Selbstbewußte Geschichten

Biographien deutscher Frauen im 19. Jahrhundert

1868 und 1869 erschienen zwei Bände biographischer Studien über Personen, deren Rolle in der Geschichte aufsehenerregend bis gänzlich unauffällig war. [1] Ein derartiges Publikationsereignis konnte kaum als einzigartig empfunden oder gar einer besonderen Aufmerksamkeit wert sein, zu einer Zeit, als sich die Biographie als eine Form persönlicher Geschichte verbreitet hatte, leicht zu lesen war, und sich als ungeheuer anpassungsfähig an eine Menge von Formen erwies: von Nekrologen aller Art bis zu Abrissen noch lebender Personen. Daß es sich hier um Band zwei und vier einer Reihe mit dem Titel Privatgeschichten der Weltgeschichte handelte, würde auch kein besonderes Interesse hervorgerufen haben, denn seit den 1860ern war die frühere Brockhaus-Definition von Biographie im Conversations-Lexikon, nach der Biographien in erster Linie Beschreibungen von Personen sind, die sich "durch ihren Rang" auszeichnen, nicht mehr gültig: [2] unbedeutende Personen hatten bereits die Aufmerksamkeit einer Leserschaft gewonnen, die sich zumindest gelegentlich mit den Darstellungen unwichtigerer Figuren abgab. Von Bedeutung waren die Gegenstände der Bände: die Biographin, LOUISE OTTO, die diese Abrisse schrieb, richtete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf Frauen. Darüber hinaus sind ihre Gegenstände - von einigen Ausnahmen abgesehen - nicht Mitglieder königlicher Familien, sondern das genaue Gegenteil: die vergessenen Frauen einer finsteren Vergangenheit, deren Anonymität sie abhelfen wollte.
Bevor LOUISE OTT0s Bände erschienen, waren Frauen biographischer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Die Brockhausdefinitionen von Biographie sind während des 19. Jahrhunderts gewöhnlich sehr sorgfältig bei der Wahl neutraler Wörter, um die Gegenstände derartiger Werke zu beschreiben: man bezeichnet sie als "Person" (1814), "Individuum" (1851) oder "Mensch" (1851), und der umfangreichste Eintrag des Jahrhunderts, nämlich dejenige von 1851, führt sowohl CARL SCHINDELS Die deutschen Schriftstellerinnen (1823 - 25) als auch ABRAHAM VOSS Deutschlands Dichterinnen (1847) in seiner Bibliographie auf. [3]
Jedoch ähnelte der Ton früherer Biographien demjenigen von AUGUST WICHMANNs Geschichte berühmter Frauenzimmer, einer dreibändigen Anthologie, die in den 1770-ern Lebensgeschichten von Frauen zusammenstellte. Nach einer Reihe nicht gerade schmeichelhafter Bemerkungen über Frauen im Vorwort (WICHMANN gibt zu, daß z. B. Frauen tatsächlich eine unangemessene Schulausbildung erfahren, behauptet aber auch, daß das Frauengehirn kleiner ist und daher nicht das aufnehmen kann, was einem männlichen Gehirn möglich ist) beginnt der Autor in alphabetischer Reihenfolge mit der Beschreibung von Frauen aus aller Welt. Viele von ihnen, die er für erwähnenswert hält, führt er nur mit dem Vornamen auf. Ein Beispiel dafür ist folgender ungekürzte Eintrag:

ALEXANDRA. Die Tochter des ARISTIBULUS, und Gemahlin PHILIPPIONS, Sohnes des PTOLEMÄUS MENNEUS, Königs von Chalcis, einer am Berge Libanon gelegenen Provinz. Sie war von so außerordentlicher Schönheit, daß ihr Schwiegervater eine strafbare Liebe gegen sie faßte, der auch, diese Leidenschaft zu vergnügen, seinen Sohn ermorden ließ, und sie heiratete. [4]

Wie viele andere schien WICHMANN deshalb Frauen biographisch interessant zu finden, weil sie königlicher Abstammung waren oder äußere Schönheit besaßen, nicht aber, weil ihnen ein eigenständiger Zweck zukommt. Gerade diese überall herrschende Ansicht war es, gegen die LOUISE OTTO im Vorwort der zwei Bände wetterte, die sie in den 1860-ern veröffentlichte. Der erste davon hieß MerkwÜrdige und geheimnisvolle Frauen und enthielt biographische Berichte über zwölf Frauen, die sie als Hexen darstellte.

Zwar betonte sie, daß ihr Interesse an diesen Frauen "mehr privater Natur (sei), aber darum nicht minder wertig..., das Gemälde einer jeden Zeit zu vervollständigen" (1), aber sie sah die Bezeichnung Hexe auch auf eine veränderte Weise: sie gab zu, daß man ihre Objekte als Hexen bezeichnete, aber "indem die Zeitgenossen dieses Wort über sie aussprachen, waren sie am Schnellsten fertig mit Allem, was nur irgend an einem weiblichen Wesen ungewöhnlich oder auffallend sein konnte ..." (3)

Das Vorwort zu dem 1869 erschienenen Band Einflußreiche Frauen aus dem Volke ist noch unerbittlicher. Nachdem sie erneut feststellt, daß die weiblichen Gestalten der meisten Biographen nur durch königliche Geburt oder durch "den Zufall der Fürstengunst" (3) Aufmerksamkeit verdienten, beschreibt sie ihren Gegenstand als Frauen, die weder durch Blut noch durch Gunst Ruhm zu gewinnen nötig hätten:

... daß es trotz aller Ungunst der Verhältnisse, die immer und überall das weibliche Geschlecht von den öffentlichen Angelegenheiten und Bestrebungen ausschließen, doch (diesen) Frauen nach ihren Anlagen und Fähigkeiten möglich ist, sich mit an der Arbeit ihrer Zeit zu beteiligen (3).

Sie schließt mit einer hitzigen Polemik, in der sie sowohl ihre Gegenstandswahl aus auch deren Behandlung rechtfertigt:

... aber es lag uns daran aus allen Jahrhunderten eine Frauengestalt vorzuführen, die von Einfluß war auf die Zeit, in der sie lebte und dieselbe darzustellen im lebendigen Zusammenhange mit dieser Zeit, um dadurch zu zeigen" daß die Frau dazu befähigt sei und entweder in der Befolgung eines dunklen Dranges oder in selbstbewußter Erkenntnis auch die Macht und das Recht - trotzdem es ihr noch so oft bestritten wird - habe, handelnd mit einzugreifen in den Gang der allgemeinen Entwicklung. Und es lag uns doppelt daran auch mit unsrer weiblichen Hand und Auffassung diese Lebensbilder zu entwerfen, weil die Männer gerade die Frauen am wenigsten richtig beurtheilen und ihnen mindestens nicht nachempfinden können, die von der Sehnsucht geleitet wurden aus dem beschränkten Familienkreis heraus zu treten, in den man mit Gewalt sie bannen wollte. Daß diese Sehnsucht in unzähligen Frauenherzen lebt, und zwar als eine vollständige berechtigte menschliche lebt, wollen und können so viele Männer, die sich selbst noch von alten Vorurthellen beherrschen lassen, nicht zugeben und begreifen, ja, es ist den meisten von ihnen auch nicht einmal zuzumuthen, daß sie sich in die Lage eines Wesens versetzen können, welches in sich den heiligen Drang nach Wissen und Wirken fühlt und doch nirgend Gelegenheit findet denselben zu bethätigen - und daher kommt es denn, daß sie den Frauen für ihre Handlungen ganz andere Motive unterschieben als diejenigen sind, welche sie wirklich haben. Einmal ganz von der Annahme beherrscht, daß die Frauen nur eine Naturaufgabe hätten, eine Culturaufgabe aber ihnen nur mittelbar zu theil geworden, durch die Macht ihres Einflusses auf den Mann, schieben dann jene Männer als flistoriker selbst den Frauen, welche auf irgend einem Gebiet, sei es auf dem des Wissens oder der That etwas Außerordentliches leisteten auch meist ganz falsche Motive unter (10-11).

Von Bedeutung ist hier nicht nur, daß LOUISE OTTO die Wichtigkeit betont, die das Berichten weiblicher Lebensläufe hat, sondern auch, daß Frauen diese Berichte abfassen. Sie stellt einen deutlichen Unterschied in der Haltung männlicher und weiblicher Biographen zu ihren Frauengestalten fest. Als Nachklang der im 19. Jahrhundert dem Mittelstand sowie den frühen deutschen Feininistinnen eigenen Betonung von Bildung gibt es zumindest einen Hinweis darauf, daß eine kenntnisreichere Interpretation weiblicher Lebensläufe durch Frauen die weiblichen Leser dieser Biographien befähigen würde, von dem neuerrungenen Wissen ihrer eigenen Herkunft Nutzen zu ziehen. Definieren wir Biographien als eine Art populärer Geschichtsschreibung, die naturgemäß anekdotenhafter und daher gewöhnlich lesbarer und zugänglicher sind als die nüchterne Sammlung von Fakten und Zahlen der herkömmlichen Geschichtsschreibung, dann können wir annehmen, daß die Frauen des 19. Jahrhunderts, die von der Bildung, die die übliche traditionelle Geschichte lehrte, ausgeschlossen waren, begierige Leserinnen von Biographien gewesen sein können. Venn wir weiter annehmen können, daß ihre Geschichtsvorstellung durch biographische Berichte geformt worden sein kann, dann scheint es folgerichtig anzunehmen, daß die zunehmende Betonung der Leberisberichte von Frauen, wie sie von LOUISE OTTO und anderen vorgelegt wurden, möglicherweise sehr wichtig für die veränderte Einstellung der weiblichen Leser zur Geschichte und der Rolle der Frauen in ihr ist.
Um diese These näher zu untersuchea, würde man von nicht verfügbaren Statistiken äußerst profitieren köiiaen: und zwar von einer Art von Umfragen, wie sie heutzutage zur 3estimmung der Leserreaktion auf bestimmte Textsorten eingesetzt weiden. Da allerdings derartige Angaben nicht existieren, konzentriert sich ein anderer methodischer Zugang weniger auf die Rezeption als auf die Texte selbst, die mit immer größerer Häufigkeit im 19. Jahrhundert erschienen. Darunter finden sich Berichte, die JEAN STROUSE als "semiprivate lives" bezeichnet, denn Frauen als biographische Objekte wurden deshalb oft unsterblich gemacht, weil sie berühmte Ehemäiiaer, Väter oder Brüder hatten, oder, wie im Fall der im letzten Jahrhundert häufig behandelten RAHEL LEVIN VARNHAGEN VON ENSE, Weil sie mit Männern verheiratet waren, die zugleich Biographen waren. [5] Daß Frauen auch den Gegenstand männlicher Biographen abgaben, kann uns dazu verhelfen, die unterschiedlichen Perspektiven jedes Autors zu klären, und zwar weniger hinsichtlich der Quellen, die oft die gleichen waren, sondern hinsichtlich der Haltung gegenüber dem Gegenstand sowie der Auswahl von verfügbarem Material. Die folgende Diskussion wird in der Annahme fortgesetzt, die bereits vorgetragen wurde: daß nämlich Biographien als eine Form volkstümlicher Geschichtsschreibung oft von Frauen gelesen wurden, die aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Geschichtsverständnis auf der Grundlage solcher biographischer Darstellungen formten. Im Laufe des Jahrhunderts wurde die literarische Bildung der Frauen, wenn nicht ihr Zugang zu höherer Bildung überhaupt, zu einer zunehmend anerkannten Tatsache. LOUISE OTTOs Wirkung auf die weibliche Leserschaft scheint genau auf dieser Annahme zu beruhen, ebenso wie auf ihrer Behauptung, daß sie als weibliche Autorin durch die Beschreibung weiblicher Lebensläufe einen Begriff historischen Wertes in ihren Leserinnen schaffen könnte, der diese genauer und sinnvoller aufklären würde, als das männliche Autoren könnten oder wollten. Da sie weibliche Biographen drängt, über Frauen zu schreiben, ist es wichtig, erkennbare Unterschiede zwischen ihren Vorstellungen weiblicher Lebensläufe und der Haltung männlicher Biographen gegenüber demselben Gegenstand, festzustellen. Verschiedene Gegenstandsbereiche fallen dabei sofort ins Auge:

  1. Gegenstand: Wer wird ausgewählt? Welche Änderungen sind bei der Wahl der weiblichen Biographen im Gegensatz zu den männlichen offenkundig? Wie ist das Verhältnis zwischen zeitgenössischen Gestalten und solchen der Vergangenheit? Welche sozialen Schichten werden am meisten beschrieben?
  2. Methodischer Zugang: Auf welche Lebensbereiche konzentriert man sich?. Was für Leitmotive gibt es, falls welche vorhanden sind? Wird die Geschichte einfach, von der Geburt bis zum Tod, erzählt oder werden Höhepunkte hervorgehoben? Wie wird Geschichte wahrgenommen, und welche geschichtlichen Elemente sind dem Biographen bedeutsam?
  3. Standpunkt des Biographen: Wie häufig und auf welche Weise schaltet sich der/die Biograph/in in seine/ihre Erzählung ein? Welche Arten von Kommentar werden gemacht? Läßt sich ein derartiges Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Biographen und Gegenstand ausmachen, wie LOUISE OTTO es nur in dem Fall sieht, wenn Frauen über Frauen schreiben? Gibt es auch einen Dialog mit dem Leser? Wieviel läßt sich vom Biographen ausmachen? Welche Werte betont der Biograph: Gibt es z. B. die Betonung von Bildung, die man auch in anderen Schriften des 19. Jahrhunderts findet?
  4. Wahl des Quellenmaterials: Sind die Quellen der Frauen andere als die der Männer? Wie werden die Quellen benutzt? Wie wichtig sind die Äußerungen der behandelten Person: werden sie direkt oder indirekt zitiert? Werden andere Personen zitiert, männliche oder weibliche? Werden unpersönlichere Quellen wie Zeitungen oder Zeitschriften herangezogen? Wenn ja, beseitigt das jegliches Gefühl der Vertraulichkeit, die in einem Bericht vorhanden ist, der vollkommen von subjektiven Erinnerungen oder persönlichen Quellen wie Tagebüchern oder Briefen abhängt?

Vollständige Antworten kann ein Aufsatz nicht geben. Es folgt eine Besprechung ausgewählter Texte, die zur Beantwortung einiger der oben angeführten Fragen führen kann. Die zunehmende Zahl der Biographien von Frauen und über Frauen im letzten Jahrhundert ist nur eine Seite des Sachverhalts; ebenso muß untersucht werden, ob sich diese Texte nennenswert von denjenigen männlicher Blographen über weibliche Gestalten unterscheiden. Die Kenntnis dieser Texte als Quellen dafür, wie Frauen sich selbst, ihre Ursprünge und ihr Rollenverhalten sahen, kann unsere Auffassung von den deutschen Frauen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Gründung der ersten für die Frauenrechte eintretenden nationalen Organisationen erlebten, erweitern und vertiefen. [6] Wenn diese neuen Biographien einen Eindruck auf sie machten, dann dürften die darin betonten Standpunkte und Wertmaßstäbe eine Rolle bei der den deutschen Feminismus formenden Weltanschauung gespielt haben.
Oben wurde erwähnt, daß RAHEL LEVIN VARNHAGEN ein beliebtes Objekt für die Biographen des 19. Jahrhunderts war. Bereits in ihrem Todesjahr, 1833, wurde sie in zahlreichen Porträts dargestellt, zuerst durch ihren Ehemann, dessen RAHEL: Ein Buch des Andenkens an ihre Freunde im Frühjahr desselben Jahres in erster Fassung erschien. [7] Der langatmige biographische Abriß, der diese Sammlung von Tagebuch-und Briefauszügen einleitet, konzentriert sich verständlicherweise auf die Einzelheiten ihres Todes, spätere Porträts, die mehr oder weniger von den durch VARNHAGEN ausgewählten und veröffentlichten Briefen abhingen, gewannen zunehmend an Perspektivenreichtum und verschafften einen umfassenderen Einblick in ihr Leben. Mitte der 1850er Jahre erschienen zwei neue Biographien, die eine von einem Autor, die andere von einer Autorin, und zwar zu einer Zeit, in der man eher ein nachlassendes Interesse für eine Frau erwartet hätte, deren Ruhm auf wenig mehr als ihren postum veröffentlichten Briefen beruhte; auf diese Weise läßt sich ein fruchtbringender Vergleich der Texte vornehmen, denen - vom Geschlecht ihrer Autoren abgesehen - der Gegenstand, die Quellen sowie das Zeitverständnis gemeinsam waren. CLAIRE VON GLÜMERs "Rahel", ein Abriß aus Band sechs ihrer Reihe Bibliothek für die deutsche Frauenwelt, wandte sich offen an ein Frauenpublikum und wurde 1856 veröffentlicht, im darauffolgenden Jahr brachte EDUARD SCHMIDT-WEISSENFELS Rahel und ihre Zeit heraus. [8] GLÜMER beginnt mit den Worten "Eine Frau" und SCHMIDTWEISSENFELS mit "Der Gemahl", gleich von Anfang an ist also offenkundig, wo der Schwerpunkt liegen soll; sogar der Titel der beiden Studien gewährt einen Hinweis auf die Absichten ihrer Autoren. Beide Biographen verwenden RAHEL bis zu einem bestimmten Grad als ein die Epoche kennzeichnendes Musterbeispiel. Während sich SCHMIDTWEISSENFELS jedoch auf den letzten Teil seines Titels konzentriert und seinen Gegenstand dazu benutzt, seine Ansichten über die dominierenden männlichen Gestalten seiner Zeit zu verbreiten sowie seine Vorstellungen und Verallgemeinerungen über ein gesamtes Zeitalter vorzulegen, faßt GLÜMER RAHEL selbst als Symbol ihres Geschlechts und ihrer Zeit ins Auge, als die passive, oft sinnlos wartende, kranke Frau, die sich, wie angedeutet wird, äußerst unwohl bei ihrer Tatenlosigkeit fühlte. Als Interpret ist der Biograph in beiden Fällen erkennbar, doch sind die sich ergebenden Porträts von enormer Gegensätzlichkeit. Man vergleiche nur die zusammenfassenden Passagen jeden Autors - beispielsweise GLÜMERS Würdigung gegen Ende ihres Abrisses:

Hierin ist die Summe ihres Lebens gegeben: das Erkennen der Unzweckmäßigkeit und Unzulänglichkeit unserer socialen Zustände; die schmerzliche Sehnsucht nach Verbesserung; das unruhvolle Suchen nach einer Thätigkeit, die uns über persönliche Leiden zu erheben vermag - das Alles hat sie mit dem Leben des Ganzen gemein und das Alles spricht sie in ihren Briefen aus (101-2).

Als Kontrast dazu SCHMIDT-WEISSENFELS, der nach einem gereizten Abschnitt, in dem er sciireibende Frauen kritisiert, erleichtert ist, sich wieder RAHEL, die nur Briefe schrieb, zuwenden zu können:

Sie war Schriftstellerin für sich und, stets ohne Verleugnung der strengsten Weiblichkeit, bewegt und belebt von allen großen Fragen des Geistes und der Speculation. Sie verwertete durch das Wort, durch die Briefe an die größten Geister und Dichter ihrer Zeit, das Talent und den Geist, den ihr die Nattir geschenkt, ohne jemals Misbrauch damit zu treiben, noch durch eine Anwendung auf unweiblichem Terrain die Keuschheit desselben zu verletzen. Vielleicht wäre RAHEL nicht was sie wirklich ist, wenn sie als Dichterin, oder als Philosophin, oder als Diplomatien der Menschheit oder dem Egoismus gefröhnt hätte; sie ist nichts von Alledem, sondern eine Fackel, die viel Schönes entzündete und ihr Licht von tausend kostbaren Funken fortwährend gespeist sah, eine Königin, welche alle Männer von Geist in ihren Bann that, sie ist ein Epos ihrer Zeit (26-27).

Bedeutsam ist bereits die bloße Tatsache, daß diese und andere Biographen sich entschieden, eine Frau darzustellen, die so zurückgezogen lebte wie RAHEL VARNHAGEN; zusammen mit BETTINA VON ARNIM und CHARLOTTE STIEGLITZ scheint sie eine Trias gebildet zu haben, die viele ihrer Zeitgenossen als charakteristisch für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort der deutschen Geschichte gesehen haben. [9] SCHMIDT-WEISSENFELS Motiv zur Idealisierung solch einer Frau, deren Leben so häufig durch Untätigkeit und Abgeschiedenheit gekennzeichnet war, hängt wohl mit seinem Ungenügen an den Frauen seiner Zeit zusammen und seinem Verlangen nach einer Vergangenheit, die den Frauen einen Platz zuwies, den er als behaglich und untätig verstand. GLÜMER dagegen sieht in RAHEL keineswegs die Zufriedenheit eines friedlichen Daseins, sondern eher eine verstörte und zornige Frau, die wegen der sexuellen und sozialen Schranken ihrer Zeit behindert und alles andere als zufrieden mit ihrem Los war. Daß beide Biographen Zugang zu gleichartigem Quelleninaterial hatten, impliziert nicht einen gleichartigen Gebrauch dieses Materials. Gerade hier wird die wichtige Rolle des Biographen erkennbar: nicht nur in den offenkundigen Kommentaren, sondern ebenso durch die überlegte Entscheidung, welches Material ausgewählt werden soll, gibt der Autor eines solchen Werkes eine Stellungnahme ab. In ihrem Bericht über die Auflösung von RAHELs erster Verlobung beispielsweise liefert CLAIRE VON GLÜMER den Brief, der dieses Ereignis ausführlich behandelt, und fügt sowohl den privaten Tagebucheintrag als auch einen weiteren Brief an eine Freundin bei, in dem RAHEL über ihre eigene Verletztlichkeit klagt: auf diese Weise erfaßt der Leser die stolze und starke Wut öffentlicher Anerkennung, die Erschöpfung und Verzweiflung der privaten Gedanken und schließlich die nur Freunden gegenüber mögliche Offenheit (20-23). Auch ist wichtig, was beide Biographen weglassen: während SCHMIDT-WEISSENFELS seine Kräfte der Darstellung eines breiten historischen Rahmens für sein Porträt widmet, zieht GLÜMER nur die Ereignisse heran, die für die Untersuchung des Individuums RAHEL VARNHAGEN unmittelbar von Bedeutung und veranschaulichend sind: daher wird die Juli-Revolution von 1830 nicht erwähnt, obwohl es einige Gespräche über die Choleraepidemie im folgenden Jahr gibt, denn RAHEL reagierte mit Angst und Besorgnis darauf (94). Die Geschichte einer Frau möglicherweise sogar die Geschichte der Frauen - wird deutlich als ausgesprochen verschieden von den herkömmlichen Aufzählungen von Kriegen, Revolutionen und Staatsgeschäften gesehen.
GLÜMER steht mit ihrer RAHEL VARNHAGEN-Deutung nicht allein. Auch LOUISE OTT0s Band von 1869 enthält ein Kapitel über sie, in dem die Biographin/Erzählerin eine aktive Rolle spielt und Sätze wie die folgenden zu finden sind:

Sie ist auch unverantwortlich dafür, daß sie sich nur so subjektiv in ihr eigenes Selbst vertiefte, auf alle und jede Regung ihrer Seele lauschte als habe sie eine besondere Wichtigkeit, auf alle und jede Regung ihrjr Nerven, wodurch sie sich selbst nur noch kränker machte, als sie allerdings ihren Anlagen nach noch schon war - denn ihr fehlte unter der Unthätigkeit und Berufslosigkeit, zu welcher sie ihr Geschlecht verdammt sah ... Hätte sich ihr eine solche (Thätigkeit) früher geboten, würde sie vielleicht weniger krank, sicher aber weniger unbefriedigt und selbstquälerisch gewesen sein, als sie es in einem Leben werden mußte, das ihr keinen bestimmten Wirkungskreis zu bieten hatte (Einflußreiche Frauen, 232).

Vielen Biographien ist die Editionsarbeit eigen, sie macht sogar einen Teil der Faszination dieses Genres aus. Denn auf diese Weise kommt es zu zweifachen Porträts, die so eine vollkommen neue Dimension dem hinzufügen, was man sonst in Autobiographien findet, die sich auf eine einzelne subjektive Perspektive beschränken. Im Fall RAHEL VARNHAGENs stellen die Kommentare der beiden Biographen die in ihren Porträts eingenommene allgemeine Haltung dar: SCHMIDT-WEISSENFELS besänftigende Charakterisierung einer intelligenten und noch dazu gelassenen Frau steht in scharfem Gegensatz zu der unglücklichen Figur, einer Gefangenen der sozialen Schranken ihrer Epoche, wie sie GLÜMER und OTTO auffassen. Es ist ein Anliegen der weiblichen Biographen, schroff gegen die erzwungene Untätigkeit der Frauen zu wirken, bei SCHMIDT-WEISSENFELS dagegen hat man den Eindruck, daß er ein Rollenverhalten, das er als "weiblich" bezeichnet und
dessen Hauptcharakteristikum für ihn Passivität ist, zu untermauern versucht. [10] So darf man hinter folgender Aussage nichts Ironisches sehen: "Ihre Verdienste, ihre Größe und, ja, wir leugnen es nicht, ihr Dasein wurde Tausenden erst bekannt, nachdem sie gestorben war" (21) - eine Gesinnung, die die Frauen offensichtlich zu einem derart zurückgezogenen und isolierten Dasein bestimmt, daß es nur an die Öffentlichkeit kommt, wenn es aufgehört hat zu bestehen.
Eine weit jüngere Biographie, das Porträt LOUISE OTT0s, das 1898, drei Jahre nach ihrem Tod, erschien, bietet eine deutliche, wenn auch problematischere Gelegenheit, die verschiedenen Methoden weiblicher und männlicher Biographen zu vergleichen: bei dieser Biographie handelt es sich um LOUISE OTTO-PETERS, die Dichterin und Vorkämpferin für Frauenrecht, die HUGO RÖSCH und AUGUSTE SCHMIDT gemeinsam verfaßten, zwei eng zusammenarbeitende Autoren, die die von ihnen geschriebenen Kapitel auch jeweils mit ihrem Namen unterzeichneten. [11] Nach einer ersten oberflächlichen Betrachtung scheinen die Unterschiede klar hervorzustechen und aufgrund des Beispiels von GLÜMER/SCHMIDT-WEISSENFELS wäre dies auch zu erwarten: während RÖSCH dazu tendiert, seinen Gegenstand zu idealisieren und dabei oft wichtige Züge aus OTT0s Leben und ihrer Person übergeht, bleibt Schmidt sehr viel genauer und sachbezogener und bezeichnet häufig LOUISE OTT0s Geschlecht als den bestimmenden Faktor für die Entwicklung ihres Lebensweges. RÖSCH scheint viel zu schnell seine Behauptungen aufzustellen: in völlig unkritischer Weise sieht er den Grund, daß LOUISE OTTO und ihre Schwestern nach dem Tod ihrer Eltern wenig Zeit miteinander verbringen konnten, darin, daß sich die Schwestern vorbereiten mußten, "den Beruf des Weibes" (20) zu erfüllen - ein Beispiel einer spezifisch beschränkenden Haltung. Als junger Dichterin war es LOUISE OTTO nicht erlaubt, am sächsichen Sängerfest teilzunehmen, sondern sie mußte stattdessen ihr Begrüßungsgedicht in einer Meißener Lokalzeitung veröffentlichen; RÖSCH berichtet diesen Vorfall, aber er kommentiert ihn wiederum nicht. Genauso vage und unbedacht ist seine Behauptung, daß sich LOUISE OTTO mit zunehmendem Alter vollkommen aus dem öffentlichen Leben zurückzog:"... und (hat) sich die letzten Jahrzehnte lediglich der Frauenbewegung und dem allgemeinen deutschen Frauenverein gewidmet" (38): Otto selbst hätte eine derartige Tätigkeit sich nicht als vom öffentlichen Leben abseits stehend betrachtet. Schließlich gibt es zwei enthüllende Definitionen des schwer erfaßbaren und ungenauen Begriffs "Weiblichkeit":

Die Art ihres Naturgenusses, der sich durch Sonnenschein oder Nachtigallengesang zu innigem Wohlgefühle steigerte, ihre Bedürfnislosigkeit, die sich wochenlang an Brot, Milch und Früchten Genüge haben ließ, das rührende Verhältnis zu ihrem Vögelchen, das dankbar jedesmal zu singen begann, wenn sie sich dem Käfig nahte - das alles sind rein weibliche Züge. Auch ihre treue und tiefe Anhänglichkeit an die Glieder der eigenen Familie, die sie trotz aller Hingabe niemals verleugnete, gehört hierher (39).

Eine weitere Erläuterung des Begriffs folgt kurz danach:

Echt frauenhaft waren auch ihr Fleiß, ihre unermüdliche Zähigkeit im Erstreben einmal gestellter Ziele, wie ihre in der Natur des Weibes begründete Scheu vor dem Auffälligen, Unschicklichen (39).

Derartige Verallgemeinerungen als das Produkt eines männlichen Biographen abzutun, der Frauen darstellt, die er durch die bloße Tatsache, ein Mann zu sein, nicht vollständig verstehen kann, wird problematisch, wenn man sich mit den von AUGUSTE SCHMIDT geschriebenen Kapiteln befaßt. Denn auch hier entdeckt man weniger offenkundige, aber gleichermaßen entschiedene Stellungnahmen zu Frauen und ihrer Rolle im Leben. LOUISE OTTO, so erzählt sie uns, blieb sogar während Ihrer politischen Aktivitäten "weiblich":

"Aber auch hier bewahrt sie die Natur des Weibes, denn ihre begeisterten Lieder (für die Freiheit) sind stets vom göttlichen Hauch der Menschheit erfüllt" (47). Für sie ist "Weiblichkeit" erfüllt mit außergewöhnlich moralischem Verhalten, eine Eigenschaft, die sich auch bei OTTO feststellt. Daß OTTO heiratete, erlaubte ihr, nach SCHMIDT, "vollentfaltet" (48) zu sein. Solch offensichtliche Übereinstimmung zwischen weiblichen und männlichen Blographen führt dazu, sich CAROLYN HEILBRUNs neun Fragen für zukünftige Biographinnen ins Gedächtnis zurückzurufen: "Have so-called female and male points of view or standards of normality led you into judgments of behavior different from those you would have applied had your subject been of the other sex, or had such standards been ignored altogether? Words like feminine and virile, lf they once were convenient, are no longer useful or appropriate." [12]

Eine andere treffende moderne Stellungnahme an dieser Stelle stammt von PATRICIA MEYER SPACKS in einem Artikel von 1977, der das Dilemma der Frauen als einer Subkultur beschreibt, die sich auf dieselbe Weise betrachtet, wie die männliche, dominierende Kultur sie beurteilt, auch wenn diese die Kultur einer Minderheit ist:

Women are trained to think of themselves, to describe themselves, in certain ways. The stories they tell about their lives take shape partly from their presupposition about what stories they are supposed to tell. [13]

Auf unseren hier behandelten Text bezogen heißt das: AUGUSTE SCHMIDT wurde ein Begriff von Weiblichkeit anerzogen, der fast synonym mit Sittlichkeit und Verheiratetsein ist. Um auf diese Weise ihre geschätzte Mitarbeiterin im günstigsten Licht darzustellen, erkannte sie auch die Notwendigkeit, sie auf ähnliche Weise als weiblich zu zeichnen. HUGO RÖSCHs allzu vereinfachender Ansatz ähnelt demjenigen SCHMIDTS, doch als ein Mitglied der herrschenden Kultur liegt es in seinem Interesse, bestimmte von ihm angegebene Charakterzüge zu fördern und zu loben: er möchte LOUISE OTTO zweifellos als im wesentlichen zurückhaltend und beherrscht beurteilen, immer willens, der stärkeren männlichen Gewalt nachzugeben - er reduziert sie in anderen Worten zu einer kleinen alten Frau, die spärlich aß, bescheiden blieb, Verwandte und Vögel liebte und von diesen geliebt wurde. Wiederum spielt der Biograph/Erzähler eine entscheidende Rolle; die Zweideutigkeit von AUGUSTE SCHMIDTs Absicht und ihrer komplizierteren Botschaft, die sie verbreitet, haben der Gestaltung weiblicher Objekte durch weibliche Biographen ein weiteres Element hinzugefügt.
Unter den weiblichen Biographen im 19. Jahrhundert scheinen sich nur wenige in Buchlänge mit ihrem weiblichen Thema beschäftigt zu haben. Erwähnt werden soll hier LUDMILLA ASSING, deren Darstellung VARNHAGEN VON ENSEs und Fürst PÜCKLER-MUSKAUs ergänzt wurde unter anderen durch Studien über SOPHIE VON LA ROCHE und ELISE VON AHLEFELD und die — im Gegensatz zu den anderen hier erwähnten Biographen - das Schreiben von Biographien als ihre Hauptaufgabe betrachtet. Da ihre Lebensbeschreibungen von Frauen seltener verfügbar sind als ihre Darstellung männlicher Personen, wird die folgende Diskussion eine weniger bekannte Autorin wieder zum Leben erwecken. [14] AMELY BÖLTEs Studie über ihre Tante (1865), die Schriftstellerin FANNY TARNOW, ist bemerkenswert in ihrem Ausmaß, ihrer Auswahl des Gegenstandes und ihrer Haltung zu ihrem Gegenstand.  FANNY TARNOW war eine populäre Schriftstellerin, die Autorin einer Anzahl empfindsarner Romane, die sich gut verkauften, sie heiratete nie und mußte daher in einem Zeitalter leiden, in dem der Wert einer Frau oft eng mit dem Familienstand verbunden war. Die Darstellungen ihrer Nichte beruhen auf TARNOWs Tagebüchern, das im Vergleich zu LOUISE OTT0s polemischen Vorworten eher zurückhaltende Vorwort enthält nichtsdestoweniger eine enthüllende Widmung: "Allen jenen Frauen, welches es beschieden ist, für ihre Existenz zu kämpfen, sei dies Buch gewidmet." BÖLTEs Bericht folgt genau dem chronologischen Lebensweg TARNOWS; hinzu kommen häufige Einschübe, seien es Tagebucheinträge, Aphorismen oder Kommentare der Autorin.
Wie die bisher erwähnten Personen gehörte FANNY TARNOW weder zum fürstlichen Stand noch zu den Leuten mit hohem Ansehen, sie war eine Mittelstandsautorin, deren Romane nur einen beschränkten Grad an Ruhm einbrachten. Ihre Lebensbeschreibung durch BÖLTE geschieht in einem Ton, der schon in AUGUSTE SCHMIDTs Werk über LOUISE OTTO festgestellt wurde. BÖLTE konzentriert sich nämlich auf TARNOWs unglückliche Haltung darüber, daß sie die allgemein angenommene Berufung einer Frau als Ehefrau oder gar als Mutter nicht erfüllen kann." Es gibt eine schmerzvolle Betonung der Unzufriedenheit, die Tarnow plagte, ein Gefühl für ein nicht angemessen gelebtes Leben. Dieses Thema läßt sich den ganzen Text hindurch ausmachen, sogar im abschließenden Absatz des Bandes: "Ein warmes Herz hatte zu schlagen aufgehört, ein Herz, das nur lieben, nur beglücken wollte, und nie das rechte Licht und nie die. rechte Stätte für seine Thatkraft fand". (295)
Trotz des mitgeteilten Gefühls der Verletztlichkeit, der Schwäche und Enttäuschung, eine Betonung, die durch BÖLTEs eigenes Leben (auch sie war Schriftstellerin, Gouvernante, eine Reisende und unverheiratet) ohne Zweifel noch wirkungsvoller gestaltet wird, gibt es jedoch noch aufschlußreichere Seiten der Darstellung. Es halten sich hier der Schmerz einer alleinstehenden Frau, die fühlt, daß sie die Gesellschaft für unvollkommen hält, und die häufigen Aussagen sowohl der Biographin als auch der beschriebenen Person über Themen wie Freiheit, Unabhängigkeit und die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgerl, die Waage. Der Text wird gewürzt mit Tagebuchauszügen wie beispielsweise TARNOWs glückliche Stellungnahme zu einem Landausflug ("Ich freue mich außerordentlich auf die Stille des Landlebens. Mit mir selbst will ich verkehren und Nachdenken, Lectüre und Fleiß sollen meiner Seele die verlorene Elasticität wiedergeben" (1071), mit ihren Aphorismen ("Wahre Freiheit ist die Unabhängigkeit von dem Willen Anderer" (35), oder mit ihren verzweifelten Ausbrüchen ("Ach: Warum bin ich ein Weib! Warum ward mir in der zerbrechlichen Hülle dieser Geist!" (92). Trotz BÖLTES Aussage, daß eine alleinstehende Frau dazu verurteilt ist, zu leiden und zu verlieren, macht sich eine unterschwellige Solidarität, Einsicht und Wut bemerkbar, die die Verfasserin und ihr Objekt zu vereinigen scheinen. Hier wird stärker als in irgendeinem anderen der bereits erwähnten Texte das Band, das die Frauen untereinander verbindet, betont, der biographische Text zeigt deutlich zwei Seiten, das Porträt der Autorin wie ihres Gegenstandes.
Ein interessantes Beispiel für dieses Verständnis ist die Beschreibung der unglücklichen Freundschaft zwischen TARNOW und einer anderen Schriftstellerin, HELMINE VON CHÉZY. In einem bezeichnenderweise "Das Suchen nach einer Heimat" überschriebenen Kapitel beschreibt BÖLTE das erste Treffen der beiden Frauen während des Sommers 1816 in Berlin; ein späteres Kapitel erläutert das Gedeihen und problematische Ende dieser Freundschaft. Das Anfangsstadium in Berlin fiel in eine Zeit, als TARNOW der Biographin nach besonders verletzbar war: "Sie hatte ihr 37. Jahr zurückgelegt, sie stand an der Gränze des Frauenlebens, wo man sich sagen muß: es ist vorbei!" (187) Die Erklärung einer solch obskuren Sprache folgt in einer sehr heftigen Stellungnahme der Erzählerin:

Sie war nicht Gattin und nicht Mutter geworden und was sie bis dahin vielleicht aus freiem Willen, nicht geworden war, sollte sie nun, als unmöglich - wie einen überwundenen Standpunkt - bei Seite schieben. - Ein Mann kennt diese Klippe nicht, und kann sich daher von diesen Empfindungen, welche solcher Gränze gegenüber eine Frau beschleichen, keine Vorstellung machen, denn ihm hat die Natur keinen Markstein gesetzt, für ihn glebt es immer noch eine Zukunft, immer ein Vorwärts, - ihm ist die grausame Aufgabe nicht gestellt, in der Mitte seines Daseins, in der vollen Kraft stillstehen und sich sagen zu sollen: Du bist jetzt mit dem Leben fertig; von heute an ist kein Vorwärts mehr möglich, von heute an ist Stillstand da, und weil es keinen solchen giebt, das Rückwärtsleben anzutreten; von heute an hast du dich, mit vollen Sinnen, vollen Kräften selbst zu überleben angefangen, das Absterben hat begonnen, sieh nur muthig zu, wie du deiner allmähligen Auflösung entgegengehst (187-88).

Anfangs schien die Freundschaft mit HELMINE CHÉZY, Enkelin der Dichterin ANNA LOUISA KARSCH, eine Lösung für TARNOWs Dilemma zu sein: CHÉZY, die eine unglückliche Ehe hinter sich hatte, begrüßte die Möglichkeit einer neuen Kameradschaft. BÖLTE bemüht sich, die beträchtlichen Unterschiede beider Frauen zu beschreiben TARNOWs Verwöhntheit und Leistungsfähigkeit einerseits und CHÉZYs flatterhafte Natur und Ungeduld mit alltäglichen Dingen andererseits; aber die Freundschaft entwickelte sich weiter und war eindeutig zum Nutzen beider Frauen. Die Beschreibung des unglücklichen Endes im Jahre 1820 enthüllt nicht nur eine weniger vorteilhafte Seite dieses Verhältnisses, sondern auch das entschiedene Bedauern der Erzählerin darüber, daß TARNOW sogar hier keine dauerhafte Grundlage finden konnte. Ein Sommeraufenthalt in Schandau, während dem sich die zwei Frauen in ihrem gemeinsamen Wunsch zu schreiben ergänzten, und wo sie beide in einem von der Stadtbevölkerung organisierten Zirkel Lesungen veranstalteten, führte zu ihrer Entfremdung. Diese wird von BÖLTE mit derartigem Feingefühl vorgetragen, daß der Leser nicht ganz sicher ist, welche Ursache den Bruch bewirkte, obwohl es scheint, als ob es auf irgendeine Weise etwas mit Berufsneid zu tun gehabt hatte. In den Auszügen aus TARNOWs Tagebuch, die dieses Ereignis beschließen, zeigt sich erneut ein besonders überzeugendes Bildnis einer Frau, die zwischen dem Vergnügen an der Unabhängigkeit und der Peinlichkeit einer Einzelexistenz hin- und hergerissen ist:

Wenn ein Weib sich einmal entschlösse, Confessionen zu schreiben, welche ganz neuen Ansichten der Natur würden sich uns dann offenbaren. Ich gelte für eins der geistreichsten Weiber unseres Zeitalters, ich besitze Kenntnisse, Seele, Begeisterung, ich kann denken, fühlen kann alles Große und Schöne empfinden - kann es der reinsten Idealität nach empfinden, kann glücklich sein im Anschauen der Natur, glücklich sein im Genusse der Kunst - ich bin großsinnig von Gemüth und Charakter - alle kleinlichen Regungen des Neides, des Hasses, sind mir fremd - und das Alles verschwindet vor dem Eindrucke, welchen der Kuß eines geliebten Mannes auf mich macht - darin liegt Stoff zum Nachdenken und zum Grübeln (242-43). [17]

Wieder kommt die Zwiespältigkeit einer einsamen und zornigen Existenz zum Vorschein, zu der eine alleinstehende Frau gezwungen ist, eine Existenz, die um so schmerzlicher empfunden wurde, als sie keine verwandte Seele fand, mit der sie ihr Leben hätte teilen können. Das Hervorheben dieser Episode wird durch BÖLTEs eigenen Standpunkt weiter gesteigert, wie er bei ilirer wohlerwogenen Wahl des Anschauungsmaterials und ihres eigenen Kommentars sich äußert. Aber wie schon bei AUGUSTE SCHMIDT fühlt auch sie sich offensichtlich gezwungen, als höchstes Lebensziel einer Frau die Partnerschaft mit einem Mann zu betonen. Was BÖLTEs Darstellung noch interessanter macht, ist der andere Aspekt des Lebens ihrer Tante, den sie dadurch unterstreicht, indem sie die autobiographischen Schriften TARNOWs verwendet, um die Freude über die Unabhängigkeit darzustellen, das Entzücken über die Seite ihres Daseins, die ihr beispielsweise folgendes zu schreiben erlaubt:

Ich danke Gott jetzt, daß er mich ehelos ließ, denn ich sehe in jeder Ehe eine Beschränkung der inneren Bildung, die ich jetzt ungestört zum höchsten Zwecke meines Lebens machen kann und die in einer Verbindung mit einem Manne - so wie die Männer sind - gehemmt werden muß (74).

Es ist diese Doppelbotschaft - die beständige Hilflosigkeit, in der sich die alleinstehende Frau befindet, die die Gesellschaft von ihrem individuellen Wert zu überzeugen versucht und ihr hartnäckiger Glaube an ihren eigenen Wert - die die bemerkenswerte und interessante Biographie BÖLTEs hervorruft. Kürzere biographische Abrisse, von den immer häufiger erscheinenden Nachrufen auf Frauen und geschrieben von Frauen, die im Organ des Allgen-ieinen Deutschen Frauenvereins, Neue Bahnen, oder in weiter verbreiteten Zeitschriften wie der populären Gartenlaube veröffentlicht wurden, bis zu Kapiteln in Anthologien oder Artikeln in anderen Zeitschriften, waren eher die Regel als die Ausnahme, wie sie BÖLTEs Studie über FANNY TARNOW [18] darstellt. Viele sind erwähnenswert; vier danon wurden ausgewählt, um besolidere Aspekte ihrer Darstellung hervorzuheben.
Von den Biographien GEORGE SANDs ist eine interessante biographische Interpretation, die noch zu ihren Lebzeiten publiziert wurde und ihren Anstoß wohl dem Erscheinen von SANDs.Histoire de ma vie, in der Übersetzung CLAIRE von GLÜMERS, zu verdanken hatte, heute im Grund unbekannt. [19] Obwohl der Essay 1856 anonym im Deutschen Museum veröffentlicht wurde, stellte rnan später fest, er sei geschrieben worden von der konservativen und zurückgezogenen Dichterin LOUISE VON FRANCOIS, die gerade versuchsweise zu publizieren begonnen hatte und die, wie es bei Frauen in den letzten Jahrhunderten der Brauch war, ihren Artikel nicht mit ihrem Namen, sondern "von einer Dame" unterzeichnete. [20] FRANCOIS hat mit BÖLTE gemeinsam, häufig ihre eigene Meinung in die Lebensbeschreibung SANDs einzuschieben und zeigt sich sowohl voreingenommen als auch auf eine eindrucksvolle Weise selbstbewußt. Sieht man davon ab, wie sehr sie SANDs Rolle als Mutter betont, [21] so fehlt das starke Bedürfnis nach Bestätigung der Weiblichkeit im Objekt der Darstellung; ebensowenig wird für die Heirat als wesentlicher Teil des Lebens einer Frau besonders eingetreten. FRANCOIS Darstellung ist kritisch, klar und enthüllend; so sieht sie trotz ihrer konservativen Haltung keine negativen Gesichtspunkte darin, daß SAND, um schreiben zu können, mit ihrer Tochter nach Paris zieht, und im Ton bleibt sie neutral, vielleicht sogar rechtfertigend:

... sie ist ihre eigene Dienerin, sucht keine Verbindung als die einiger jungen studirenden Landsleute, darbt und arbeitet, versucht Dies und Jenes mit kümmerlichem Erfolg, bis endlich mit dem Erscheinen der Indiana ihr Glücksstern aufgeht. Um unerkannt und ohne Toilettcnaufwand das Leben der verschiedenen Gesellschaftsschichten beobachten und das Parterre der Theater besuchen zu können, legt sie auf den Rath ihrer Mutter und in Erinnerung ihrer jugendlichen Reiterparteien Männerkleider an und fühlt in ihrem groben grauen Ueberrock und den mit Eisen beschlagenen Stiefeln bei den mancherlei komischen Quidproquos, welche diese kleine Maskerade zur Folge hat, ein unendliches Ergötzen (689).

Obgleich FRANCOIS SANDs Verhalten durch den Zusatz rechtfertigt, daß deren Ehemann davon wußte und es für gut hieß, steht ihre bedingungslose Billigung, Hosen zu tragen, im Gegensatz zur Haltung vieler anderer Biographen. Als ein biographischer Abriß einer lebenden Figur mußte FRANCOIS Essay vielleicht nicht idealisieren; gelegentlich zeigt sie sich kritisch, aber in erster Linie scheint ihr daran zu liegen, ein genaues Porträt zu zeichnen, das seine Leser dahingehend informiert und beeinflußt, daß sie SAND sehen als eine unabhängige und tüchtige Frau und sie betrachten als"... den größten poetischen Genius des heutigen, den größten weiblichen des gesamten Frankreich" (692). Nicht immer wird das Geschlecht als entscheidender Faktor für die Bestimmung eines Lebenslaufs so betont wie hier, und es ist offenkundig, daß FRANCOIS ihren Lesern solch eine Botschaft mitteilen wollte.
FANNY LEWALDs Anthologie biographischer Abrisse von Frauen als auch Männern, Zwölf Bilder nach dem Leben (1888), hebt die Vorstellung von der Biographie als einem zweiseitigen Porträt besonders in der Widmung hervor: "Ihren und meinen Freunden zur Erinnerung an sie und mich." [22] Obgleich der größte Teil ihrer Gegenstände Männer sind und die wenigen Darstellungen von Frauen unterschiedliche Qualität aufweisen [23], darf man die Bedeutung ihrer eigenen Herausgebertätigkeit und Kommentierung nicht übersehen. Wer nach wohlgeformten Darstellungen von LEWALDs Zeitgenossen sucht, wird in den meisten Fällen enttäuscht sein, denn sie behandelt vor allem die Einzelaspekte eines Lebens, die ihr wichtig erscheinen und sie auf irgendeine Weise persönlich betreffen. Sucht man dagegen Aufklärung über LEWALD selbst, dann profitiert man enorm von der Lektüre dieser Porträts. LEWALDs Ansichten zeigen sich nämlich in jeder Äußerung, bei jeder Wahl des Quellenmaterials. Als Beispiel ihrer Methode sei ihre Beschreibung JOHANNA KINKELs erwähnt, einer engen Freundin von LEWALD und einer begabten Schriftstellerin und Musikerin, deren kurzes Leben 1858 im Londoner Exil endete. Ihre vielen Briefe bilden die Grundlage der Charakterisierung, und in den meisten Fällen begnügt LEWALD sich damit, KINKEL für sich selbst sprechen zu lassen. Die wenigen Kommentare der Erzählerin (z. B. "Man vergaß es, daß sie eine bedeutende Dichterin, daß sie eine große Musikerin war, weil man immer nur daran zu denken hatte, welch eine Frau und welch ein Charakter sie sei." (3) und "... ein Segen für die Ihren, das erhebende Bild einer edeln geprüften und bewährten Frau" (31)) sind kaum mehr als ein Anhängsel zu den Briefen. Zwar teilt LEWALD die oft persönlichen und höchst enthüllenden Briefe offensichtlich deshalb mit, um eine unvoreingenommene Darstellung liefern zu können, jedoch scheint die Auswahl der Texte, die KINKELs vielfältige Unternehmungen betonen sollen, wohlüberlegt zu sein. Alle Frauen, die LEWALD behandelt, sind beruflich tätig, ein Punkt, den sie betont,- wenn sie allerdings Kinder hatten, scheint das fast ohne Bedeutung zu sein. Nur knapp werden die Aufgaben erwähnt, die den Frauen normalerweise übertragen werden: statt dessen stellen diese Personen Ausnahmen dar; sie sind nicht bemerkenswert als Ehefrau und Mutter, sondern für alles andere, was auch immer sie im Leben vollbrachten. Rufen wir uns ähnlich zeitgenössische biographische Arbeiten von Männern ins Gedächtnis zurück, wie z. B. KARL FRENZELs Dichter und Frauen (1859-66), LUDWIG GEIGERs Sammlung von 1896 mit dem gleichen Titel oder CARL VOGELs Frauenliebe und Dichterleben (1873) [24], werden die unterschiedlichen Absichten noch deutlicher. Es ist bemerkenswert, daß LEWALD in einem Deutschland, das Weiblichkeit als irgendwie mit Heim, Herd und Kindern verbunden definierte, also ein Bild verpflichtender Konformität darstellte, nicht dem herkömmlichen Weg folgte. Es ist wahr, daß JOHANNA KINKEL in ihren Briefen oft von ihren vier Kindern und ihrem Ehemann spricht; der Schwerpunkt jedoch liegt auf ihren Kompositionen, ihrer Tätigkeit als Klavierlehrerin und der Beherrschung ihrer Schaffenskraft, so daß Zeit für mehr als nur weiblich verstandene Tätigkeiten bleibt. Durch die Wahl des Gegenstands und das Hervorheben tätiger Bildung anstatt passiven Nachdenkens macht FANNY LEWALD eine wichtige Aussage über Frauen und ihre ihnen gewöhnlich zugeschriebene Rolle.
Wollte man bei dem Thema, Frauen schreiben über Frauen im 19. Jahrhundert den Eindruck der Verwundbarkeit, Hilflosigkeit und Passivität hinterlassen, dann sollte dieser Essay mit der folgenden Diskussion enden. Da er jedoch an vorletzter Stelle steht, sollte er nicht beispielhafter als die definitive Biographie einer Frau betrachtet werden, als man das mit der weit positiveren Darstellung, die folgt, tun soll. Die erste von LOUISE OTT0s blographischen Anthologien enthält einen Abriß, den man als Metapher der Schwäche und Furchtsamkeit interpretieren könnte. Sein Titel "Die Unbekannte von Hildburghausen, 1804-1845" führt bereits das Element der Anonymität ein, das so oft Frauen und ihre Anstrengungen in der Vergangenheit auszeichnete. [25] OTT0s Objekt ist eine unbekannte Frau, eine historisch nachweisbare Figur ohne Namen, deren Geschichte keine Lösung enthält und keine Antwort auf das Geheimnis ihres Daseins, die Hauptquelle war der Text eines Mannes, der nicht die Frau in seinem Bericht betont, sondern den Mann, der sie begleitete. Die Enttäuschung der Biographin tritt offen zutage; der Mangel an Information führt OTTO zu beträchtlicher Polemik, die ihre Darstellung aus der Sicht des 20. Jahrhunderts sogar noch interessanter macht. Die Erzählung - und sie gleicht zumindest am Anfang eher einem Kriminalroman als einer Biographie - beginnt mit der Beschreibung einer verschleierten Frau, die im Jahre 1804 mit einem ungenannten Grafen in der kleinen Stadt Ingeldingen ankam: auf diese Weise weicht die Darstellung von der erwarteten Schilderung ab, indem sie nicht das Geburtsdatum des Objekts mitteilt - es ist nicht bekannt - sondern das Datum ihres ersten Auftretens. Nachdem sie eine bestimmte Zeit verschwunden war, tauchte sie wieder in Hildburghausen auf, wo sie bis zu ihrem Tod blieb. Nirgends wird deutlich, warum sie fast immer zu Hause blieb, warum sie nie ohne ihreri Schleier gesehen wurde, warum sie niemals in der Öffentlichkeit mit irgend jemandem sprach und warum ihre Dienerin gezwungen wurde, sich jedesmal abzuwenden, wenn die Frau in ihrem Garten zum Vorschein kam. Ein Vorfall, bei dem sie offensichtlich mit dem Sohn dieser Dienerin zu sprechen versuchte, endete ähnlich geheimnisvoll, als der Graf sie wegzog. (Merkwürdige Frauen, 194). Wiederum erhält die Erwähnung der Daten im Titel eine ironische Färbung: 1845 bezieht sich nicht auf ihr Todesjahr, welches 1834 war, sondern das ihres männlichen Partners.
Äußerst interessant sind jedoch die offen ausgedrückte Enttäuschung der Biographie darüber, daß sie das Geheimnis nicht lösen kann, und ein offener Angriff gegen den männlichen Biograph,en, der, wie sie fühlt, in diesem Bericht der Frau zugunsten der breit angelegten Grafenerzählung vernachlässigt. Die letzten Seiten des Abrisses sind tendenziös: OTTO zieht über die Tatsache her, daß irgendeine Einzelperson so lange in einer Stadt leben konnte, ohne daß den Behörden ihre Identität bekannt wurde. Darüber hinaus verurteilt sie die hier offenkundige politische Günstlingswirtschaft: weil der Graf reich war, konnte er sich ausschweigen. Wie andere Biographen auch verlangt es sie nach Vervollständigung, nach Information und sie ärgert sich über die fehlende Aufklärung, nach der sie sucht. Außer durch die Worte der Biographin gibt es hier keine Enthüllung des Objekts. Die Autorin nimmt die Gelegenheit wahr, etwas über die Frau als Opfer zu sagen, als hilfloses Geschöpf in der Hand von ihrer Meinung nach rücksichtslosen, vielleicht sogar bösen Männern. Aber aucli durch den gleichgültigen Biographen, dessen Mangel an Interesse sein Objekt zu einer unabänderlichen Anonymität verurteilt hat, kommt es ebensowenig zur Aufklärung. OTT0s Angriff gegen den männlichen Blographen wegen dieses Mangels an Sorgfalt dient natürlich dazu, ihr Argument zu unterstreichen, das sie in ihrem Vorwort vertritt, in dem sie für weibliche Biographen mit weiblichen Objekten eintritt: die Folgerung ist, daß Frauen nicht die Details ignorieren oder die Anspielungen und Zusammenhänge, die die Männer nur -überfliegen, übersehen würden. Eine anonyme, nicht identifizierbare Frau scheint als Objekt geradezu das Gegenteil dessen zu sein, was normalerweise im Mittelpunkt einer Biographie zu stehen scheint: daß sie dennoch von OTTO ausgewählt wurde und daß sich OTTO entschied, sich ungehindert einzumischen und eine derart zwingende Aussage zu liefern, macht diesen Abriß interessant und nützlich.
In ihrer kürzlich erschienenen Dokumentarstudie über die deutschamerikanische aktivistische Schriftstellerin MATHILDE FRANZISKA ANNEKE zollt MARIA WAGNER ***90-15-26*** einem biographischen Abriß von ANNEKE über die radikale Schriftstellerin LOUISE ASTON, einem aus einer Anzahl anderer, die unter dem Titel Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen [27] erschienen, kaum Aufmerksamkeit. WAGNERs Versäumnis sowie dasjenige HENKELs/TAUBERTs in ihrer ANNEKE-Darstellung von 1976 [28] sind vielleicht verständlich: ANNEKEs Essay ist unbeholfen geschrieben, langatmig und offensichtlich einer Überarbeitung bedürftig. Nichtsdestoweniger verdient er erwähnt zu werden als ein Beispiel für Frauen, die von einem Standpunkt der Stärke und des Optimismus über Frauen schreiben. ANNEKEs Porträt, das eher eine polemische Abhandlung als einen sachlichen, biographischen Text darstellt, quillt über von persönlichen Kommentaren, sie benutzt ASTONs Schriften als geeignetes Beispiel ihres eigenen Glaubens an die Notwendigkeit, daß Frauen unabhängig sind, -und ihres Abscheus darüber, was sie als "Selbstverläugnung" der Frauen deutet. Das letzte Motiv ist ein wichtiger Beweis für das erhöhte Bewußtsein des Ichs unter sozialkritischen Frauen, die im Jahrzehnt der 48er Revolution in Erscheinung zu treten begannen, aber es wird nicht oft so direkt ausgedrückt wie hier. ANNEKE hatte eindeutig eine didaktische Absicht: ihr Ziel war es, Frauen zu beeinflussen, daß sie stark und unabhängig werden und sich selbst erkennen, und das methodische Verfahren war das biographische Porträt einer Frau, deren Leben und Werk als nützliches Beispiel dienen konnte. Auf keinen Fall wird ASTON als vollkommen positives Rollenmodell dargestellt, denn ANNEKE beschuldigt sie der Habgier und des Opportunismus anläßlich der Publikation ihres Romans Aus dem Leben einer Frau, den ANNEKE schwach und eitel findet; nichtsdestoweniger sollen die Leser dieser Biographie sowohl aus den Fehlern als auch den Errungenschaften lernen. Und es sind Frauen, die den ausschließlich angesprochenen Leserkreis ausmachen: ANNEKEs Botschaft richtet sich an ein weibliches Publikum, das sie so informieren und erziehen will, wie eine Frau dieser neuen Epoche leben und denken sollte. In einem besonders bewegenden Abschnitt, einer Reaktion auf ASTONs Aussage, daß sie nicht an Gott, sondern an die endliche Welt glaube, ergreift die Biographin die Oberhand und verwendet ASTONs Aussage, um ihre eigenen Überzeugungen darzustellen:

Warum ist solch Bekenntniß in dem Munde eines Weibes gerade so schwer verpönt? Warum soll dem Weibe die Wahrheit verhüllt bleiben, die Wahrheit, die das Erbtheil unserer Zeit und die im Kampfe mit der Lüge beginnt siegreich über sie zu erstehen? Warum erscheinen die Ansichten die den Männern seit Jahrhunderten bereits angehören durften, einem Staate gerade bei den Frauen so sehr gefährlich? Etwa weil sie die Macht der Verbreitung dieser Ansichten mehr denn Jene in Händen haben und diese in ihrer ausgedehnteren Verbreitung, die heutige Welt- und Staatsordung zu erschüttern drohten? - Weil sie mit ihrem Herzblut den bessern Glauben an eine neue Menschwerdung nähren und in der folgenden Generation Euch das gesundere freiere Geschlecht überliefern können, das sich nimmermehr zu feilen Sclavenknechten lassen wird? Darum? - Ja, darum: weil die Wahrheit, von den Frauen getragen, als Siegerin hervorgeht, welche Throne und Altäre der Tyrannen und Despoten stürzt. Weil die Wahrheit einzig uns frei macht und erlöst aus den Banden der Selbstverläugnung, aus den Fesseln der Sclaverei. Weil die Wahrheit uns befreit von dem trüglichen Wahne, daß wir dort oben belohnt werden für unser Lieben und Leiden, für unser Dulden und Dienen, weil sie uns zu der Erkenntniß bringt, daß wir gleich. berechtigt sind zum Lebensgenuße wie unsere Unterdrücker, daß diese es nur waren, die die Gesetze machten und sie uns gaben, nicht zu unserm, nein zu ihrem Nutzen, zu ihrem Frommen. Weil die Wahrheit diese Gesetzestafeln zerschmettert, fortan als Siegerin dasteht und nimmermehr die gehetzte Flüchtlingin zu sein braucht, die überall anklopft und die nirgends herbergen kann. Weil dieser Wahrheit, sobald die Herzen der Frauen ihr gänzlich erschlossen sind, den ewigen Hort bereitet und das Erbtheil für die Menschheit errungen ist (11-12).

Mit ANNEKEs Text erhält der biographische Essay eine neue Dimension: nämlich die einer Polemik, die nicht nur von einem Objekt und einem Biographen berichtet, die nicht nur von einer Frau über eine Frau geschrieben ist, sondern die sich auch ausschließlich an ein weibliches Publikum wendet, von dem man erwartet, daß es lernt und gerade aus anderen Frauen als Rollenmodellen Nutzen zieht. LOUISE OTT0s Annahme, daß dieser Aspekt wichtig und nützlich ist, wurde auf diese Weise schon zwanzig Jahre vor ihrer Anthologie veranschaulicht.
KARL GUTZKOW, der aufrührerische jungdeutsche Schriftsteller, der 1837 eine Beschreibung eines Besuches bei der romantischen Dichterin
BETTINA VON ARNIM verfaßte, äußerte sich über die Art, in der man das Leben anderer beschreibt:

Aber wenn wir die persönliche Bekanntschaft eines Philosophen, dessen Moralgesetz die Selbstbeherrschung ist, rnit einem Wortwechsel anknüpfen, über dessen Gelärm und Gezänk wir ihn betreffen, während ein Hund dazwischenbellt, die Hausfrau eine Terrine zerschlägt und die Kinder schreien, da kann man wol sagen, daß große Menschen wie Landschaften aus einer gewissen Entfernung gesehen werden müssen und daß das Genie immer klein dastüride, würde man seine Geschichte nach den Mittheilungen seines Kammerdieners schreiben. [29]

Würden wir Kammerdiener durch Frau ersetzen, könnten wir ganz gut eine Parallele zwischen dieser Lebensbeschreibung und den Elementen erkennen, denen wir bei der Betrachtung von Biographien über und von Frauen begegneten. Eine Frau könnte wohl verstehen, daß ein Philosoph, der Selbstbeherrschung betonte, eher praktische als ästhetische Gründe dafür hatte. Andererseits gibt GUTZKOW die Ideen der Schule wieder, die an die Suche nach einem organischen Ganzen glaubte. Er fühlte sich offensichtlich nicht wohl bei dem Gedanken, zu nahe an sein Objekt zu geraten, aus Angst davor, das Außerordentliche wieder gewöhnlich zu machen, und d. h. nach seiner Definition, banal und unbedeutend: bellende Hunde, schreiende Kinder und Frauen, die Gegenstände zerbrechen, haben seiner Meinung nach nichts in der Beschreibung des Großen und Außergewöhnlichen verloren. Ohne Zweifel stünde er AMELY BÖLTEs detailliertem Porträt der FANNY TARNOW, mit ihrer sorgfältigen Zusammenstellung von Fakten und Ereignissen, die auch bei der größten Anstrengung der Phantasie nicht als weltbewegend und inhaltsschwer bezeichnet werden können, ohne Wohlwollen gegenüber. Dasselbe wäre der Fall bei LOUISE OTT0s Faszination durch eine namenlose, sogar gesichtslose Frau, deren Leben, zumindest soweit es uns mitgeteilt wird, jegliche Spur äußerer Bedeutung abgeht. Vielleicht würden FRIEDRICH SENGLE und HELMUT SCHEUER GUTZKOWs Ansicht wieder hervorheben: ersterer erwähnt Frauen nur kurz in seiner Biedermeierzeit im Zusammenhang mit der Diskussion über die Biographie, die sonst ausgezeichnete Auseinandersetzung des letzteren mit dem Genre übergeht im wesentlichen die Frauen als Biographen oder sogar als Gegenstand der Biographen. [30] JEAN STROUSE, deren kürzlich erschienener ALICE-JAMES-Biographie kritische Beachtung geschenkt wurde, wurde bereits erwähnt als Autorin eines nützlichen Essays über Frauen, die wegen ihres Verhältnisses mit Berühmten Gegenstand für Biographen wurden, CAROLYN HEILBRUN lieferte einen sehr guten Aufsatz über Frauen als Biographen. [31] Aber nur selten kommt es, wie in einer neuen Ausgabe der von der University of Hawall herausgegebenen Zeitschrift biography, zu einer kritischen Diskussion über weibliche Biographen: MARGOT PETERs Essay über diesen Gegenstand erweist sich als nützlich und willkommen in seiner Absicht, die Arten von Biographien, die von und über Frauen geschrieben wurden, zu kategorisieren. [32] Aber wie die meisten amerikanischen feministischen Kritiker erwähnt sie die deutsche Literatur nicht, und sie liefert keinen Hinweis auf die möglichen Unterschiede in der Art, wie weibliche und männliche Biographen sich ihren weiblichen Objekten nähern.
Frauen als Biographen oder als Gegenstand von Biographien sollten nicht vernachlässigt werden, nicht nur weil ihr gegenseitiges Forschen Einsichten sowohl des Erzählers als auch des Gegenstands zeitigt, wie sie in dieser kurzen Diskussion dargelegt wurden, sondern auch, weil Biographien wie diese die Verletzung der Norm, wie PETERS das bezeichnet, betonen, die Verletzung des Erwarteten, das Element der Individualität und der Einzigartigkeit, das die Biographen besonders hervorheben wollen. Keine klar umgrenzten Muster, keine leicht faßlichen Kategorien können oder sollten aufgestellt werden. Tatsächlich hat das Interesse, das den Gegenständen der hier besprochenen Werke zugewandt wird, viel mit ihrer Vielfalt zu tun. SCHMIDT-WEISSENFELS scheint es darauf anzukommen, in Begriffe zu fassen, zu objektivieren, RAHEL VARNHAGEN und ihre Zeit zu verallgemeinern und nach Mustern zu suchen, die seiner Darstellung eine zufriedenstellende und beruhigende Ganzheit und Vollständigkeit geben, CLAIRE VON GLÜMER ist bedacht darauf, aus dem Gegenstand das herauszuholen, was einzigartig und individuell ist, gleichzeitig sieht sie aber auch die vielen Aspekte von RAHELs Leben nicht nur als Kommentar über die Epoche, in der sie lebte, sondern auch und gerade über ihre übernommene Rolle als Frau dieser Epoche. Obgleich in den Studien von Frauen über Frauen Leitmotive gegenwärtig sind - FANNY TARNOWs Konflikt zwischen Unabhängigkeit und Einsamkeit, JOHANNA KINKELs starke berufliche Interessen, RAHELs erzwungene Passivität - so tendieren die weiblichen Biographen dazu, sich auf ihre Gegenstände als Frauen zu konzentrieren, sich gänzlich auf sie allein einzulassen und sie gegen die Folie historischer Ereignisse zu stellen, die in ihrem Leben nur insofern eine Rolle spielen, als die Personen von ihnen geformt und oft durch diese Ereignisse eingeschränkt werden. Die Fragmentierung des Lebens der Frauen scheint der Gattung Biographie, mit ihrer Betonung aller Aspekte einer einzelnen menschlichen Existenz, höchst angemessen zu sein. Besonders im Jahrhundert, das diesem vorausging - wo die beruflichen Ziele durch Männer des Mittelstands gesetzt wurden und Frauen dabei keine Rolle spielten und wo die Fragmentierung für Frauen sich unendlich fortsetzte, sei es wegen biologisch bestimmter Unterbrechungen eines zusammenhängenden Ganzen, das sie aufstellen könnten, oder der nicht vorhersagbaren Suche nach angemessener Berufstätigkeit derjenigen, die nicht verstrickt sind in Heirat und Kinderzeugen - würde es scheinen, als ob die persönliche subjektive Biographie am besten ihr Leben auf einen Nenner bringen könnte. Die Geschichte der Frauen hatte nie den gleichen Rhythmus wie die der Männer, wurde nur flüchtig durch dieselben Weltereignisse geprägt, die Übergangsperioden, die die Ausnahmen in den Geschichten der Männer darstellen, sind vielleicht immer auf die eine oder andere Weise im Leben einer Frau vorhanden. Dieser persönliche Charakterzug einer Biographie, der es erlaubt, Fakten, Details, Gedanken miteinzubeziehen, die in keiner Statistik eines Standardgeschichtswerks Platz haben, ist geeignet, diese Individualität und Fragmentierung widerzuspiegeln.
Darüber hinaus wurde im 19. Jahrhundert nicht nur entdeckt, daß Frauen wie die Unbekannte aus Hildburghausen oder FANNY TARNOW der Aufmerksamkeit würdig sind, sondern das Erzählen ihres Lebens gab den Lesern auf zwei Ebenen Kenntnisse: ein Bild des Objekts, dessen Leben sonst in einem patriarchalischeren Kreise ignoriert werden könnte, sowie den Standpunkt einer Autorin, die kommentierte, sich einschaltete und ihre Gedanken und Empfindungen mit ihrer Leserschaft teilte. Das persönliche Betroffensein von ihren Objekten zeigt sich besonders deutlich in Biographien von Frauen über Frauen, und es erweitert auf eine wichtige Weise unser Verständnis für Frauen des 19. Jahrhunderts und die Art, in der sie sich selbst betrachteten. Die Selbstverleugnung, die ANNEKE so stark verurteilte - man stelle sich all die weiblichen Biographen vor, die zustimmten - bröckelte jedesmal mehr ab, wenn eine Leserin die Gelegenheit hatte, über andere Frauen zu lesen und auf diese Weise die Geschichte der Frauen - ihre Geschichte aus einer Perspektive zu sehen, die sich als weit bedeutender und lebendiger für sie erwies.
Im frühen 20. Jahrhundert äußert sich LYTTON STRACHEY, den viele als den genauesten Biographen seiner Zeit betrachten, im Vorwort zu Eminent Victorians, daß die Biographie "the most delicate and humane of all the branches of the art of writing" [33] sei. Deutsche weibliche Biographen widerspiegeln oft diese Nlenschlichkeit, diese Betroffenheit und die Betonung der Einzigartigkeit und Bedeutung ihrer behandelten Personen. Es ist Zeit, d,aß wir sie wieder als Kommentatoren und private Historiker zum Leben erwecken, als Menschen, die Zeugnis von ihrer Zeit, aber auch, was noch wichtiger ist, von den Frauen dieser Zeit ablegen.

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Texttyp

Biographie