Die geistreichen aber verwahrlosten Weiber -

Zur musikalischen Bildung von Mädchen und Frauen

Der Beruf der Musikerin (ob Instrumentalistin, Sängerin, Komponistin oder Dirigentin) läßt sich rückschauend nicht losgelöst von der besonderen Funktion der Kulturmusik im aufstrebenden Bürgertum des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts betrachten. Er ist aber auch von der zeitgleich einsetzenden Familienideologie beeinflußt, die die Frauenrolle neu definierte.
Im absolutistischen Zeitalter galt der Musiker noch als Kunsthandwerker. Er diente als Hofmusiker, als städtischer Kirchen- oder als Ratsmusiker. Musik wurde in Auftrag gegeben und für bestimmte Anlässe geschrieben. In der hierarchisch gegliederten Gesellschaft der feudalen Epoche glorifizierte sie entweder Gott und weltliche Herrscher, oder sie trug zur höfischen Unterhaltung bei. Dem Bürger, dem der Hof verschlossen blieb, war es allenfalls bei kirchlichen oder bei städtischrepräsentativen Gelegenheiten möglich, größere Musikaufführungen zu besuchen.
Um 1750 ergaben sich parallel :zu den gesellschaftlich-ökonomischen Umwälzungen umfassende ästhetische Veränderungen. Je stärker das Bürgertum zur wirtschaftlichen Macht strebte, um so mehr wurden das Musikhören und das Musikmachen (im Bereich der hohen Musik zuvor Privilegien des Adels) zu einem gesellschaftlichen * Bedürfnis. Konzertsäle, Musikvereine und Chöre entstanden, zu denen jeder, auch die Frau, Zutritt hatte. Musik diente nicht mehr vornehmlich der Verherrlichung Gottes oder fürstlicher Herrscher, sondern auch zur Verfeinerung eines eigenen, bürgerlichen Bewußtseins. Opernhäuser und Theater gingen von adeligen in städtische Hände über. Es gehörte zum guten Ton in den Kreisen des handel- und gewerbetreibenden Bürgertums, sich über Musik zu unterhalten oder gar Kammermusik selbst zu betreiben. Der Begriff des "Musikliebhabers" prägte das Musikschrifttum dieser Jahrzehnte. In den neugegründeten Chören war es nur natürlich, daß Frauenstimmen benötigt wurden. Die Berliner Singakademie, die sich aus Frauen und Männern der oberen Mittelschicht rekrutierte, ist ein Beispiel dafür. Da der wohlhabende Bürger das Musizieren in seiner Wohnung einbezog, war es für die Dame des Hauses möglich, sich ans Cembalo oder ans Pianoforte zu setzen, um zu spielen oder zu singen. Es ist naheliegend, daß diese Veränderungen sich auf die Entwicklung der Kulturmusik niederschlugen. Der bisher so beliebte Kastrat büßte seine Vorrangstellung auf der Opernbühne ein. Man verlangte nach der weiblichen Stimme, die geeigneter schien, das "Natürliche" und "Rührende", das bewußt der höfisch-repräsentativen Kunst gegenübergestellt wurde, zu vertreten. Es ergaben sich die ersten Chancen für Frauen, außerhalb der höfischen Musikpflege einen Musikberuf zu ergreifen.
Der Wunsch des bürgerlichen Publikums nach dem Klangreiz der Frauenstimme kollidierte allerdings mit den Bestrebungen, die Frau auf häusliche Pflichten einzuengen. Die bürgerliche Familienideologie, die mit der veränderten Produktionsweise einherging, war eine Antwort auf die außerhäusliche Berufstätigkeit des Mannes. Die Frau wurde benötigt, um in der Familie die Reproduktionsarbeit zu übernehmen; sie war außerdem durch die häusliche Einbindung als unliebsame Konkurrentin auf dem Arbeitsmarkt ausgeschaltet. In der Folgezeit wurde in unzähligen Schriften nach Argumenten gesucht, um der Frau den Platz am heimischen Herd schmackhaft zu machen, aber auch, um diesen Platz inhaltlich abzugrenzen. Die Autoren schrieben ihre Abhandlungen im letzten Drittel des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Begriff der "natürlichen weiblichen Bestimmung" wurde als entscheidende Kategorie nur auf die Mädchenbi.Idung angewandt, während bei der Knabenbildung die metaphysischen Nebentöne fehlten (vgl. BLOCHMANN 1966). Je intensiver der Frau das angeblich Naturgegebene ihrer weiblich-passiven Rolle verdeutlicht werden konnte, um so besser konnte es gelingen, schöpferische Begabungen und weiterreichende Wünsche von Frauen zu zerstören bzw. zu verhindern. Viele Schriften befassen sich mit angeblichen Gesundheitsschäden von Mädchen und Frauen beim Musizieren. Zu viel Gesang bewirkt einen Blutsturz, eine Frau am Violoncello wirkt "unsittlich", Violinund Orgelspiel vertragen sich nicht "mit den Grazien des weiblichen Geschlechts"; eine "Frau am großen Violon im Reifrock" wirkt "lächerlich" (vgl. RIEGER 1981). Eine weitere beliebte Theorie besagte, daß die übermäßige Bildung der Frau zwangsläufig zur Verwahrlosung ihres Haushalts führen müsse. Einige Autoren behaupteten, daß die intensive Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst bei Frauen deren "Vermännlichung" zur Folge habe. Wer wollte schon als verwahrlost gelten oder gar ein Mannweib sein? Es ist nur folgerichtig, daß sich Frauen mehrheitlich mit der ihnen zugewiesenen Rolle der Dilettantin abgaben.
In der Berufspraxis wurden Frauen am ehesten dort geduldet, wo sie unersetzbar waren: als Sängerinnen. Doch gab es noch ein weites außerberufliches Feld, das der Salonmusik. Die Mädchenbildung paßte sich diesen Bedürfnissen entsprechend an.
Ende des 18. Jahrhunderts existierten drei Arten von Mädchenanstalten: private Institute und Pensionen, die sich auf französische Salonbildung spezialisierten, weitere kleine Privatunternehmungen und einige wenige öffentlich-städtische "Höhere Töchterschulen". Es wäre wenig ergiebig, auf einzelne Ausbildungsstätten einzugehen und über den musikunterrichtlichen Anteil zu referieren, zumal sich der Unterrichtsplan regional und aufgrund vieler Faktoren unterschied. Aufschlußreicher sind die ideologischen Vorgaben der Theoretiker, weil sie erkennen lassen, was man den Frauen der einzelnen Stände zuwies, wo also die Grenzen gezogen wurden. Es zeigt sich, daß die Einteilungen nicht zufällig sind, sondern einem bewußten Kalkül entspringen. Ganz unten stehen die "weiblichen Arbeitsklassen". Vom Unterrichtsinhalt heißt es, daß alles, was bloße "Künstelei" betrifft, zu vermeiden ist. Nur das "allgemein Brauchbare" soll gelehrt werden. Bei den Töchterschulen der bürgerlichen Mittelschicht soll das Mädchen nur so viel lernen, daß es die hausfraulichen Pflichten erfüllt. In den Töchterschulen für die gebildeten Stände wird die Ausbildung zwar verstärkt, aber zugleich eingegrenzt. Ein "zu starker Hang zum Lesen" wird bei jungen Frauen als gefährlich eingestuft. Die musikalische Ausbildung durfte keinesfalls zum Virtuosentum führen. Der Grund ist offensichtlich: zum einen wollte man sich durch die Pflege kultureller Fähigkeiten von den unteren Schichten absetzen, zum anderen sollte die Tochter eine standesgemäße Partie eingehen. Kultur artete in oberflächliche Salonbildung aus. Die "künstlerische" Betätigung der bürgerlichen Frau offenbart sich somit als dubiose Angelegenheit. Einerseits sollte Prestige vorgegaukelt und der Wert des Mädchens hinsichtlich seiner Heirat gesteigert werden; andererseits war diese Halbbildung ohne jeglichen erzieherischen und künstlerischen Wert.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß es für die Arbeitertöchter keine Möglichkeit gab, sich musikalisch zu bilden (das, was sie in der Schule lernten, reichte gerade, um im Gottesdienst mitsingen zu können). Bei den Bürgertöchtern gehörten Singen und Klavierspielen durchaus zur Erziehung, doch durften diese Fähigkeiten den Hausgebrauch nicht überschreiten. Indem die reale Kunsterfahrung verhindert wurde, konnten die Frauen die Chance, die sich auferund eines Muße-Freiraums ergab, nicht nutzen (ZINNECKER spricht zu Recht vom "ambivalenten Charakter der weiblichen Privilegien") (ZINNECKER 1973).

1. Ausbildung und Berufsbild der Sängerin

Die Primadonna war schon zur Zeit, als Musik den aristokratischen Bedürfnissen diente, neben dem Kastraten eine gefragte Erscheinung. Die Gesangsvirtuosinnen stammten meist aus Italien, wo Frauen einer langen Tradition entsprechend ausgebildet wurden. Der neu einsetzende allgemeine Zugang zum Konzert- und Opernsaal sowie das Aufkommen des herumreisenden Virtuosen ließ das Bedürfnis nach Ausbildungsstätten für Sängerinnen aufkommen. JOHANN ADAM HILLER (1728-1804) war einer der ersten Deutschen, die eine systematische Ausbildung für Sängerinnen anstrebten. Er gründete 1771 in Leipzig eine Gesangschule.
Der bereits erwähnte Interessengegensatz zwischen dem Bedürfnis des Bürgertums nach Berufssängerinnnen und dem Wunsch, die Frau auf Familien- und Haushaltspflichten zu beschränken, spiegelt sich in den Ausbildungsanstalten wider. Eine berufliche Ausbildung war an den Mädchenabtellungen von Konservatorlen und Musikschulen möglich, während die höheren Töchterschulen und Pensionate nur soviel Klavierspiel und Gesang unterrichteten, wie für den Hausgebrauch nötig war. Eine Aufstellung des Wiener Konservatoriums aus den Jahren 1817-1870 gibt einen Einblick in die geschlechtsspezifische Aufschlüsselung:

Studenten Gesang Klavier Violine Violoncello Kontrabaß Bläser
167 männl. 10 10 54 20 3 53
102 weibl. 94 8 - - - -
(17 ohne Angabe)            

Dort, wo Orchesterinstrumente mit dem Berufsziel Orchestermusiker studiert werden, waren Frauen nicht gefragt. Der Überhang im Gesangsbereich kann nur bedeuten, daß ein großer Teil zum Selbstzweck studierte.
Der Sängerinnenberuf bot zwar der Frau erstmalig die Chance, als Musikerin ökonomisch unabhängig vom Mann zu leben. Aber der degoutante Anstrich, der die Sängerin mit der Schauspielerin verband, war psychisch belastend, Zwar standen Schauspieler und Musiker beiderlei Geschlechts außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Doch waren die weiblichen Theaterangehörigen stärker als ihre männlichen Partner verachtet: man stellte sie auf eine Stufe mit Straßendirnen. Der Anstrich der Prostitution verfolgte die Sängerin bis ins 20. Jahrhundert. EDUARD FUCHS sieht einen der Gründe hierfür in der Kalkulation des Theaterleiters, der die Künstlerin um so geringer entlohnen konnte, je mehr Freier sie bekam (vgl. FUCHS 1907).
In den Verträgen spiegelte sich die Forderung nach körperlicher Verfügbarkeit wider. In vielen Bühnenkontrakten wurde ein Heiratsverbot festgelegt: dies muß als schwerer Eingriff in die weibliche Psyche bezeichnet werden. Der berüchtigte Kostümparagraph besagte, daß Frauen für ihre Bühnenkleidung selbst aufzukommen hatten. Da die Kosten häufig die Monatsgage verschlangen, galt das Kostüm zusätzlich dazu, männliche Kunden anzulocken, die hinter der Bühne für sexuelle Dienstleistungen bezahlten. Gerade weil die Frau über ihren Körper definiert wurde, mußte dieser Leib entsprechend attraktiv ausstaffiert werden, was hohe Kosten verursachte.

"Der Künstler zieht seinen Frack an und ist fertig, die Künstlerin muß immer wieder neue Toiletten haben, die viel mehr Geld kosten und sich viel schneller abnutzen" (KREBS 1895, 196).

Um als Konsumware attraktiv zu bleiben, mußte der Körper vor unkontrollierten Übergriffen geschützt werden, so daß Künstlerinnen nur in Begleitung einer anderen Frau reisten. Es verwundert nicht, daß die Frau nach beendeter Karriere moralisch als "erledigt" galt, während der männliche Künstler sich ohne weiteres anderen Berufsfeldern zuwenden konnte (vgl. DORN 1872, 86).

2. Die Instrumentalistin

Beim derzeitigen Forschungsstand ist nicht eindeutig auszumachen, wann Mädchenabteilungen an Konservatorien bzw. Privatmusikschulen gegründet wurden. In den vorliegenden Studien über die Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland erfährt man nur weniges über geschlechtsspezifische Unterteilungen, weil man bislang die Rekonstruktion solcher Tatbestände für irrelevant hielt. So viel läßt sich aber feststellen: Hatten Ausbildungsstätten lediglich die Berufsperspektive im Auge, wurden Frauen so gut wie nie erwähnt. Ein Beispiel: In den Statuten der Hallenser Musikschule von 1833 wird implizit deutlich, daß Frauen nicht erwünscht sind:

"Jünglingen, welche mit entschiedenen-i Talent für die Tonkunst sich als Künstler vom Fach bekennen wollen, soll diese Anstalt in der theoretischen und praktischen Musik einen vollständigen Unterricht gewähren."

Will man ausschließlich Frauen ansprechen, dann hat die betreffende Ausbildungsstätte den Charakter einer Privatanstalt. Es wäre aber vereinfacht, würde man Mädchen nur den privaten Bildungsstätten zuordnen. Schon wegen des Bedarfs an Berufssängerinnen kam es zu Überlappungen. Aber auch die Pianistinnenlaufbahn begann sich mit dem Aufschwung des Konzertbetriebs abzuzeichnen, so daß es zum Überschreiten dilettierender Grenzen kommen konnte. Es gab sogar Institutsgründer bzw. -planer (z. B. HORSTIG), die Mädchen und auch die unteren Schichten aus humanen Gründen einbezogen. Im ganzen wird aber doch offenbar, daß es der Bedarf an männlichen Berufsmusikern war, der die Entwicklung beeinflußte und vorantrieb. Keinesfalls darf man durch die zahlenmäßige Überlegenheit weiblich Studierender zu falschen Interpretationen kommen. Wenn 1894 geschrieben wurde, daß die rund 230 Konservatorien und Musikschulen Deutschlands jährlich 1000 junge Damen ausbildeten und daß die Frauen in der Überzahl waren, ist das unter dem Aspekt der verkürzten Ausbildung und der verengten inhaltlichen Ausrichtung in den Studiengängen für Mädchen/Frauen zu verstehen.
Die Instrumentenwahl ist kein neutrales oder von Zufällen geprägtes Feld, sondern von Normen und Traditionen abhängig. Frauen und Mädchen wurden in erster Linie nur Instrumente gestattet, die im Salon zur geselligen Unterhaltung dienten. Deshalb setzte sich neben dem Klavier vor allem die Harfe als Fraueninstrument durch. Sie galt wegen ihres zarten ätherischen Tons und ihrer "spielseligen Anmut" als weiblich. Auch Laute, Zither und die modische Glasharmonika bekamen den weiblich-ätherischen Stempel aufgedrückt. Damit wurde der Frau zugleich verwehrt, sich mit dem männlichen Kollegen zu messen, denn man konkurriert nicht mit einer "anmutigen Blume".
Innerhalb des Musiklebens gilt es zwischen der Solistenlatifbahn und dem Beruf der Orchestermusikerin zu unterscheiden. Die Ausbildung zur Orchestermusikerin erfolgte in der Regel an einem Konservatorium. Diese ließen Frauen im Lauf des 19. Jahrhunderts in den Fächern Gesang und Klavier zu. Auch Streicherinnen wurden allmählich toleriert. Um die Jah.rhundertwende war die Situation im orchestralen Sektor desolat: "In den jetzigen Orchestern sind Geigerinnen und Violoncellistinnen noch nicht zu finden, nur die Harfenistin hat sich dort einiges Heimatrecht erworben. Große Konzertorchester beschäftigen bereits Damen an der Harfe." (KREBS 1895) Hieran hat sich bis heute wenig verändert. Zwar sind Frauen an den Streicherpulten zu finden üe mehr Frauen, desto prestigeärmer das Orchester), die Blechbläser und Kontrabässe sind jedoch nach wie vor tabuisiert. Zu Beginn dieses Jahrhunderts fanden Musikerinnen einen Ausweg darin, entweder ein Frauenorchester zu bilden (das als exotische Variante galt und kaum ernst genommen wurde) oder aber sich dem Unterhaltungsbereich zuzuwenden.
Der Bereich des Virtuosentums gehörte zu den Ausnahmeberufen; hier gelang es einzelnen Frauen, sich einen Weg zu bahnen. Meist bekam die Solo-Instrumentalistin den letzten Schliff bei einem berühmten Lehrer, der gegen entsprechende Honorierung auch Frauen annahm.

3. Die Privatmusiklehrerin

Als es Ende des 18. Jahrhunderts Mode wurde, höhere Töchter mit Kenntnissen dilettierender Art in Gesang und Instrumentalspiel (meist Klavier) auszustatten, fanden sich Frauen sofort bereit, eine solche Unterrichtstätigkeit zu ü'bernehmen. Die Arbeit war insofern prestigearm, als diese Gouvernanten meist dem Dienstpersonal gleichgestellt waren. Daß es bis ins 20. Jahrhundert hinein keine einheitliche Prüfungsordnung für Privatmusiklehrer gab, erschwerte die berufliche Ausübung. Da aber die Berufsmöglichkeiten der bürgerlichen Frau gering waren (zu Beginn des 19. Jahrhunderts standen Frauen lediglich die Berufe der Erzieherin, Kinder- und Krankenwärterin, Lehrerin und Haushälterin offen), strömten Frauen in diese Sparte, zumal sie häufig in ihrer eigenen Kindheit Grundkenntnisse erworben hatten, die sie sich weiterzuvermitteln in der Lage fühlten.

"Es ließe sich ein langes, trauriges Lied vom Elend der Musiklehrerin singen ... Denn leider ist der Musikunterricht vollständig vogelfrei... das Proletariat ist deshalb hier so groß, wie in keinem anderen Stande" heißt es 1895 (KREBS 1895).

Um 1900 gab es in Berlin auf 504 männliche bereits 244 weibliche Privatlehrer für Musik (SOWA 1973, 247).

4. Komponistin und Dirigentin

Auf engem Raum lassen sich die beruflichen und psychischen Schwierigkeiten der Komponistin und Dirigentin kaum erfassen. Trotzdem sollen sie kurz Erwähnung finden, weil sich an diesen Berufen exemplarisch aufzeigen läßt, wie die Ausprägung künstlerischer Produktivität ursächlich mit den Chancen zur beruflichen Ausübung zusammenhängt. Die Fähizkeit zur künstlerisch-kreativen Produktion ist nicht, wie uns eine Genieästhetik über ein Jahrhundert lang hat weismachen wollen, das zufällige Naturprodukt eines übermäßig begabten (männlichen) Individuums, sondern ein Privileg, das von den Nutznießern verteidigt wird. Jede Frau, die sich anmaßte, in diese Domäne einzudringen, wurde verhöhnt, ignoriert oder lächerlich gemacht, so daß Komponistinnen schließlich selbst an ihre Unterlegenheit glaubten (CLARA SCHUMANN 1839 an ihren Mann ROBERT: "Ich habe sonderbare Furcht, dir etwas von meiner Komposition zu zeigen, ich schäme mich immer.")
Die institutionellen Barrieren bildeten ein entscheidendes Hindernis. SABINE LEPSIUS (1864-1942) kann als Beispiel für die Verkümmerung von Begabung bei fehlender Förderung gelten. Sie wurde zwar zum Violinstuditim, nicht aber. zur Kompositionsklasse an der Berliner Musikhochsch'Ule zugelassen. Daraufhin entschloß sie sich, Malerin zu werden. Erst in diesem Jahrhundert ließen die deutschen Hochschulen Frauen zum Fach Komposition zu. Daß neben den äußeren Hemmnissen auch seelische Belastungen das kreative Schaffen behinderten, bedarf kaum der gesonderten Erwähnung. Schließlich wird auch die Tatsache, daß die Ideologie der polarisierten Geschlechtscharaktere musikalisch in der Sonatenform umgesetzt wird (bemerkenswerterweise erreichte die Sonatenform zwischen 1790 und 1850 ihren höchsten Entwicklungsstand), für komponierende Frauen nicht ohne Bedeutung geblieben sein.
Auch der Beruf der Dirigentin ist ideologisch belastet, noch heute sind 98% der Dirigenten in der BRD Männer. Die Verklärung des Dirigierberufes ist ein Ausfluß des Genlekults. Gekoppelt mit der Autonomleästhetik des 19. Jahrhunderts, verlieh er der Musik die Aura des EinmaligGöttlichen. Die Diskreditierung der Dirigentin veranlaßte die Instutionen dazu, Frauen eine entsprechende Ausbildung zu verwehren. Zu Beginn dieses Jahrhunderts meldeten sich einige Kandidatinnen in der Leipziger Dirigentenschule ARTHUR NIKISCHS (1855-1922). Er verweigerte ihnen die Aufnahme:

"Bei dem heutigen Stand der Dinge haben die Frauen, selbst wenn sie hervorragend begabt sind, keine Aussicht, praktisch zur Ausübung des Dirigentenberufes zu gelangen. Ihre Ausbildung würde ihnen also nur ein platonisches Vergnügen bereiten" (HEINRICH CHEVALLEY: Arthur Nikisch, Berlin 1922, 45).

Immerhin traten ab Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten dirigierenden Frauen auf, die entsprechendes Aufsehen erregten. Noch heute sind Frauen jedoch eine aufsehenerregende Minderheit im Dirigierberuf geblieben.
Die vorangegangenen Ausführungen vermögen nur einen kurzen Blick in die unterschiedliche Situation der Berufsmusikerin von 1790 - 1920 zu vermitteln. Das komparative Verfahren muß differenziert werden, strebt man bei übergreifenden Fragestellungen interdisziplinär schlüssige Ergebnisse an. Im kreativen Sektor der Musik, also dem des Komponierens, bieten sich beispielsweise Vergleiche zur Kunst und Literatur an.
Wenn 1905 behauptet wird, "Der bunte Stein wird besser das Leben der Instinkte, die Seele eines Weibes ... ausdrücken als irgendein anderes Material, als Bronze oder weißer Marmor" (RUDOLF KASSNER: Die Moral der Musik, München 1905,193) und auch danach gehandelt wurde (Frauen durften zunächst in der Malerei Fuß fassen, die Bildhauerei war am stärksten tabuisiert), so sind Parallelen zur Musikpraxis vorhanden, die den Frauen zunächst das Charakterstück und allenfalls kammermusikalische Nischen zugestand, bei Bereichen komplexer Kunstwerke jedoch Frauen ausklammerte. Der kunstgewerbliche Sektor, mit dem sich kein Machtanspruch verquicken ließ, war in der bildenden Kunst wie in der Musik (seichte Salonmusik zum Alltagsgebrauch) ein offenes Feld für Frauen. Schematisch ließen sich übergreifende Tatbestände etwa wie folgt fixieren:

Frauen
zugelassen
Kunst
Kunstgewerbe
Literatur
Gedichte
Kurzgeschichte
Musik
Charakterstück
Lied
bedingt
zugelassen
Malerei Novellen
Romane
Kammermusik
tabuisiert Bildhauerei Drama Messe, Sinfonie, Oper
       
       

In der Identifizierung der absoluten Musik (hohe Musik des 19. Jahrhunderts ohne Text) mit dem Unsinnlich-Ideellen und Geistigen steckt eine negative Polarisierung zum SinnlichMateriell-Körperlich-Unreinen und damit zur Frau, der diese Eigenschaften angeheftet wurden. Die Frauenforschung wird sich in ihrer weiteren Arbeit neben der Erkundung institutioneller Benachteiligungen verstärkt dem Bereich der unsichtbaren, aber nichtsdestoweniger einflußstarken ideologischen Barrieren zuwenden müssen, will sie das Ausmaß von Verhinderungen für Frauen angemessen umfassen.

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