und schreiben, allenfalls noch zählen. Eine weitere Ausbildung gibt es für sie nicht. MARIE-REINE berichtet von den Leiden, die ein Mädchen voller Wissensdurst durchmacht, das überall in seine Schranken verwiesen wird. Wie viele Gedanken muß sie ersticken, weil es "einer Frau nicht erlaubt ist, aus ihrem engen Kreis herauszutreten". [61] Wie SUZANNE glaubt MARIE-REINE, daß die Anerkennung der Gleichheit der Frau Voraussetzung für ihre weitere Entwicklung und angemessene Erziehung ist. Die Eröffnung von Kursen für Frauen, ihre Zulassung zu dieser oder jener Wissenschaft sind zwar wichtige Maßnahmen, genügen jedoch noch nicht zur Lösung des Problems, solange die Frauen unterdrückt sind.

"Was nützt es uns, gelehrter zu sein, wenn die Männer uns das Recht verweigern, ihnen gleich zu sein, wenn sie uns immer noch als Minderjährige behandeln wollen?" [62]

Die Männer sind bereit, der Frau gerade so viel Wissenschaft zuzugestehen, wie sie braucht, um ihrem Mann zu gefallen. Sie wirft ihnen vor:

"Ihr hättet nicht gern eine unwissende Frau; ihr wollt sie genügend gebildet, um euch zu verstehen, niemals jedoch, um euch gleich zu sein." [63]

Schon die Fragestellung der "Gesellschaft der Lehrmethoden" verrät ihrer Meinung nach die überlegene Grundhaltung der Männer. Sie tun so, als hätten sie mit der Intelligenz der Frauen "ein neues Produkt entdeckt, bei dem man sich fragt, wie man es am besten verwendet". Die Frauen hingegen "verlangen nicht, daß man ihre Intelligenz benutzt, vielmehr wollen sie, daß man ihrer Entfaltung keine Hindernisse entgegenstellt". [64]
Diese Argumentation hatte Mlle DUDRAZÉNE schon in der Sitzung vom 26. 8. vorgebracht in der Kritik der Männer treffen sich die privi.legierten und die Arbeiterfrauen! Warum meinen die Männer, fragt Mlle DUDRAZÉNE, daß die Frauen ihre Führung brauchen, um ihre Intelligenz zu entwickeln? Plötzlich geruhen sie, die geistige Bewegung bei den Frauen zu bemerken, die ja nicht erst von heute datiert. Die Bewegung ist unabhängig vom Mann entstanden, die Frauen befreien sich selber.

"Ebenso wie der Despot, der sein Szepter aus der Hand gleiten sieht, läßt er - der Mann - sich herab, Konzessionen anzubieten; er verspricht seine Unterstützung, wo er nichts verhindern kann." [65]

Die Frauen brauchen die Führung der Männer nicht, um den Prozeß ihrer geistigen Entwicklung voranzutreiben. Besser als die Männer verstehen sie sich auf die Moral und das Gefühl, die entscheidenden Wegweiser für neue Gesetze und neue Institutionen, die den Frauen Gleichheit und Freiheit gewähren. Es genügt also, wenn die Männer die Frauen "gewähren lassen" (laisser faire), ihren Weg werden sie dann schon selber finden.
In diesem Punkt ist sich Mlle DE DUDRAZÉNE auch mit den sozialistischen Frauen einig. Daß die Frau in erster Linie für die Bereiche des Gefühls und der Moral zuständig ist, ist - bis auf wenige Ausnahmen für fast alle Frauen der damaligen Bewegung eine unumstößliche Tatsache. Unterschiede ergeben sich im wesentlichen daraus, wie weit die Frauen bereit sind, den Rahmen der möglichen gesellschaftlichen Veränderung zu stecken. Bedeutet für einige schon der Schritt in die Wissenschaft einen Ausbruch aus der Frauenrolle, so bedeuten für andere, besonders die sozialistischen Frauen der Tribune des femmes, die moralisch.en Fähigkeiten der Frau geradezu eine Verpflichtung zur radikalen Infragestellung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei ist SUZANNE VOILQUIN z. B. klar, daß mit der unbefragten Übernahme der Männerwissenschaft noch nichts gewonnen ist.

"Und wahrlich, wird der Mann uns die Freiheit zugestehen, wenn er uns seine Wissenschaft und seinen Verstand gegeben hat, wenn er uns umgewandelt und gewissermaßen zu Männern gemacht hat? Solche Inkonsequenz würde doch nur die Macht der Stärke fortsetzen., und die moralische Kraft wäre nach wie vor untergeordnet. Sehen Sie, meine Herren, der Beweis dafür liegt in der Existenz der Frauen, die zur Macht gekommen sind. Warum haben sie nicht an das beklagenswerte Schicksal ihres Geschlechts gedacht? Weil ihre Erziehung von Männern gemacht wurde, ihr Geist war getränkt mit ihren Maximen." [66]

VIII. Geschlechtsspezifische oder gleiche Erziehung von Mann und Frau?

1. Flora Tristan

SUZANNEs Argumentation beweist, daß die Forderung nach einer frauenspezifischen Erziehung nicht gleichbedeutend mit der Beschränkung der Frau auf ihre Aufgaben in der Familie sein muß. Sicher gibt es eine Reihe von Frauen, vor allem unter denjenigen, die im "Journal des femmes" zu Worte kommen, die unter einer angemessenen Erziehung der Frau nicht mehr verstehen als ihre Ausbildung zur guten Hausfrau, liebenden Mutter und klugen Ehefrau. Doch ist diese Position nicht zu verallgemeinern. Gerade unter den proletarischen Frauen gibt es viele, die sich von einer Erziehung der Frau gemäß ihren geschlechtsspezifischen Fähigkeiten nicht nur eine Verbesserung der familialen Situation, sondern auch eine Veränderung der Gesellschaft erhoffen.
Nach FLORA TRISTAN ist nur die Frau dazu in der Lage, den Teufelskreis "Elend und Unwissenheit, Unwissenheit und Elend", in dem die Arbeiterklasse sich befindet, aufzubrechen. Aufgrund ihrer unentbehrlichen Position in der Familie
"wäre es unter dem Gesichtspunkt der intellektuellen, moralischen und materiellen Verbesserung der Arbeiterklasse von höchster Wichtigkeit, daß die Frauen von Kindheit an eine vernünftige und solide Erziehung erhalten, die dazu geeignet ist, alle ihre guten Anlagen zu entwickeln, damit sie zu tüchtigen Arbeiterinnen in ihrem Beruf werden, zu guten Familienmüttern, die in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen und zu lenken und auch, um auf die Männer moralisch einzuwirken... [67]
FLORA TRISTAN stellt sich vor, daß die Männer dann weniger ins Wirtshaus gehen und sich im Hause wohlfühlen werden, was ein bezeichnendes Licht auf das durch die Lohnarbeit verursachte psychische Elend der Familie wirft. Denn für das Proletariat ist die Vorstellung von der moralisch wirkenden, liebevollen Ehefrau und Mutter eine Zukunftshoffnung, die noch keineswegs realisiert ist. Elend, Unterdrückung und Unwissenheit haben, wie Flora schreibt, "die proletarischen Frauen im allgemeinen brutal, böse und manchmal hartherzig" gemacht." [68] [69]Eine angemessene Erziehung ist für die proletarischen Mädchen noch wichtiger als für die reichen. Denn

"die Frau ist alles im Leben eines Arbeiters." Als Mutter prägt sie seine Kindheit, als Ehefrau drei Viertel seines Lebens und als Tochter sein Alter. Das Kind des Reichen bekommt eine Gouvernante, wenn die Mutter es nicht erziehen kann. Der reiche Mann findet in der Gesellschaft oder in den Wissenschaften und Künsten die Zerstreuung und den geistigen Ausgleich, die ihm die Ehefrau nicht geben kann. Und auch der Alte findet, wenn er reich ist, genügend Freunde und junge Neffen, die seinen Zeitvertreib teilen. Aber der Arbeiter, der alle diese Vergnügungen nicht kennt, "hat nur die Gesellschaft der Frauen seiner Familie zu seiner Freude und zu seinem, Trost. [70]

Daß FLORA TRISTAN in der "Arbeiterunion" in erster Linie den Vorteil der Erziehung der Frauen für die Familie des Arbeiters betont, hat zwei Gründe. Zum einen die Adressaten: FLORA wendet sich mit ihren Vorschlägen zur Organisation der Arbeiterklasse an Männer, die es noch für natürlich halten, daß ihre Frauen und Töchter keine Ausbildung haben und ihnen unterlegen sind, und an Frauen, die von der Aufgabe, ihrer Familie das Überleben zu sichern, voll in Anspruch genommen sind. Sie vermögen den Vorteil einer solchen Organisation für sich nicht einzusehen und machen FLORA Vorwürfe, weil sie die Männer mit ihren Vorträgen von der Arbeit abhält. In ihrem Kapitel "Warum ich die Frauen erwähne" versucht FLORA also, den Männern wie den Frauen klarzumachen, was sie von der Arbeiterunion für die Verbesserung der Situation in der Familie zu gewinnen haben.
Zum zweiten zeigt sich in FLORAs Argumentation auch die gesellschaftliche Notwendigkeit, die Frauen besonders auf emotionale Reproduktionsaufgaben vorzubereiten, die die Härte und Einseitigkeit des Arbeitslebens auszugleichen vermögen. Doch kann sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dieser Funktion, die ja für die Proletarierin geradezu erstrebenswert erscheint, noch nicht - wie heute - die Wahrnehmung von Unterdrückung verbinden. [71]
Die Familie ist für FLORA TRISTAN wie der außerhäusliche Bereich der Produktion ein Ansatzpunkt für gesellschaftliche Veränderung. Die Frau soll eine Erziehung erhalten, die ihrer Bedeutung in beiden Bereichen gerecht wird - geschlechtsspezifisch aber nicht minderwertig:

"Da für uns die Frau dem Manne gleich ist, versteht es sich von selbst, daß die Mädchen eine zwar unterschiedliche, aber ebenso vernünftige, solide und gleich lange berufliche und moralisch-wissenschaftliche Ausbildung wie die Jungen erhalten werden. [77]

Nach FLORAs Vorstellungen soll dies in Zukunft in den "Palästen der Arbeiterunion" geschehen, Gemeinschaftshäusern, die die in der "Union" organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen in jedem Departement errichten werden. Hier finden die Alten und Kranken eine Unterkunft, hier sollen die Kinder des Proletariats von ihrem 6. bis 18. Lebensjahr theoretisch und praktisch ausgebildet werden.
FLORAs Utopie weist über die Grenzen der bestehenden Gesellschaft hinaus, sie erwartet keine Unterstützung vom Staat, sondern fordert die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, sich selbst zu organisieren und die Bedingungen I'ür eine angemessene Erziehung zu schaffen. Insofern ist ihre Position auch eindeutig klasssenspezifisch.

2. Madeleine Poutret de Mauchamps

Ebenso klassenspezifisch, aber für die Bourgeoisie, sind die Forderungen von MADELEINE POUTRET DE MAUCHAMPS, der Herausgeberin der "Gazette des femmes", auf Zulassung der Mädchen zu den staatlichen Hochschulen und sämtlichen akademischen Graden und Diplomen (1838). MADELEINE begründet das Anrecht der Frauen auf eine Hochschulausbildung mit der Tatsache, daß Frauen mit Vermögen auch Steuern an den Staat zahlen, mit denen der Ausbildungssektor finanziert wird. Die Erziehung, die die armen Mädchen kostenlos erhalten, reicht schon für diese nicht aus, aber - fährt MADELEINE empört fort, "würde man zu behaupten wagen, daß diese Erziehung einem reichen Mädchen mit Familie genügt, die ebenso wie der junge reiche Mann bezahlen will um zu lernen?" [73]
Das Geld macht Frauen und Männer gleich, verwischt die Grenzen einer geschlechtspezifischen Erziehung:

"Von hier aus höre ich schon diese alten Abgeordneten ohne Leib und Seele schreien, daß die Erziehung der Frauen nicht die der Männer sein kann -, und diesen physisch und moralisch Gelähmten antworte ich: Findet ihr nicht, daß das Geld der Frauen dem Geld der Männer gleich ist?" [74]

Wer reich ist, soll auch studieren dürfen.
Die Hindernisse, die einer gleichen Ausbildung der Mädchen entgegengesetzt werden, liegen weder in der Natur der Frau noch in der Natur der Studien, sondern ausschließlich im Despotismus und der Korruptheit der Männer, die Frauenstudien nur insoweit zulassen wollen, als sie ihnen zu Gefallen sind:
"Wenn es um eure Ausschweifungen geht, wißt ihr wohl, euch Schülerinnen zu machen. Er steht dem, jungen Mädchen frei, aufs Konservatorium für Musik und Tanz zu gehen, um die Pirouetten zu lernen, die euch entzücken und die Triller, die euch begeistern (...). Ihr gebt der jungen Künstlerin gerade soviel Erziehung, wie sie braucht, um sich zu korrumpieren und zu prostituieren." [75]
Im einzelnen weist MADELEINE nach, daß die Frauen nicht nur fähig und geeignet für die Karrieren der Medizin, des Rechts und der Pharmazie sind, sondern daß es darüber hinaus auch unbedingt notwendig ist, daß Frauen Frauen behandeln und Frauen für Frauen Recht sprechen:

"In euren schrecklichen Anklagen wegen Kindermord, in euren widerwärtigen Anklagen wegen Vergewaltigung oder in euren dummen Klagen wegen Ehebruchs, häufen die MännerAnwälte fast immer Absurditäten auf Absurditäten, während das Plädoyer einer Frau als Anwalt voller Wahrheit und Beredsamkeit wäre." [76]

Frauen brauchen in allen Berufen ausgebildete Frauen, die ihre Lage kennen und verstehen. Insofern plädiert MADELEINE zwar für eine gleiche Ausbildung von Mann und Frau, aber auch unter dem besonderen Gesichtspunkt der Leiden ihres Geschlechts.

3. La Voix des femmes

Frauen der Bourgeoisie und Frauen des Proletariats sind sich bei aller klassenspezifischen Gebundenheit ihrer Argumente und trotz aller Unterschiede ihrer konkreten Forderungen einig in der Kritik der herrschenden Mädchenerziehung wie in der Forderung nach einer angemessenen Ausbildung aller Frauen. Zu unterscheiden ist allerdings, was für "angemessen" gehalten wird und inwieweit dabei wieder Klassenunterschiede zementiert werden, wie z. B. in der Argumentation von MADELEINE POUTRET DE MAUCHAMPS. Dennoch bringt"MADELEINE auf ihre Art die Frauen nicht weniger voran als FLORA TRISTAN. Traditionelle Vorstellungen von "Fortschrittlichkeit", die sich auf Klassenauseinandersetzungen beziehen, lassen sich nicht ohne weiteres auf die Geschichte der Frauenbewegung übertragen. Auch die Entscheidung für geschlechtsspezifische oder gleiche Erziehung von Mann und Frau kann für sich genommen nicht als Indiz für mehr oder minder große Fortschrittlichkeit gewertet werden. Wir finden Parteigängerinnen für die eine oder andere Ansicht in beiden "Lagern", bei den Sozialistinnen wie bei den bürgerlichen Frauen. Offenbar haben die Frauen jener Zeit auch unterschiedliche Meinungen in dieser Frage weitgehend toleriert.

In der feministischen Zeitung "La Voix des femmes" (Die Stimme der Frauen) von 1848 finden wir im ersten Heft einen Artikel zur "Erziehung der Frauen", der sich deutlich für eine geschlechtsspezifische Erziehung ausspricht:

"Die Erziehung von Frauen soll von Frauen betrieben werden die beiden Geschlechter sollen im gleichen Schritt auf unterschiedlichen Gleisen fahren. [77]

JOSÉPHINE BACHELLERY, AMÉLIE PRAY und andere Frauen sind der gleichen Ansicht. Wir finden aber auch im 17. und 23. Heft zwei Artikel von PAULINE ROLAND, in denen sie eine gleiche Erziehung für Mädchen und Jungen fordert, PAULINE ROLAND, frühere Saint-Simonistin und überzeugte Sozialistin, hatte in Boussac, einer Landkommune, wo PIERRE LEROUX mit seinen Anhängern gemeinsam lebte und arbeitete, als Lehrerin Erfahrungen mit Gemeinschaftserziehung und neuen Lehrmethoden sammeln können. [78] Sie schreibt in "La Voix des femmes":

"Männer, unsere Intelligenz ist der euren gleich; was ihr lernt, können wir auch lernen, was ihr macht, können wir auch machen. Wie ihr können wir Mathematiker, Naturwissenschaftler, Chemiker sein. (...) Wenn wir für die gleichen Dinge befähigt sind, haben wir auch ein Recht auf den gleichen Unterricht." [79]

Für PAULINE ist es zunächst notwendig, daß den Frauen sämtliche Institutionen der Männererziehung offenstehen, damit sie das Bildungsdefizit aufholen können, das die Gesellschaft ihnen durch die ungleiche Organisation der Erziehung zumutet. Darüber hinaus hofft sie allerdings auch, daß Frauen eines Tages so weit sein werden, sich gegenseitig zu unterrichten.

IX. Die Frauen von 1848

1. Erwartungen an den Staat

Mit der Februarrevolution von 1848 wurden sämtliche Erwartungen der Frauen auf eine bessere Erziehung wiederbelebt, die seit der französischen Revolution von 1789 immer wieder formuliert, jedoch von den Herrschenden nie erfüllt wurden. Gegen Ende der Julimonarchie hatte sich das Interesse an der Mädchenerziehung in der Öffentlichkeit so verbreitert, daß sogar eine Zeitschrift wie die "Revue de l'Enseignement des Femmes" gegründet werden konnte (1845) und genügend Abnehmer(innen) fand. Und doch konnte es noch geschehen, daß ein Antrag auf einen Kredit für die Einrichtung von Mädchenschulen in Höhe von 500000 F in der Kammer mit fadenscheinigen Argumenten zurückgewiesen wurde (1846). [80]
Nach dem Februar 1848 richteten sich die Hoffnungen der Frauen auf die junge Republik und deren vielversprechenden Erziehungsminister CARNOT, einen ehemaligen Saint-Simonisten. Ihre Erwartungen an den Staat, die in "La Voix des femmes" zum Ausdruck kommen, sind sehr vielfältig und beziehen sich auf alle Bereiche des Ausbildungssektors. Sie reichen von PAULINE ROLANDs Forderung nach der Öffnung aller Schulen, Kollegien und Universitäten für Frauen bis hin zu folgenden Vorschlägen:

  • "Eröffnung von besonderen Vorlesungen von Frauen für Frauen" [81] - eine Forderung, die sich schon auf eine Tradition in der Frauenbewegung stützen konnte. 1836 hatte z. B. LOUISE DAURIAT ein öffentliches Kolleg über "Soziales Recht der Frauen" eröffnet." [82] Bisher waren allerdings solche Vorlesungen staatlich nicht anerkannt worden.
  • Bereitstellung eines Lesesaals für Frauen in der Nationalbibliothek;
  • Einrichtung von Mädchenschulen im Primär- und Sekundärbereich proportional zu der Zahl von Jungenschulen;
  • unentgeltliche Kurse für Erwachsene in jedem Stadtteil.

Was hat die Regierung der Republik dazu getan, diese Forderungen einzulösen? Im März 1848 eröffnete CARNOT im Collége de France ein Kolleg für Frauen, das allerdings einem Mann, ERNEST LEGOUVÜ" anvertraut wurde. Im Juni legte er einen Entwurf für ein Schulgesetz vor, der zwar beanspruchte, die Mädchenerziehung mit einzubeziehen, in Wirklichkeit jedoch nur die obligatorische schulgeldfreie Grundschule für Jungen und Mädchen vorsah - eine höhere Ausbildung für Mädchen wird nicht erwähnt. Das schließlich im Klima der zunehmenden Reaktion im Jahre 1850 verabschiedete Gesetz (Loi FALLOUX) räumte endgültig mit den weitreichenden Hoffnungen der Frauen auf. Zwar wurden Grundschulen für Mädchen zum ersten Mal gesetzlich festgeschrieben, dafür aber auch deren Erziehung durch nicht ausgebildete Klosterschwestern. Während die weltlichen Lehrerinnen in Paris inzwischen eine Ausbildung mit Abschlußprüfung durchgesetzt hatten und diese auch Voraussetzung für ihre Anstellung wurde, genügte bei den Nonnen ein Schreiben ihrer Oberin ("lettre d'obédience") als Qualifikation für den Unterricht für Mädchen. Kommunale Mädchenschulen sollten nach dem Gesetz zwar in jeder Gemeinde von 800 Einwohnern eingerichtet werden, aber nur, "wenn sie die Mittel dazu aufbringen können". [83] Auf eine höhere Ausbildung der Mädchen fehlt jeder Hinweis. So bleibt wenig genug, was die Republik für die Mädchenbildung getan hat und dies auch erst auf entsprechenden Druck der Frauen und einer liberalen Öffentlichkeit.

2. Eigene Initiativen

Aber die Frauen hatten sich niclit nur auf den Staat verlassen. Das staatliche Bildungswesen war noch zu jung, um als selbstverständlicher Adressat für sämtliche Reformvorstellungen zu gelten. Zwar hatten die Frauen Forderungen gestellt, was die staatliche Institutionalisierung von Bildungsmöglichkeiten aiibetrifft; bei der Entwicklung von Alternativen verließen sie sich jedoch in erster Linie auf ihre eigenen Kräfte.
Neben Kursen und Vorlesungen von einzelnen Frauen für Frauen gab es eine "Gesellschaft zur gegenseitigen Erziehung von Frauen" (Société d'éducation mutuelle des femmes). Die Frauen von "La Voix des fernmes" organisierten regelmäßig Bildungsveranstaltungen, Diskussionsreihen und Vorträge, zu denen die Männer keinen Zutritt hatten. Sie wollten darüber hinaus auch mit ihrer Zeitung und der Veröffentlichung von Büchern und Broschüren die Informationsmöglichkeiten für Frauen erweitern. Die "Vésuviennes", eine Gruppe militanter junger Arbeiterinnen, gaben in ihrem Entwurf für eine "politische Verfassung der Frauen" allen Frauen das Recht, "privat oder öffentlich zu lehren und Kurse unter Aufsicht des Staates abzuhalten". [84]
DÜÉSIRÉE GAY schlug vor, statt des Katechismus, der zum Lesenlernen in den Schulen benutzt wurde und die Kinder ausschließlich in Religion unterwies, einen "demokratischen und sozialistischen Katechismus" zu entwickeln. Dies sollten Frauen tun, die mit den entsprechenden Ideen bereits vertraut waren, damit die Arbeiterinnen mit ihren Kindern lesen lernen können. [85]
Besonderes Augenmerk richteten die Frauen auch auf die mangelnde berufliche Ausbildung der proletarischen Frauen, die Ärmsten der Armen, die in der Wirtschaftskrise von 1848 als erste,arbeitslos wurden und am Hungertuch nagten. In "La Voix des femmes" wird von einem "Projekt einer nationalen Stiftung zur Erziehung, geistigen und beruflichen Ausbildung der jungen Mädchen aus dem Volk" berichtet, ohne daß wir Genaueres über das Projekt erfahren." [86]
ELISA LEMONNIER, die 1863 die erste Berufsschule für Mädchen schuf, organisierte zusammen mit anderen Frauen 1848 eine Nähwerkstatt, um wenigstens einige Frauen vor dem Schicksal der Arbeitslosigkeit zu bewahren. Dabei stellte sie fest, daß entgegen der herkömmlichen, Annahme, alle Mädchen würden nähen lernen, nur sehr wenige Frauen für diese Arbeit qualifiziert waren. Seitdem ließ sie der Gedanke an eine berufliche Ausbildung für Mädchen nicht mehr los. Mit anderen Frauen schloß sie sich zu der Gesellschaft der "Vereinigten Arbeiterinnen" zusammen (Travailleuses-unies), die sich zum Ziel setzte, weibliche Lehrlinge in einem "Arbeitszentrum" praktisch und theoretisch auszubilden. 1848 konnte ELISA ihre Pläne noch nicht verwirklichen. Es sollte bis 1856 dauern, bis sie sie wieder aufnahm, und weitere 7 Jahre, bis die erste von ihr gegründete Berufsschule für Mädchen in Paris ihre Tore öffnete. [87] 1864, ein Jahr später, nachdem ELISAs Schule schon erste Erfolge verbuchen konnte, hatte ERNEST LEGOUVA sich noch zu verteidigen, weil er vom Staat Berufsschulen für Mädchen forderte. [88]

3. Der Verein sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen

Zuletzt möchte ich noch von einem Projekt berichten, an dessen Entwicklung PAULINE ROLAND maßgeblich beteiligt war. Es handelt sich um die "Association des instituteurs, institutrices et professeurs socialistes" (Verein sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen). Ziel der Gruppe ist eine demokratische Erziehung, die sowohl klassenspezifische als auch. geschlechtsspezifische Unterschiede aufheben soll. Die unterschiedlichen Schultypen von der Grundschule bis zur Universität, die die Klassenschranken widerspiegeln, sollen durch eine Einheitsschule für alle ersetzt werden." [89] Mädchen und Jungen werden gemeinschaftlich unterrichtet.

"Wir wollen, daß die Frau ebenso wie der Mann als freies und vernünftiges Wesen erzogen wird, das sich selbst gehört, unabhängig in ihrer Arbeit, ihrer Liebe, ihren Gedanken, ihrem Charakter, und nicht als Anhängsel des Mannes für immer zu einer verhängnisvollen Abhängigkeit verurteilt. Wir wollen, daß die Erziehung allen Frauen und Männern freien Zugang zu den Berufen in Industrie, Kunst und Wissenschaft eröffnet." [90]

1849 veröffentlicht die Assoziation ihr detailliertes Erziehungsprogramm. Vorweg, in einer "Erklärung ihrer Prinzipien", bekennt sie sich zur Gleichheit zwischen Mann und Frau und zur Gleichheit aller Menschen, die weder durch Reichtum und Privilegien noch durch gesellschaftliche Macht und Überlegenheit zerstört werden darf. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf die Entwicklung seiner "körperlichen, moralischen und geistigen Fähigkeiten". [91] Eine den Individuen angemessene Erziehung muß auf deren Fähigkeiten Bezug nehmen und darf sich nicht von der gesellschaftlichen Hierarchie der Berufe leiten lassen. Die gegenwärtige Erziehung verfällt in zwei gegensätzliche Fehler: entweder "versucht sie, aus jedem Menschen eine Enzyklopädie zu machen", oder sie zielt eine individuelle Spezialisierung an. Demgegenüber setzen sich die sozialistischen Lehrer und Lehrerinnen das Ziel, jeden Menschen möglichst umfassend entsprechend seinen individuellen Neigungen auszubilden. [92] Konkret sieht der Erziehungsplan vor:

  • Eine Erziehung vom. 1. bis zum 18. Lebensjahr, die in 6 Phasen gegliedert ist,
  • eine Ausbildung, die Körperübungen, praktische Tätigkeiten, moralische Unterweisungen, theoretischen Unterricht und Berufsausbildung umfaßt,
  • eine Schule, in der die Kinder 8-12 Stunden verbringen und dann wieder nach Hause zurückkehren, damit sie ihren Familien nicht entfremdet werden.

Die Kinderkrippe, die erste Phase der Erziehung, umfaßt das erste bis dritte Lebensjahr.

"Die Mutterschaft ist eine der Pflichten der Frau, eine heilige, ja strenge Pflicht; aber zu keiner Zeit könnte man sie als ihre einzige Pflicht betrachten." [93]

Damit die Mütter sich auch anderen Aufgaben widmen können, müssen schon die Pflege und Erziehung des Säuglings und Kleinkinds gesellschaftlich organisiert werden. Wenn die Mütter ihre Kinder nicht verlassen wollen, können sie gegen Entgelt in der Kinderkrippe arbeiten. Soweit wie möglich sollen überhaupt Mütter und Väter die Kleinkinder betreuen. Auch später haben die Eltern das Recht und die Pflicht, die schulische Erziehung ihrer Kinder zu überwachen. Eine Elternversammlung wählt aus ihrer Mitte einmal oder mehrmals jährlich einige Väter und Mütter, die am Schulleben teilnehmen. Die Eltern werden auch gefragt, welche Fähigkeiten sie bei ihren Kindern bemerkt haben, wenn die Entscheidung für eine berufliche Ausbildung ansteht (5. Phase: 12.-15. Lebensjahr).
Prinzip der Erziehung ist in jeder Phase eine möglichst umfassende praktische und theoretische, körperliche, moralische, künstlerische und geistige Ausbildung. Am Anfang wird das spielerische Lernen besonders betont. Aber schon hier machen sich die Autor(inn)en des Plans die kindliche Lernfähigkeit produktiv zunutze. Sie schlagen vor, die Kinder schon in der Kinderkrippe eine oder zwei Fremdsprachen lernen zu lassen, einfach dadurch, daß einige der Betreuer(innen) diese Sprachen sprechen. Später wird dann die fremdsprachliche Ausbildung vertieft.
Soweit wie möglich sollen die Kinder selbstbestimmt, d. h. entsprechend ihren eigenen Interessen und Wünschen lernen. Dabei gehen die sozialistischen Lehrer und Lehrerinnen von einer allseitigen Begabung der Kinder aus, die sich in mehrere Richtungen entfalten kann, wenn die Erziehung sie nicht einschränkt. So wird auch einer zu frühen Spezialisierung entgegengewirkt. Und wenn dann in der 5. und 6. Phase die Berufsausbildung einen größeren Raum einnimmt, wird darauf hingewirkt, daß sich jede(r) Sch-üler(in) möglichst in den 3 Bereichen der Handarbeit, der Kunst und der geistigen Arbeit spezialisiert.
Die Lehre, die die Kinder entweder in der Landwirtschaft oder im Handwerk machen werden, soll in "einer richtigen Werkstatt" stattfinden und nicht in besonderen Lehrwerkstätten. Der Meister muß jedoch dafür bürgen, daß die Lehrlinge wirklich etwas lernen, nicht ausgebeutet und in ihrer Menschenwürde geachtet werden. Die Werkstätten werden dementsprechend auch von den Mitgliedern der Assoziation ausgesucht. Wenn sich die Schüler(Innen) auf die Lehrerausbildung spezialisieren, soll ihnen die sozialistische Schule als Praxisfeld für ihre Ausbildung dienen. So wird von vornherein ein Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis verhindert.
Dieser Erziehungsplan der sozialistischen Lehrer und Lehrerinnen nimmt in vielen Punkten Ideen der "polytechnischen" Erziehung vorweg und gewährleistet für die Mädchen die bestmögliche Entfaltung und Ausbildung ihrer individuellen Fähigkeiten. Der damaligen Regierung war die Assoziation verdächtig: Sie griff die herrschenden Eigentumsund Klassenverhältnisse an und störte die patriarchalische Ordnung. GUSTAVE LEFRANCAIS, eines der Gründungsmitglieder, wurde verhaftet und - u. a. wegen "notorischen unmoralischen Verhaltens" - zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt.
PAULINE ROLAND, die 1849 noch der Verhaftung entging, kam 1850 für 6 Monate ins Gefängnis. Sie hatte sich zusammen mit JEANNE
DEROIN am Aufbau der "Union des Associations" (Vereinigung der Assoziationen) beteiligt, bei der die sozialistischen Lehrer und Lehrerinnen auch Mitglied waren. Die "Union" wurde als Geheimgesellschaft mit subversivem Charakter angesehen und ihre Mitglieder dementsprechend verfolgt. 1852 wurde PAULINE wieder verhaftet, diesmal unter der Anklage, an der Volksbewegung gegen den Staatsstreich Louis Napoleons teilgenommen zu haben. Diesmal lautete das Urteil auf Deportation nach Algerien, eine Strafe, die sie - trotz baldiger Begnadigung - nicht überleben sollte.
Mit dem Staatsstreich vom 10. Dezember 1851 und den darauf folgenden politischen Verfolgungen wird der Frauenbewegung ein Schlag versetzt, von dem sie sich so bald nicht erholen sollte. Die herrschende Wissenschaft hat das Ihre dazu beigetragen, die Gedanken, Pläne, Utopien und konkreten Alternativen der Frauen jener Zeit verschwinden zu lassen. Bis heute wird die Geschichte der Mädchenerziehung entlang den Gesetzen und den Ideen und Reformen der Männer geschrieben. Bis heute ist uns nicht bewußt, daß die Frauen jede Reform, jede Verbesserung ihrer Situation auf einer breiten Basis von Diskussionen und Aktionen selber erkämpft haben.

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