Einführung
Das Leben der mittelalterlichen Frau wurde, sofern sie nicht in einer klösterlichen Gemeinschaft lebte, entscheidend durch ihre Mutterrolle, als Gebärende und als Erzieherin ihrer Kinder bestimmt. Wenn auch die Kinderzahl pro Haushalt im allgemeinen entgegen landläufigen Vorstellungen mit durchschnittlich 1 bis 3 Kindern recht gering war [Bd. 1, 24], so lag die Geburtenzahl pro Frau recht hoch [253-257]. Die Diskrepanz zwischen relativ hoher Geburtenzahl und niedriger Kinderzahl erklärt sich aus der außerordentlich hohen Kindersterblichkeit. Die Auswertung von Friedhofsgrabungen sowie überlieferter schriftlicher Aufzeichnungen läßt erkennen, daß rund 15-20 % der Kinder bereits im ersten und rund 40% bis zum 13. Lebensjahr verstarben [Bd. 1, 5].
Die Geburtenabstände dürften aufgrund von Todgeburt, Fehlgeburt, Laktationsamenarrhöe, d. h. die Zeit der Unfruchtbarkeit während des Stillens, u. a. mindestens 16,5 Monate und durchschnittlich 30 Monate betragen haben. Bei Geburtenabständen von über 31,5 Monaten dürften Formen der Empfängnisverhütung angewandt worden sein. Empfängnisverhütende oder eine Abtreibung verursachende Mittel waren im Mittelalter durchaus bekannt, wie die zahlreichen Anwendungsverbote in den kirchlichen Bußbüchern und den Volksrechten (55, 76, 77, 258-265), die Beschuldigungen der Hebammen im ausgehenden Mittelalter sowie ihre Beschreibung in der medizinischen Literatur, die im wesentlichen auf Soranus [266] und Avicenna [267] fußte, belegen, wenn sich auch das tatsächliche Ausmaß und der Erfolg dieser Maßnahmen nur schwer abschätzen läßt. Auf eine zumindest zum Teil erfolgreiche Anwendung derartiger Kenntnisse und Mittel lassen die Geburtenintervalle in spätmittelalterlichen Ehen schließen [253-257]. Repräsentative Untersuchungen über die Geburtenabstände im 18./19. Jh. haben für ein Drittel bis zwei Drittel der Fälle eine effektive Geburtenplanung ergeben'. Da die in der Volksmedizin des 18./19. Jh. angewandten Methoden und Mittel im wesentlichen denen des Mittelalters entsprachen, kann man auch für diese Zeit entsprechende Zahlen annehmen. Andererseits macht das Vorkommen von Verfahren wie die Aussetzung von Kindern, die nachlässige Versorgung und Aufsicht der Säuglinge sowie die in den autobiographischen Berichten überlieferte hohe Geburtenzahl deutlich, daß Versuche der Empfängnisverhütung und Abtreibung häufig oder sogar meist unwirksam blieben bzw. nur selten unternommen wurden.
Die Praxis der Tötung unerwünschter Kinder ist für das frühe Mittelalter mehrfach belegt. Betroffen waren hiervon insbesondere schwächliche oder mißgestaltete Neugeborene [268], anscheinend wurden aber Mädchen auch eher als Jungen getötet [270, 271]. Durch das ganze Mittelalter hindurch herrschte über die Geburt eines Sohnes größere Freude als über die einer Tochter. Die höhere Wertschätzung der Jungen spiegelt sich besonders deutlich in verschiedenen Weistümern wider, in denen die Kindbetterin bei der Geburt eines Sohnes stärker begünstigt wurde als bei der Geburt einer Tochter [272, 273]. Jungen scheinen sorgfältiger als Mädchen gepflegt worden zu sein, denn nach einem südfranzösischen Polyptychon aus dem 9. Jh. wurden Jungen 2 Jahre, Mädchen aber nur 1 Jahr gestillt [Bd. 1, 4]. Die Hintergründe für die höhere Wertschätzung der Jungen dürfte in ihrer Rolle als "Stammhalter" und Erben in einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung zu sehen sein. Verurteilungen wegen Kindestötung sind im Mittelalter ausgesprochen selten. Dies mag damit zusammenhängen, daß man nach erfolgter Christianisierung eine offenkundige Tötung von Neugeborenen unterließ und verdecktere Formen anwandte, die als Unglück oder Fahrlässigkeit gewertet und dementsprechend nicht verfolgt wurden. Hierzu zählten unregelmäßiges oder gar verweigertes Stillen durch die Mutter [274] wie auch die Kindeserdrükkung, denn es war üblich, daß Kleinkinder mit der Mutter oder Amme in einem Bett schliefen, wodurch die Kinder nicht selten im Schlaf erdrückt wurden [281]. Inwieweit dies beabsichtigt oder unbeabsichtigt geschah, ließ sich hinterher nicht feststellen. Abhilfe schufen hier weniger die zahlreichen Strafandrohungen der kirchlichen Bußkataloge [275] als vielmehr das seit dem 12. und 13. Jh. verstärkte Aufkommen der Wiege, die für weite Kreise jedoch unerschwinglich blieb.
Ein weitverbreitetes Mittel, sich unerwünschter Kinder zu entledigen, bildete die Kindesaussetzung. Man hoffte darauf, daß sich andere dieser Kinder annahmen [276-278]. Die Zahl der ausgesetzten Kinder war recht beträchtlich und nahm anscheinend gegen Ausgang des Mittelalters noch zu [277]. Hieran vermochten auch drastische Strafen für die aussetzende Mutter nichts zu ändern [2791. Kindesaussetzungen wurden offensichtlich vor allem von unverheirateten Müttern vorgenommen, wenn die Väter für das Kind nicht aufkommen wollten. Doch auch, wenn sie zu einer finanziellen Unterstützung bereit waren, kümmerten sie sich nicht um die Aufzucht ihrer unehelichen Kinder, und die Mutter hatte die Last des Aufziehens und Erziehens allein zu tragen [Bd. 1, 71]. Ähnlich wie bei den Kindestötungen waren von den Aussetzungen vor allem Mädchen betroffen. So waren nach einer Untersuchung im Florenz des 15. Jh. rund 601/o aller Findlinge Mädchen. Die Kirche und später die städtischen Räte kümmerten sich bereits sehr frühzeitig um die ausgesetzten Kinder und sorgten zunächst für ihre Unterbringung bei Pflegeeltern bzw. bei Ziehammen, in der Regel auf dem Lande. Dieser Brauch wurde auch beibehalten, wenn die seit dem 13. Jh. überall in Deutschland entstandenen Findel- und Waisenhäuser überfüllt waren [277]. Das Personal der Findelund Waisenhäuser bestand zum Großteil aus Frauen. Die große Bedeutung, die man Frauen in diesem Bereich zumaß, zeigt bereits die Tatsache, daß die Frauen der vom Rat bestellten Pfleger in Nürnberg an der Aufsicht über das Findel- und Waisenhaus beteiligt wurden. Schließlich übertrug der Rat sogar die gesamte Aufsicht einer Frau, die nur bei der Zinserhebung durch einen Kastner unterstützt wurde. Die eigentliche Leitung der Anstalten oblag einem Ehepaar, den Findeleltern, die sich - insbesondere die Findelmutter - um die Versorgung und Erziehung der Kinder kümmern sollten. Auch das weitere Gesinde bestand mit Köchin, Küchenmägden, Kinder- und Krankenwärterinnen und der Viehmagd zum größten Teil aus Frauen.
Für Empfängnisverhütung, Abtreibung, Kindestötung und Kindeserdrückung scheinen den kirchlichen Strafbestimmungen zufolge in erster Linie Frauen zur Rechenschaft gezogen worden zu sein [261-265], so daß man auf die Verantwortlichkeit der Frauen in diesem Bereich schließen kann, während sich Männer kaum darum gekümmert haben dürften.
Die Aufzucht und Erziehung der Kinder war in den ersten 7 Jahren überwiegend Aufgabe der Frauen, wenn sich auch schichtenspezifische Unterschiede nicht übersehen lassen. tybereinstimmend geht die mittelalterliche Literatur davon aus, daß eine Mutter ihr Kind am besten selbst stillt [280, 281]; dennoch waren Ammen in adeligen und reichen bürgerlichen Kreisen üblich. Diese wurden in der Regel ins Haus geholt, des öfteren wurden Kinder aber auch Ammen auf dem Land für die Dauer der Stillzeit übergeben. Die Stillzeit lag bei 1 bis 3 Jahren, wobei eine zweijährige Zeit als Regel anzusehen ist [281]. Bereits im frühen Alter ergänzten die Frauen aller Sozialschichten die Nahrung des Säuglings durch einen aus Brot und Milch bzw. Wasser hergestellten Brei [283].
Unsere Kenntnisse über die Säuglingspflege und die Praktiken der Kleinkindererziehung beschränken sich im allgemeinen auf die Verhältnisse im Adel und dem reicheren Bürgertum. Wir können jedoch annehmen, daß die Verhältnisse in den anderen Gruppen der Bevölkerung in den Grundzügen ähnlich waren, nur daß hier die Mutter und nicht die Amme, die mehr ein Kindermädchen als eine bloße Stillamme war, die entscheidende Rolle spielte.
In den ersten Wochen wurde der Säugling zunächst in einem halbdunklen Raum gehalten, damit er sich allmählich an die Helligkeit gewöhnen könne. Besonderen Wert legte man in den ersten Monaten auf das häufige Baden des Säuglings, wobei Mädchen wärmer als Jungen gebadet werden sollten. Die Bewegungsfreiheit der Säuglinge wurde sehr stark eingeschränkt, da die Gliedmaßen und das gesamte Kind fest eingeschnürt wurden, um eine Verformung der Gliedmaßen zu vermeiden. Neben der Pflege und der Ernährung der kleinen Kinder erwiesen die Ammen bzw. die Mütter den Kindern Formen emotionaler Zuwendung. Sie lehrten die Kinder Laufen und Sprechen, erteilten ihnen erste religiöse Unterweisungen und vermittelten ihnen verschiedene Formen des Benehmens [280-283]. Die Erziehung, auch die des Kleinkindes, wurde mit Strenge durchgeführt, denn anderenfalls würde das Kind verderben [281, 284]. Dennoch galten die ersten 7 Jahre als die eigentlichen und die sorglosen Kinder ahre, die mit Spiel und weniger mit Arbeit oder Lernen verbracht i
wurden. Neben zahlreichen Spielen, die Jungen und Mädchen gemeinsam waren, dienten Spiele und Spielzeug in vielen Fällen der geschlechtsspezifischen Sozialisation, wenn z. B. Mädchen bereits mit der Puppe oder in begüterten Kreisen auch mit der Puppenstube auf einige ihrer zukünftigen Arbeitsfelder vorbereitet wurden [285-287].
Auf die Erziehung der Kleinkinder übte im Adel der Vater schon aufgrund seiner häufigen Abwesenheit infolge von Kriegszügen u. ä. nur geringen Einfluß aus. Wertvorstellungen und Ideale der Kinder, auch der Jungen, wurden deshalb häufig durch die Mutter geprägt. In den bäuerlichen Schichten und in Handwerkerkreisen besaß der Vater hingegen einen größeren Einfluß. Einerseits war der Vater im allgemeinen ständig anwesend, zum anderen erfolgte in diesen Schichten bereits frühzeitig eine Integration in den Arbeitsprozeß, die bis zum 7. Lebensjahr bereits in größten Teilen erfolgt war, denn ein Kind mußte in diesem Alter notfalls bereits für seinen eigenen Lebensunterhalt aufkommen können. Diese Integration in die Arbeitswelt dürfte schrittweise erfolgt sein, wobei die Kinder durch Beobachtung lernten. Während die Söhne mit zunehmendem Alter stärker dem Einfluß des Vaters unterlagen und in die männlichen Arbeitsbereiche eingeführt wurden, blieb die Erziehung der Mädchen ausschließlich Angelegenheit der Mutter, die die Tochter auf ihre zukünftigen Tätigkeitsfelder entsprechend der herrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung vorbereitete [Bd. 1, 104, 105, 139; 288].
Mit dem vollendeten 7. Lebensjahr begann die eigentliche Erziehung und Ausbildung der Kinder, die in den bäuerlichen Schichten im wesentlichen in einer Erweiterung der bisher vermittelten arbeitsrelevanten Kenntnisse und damit in einer verstärkten Einbeziehung in den Produktionsprozeß bestanden. Jungen wie Mädchen genossen im Mittelalter keine Schulbildung. Im Elternhaus und in der Dorfgemeinschaft, insbesondere in den Spinnstuben, wurden sie mit der literarischen Tradition der Bauern, mit Märchen, Sagen, Liedern, Schwänken u. ä. vertraut gemacht. Die Grundlagen des christlichen Glaubens wurden ihnen im Elternhaus vor allem von der Mutter vermittelt. Inwieweit die Kirche auch für Mädchen eine religiöse Unterweisung erteilte, entzieht sich unserer Kenntnis. Bis zu ihrer Heirat, die bereits mit 12 oder 14 Jahren erfolgen konnte, blieben die Mädchen quasi als Mägde auf dem elterlichen Hof. Unverheiratete Töchter oder Töchter, die nicht auf dem Hof ihrer Eltern bleiben wollten bzw. wegen der Armut der Eltern nicht bleiben konnten, verdingten sich bei anderen Bauern, bei größeren Haushaltungen oder in der Stadt als Magd. Im Adel übernahmen die Männer die Erziehung der Jungen vom 7. Lebensjahr an [289], während diese bei den Mädchen in erster Linie bei den Frauen verblieb. Grundsätzlich gab es für Mädchen zwischen dem 7. und 14. Lebens ahr drei verschiedene Möglichkeiten der Ausbildung. Blieben die Mädchen zu Hause, so wurden sie von der Mutter erzogen und unterrichtet. Mit dem Beginn des Hochmittelalters wurden in den angeseheneren Adelskreisen diese Aufgaben einer Erzieherin oder Zuchtmeisterin, die von einem Geistlichen, einem Spielmann oder auch einem fahrenden Schüler unterstützt wurde, übertragen. Die Mädchen wurden verstärkt in die weiblichen Arbeitsbereiche, insbesondere in die Herstellung anspruchsvoller Textilien, in die höfische Sitte, in Tanz, Musik und das Spielen von Instrumenten, in fremde Sprachen (im allgemeinen seit dem Hochmittelalter das Französische) sowie in die höfische Literatur eingeführt. Hinzu trat die religiöse Unterweisung, in der Grundkenntnisse der Bibel, des Glaubens und vor allem der Psalter vermittelt wurden. Häufig lernten die Mädchen zu lesen, seltener zu schreiben [293, 301]. Die praktische Ausbildung erfolgte, wie allgemein üblich, durch Beobachtung und Nachahmung, wobei die Mädchen zunehmend vertretungsweise Aufgaben der Mutter selbständig übernahmen [281]. Mädchen aus wohlhabenden Adelskreisen blieben häufig nicht zu Hause, sondern wurden einem Nonnenkloster oder Stift zur Ausbildung übergeben. Inwieweit die Mädchen in diesen äußeren Schulen die gleiche wissenschaftliche Ausbildung wie die Nonnen erhielten, ist umstritten. Verschiedene Berichte machen es jedoch wahrscheinlich, daß die Ausbildung in der äußeren Klosterschule weniger umfassend war und sich auf religiöse Grundkenntnisse, besonders der Kenntnis des Psalters, die Anstandslehre der adligen/ höfischen Gesellschaft, musikalische Kenntnisse, das Erlernen feinerer Handarbeiten sowie das Lesen und seltener auch das Schreiben beschränkte [295]. Seit dem Hochmittelalter trat an die Stelle der Ausbildung in einer Klosterschule häufig die Erziehung an einem fremden Hof, dem das Mädchen gleichfalls etwa mit dem 7. Lebensjahr übergeben wurde. Der Ausbildungsgang entsprach im wesentlichen dem der Klosterschule oder auch der heimischen Erziehung. Es wurde jedoch besonderer Wert auf das Erlernen der höfischen Sitte und Tugenden gelegt [291, 292]. Mit dem 12./13. Jh. erschienen besondere Tugendlehren für die Erziehung der adligen Mädchen, an denen sich die Mütter oder Erzieherinnen orientieren konnten, und die Regeln enthielten, wie sich Mädchen beim Gehen, Stehen, Sitzen, Sprechen, am Tisch, bei Festlichkeiten sowie gegenüber Männern benehmen sollten [296].
Leitlinie der Mädchenerziehung bildete im frühen Mittelalter der Brief des Hl. Hieronymus (gest. 420) an Laeta über die Erziehung ihrer Tochter [297]. Die Mädchen sollten nicht nur zu weiblichen Handarbeiten wie Spinnen, Weben und Schneidern angehalten werden, sondern auch Lesen und Schreiben sowie das Lateinische erlernen, um die Bibel lesen zu können. Eine weitergehende wissenschaftliche Bildung wie bei Jungen hielt er für überflüssig. Im Mittelpunkt seiner Lehren stand die religiöse Erziehung der Mädchen, die stark durch asketische Züge bestimmt wurde. Vor weltlicher Üppigkeit und Verführung sollten die Töchter durch ständige Beaufsichtigung seitens der Mutter bewahrt werden. Dennoch lassen seine Erziehungsmethoden die im Mittelalter übliche Strenge vermissen. Von diesen Gedanken der Mädchenerziehung blieben auch die seit dem 13. Jh. erscheinenden didaktischen und enzyklopädischen Werke bestimmt, die sich u. a. auch mit der Mädchenerziehung beschäftigten. Mädchen sollten zur Schamhaftigkeit, Enthaltsamkeit, Mäßigung, Demut, Schweigsamkeit und Unterordnung unter den Mann erzogen werden. Aufgrund ihrer größeren Anfälligkeit für das Böse und die Sünde sollten sie vor verführerischem Umgang und Müßiggang bewahrt werden, indem sie zu nützlichen Beschäftigungen, d. h. vor allem weiblichen Handarbeiten angehalten wurden. Ihre Bildung sollte auf Lesen, Schreiben, das Verstehen der Bibel und auf die notwendigen weiblichen Fertigkeiten beschränkt bleiben. Eine weitergehende wissenschaftliche Bildung sollte nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Vermeidung des Müßiggangs und zur Ablenkung von verderblichen Gedanken sein [298]. Den eigentlichen Durchbruch der Anerkennung einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung der Mädchen erbrachten erst die Werke von Ludovicus Vives (1492-1540) und seines Lehrers Erasmus von Rotterdam (1466-1536) zu Beginn des 16. Jh., die sie zur Führung des Haushaltes für notwendig erachteten. Doch hatte bei ihnen die sittliche Bildung des Mädchens Vorrang vor der wissenschaftlichen, auch die Unterordnung der Frau unter den Mann und ihre angeblich geringeren Verstandesgaben wurden von ihnen nicht in Frage gestellt [299]. Trotz dieser Geringschätzung der weiblichen Bildung durch die Pädagogik und Literatur des Mittelalters lassen sich zahlreiche Beispiele dafür anführen, daß weltliche Frauen über eine überaus gute Ausbildung verfügten und im allgemeinen bis ins 13. Jh. den Männern, insbesondere was Lesen und Schreiben betrifft, überlegen waren [290, 300, 301, 302, 303]. Durch ihre Sonderstellung zwischen den Gebildeten des geistlichen und den Ungebildeten des weltlichen Standes trugen sie erheblich zur Entstehung und zum Aufschwung der volkssprachlichen mittelalterlichen Literatur bei [301]. Aufgrund ihrer den Männern überlegenen Bildung übernahmen adlige Frauen bisweilen die Erziehung ihrer Söhne über das 7. Lebensjahr hinaus oder übten maßgeblichen Einfluß darauf aus [304, 305].
Im späten Mittelalter schwand der Vorsprung der weiblichen vor der männlichen Laienbildung. Die Herausbildung von Territorialstaaten und der Übergang zu rationaleren Herrschafts- und Verwaltungsmethoden machte im Zusammenhang mit dem entstehenden Berufsbeamtentum eine gründliche Bildung von männlichen Laien, auch des Adels, notwendig. Dem entsprach die Entwicklung in den Städten. Die bürgerliche Selbstverwaltung und das Aufblühen des Handelsverkehrs ließen Lesen und Schreiben als notwendige Kenntnisse für die Berufsausübung der Männer erscheinen, während dies in den traditionellen Betätigungsfeldern der Frauen entbehrlich schien. Bürgerliche Mädchen genossen eine schlechtere Schul- und Ausbildung als Jungen. Die Universitäten blieben ihnen gänzlich und die die höhere Schulbildung vermittelnden städtischen Ratsoder Lateinschulen meist verschlossen [308, 309]. Für Patriziertöchter oder Töchter wohlhabenderer Bürger bildeten die äußeren Klöster- oder Stiftschulen die wesentlichen Bildungsanstalten. Die Töchter wohlhabenderer Kaufleute erlernten manchmal ein Handwerk [306, 307]. Die Töchter der Handwerker wurden nicht nur von ihrer Mutter in die weiblichen Zweige der Hauswirtschaft eingeführt [Bd. 1, 139; 288], sondern sie arbeiteten auch in der Werkstatt des Vaters oder der Mutter mit [Bd. 1, 3291. Als die komplexeren wirtschaftlichen Gegebenheiten zunehmend zumindest elementare Schreib- und Rechenkenntnisse der einfacheren Kaufleute und auch Handwerker erforderten, entstanden im 13:15. Jh. neue städtische Schulen, die deutschen Lese- und Schreibschulen, um den Bedürfnissen dieser Bevölkerungsgruppe Rechnung zu tragen. Wie die Lateinschulen waren auch diese niederen Schulen in erster Linie Bildungsstätten für Jungen, die von Lehrern unterrichtet wurden. Inwieweit an ihnen auch Lehrerinnen unterrichteten oder Mädchen unterrichtet wurden, läßt sich den Quellen nicht eindeutig entnehmen. Berichte über einen gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen dürften eine Ausnahme darstellen [311]. Entsprechende Schulen für Mädchen richteten die Städte nur selten ein. Unterrichtende waren an ihnen Frauen, aber auch Männer [308-310]. Konnten bzw. wollten die Eltern das für die städtischen Schulen erforderliche Geld nicht aufbringen oder waren Mädchen an diesen Schulen nicht zugelassen, so bestand im ausgehenden Mittelalter die Möglichkeit, die Kinder auf eine der zahlreichen privaten Winkeloder Klippschulen zu schicken, die wie die niederen städtischen Schulen die elementarsten Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse vermittelten. Jungen und Mädchen wurden an ihnen sowohl von Lehrern wie auch von Lehrerinnen gemeinsam unterrichtet [311, 313] als auch in gesonderten Anstalten für Jungen und Mädchen, wobei die Mädchen dann von Lehrerinnen, den Lehrfrauen, unterrichtet wurden [314, 315]. Lehrer und Lehrerinnen dieser Schulen entwickelten sich bisweilen zu einer Konkurrenz für die Schulmeister der städtischen Schulen, so daß die Städte gegen die Privatschulen einschritten [313]. Über die Ausbildung und die soziale Lage der privaten Lehrerinnen sind wir nur unzureichend unterrichtet. Betrieb in einigen Fällen ein Ehepaar gemeinsam eine Schule [314], so handelte es sich in anderen Fällen um Handwerkerfrauen und -witwen, sowie Lehrerwitwen oder um Frauen, die gleichzeitig noch ein anderes Gewerbe betrieben. Im Vergleich zu den an den städtischen Schulen Unterrichtenden dürfte das Einkommen dieser Frauen sehr niedrig gewesen sein. Jedenfalls führten sie nur geringe Steuerbeträge ab. Die Vorbildung dieser Frauen wird man nicht sehr hoch veranschlagen dürfen. Sie dürfte häufig kaum die zu vermittelnden Kenntnisse überstiegen haben. Günstiger dürften sich die Verhältnisse in den von Beginen betriebenen Privatschulen dargestellt haben.
[253] Die ehelichen Kinder des Augsburger Kaufmanns Burkhardt Zink und seiner vier Frauen
[254] Die ehelichen Kinder des Ritters Michel von Ehenheim und seiner Frauen Margarethe
[255] Die ehelichen Kinder des Stralsunder Kaufmanns Nikolaus Sastrow und seiner Frau Anna
[256] Die ehelichen Kinder des Augsburger Kaufmanns Lucas Rem und seiner Frau Anna
[257] Die ehelichen Kinder des Lehrers und Druckers Thomas Platter und seiner beiden Frauen
[258] Verbot von Empfängnisverhütung und Abtreibung im salfränkischen Volksrecht, 763/64
§ 25,3. Wenn einer einem Weibe Kräuter zu trinken gibt, daß es keine Kinder haben kann, werde er 2 500 Pfennige, die machen 621/2 Schillinge zu schulden verurteilt.
§ 31,3. Wenn er aber ein Kind im Leibe seiner Mutter - gerichtlich "Schwangere" - tötet, werde er 4 000 Pfennige, die machen 100 Schillinge zu schulden verurteilt. zitiert nach: Eckhardt: Lex Salica [290], S. 143, S. 147.
[259]
Die jeweils angegebenen Strafzeiten sind in der Regel Fastenzeiten bei Wasser und Brot und beziehen sich, soweit diese nicht in Tagen angegeben werden, auf Jahre. 1 Beischlaf, bei dem die Frau auf dem Mann liegt 2 weniger als 40 Tage alter Fötus aus: Noonan: Empfängnisverhütung [419], S. 198f.
[260] Verbot von Empfängnisverhütung und Abtreibung in der Merseburger Bußordnung B, ca. 680-780
§ 13. Wenn einer Tränke angenommen hat, damit seine Frau nicht empfange oder Empfangenes tötet, oder der Mann den Samen vergossen hat durch Unterbrechung des Verkehrs mit seiner Frau, damit sie nicht empfängt, so wie es die Söhne Judas gemacht haben in Thamar, soll jeder einzeln zehn Jahre fasten, davon zwei bei Wasser und Brot.
übertragen nach: Wasserschleben: Die Bußordnungen der abendländischen Kirche [442], S. 430.
[261] Verbot der Sterilisation in der Merseburger Bußordnung C, ca. 680-780
§ 3. Wenn irgendeine Frau [...] ihren weiblichen Körper derartig verändert, daß sie keine Kinder mehr haben kann, büße sie 7 Jahre, 5 davon mit Wasser und Brot, und darüberhinaus kleide sie bei den Armen 3 als weiße Engel oder mache Kleider für die Kirche und gebe viele Spenden und vermehre sie darüberhinaus noch, damit sie nicht des Totschlags angeklagt ist.
übertragen nach: Wasserschleben: Die Bußordnungen der abendländischen Kirche [442], S. 435.
[262] Verbot der Empfängnisverhütung in der Bußordnung Valicellanum 11, 8. Jh. § 57 Wenn eine Frau Kräutergetränke getrunken hat, um nicht zu empfangen, wird sie so vieler Totschläge angeklagt werden, wie sie hätte empfangen oder gebären müssen, und soll entsprechend bestraft werden.
übertragen nach: Schmitz: Die Bußbücher und die Bußdisciplin der Kirche [432], S.379.
[263] Verbot der Abtreibung in der Bußordnung Pseudo-Theodori, 9. Jh.
§ 6. [. . .] Eine Frau, die ihre Leibesfrucht vor dem 40. Tage aus eigenem Antrieb tötet, büße ein Jahr; wenn nach dem 40., drei Jahre. Wenn aber, nachdem es beseelt ist, dann soll sie wie eine Mörderin 10 Jahre büßen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob es eine Arme wegen der Schwierigkeit, es aufzuziehen, oder eine Herrin es tut, um ihr Verbrechen zu verheimlichen. Wenn eine Frau willentlich eine Fehlgeburt einleitet, soll sie 10 Jahre büßen. Wenn eine Frau einer anderen durch ihre Bosheit, d. h. durch einen Gifttrank oder irgendeine Kunst (dabei behilflich ist), soll sie 8 Jahre büßen, wenn sie arm ist nur 5. [...]
übertragen nach: Wasserschleben: Die Bußordnungen der abendländischen Kirche [442], S. 586f.
[264] Verbot der Empfängnisverhütung und Abtreibung im Decretum Burchards, um 1010
§ 19. Hast du das getan, was manche Frauen zu tun pflegen, wenn sie Unzucht treiben und ihre Leibesfrucht töten wollen, nämlich mit ihren maleficia und ihren Kräutern so zu handeln, daß sie den Embryo töten oder beseitigen, oder, wenn sie noch nicht empfangen haben,:es so einzurichten, daß sie nicht empfangen? Wenn du solches getan hast oder damit einverstanden warst oder es andere gelehrt hast, mußt du zehn Jahre lang an den kirchlichen Wochentagen Buße tun. Aber eine Entscheidung aus alter Zeit schloß solche Sünderinnen bis an ihr Lebensende aus der Kirche aus. Denn so oft eine Frau eine Empfängnis verhütet hat, so vieler Morde ist sie schuldig. Es ist aber ein großer Unterschied, ob sie eine arme Frau ist und solches tut, weil sie Not hat, ihre Kinder zu ernähren, oder ob sie es tut, um ein Verbrechen der Unzucht zu verbergen.
zitiert nach: Noonan: Empfängnisverhütung [419], S. 193.
[265] Verbot der Empfängnisverhütung durch Regino von Prüm in der "disciplinis ecclesiasticis", 10. Jh.
2,5. Gibt es hier eine Frau, die ihren eigenen Mann oder irgendeinen Menschen durch giftige Kräuter oder tödliche Tränke getötet oder andere gelehrt hat, solches zu tun? Ist hier ein Mann oder eine Frau, die derartiges getan haben, daß ein Mann nicht zeugen oder eine Frau nicht empfangen kann, oder die anderen beigebracht haben, solche Dinge zu tun?
2,89. Wenn irgend jemand (Si aliquis) zur Befriedigung seiner Lust oder aus bewußtem Haß einem Mann oder einer Frau etwas antut, so daß von ihm oder von ihr keine Kinder geboren werden, oder ihnen zu trinken gibt, so daß er nicht zeugen oder sie nicht empfangen kann, soll er für einen Mörder gehalten werden.
zitiert nach: Noonan: Empfängnisverhütung [419], S. 202, S. 204.
[266] Soranus über den Gebrauch der Abortiva und der Mittel, welche die Conception verhindern, um 100
§ 60. Atokion unterscheidet sich von Phthorionso, dass das erstere ein Mittel bezeichnet, welches die Conception verhindert, das zweite dagegen ein Mittel, welches die Frucht tödtet. Ekbolion halten einige für synonym mit Phthorion, andere sagen dagegen, das Ekbolion bestehe zum Unterschiede von Phthorion nicht in einer Arznei, sondern in einer gewaltsamen Erschütterung des Körpers wie z. B. beim Springen. So habe Hippokrates in seinem Werke über die Natur des Kindes die Abortiva verworfen und als Abtreibungsmittel den Sprung angerathen, bei welchem man mit den Füssen den Steiss berührt. Doch geht die Ansicht über den Gebrauch der Abortiva auseinander. Manche verwerfen sie, indem sie sich einmal auf die Worte des Hippokrates "ich werde niemals ein Phthorion verordnen" berufen und dann weiter anführen, es sei die Aufgabe der ärztlichen Kunst, die Werke der Natur zu erhalten und zu retten. Andere lassen die Phthoria mit Auswahl zu, so niemals in den Fällen, wo stattgefundener Ehebruch oder Besorgniss für die Blüthe Tödtung der Frucht verlangen, dagegen immer, wenn die Geburt gef-ährlich zu werden droht, sei es dass die Gebärmutter zu klein ist und die Entbindung nicht vollenden kann, oder dass sich im Muttermunde Neubildungen und Risse gebildet haben oder irgend ein anderes Geburtshinderniss vorliegt. Diesem entsprechen auch ihre Ansichten über die Anwendung der Mittel zur Verhütung der Conception. In Uebereinstimmung mit diesen halten auch wir es für sicherer, die Conception zu verhindern als die Frucht zu tödten.
§ 61. In den Fällen, wo es nützlicher ist, die Conception zu hindern, soll man den Coitus in den Zeiten unterlassen, welche wir als besonders empfänglich bezeichnet haben, das ist also die Zeit unmittelbar vor und nach der Menstruation. Ferner soll die Frau beim Coitus in dem Augenblicke, in dem der Mann den Samen ejakulirt, den Athem anhalten, ihren Körper ein wenig zurückziehen, auf dass der Samen nicht in die Uterushöhle dringen kann, dann sofort aufstehen, sich mit gebogenen Knieen niedersetzen, in dieser Stellung Niesen. erregen und die Scheide sorgfältig auswischen oder auch kaltes Wasser trinken. Ferner verhindern die Conception Inunktionen des Muttermundes mit altem Oel oder Honig oder Cedernharz oder Opobalsamum entweder allein oder mit Bleiweiss verbunden, oder mit Salbe, welche in Myrthenöl und Bleiweiss bereitet ist, oder mit Alaun, welches ebenfalls vor dem Coitus zu befeuchten ist, oder Galbanum in Wein. Wirksam ist auch weiche Wolle in den Muttermund eingebracht oder vor dem Coitus der Gebrauch von Mutterzäpfchen, welche zusammenziehen und verschliessen. Denn wenn derartige Mittel adstringirend und kühlend wirken, verschliessen sie den Muttermund vor dem Augenblicke des Beischlafs und verhindern den Eintritt des Samens in die Uterushöhle, wirken sie dazu noch reizend, so verhindern sie nicht nur das Verbleiben des Samens in der Uterushöhle, sondern ziehen sogar noch eine andere Flüssigkeit aus derselben.
Von anderen derartigen Mitteln erwähne ich noch: Fichtenrinde, Rhus coriaria, beides zu gleichen Theilen: zerreibe es mit Wein und wende es kurz vor dem Coitus an vermittelst Wolle. Diese ist nach 2-3 Stunden zu entfernen, und dann darf der Coitus stattf inden.
Ein anderes Mittel: Kimolische Erde, Panaxwurzel, zu gleichen Theilen für sich allein oder auch mit Wasser vermischt als Paste. Anwendung wie vorher.
Oder: Das Fleisch von frischen Granaten mit Wasser zerrieben.
Oder: Zwei Theile Granatapfelschale, ein Theil Gallapfel; zerreibe diese zu kleinen Kugeln und lege sie nach dem Aufhören der Menstruation unter den Muttermund. Oder: Gelöster Alaun und das Fleisch der Granate mit Wasser zerrieben. Die Anwendung geschieht vermittelst Wolle.
Oder: Unreifer Gallapfel, Granatenmark, Ingwer. Nimm von jedem 2 Drachmen, forme es zu Kügelchen von Erbsengrösse, trockne sie im Schatten und gebrauche sie als Mutterzäpfchen vor dem Coitus.
Oder: Verreibe das Fleisch getrockneter Feigen mit Natrum und gebrauche es ebenso.
Oder: Granatapfelschalen mit Gummi und Rosenöl zu gleichen Theilen.
Ferner wirkt in gleicher Weise das Trinken des Honiggemisches. Vermeiden muss man dagegen alle scharfen Mittel, weil sie ätzend wirken. Alle angeführten Mittel sind nach Beendigung der Menstruation anzuwenden.
§ 63. Manche empfehlen auch, einmal im Monat eine Quantität Kyrenaischen Saftes von der Grösse einer Kichererbse mit zwei Cyathi Wassers zu geniessen, denn dieses befördert die Menstruation. Oder auch: Je zwei Obolen von Opopanax, vom Kyrenaischen Safte und vom Safte der Raute mit Wachs als Pillen zu formen und zu verschlucken; es ist dann gewässerter Wein nachzutrinken oder dieses Mittel selbst in gewässertem Weine zu geniessen. Oder einen Trank bestehend aus je drei Obolen Levkolen- und Myrthensamen, einer Drachme Myrrhe und zwei Körner des weissen Pfeffers, in Wein drei Tage lang zu trinken. Oder eine Obole vom Raukensamen und 1/2 Obole Sphondylium vermischt mit Sauerhonig zu trinken.
Diese Mittel verhindern nicht nur die Conception, sondern zerstören auch das Produkt derselben. Unserer Meinung nach ist der von ihnen ausgehende Schaden doch ein ganz beträchtlicher, denn sie verderben den Magen und erregen Erbrechen, auch beschweren sie den Kopf und ziehen ihn in Mitleidenschaft. Manche gebrauchen A,mulete in der festen Ueberzeugung von der antipathischen Wirkung derselben. Diese Amulete enthalten die Gebärmutter einer Mauleselin oder den Ohrenschmutz derselben und derartiges mehr. Doch der Erfolg dieser Amulete ist trügerisch.
§ 64. Hat die Conception einmal stattgefunden, so hat man zunächst 30 Tage lang gerade den früher gegebenen Vorschriften entgegen zu handeln. Damit sich der Samen löst, soll man also auf dem Spaziergange sich stark bewegen, sich im Wagen tüchtig durchschütteln lassen, kräftig springen und übermässig schwere Lasten heben, harntreibende Dekokte geniessen und das Monatliche in Fluss bringen, scharfe Klystire geben, welche den Unterleib ausspülen, mit süssem und warmem Oele bald injiziren bald tüchtig salben und reiben am ganzen Körper, besonders aber die Scham, den Unterleib und die Lende, täglich sich in einem süssen Wasser waschen, welches nicht zu heiss sein darf, in dem Bade längere Zeit verweilen, vor dem Bade einen schwachen Wein trinken und scharfe Speisen dazu essen. Ist dieses noch nicht von Erfolg, so soll man sich mit jenen K örpertheilen in eine Abkochung von Leinsamen, Bockshorn, Malve, Althaea, Artemisia setzen und mit diesen auch jene Theile bähen, Injektionen vornehmen mit altem Oel und zwar für sich allein oder in Mischung mit Rautensaft oder Honig, ferner mit Irissalbe oder Absinth gemischt mit Honig oder Opopanax oder mit Graupenschleim in Mischung mit Raute und Honig, oder mit Syrischer Salbe. Tritt der Abortus dann noch nicht ein, so soll man nicht länger die gewöhnlichen Salben anwenden, sondern übergehen zu Salben aus feinem Bohnenmehle gemischt mit Stiergalle und Wermuth und derartigen Umschlägen.
§ 65. Steht der Eintritt des Abortus bevor, so soll man 2 oder 3 Tage vorher öfter baden, wenig geniessen, erweichende Mutterzäpfchen anwenden, sich des Weines enthalten, schliesslich zur Ader lassen und kräftig abführen. Der Ausspruch der Hippokrates in den Aphorismen: "Jedes schwangere Weib erleidet einen Abortus, wenn ihm zur Ader gelassen wird" trifft zwar nicht bei einer mit straffer Faser versehenen, doch immer bei einer gesunden Frau zu. Denn wie Schweiss, Harn und Koth ausgesondert werden, sobald die ihre Substanz umfassenden Theile erschlaffen, so fällt auch die Frucht heraus, wenn der Uterus sich zu früh eröffnet. Nach dem Aderlass soll man sich im Wagen durchrütteln lassen, denn die Erschütterung ist wirksamer, wenn die Geschlechtstheile vorher erschlafft sind. Auch aufweichende Mutterzäpfchen soll man gebrauchen. Sollte aber die Frau für den Aderlass zu schwach sein, so muss man die Geschlechtstheile zunächst durch Sitz- und andere Bäder, erweichende Mutterzäpfchen, Wassertrinken, Fasten, Abführmittel schlaff machen, auch kann man ein aufweichendes Mittel als Klystier anwenden, dann aber muss man ein die Frucht tödtendes Mutterzäpfchen gebrauchen. Zum Pessarium darf man nicht zu scharfe Mittel wählen, auf dass sie nicht ein Allgemeinleiden und Fieber herbeiführen. Solche milderen Mittel sind: Myrrhenöl, Levkojensamen, bittere Lupinen zu gleichen Theilen sind zu Zeltchen von der Grösse einer Bohne zu formen. Oder: 3 Drachmen Rautenblätter, 2 Drachmen Myrrhe und ebensoviel Lorbeer sind mit Wasser zu digeriren. Ein anderes Mutterzäpfchen, das fast ohne Gefahr abtreibt, ist folgendes: Vermische zu gleichen Theilen mit Wasser Levkoje, Kardamus, Schwefel, Absinth, Myrrhe. Vor dem Gebrauch dieses Pessar's soll man sich ganz baden oder wenigstens ein Sitzbad nehmen; tritt der Erfolg nicht ein, soll man Sitzbad und Pessarium wiederholen.
Es sind noch viele andere Abortiva bei anderen Aerzten aufgeführt worden. Doch muss man stets sich vor solchen hüten, die stark wirken; ebenso ist die Loslösung des Embryo mit einem spitzigen Instrument zu verwerfen, weil die Gefahr, dass die umliegenden Geschlechtstheile verletzt werden, doch gross ist.
Die Nachbehandlung nach stattgefundenem Abortus ist dieselbe wie bei jeder Entzündung.
Soranus: Gynäkologie [436], S. 43-47.
[267] Avicenna über Methoden der Empfängnisverhütung, 980-1037
Der Arzt ist manchmal verpflichtet, bei einer kleinen Frau, für die eine Geburt gef*ährlich sein könnte, oder bei einer Frau, die an einer Erkrankung der Gebärmutter oder an einer Blasenschwäche leidet, eine Schwangerschaft zu verhüten. Zu den Methoden der Empfängnisverhütung gehören folgende:
- Vermeide die Form (Zeit) des Geschlechtsverkehrs, welche die Empfängnis fördert und die wir bereits genannt haben.
- Überdies sollten die Partner den gleichzeitigen Orgasmus vermeiden.
- Rasche Trennung der beiden Personen (d. h. Zurückziehen kurz vor dem Orgasmus des Mannes).
- Die Frau sollte sich nach dem Koitus erheben und sieben- oder neunmal (magische Zahlen) rückwärts schnellen. Es dürfte denkbar sein, daß auf diesem Wege der Samen herauskommt. Vorwärts schnellen veranlaßt den Samen (in den weiblichen Geschlechtsorganen) zu verbleiben.
- Ein anderer Weg den Samen zu entleeren ist es, Niesen zu provozieren.
- Die Frau sollte ebenso, um vorsichtig zu sein, die Vagina vor und nach dem Koitus mit Zedernöl bestreichen
- und den Penis des Mannes damit einreiben,
- oder sonst mit Balsam oder Bleiweiß einreiben.
- Ein anderes Rezept für die Frau ist es, vor und nach dem Koitus das Fruchtmark des Granatapfels mit Alaun in die Vagina einzuführen.
- Sie kann während der Periode der Reinheit (nach der Menstruation) Kohlblüten und samen einführen. Der Gebrauch des letzteren vor und nach dem Koitus ist ebenfalls ein wirkungsvolles Mittel für den gleichen Zweck,
- besonders, wenn mit Zedernöl vermischt oder in eine Abkochung des Minzensaftes (Mentha Pulegium) getaucht.
- Die Blätter der Trauerweide in einem Tampon aus Wolle nach der Menstruation in die Vagina eingeführt (ergeben ein wirkungsvolles Verhütungsmittel),
- besonders, wenn es noch in den Saft der Trauerweide eingetaucht wurde.
- Das gleiche wird erreicht durch (ein Pessar hergestellt) gleiche zerstoßene Anteile von Koloquintengurke, Alraune, Eisenschlacke, Schwefel, Syrische Winde (Convulvus scammony) und Kohlsamen, vermischt mit Zedernöl und eingeführt (getragen).
- Das Einführen von Pfeffer nach dem Koitus verhindert ebenfalls die Empfängnis und
- gleiches tut die Einführung von Elefantendung allein
- oder in Räucherungen zu den vorher genannten Zeiten.
- Es ist ebenfalls nützlich, drei (okas) von einem Aufguß von Basilikum o. zu trinken, (da) es die Empfängnis verhütet.
- Wenn der Penis, insbesondere die Eichel, vor dem Koitus mit süßem Öl eingerieben werden, wird die Empfängnis verhütet.
- Gleichfalls verhindern die Blätter der Winde die Empfängnis, wenn sie von der Frau nach der Menstruation eingeführt werden. übertragen nach: Himes-. Medical History of Contraception [396], S. 142f.
[268] Jahrbücher von Quedlinburg über die Tötung eines mißgestalteten Zwillingspaars, 10 12
[...] In einem Dorfe des sächsischen Schwabens, namens Kochstedt, wurden Zwillingsbrüder mit Zähnen geboren und einem Munde wie Vögel, der eine aber hatte nur die Hälfte des rechten Armes gleich dem Flügel eines Vogels. Am dritten Tage nach der Geburt sollen sie untereinander gelacht haben. Auf Beschluß der Bürger ließ man sie sterben, weil ihr längeres Leben für alle ein Schrecken war.
zitiert nach: Die Jahrbücher von Quedlinburg [645], S. 36.
[269] Straffreiheit bei Tötung des eigenen Kindes durch die Mutter im friesischen Volksrecht, 802/803 § 5. Von den Menschen, die ohne Buße getötet werden können
1. [...] und das Kind, das nach dem Austritt aus dem Mutterleib von der Mutter getötet wird.
2. Und wenn dies aber eine andere Frau tut, büße sie ihr Manngeld dem Könige, und wenn sie leugnet, schwöre sie mit 5.
zitiert nach: Eckhardt, Die Gesetze des Karolingerreiches [288], Bd. 3, S. 75-77.
[270] Versuchte Kindestötung nach der Lebensbeschreibung des heiligen Luidger, 864
Als die genannte Liafburch (Liudgers Mutter) geboren wurde, hatte sie eine heidnische Großmutter, und zwar die Mutter ihres Vaters, die den rechten Glauben ganz und gar ablehnte. Diese erfaßte unsäglicher Zorn, weil ihre Schwiegertochter nur Mädchen und keinen Stammhalter geboren hatte; sie sandte bewaffnete Knechte aus, die die eben geborene Tochter von der Mutterbrust rauben und töten sollten, bevor sie von der Muttermilch getrunken hatte; denn es entsprach heidnischer Sitte, daß, wenn ein Sohn oder eine Tochter getötet werden sollte, dies nur geschehen durfte, bevor sie irdische Nahrung zu sich genommen hatten. Die Knechte raubten auch, wie befohlen, das Mädchen und führten es mit sich fort. Einer trug es zu einem wassergefüllten Kübel mit der Absicht, es im Wasser unterzutauchen und so zu töten. Es begab sich jedoch durch ein Wunder des Allmächtigen, daß sich das Mädchen, das noch niemals von der Mutterbrust getrunken hatte, mit ausgestreckten Ärmchen und beiden Händen am Rand des Kübels festhielt, um nicht ertränkt zu werden. Wir glauben, daß diese Kraft eines überaus schwachen Mädchens dank göttlicher Vorsehung geschah aufgrund der Tatsache, daß späterhin zwei Bischöfe ihr das Leben verdanken sollten, nämlich Liudger und Hildigrim.
Zu diesem wundersamen Kampf kam durch Gottes mitleidige Fügung eine Nachbarsfrau hinzu, die von Mitleid ergriffen das Mädchen der Hand des genannten Knechtes entriß und mit ihm zu ihrem Haus lief. Sie schloß die Türe hinter sich, gelangte in einen Raum, in dem Honig aufbewahrt wurde und tat etwas von diesem Honig in den Mund des Mädchens, das sofort davon hinunterschluckte. Inzwischen kamen die genannten Schergen, um den Befehl ihrer Herrin auszuführen; diese Wütende beherrschte nämlich ganz das Haus ihres Sohnes. Die Frau aber, die das Kind mit sich gerissen hatte, lief den Knechten entgegen und rief, daß das Mädchen von dem Honig gegessen habe und zeigte zugleich, daß es noch die Lippen leckte. Aus diesem Grund war es nach heidnischem Gesetz verboten, das Mädchen zu töten. Daraufhin ließen die Knechte von ihr ab und die Frau nährte heimlich das Kind, indem sie ihm mit Hilfe eines Horns Milch einflößte. Auch die Mutter sandte insgeheim an die Pflegemutter, wessen das Mädchen bedurfte, bis diese Frau starb; von da an übernahm die Mutter die Pflege ihres Kindes.
zitiert nach: Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance [372], Nr. 9, S. 98 f.
[271] Kindestötung bei den Pommern nach dem "Herbordi dialogus de vita Ottonis", 1158/59
Bis zu jenen Zeiten (herrschte die Sitte): Wenn eine Frau mehrere Töchter geboren hatte, so ermordete sie einige von ihnen, um für die anderen desto leichter sorgen zu können. Solch einen Verwandtenmord hielten sie für unwesentlich.
zitiert nach: Peiper: Chronik der Kinderheilkunde [422], S. 148.
[272] Verringerte Fronpflichten der Kindbetterin im Weistum zu Steinecken, 1506
Wenn eine Frau während der Ernte im Kindbett liegt [...] und sie hat einen Sohn, so mag sie mit einem Frontag drei Frontage vergelten, und hat sie eine Tochter, so mag sie mit einem zwei Frontage vergelten.
übertragen nach: Grimm: Weistümer [306], Bd. 2, S. 400.
[273] Unterschiedliche Holzlieferungen bei der Geburt einer Tochter bzw. eines Sohnes in der Öffnung von Neftenbach, o. J.
43. Weiterhin, wer den obengenannten Herren und Vögten untersteht, er sei ein höriger Mann oder ein Hintersasse, wird ihm ein Knabe geboren, so soll man ihm zwei Karren Holz geben, wird ihm eine Tochter geboren, so soll man ihm einen Karren Holz geben.
übertragen nach: Grimm: Weistümer [3061, Bd. 1, S. 79.
[274] Johannes von Lodi, Lebensbeschreibung des heiligen Petrus Damiani, um 1080
Der Gottesmann Petrus mit dem Beinamen Damianus [...] wurde, obgleich in Ravenna von ehrenwerten Eltern geboren, vom Wiegenalter an von widrigen Umständen begleitet. Als ihn seine Mutter als Letzten geboren hatte, war sie der Söhne bereits überdrüssig, denn das Haus schien mit Erben wohlgefüllt. Dazu stimmte eines der Kinder, das schon im Jünglingsalter stand, die Wehklage an: "Welche Schande! Nun sind wir schon so viele, daß wir im Haus kaum Platz finden. Und wie schlecht stimmt die große Erbenschar mit dem kärglichen Erbe zusammen!" Auf diese Worte hin verfiel die Mutter in einen heftigen und typisch weiblichen Zornesausbruch, beklagte händeringend ihr Unglück und verkündete lauthals, nicht länger leben zu wollen. Als Folge davon wurde das Neugeborene, bevor es noch die Mutterbrust erhalten hatte, sozusagen gleich abgestillt und niemals wollte die Mutter es in ihre Arme nehmen; sie bezeichnete sich selbst als Unglückliche und verbannte daher das Kind aus ihrer Gegenwart, auf diese Weise entwöhnte sie den Sohn, bevor dieser lebensfähig war und entzog ihm sein einzig mögliches Besitztum: die Mutterbrust. Als daher dieses völlig entkräftete Lebewesen, welches jegliche mit dem Stillen verbundene Fürsorge entbehren mußte, durch Hunger und Kälte bereits eine ungesunde Farbe annahm und sich nur noch mit einer heiseren und schwachen Stimme, eher einem Zischen, aus kaum noch zitternder Brust vernehmen ließ, da kam zufällig die Frau eines Priesters, die so etwas wie der gute Geist des Hauses war, hinzu und tadelte die unmenschliche Härte der Mutter mit harten, schon an der Grenze des Schicklichen liegenden Worten: "Gebührt sich das denn für eine christliche Mutter, Herrin, wie sich keine Löwin oder Tigerin verhalten würde? Sie nähren ihre Jungen und wir, Gottes Ebenbilder, verstoßen unsere leiblichen Nachkommen? Und vielleicht nimmt einmal der, der nun so verstoßen wird, wenn er erwachsen ist, unter Seinesgleichen nicht den geringsten Platz ein? Außerdem mußt du befürchten, wenn du deine Mutterpflicht ablehnst, zu Recht als Kindesmörderin zu gelten!" Mit diesen Worten nahm die Frau des Priesters ganz und gar die Aufgabe eines Seelsorgers wahr, indem sie an Mutterliebe und Pflichtgefühl appellierte und dem todgeweihten Sohn das Leben zurückgab. Und dann streifte die gute Frau die Ärmel zurück, breitete ein Fell in der Nähe des Feuers aus und legte das Kind darauf. Sie streckte die kindlichen Gliedmaßen, salbte und massierte den kleinen Körper mit großem Eifer. Man sah förmlich, wie die schwachen Glieder den fettig schmelzenden Umschlag in sich aufsogen und die gesunde Farbe allmählich zurückkehrte: schlagartig blühte das Kind im Glanz des frühen Säuglingsalters auf. So geschah es, daß seine Mutter wie Herodes handelte (vgl. Matth 2,13 ff.), jene aber wie Elias (vgl. 1 Reg 1, 17 ff.); und so wurde das Kind durch den Eifer eines sündigen Weibes, nachdem es schon aufgegeben war, aus dem Rachen des Todes zurückgerissen und seine Mutter vom Kindesmord abgehalten. Diese erinnerte sich nun freilich an ihre Aufgabe und nahm, was sie eben noch als fremd von sich gestoßen hatte, in liebevoller Umarmung und mütterlicher EmPfindung wieder an und verwandte fortan alle Sorgfalt auf die Pflege des Kindes.
zitiert nach: Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance [372], Nr. 13, S. 101 f.
[275] Bestrafung der Eltern, die ihre Kinder erdrücken, in der Rechtssumme des Berthold von Freiburg, um 1350
Wenn Eltern ihre Kinder zu sich ins Bett nehmen wegen des Frostes und der Kälte, oder wenn sie sich vor den Tieren oder vor den Schlangen-fürchten, und sterben dann die Kinder bei ihnen in dem Bett, während sie schlafen und werden erdrückt, so haben die Eltern an dem Tod keine Schuld. Jedoch sollen sie das beichten und Buße empfangen, wenn sie in keiner Weise daran schuldig sind, [...] soll die Buße nicht groß sein. Wenn sie aber die Kinder nicht aus solchen redlichen Motiven heraus zu sich ins Bett nehmen, sondern aus ungehöriger Liebe oder aus Trägheit und Falschheit, da sie den Kindern die Milch und die Muttermilch desto leichter im Bett als außerhalb geben (können), und wenn die Kinder dann bei ihnen sterben, so sind sie daran schuldig und sollen drei Jahre mit Fasten und mit Beten und mit Almosen geben und dem Besuch der Heiligen (Pilgerfahrt?) büßen. Und das erste Jahr, wenn sie fasten sollen, daß sie dann Wasser und Brot essen, und die anderen zwei Jahre was ihnen bestimmt wird. Wenn die Eltern dickleibig sind und von ungeschickten und groben Sitten und Gebärden und die Kinder bei ihnen sterben, so sollen sie fünf Jahre büßen, oder wenn sie betrunken sind, und nicht befürchten, daß die Kinder sterben, so sollen sie sieben Jahre büßen. [...] Kleine Kinder, die man leicht erdrücken kann, können die Eltern nicht ohne Sünde zu sich nehmen, wenn sie bei ihnen sterben.
übertragen nach: Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance [372], Nr. 45, S. 136.
[276] Beschreibung einer Kindesaussetzung in der Lebensbeschreibung des heiligen Goar, um 1100
Ein Diener der Trierer Geistlichkeit "trug auf seinen Armen ein Kind, das drei Tage alt war. Das war in einer bestimmten Marmorschale ausgesetzt worden, wie es in Trier Sitte ist, daß arme Frauen ihre Kinder ausssetzen. Und diese Sitte verlangt ferner, daß, wenn irgendein Mann eines von den ausgesetzten Kindern, die sich Ziehkinder nennen, von den Hütern der Kirche St. Peters zu kaufen wünscht, der Bischof selbst das Kind darbieten und nachher auch von dem Bischof dem Manne das Recht über das Ziehkind bestätigt werden muß".
zitiert nach: Peiper: Chronik der Kinderheilkunde [422], S. 148.
[277] Bericht und Beratschlagung betreffs der Findelkinder in Straßburg v. 23. 4.1484
Die Herren, denen aufgetragen ist, über die Waisen, die heimlich in das Münster gelegt werden, zu beratschlagen, haben sich bei Hans Jerger, ihrem Vogt, über Wesen und Handlungsweise, wie bisher mit diesen Kindern umgegangen worden ist, erkundigt und erfahren, daß am Anfang nur wenig Waisenkinder aus den Häusern armer,Kindbetterinnen in das Münster gebracht oder gelegt worden sind, da sie diese wegen Armut oder Verlust ihres Lebensunterhalts nicht erziehen (könnten) und vielleicht selbst nicht genug zu essen hatten; also daß ihrer etliche Jahre sechs oder acht Kinder waren, die mit dem heiligen Almosen versehen und ausgestattet wurden und durch fromme Spenden und von einer Waisenmutter erzogen wurden. Und danach, als es mehr geworden waren, so daß ihrer etwa 10, 12 oder um 20 waren, wurden von unseren Herren, den Räten der Stadt Straßburg, rechtschaffene Leute, alte Amtsmeister und auch andere rechtschaffene Personen, als Vögte, Pfleger und Vormünder eingesetzt, die sie ihrem Bedürfnis entsprechend löblich versorgten und erzogen. Und im Laufe der Zeit sind immer mehr ausgesetzt worden, und insbesondere jetzt [. . .] sind 31 Waisenkinder bei Ammen für jeweils 3 Pfund verdingt, weiterhin im Waisenhaus 25 Kinder mit einem aus vier Personen bestehenden Gesinde.
übertragen nach: Winckelmann: Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg [443a], Nr. 21, S. 55f.
[278] Ein Hirte übergibt ein von ihm aufgefundenes Findelkind im Waisenhaus
[279] Straßburger gatsverordnung über die Bestrafung der Kindesaussetzung, 1411
Unsere Herren Meister. und der Rat sind darin übereingekommen: Wer hinfort irgendein junges, unerzogenes Kind, es sei sein eigenes oder das anderer Leute, heimlich im Münster, in anderen Kirchen oder an anderen heimlichen Stätten in dieser Stadt oder ihrem Burgbann aussetzt und von ihm weggeht und es so stehen läßt, daß man nicht weiß, wem es gehört, der soll, wenn man ihn innerhalb unseres Gerichtsbezirks ergreift, es sei Mann oder Frau, Knabe oder Mädchen, ertränkt
werden. Man wird auch heimliche Hüter einsetzen, die mehr darauf achten sollen, als es bisher geschehen ist. Wenn jemand jetzt sein Kind ausgesetzt hat, so soll er es in den nächsten acht Tagen wieder zu sich nehmen. Wer das nicht tut, wenn man den- oder diejenige erfährt, den soll man an seinem Leib in der oben beschriebenen Weise bestrafen. [...]
übertragen nach: Das heimliche Buch der Stadt Straßburg, in: Chroniken der deutschen Städte (378b], Straßburg, Bd. 2, S. 1029.
[280] Bartholomaeus Anglicus in seiner Schrift "Über die Natur der Dinge" über die Kleinkindererziehung, um 1250
Wenn das Neugeborene zu kalter oder zu warmer Luft ausgesetzt ist, so leidet es Schaden und fühlt sich unwohl, wie sein angeborenes Schreien ganz deutlich macht. Das Fleisch des eben geborenen Kindes ist weich und zart und benötigt daher verschiedene Heil- und Nährmittel. So sagt Constantinus (Africanus) Buch 3, Kapitel 33: Die Säuglinge sollen nach Verlassen des Mutterleibes in mit Salz zerriebenen Rosenblättern gewälzt werden, damit ihre Glieder gestärkt und von schmieriger Feuchtigkeit befreit werden. Danach sollen Gaumen und Zunge mit einem mit Honig bestrichenen Finger eingerieben werden. Dies reinigt und stärkt das Mundinnere und die Süße des Honigs fördert den Appetit des Säuglings. Das Kind soll häuf ig gebadet sowie mit Myrten- oder Rosenöl gesalbt werden. Alle Glieder sollten, insbesondere bei den Knaben, deren Gliedmaßen durch Übung stärker sein sollen, kräftig massiert werden. Zum Schlaf ist ein Ort mit gedämpftem Licht zu wählen, damit sich der Gesichtssinn allmählich entwickeln kann. Ein zu heller Platz verführt zum Schielen und schadet den noch empfindlichen Augen, daher sollen die Kinder nicht zu grellem Licht ausgesetzt werden, um dem Sehvermögen nicht zu schaden.
Vor allem ist darauf zu achten, daß sie nicht mit schlechter Milch oder mit verdorbener Nahrung aufgezogen werden. Denn aus schlechter Milch resultieren schlimme Krankheiten: Geschwüre im Mund, Erbrechen, Fieber, Krämpfe, Durchfall und dergleichen. Auch soll bei Krankheiten nicht den Kindern, sondern der Amme die Medizin eingegeben werden; mit ihrer Hilfe und entsprechender Diät wird durch sie die Krankheit des Kindes geheilt. So sagt Constantinus am angegebenen Ort. Aus einer guten Mutterrnilch wachsen gesunde Kinder heran und umgekehrt. Schlechtes Blut bei der Amme schadet dem Säugling. Dies hat seine Ursache in der schwachen Natur des Kindes und der leichten Verderblichkeit der Milchnahrung.
Die Gliedmaßen des Kindes sind wegen ihrer Schwäche leicht verformbar, deshalb müssen sie durch Wickelbinden und Windeln eingebunden werden, damit sie nicht verkrümmt oder verkrüppelt werden. Zur Begründung vergleiche man Buch 5 "CJber den Nabel". Weil Kinder viel Nahrung aufnehmen, haben sie ein großes Schlafbedürfnis, damit das Innere die natürliche Wärme zurückgewinnen und die Nahrung verdaut werden kann. Daher pflegen die Ammen auf Grund eines Naturinstinkts die Säuglinge in eine Wiege zu betten und hin und her zu bewegen. Auf Grund des sanften Wiegens wird die Körperwärme bestärkt und durch eine leichte Umnebelung im kindlichen Gehirn ein leichter Schlaf bewirkt. Man pflegt auch Gesang anzuwenden, um den kindlichen Sinn durch eine süße Stimme zu erfreuen. Hierzu bemerkt Aristoteles (De animalibus 116), daß bei Säuglingen das Gehirn im Vergleich zum übrigen Körper sehr groß ausgebildet ist. Folglich ist die obere Körperpartie des Säuglings größer und schwerer als der restliche Körper und daher bewegt sich das Kind zu Anfang auch auf Händen und Füßen und richtet seinen Körper erst allmählich auf, weil der vordere Teil sich zurückbildet und dadurch leichter wird, die untere Körperpartie hingegen wächst und folglich schwerer wird. Das Kleinkindalter endet mit dem Eintritt ins Knabenalter. [. . .]
Die Amme wird so bezeichnet, weil sie dem Säugling Nahrung spendet (nutrix a nutriendo est dicta); Isidor zufolge geschieht dieses Nähren in Vertretung der Mutter. Daher freut sich die Amme wie die Mutter, wenn das Kind glücklich ist, und ist traurig, wenn das Kind unglücklich ist; sie hebt es auf, wenn es hingefallen ist, stillt es, wenn es weint, bedeckt es mit Küssen, wickelt und deckt es zu, wenn es sich freigestrampelt hat, wäscht und legt es trocken, neckt das sich wehrende Kind mit dem Finger, bringt ihm das Sprechen bei, indem sie lallt und sich beinahe die Zunge bricht dabei. Sie verwendet Medizin zur baldigen Gesundung des kranken Kindes. Sie trägt es auf Händen, Schultern und Knien und nimmt das weinende Kind auf. Sie kaut ihm das Essen vor, damit das zahnlose Kind leichter schlucken kann, und stillt auf diese Weise seinen Hunger. Mit Singen und Pfeifen wiegt sie es in den Schlaf, umwickelt seine Glieder mit Windeln und Tüchern und richtet es so, daß das Kind keine Verkrümmung erleidet. Mit Bädern und Salben erfrischt sie seinen ermatteten Körper; hierzu ist auch das obige Kapitel über das Kind zu vergleichen.
zitiert nach: Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Re.,naissance [372], Nr. 24, S. 111- 113.
[281] Konrad von Megenberg in seiner "Ökonomik" über die Kleinkindererziehung,1352
Nach der Geburt und solange es in der Wiege liegt, ist das Kind mit der größten Sorgfalt zu pflegen; beispielsweise ist eine geeignete Amme zu finden, deren Temperament dem des Kindes ähnlich ist. Es bedarf nämlich für ein phlegmatisches Temperament einer phlegmatischen Amme und eine sanguinische Veranlagung erfordert eine entsprechende Reibfläche. [...] Doch wenn es irgend möglich ist, so ist es das Beste, wenn die eigene Mutter das Kind stillt; denn durch ihr Blut ist es im Mutterleib vom Beginn seiner Tage ernährt worden und hat es seine körperliche Substanz erhalten. Denn Gleiches wird zweckmäßiger von Gleichem ernährt, weil diese Vorprägung den Übergang (der Nahrung) erleichert. Das Blut, von dem es seine Gestalt erhalten hat, bekommt dem Kind am besten, denn was ist die Milch anderes als das Blut der Frau, das in den von der Natur dafür vorgesehen Organen wiederum aufbereitet wird? Eine Frau und allgemein jede Mutter, die sich weigert, ihr Kind zu stillen, ist eine Rabenmutter; [...]
Außerdem ist es äußerst schädlich, wenn die Amme starke Weine trinkt, denn in betrunkenem Zustand könnte sie leicht das Kind vernachlässigen, so daß es, während die Amme eingeschlafen ist, Non den Haustieren verschlungen oder aus ihren Händen ins Feuer oder Wasser fallen oder auch in ihrem Bett im Schlaf durch Überliegen erstickt werden kann; auf diese Weise sterben viele Kinder [...] Wer also sein Kind liebt, scheue sich nicht auf die Amme achtzugeben und ihr entsprechende Speisen und Getränke bereitzustellen. Denn man muß die Amme um des noch mehr geliebten Kindes willen lieben. Aus diesem Grunde ist es auch sicherer, die Amme im Haus zu haben als außerhalb, damit die elterliche Sorgfalt ein besseres Auge auf das Kind haben kann als wenn eine fremde Amme nur ihren Vorteil sucht.
Ein geeigneter Raum soll etwas abgelegen sein, um Wiege und Amme angenehm und reinlich unterzubringen; dort soll das Kind genährt und zum Schlafen niedergelegt sowie trockengelegt werden, bevor es im Speisesaal vor das Angesicht seiner Eltern gebracht wird; eine liebevolle Mutter wird auch dazwischen aufmerksam nach ihm sehen. Die Windeln sollen genügend weiß sein und gewechselt werden, darin soll das Kind in der Wiege gewickelt sein. Auch soll das Kind den Blicken nicht in schmutzigen Windeln dargeboten werden, sondern nach Möglichkeit sollen welche dazu bestimmt sein, in der Wiege ihre Aufgabe zu erfüllen und andere, das Kind in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Doch was soll eine arme Bauersfrau tun oder, allgemeiner gesprochen, eine arme Frau, die ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit erwirbt? Wenn sie kein Linnen hat, ihr eigenes Haupt zu bedecken oder in geziemender Weise den Nabel des Kindes? Wie soll sie den gewünschten Wechsel der kindlichen Bekleidung vornehmen, wo ein eigenes Wiegenzimmer hernehmen? Doch dies ist nicht schwer zu erklären, denn den Armen wird der Schmutz gewissermaßen aufgezwungen, um den Reichen die Reinlichkeit zu sichern. Auch der Herr der Natur hat seine Gaben aufgeteilt und wo er geringeres Vermögen zugeteilt hat, dort verteilt er um so großzügiger seine Gnade. Ich habe dies oft bei mir bedacht und mit Bewunderung festgestellt, daß viele arme Frauen in schwangerem Zustand schwerste Arbeiten verrichteten, die bei einer wohlhabenden Frau ohne Zweifel zu einer Fehlgeburt führen würden. [. . .]
Die Zeit für das Abstillen ist gewöhnlich nach einem Jahr gekommen, bei den ärmeren Leuten auch nach eineinhalb Jahren, selten auch erst nach zwei Jahren [...] Gewöhnlich sind jene von kräftigerem Körperbau, die längere Zeit mit der Muttermilch großgezogen wurden, solange, bis die Glieder des kindlichen Körpers schon eine gewisse Festigkeit erreicht hatten, weil sie dann durch die Eigenschaften einer fremden Ernährung weniger durcheinandergebracht oder geschwächt werden; so wie es im Sprichwort über vierschrötige Menschen heißt: Der wäre zu einem Mann geworden, wenn man ihn über ein Jahr hinaus gestillt hätte.
Man sollte für das entwöhnte Kind ein Mädchen von acht, neun oder auch mehr Jahren haben, das das Kind mit verschiedenen Spielen erfreut und mit seinem Geplapper das Kind dauernd zum Sprechen anregt und es auf seinen Armen herumträgt, während die ältere Amme mit anderem beschäftigt ist. [. . .]
Die Kinder sollen in mäßig erwärmtem Wasser und mit nie nachlassender Sorgfalt gebadet werden. Auch muß man die Amme sorgfältig anleiten, die Schenkel des Kindes in der rechten Weise auszurichten und mit lockeren Binden zu umwickeln, wenn sie es in die Wiege legt. Und zwar aus dem gleichen Grund, der den Gärtner veranlaßt, zarte Pflänzchen, die sich krümmen wollen, aufzubinden und mit Stöcken zu unterstützen, bis sie mit aufrechtem Stamm und ausladenden Zweigen dastehen. Hat der Mensch als die würdigste der Kreaturen nicht Anspruch auf ebensogroße Sorgfalt?
[...] Und die strafende Rute soll ihren Platz an der Wand über dem Haupt der Amme haben und die Knaben mit gebührender Strenge lehren; denn wer die Rute schont, der mißachtet sein Kind. Auch lobe ich jene Eltern nicht, die einem unter den Kindern als Aufsichtsperson den Vorzug geben, denn dieses beraubt durch seine Gier die anderen Kinder des Essens und wird durch seine Sattheit fetter und wohlgenährter als die anderen, wobei häufig kindliche Naschsucht noch dem Erwachsenen zum Verhängnis wird: Denn diese wollen sanft erzogen werden, verzärtelt aufwachsen und als Erwachsene mit dem verwöhnten Leben fortfahren. Und wenn sie dazu keine Möglichkeit haben, erschleichen sie es sich von Eltern und Verwandten und reißen damit nicht nur sich, sondern auch ihre Geschwister ins Verderben.[...]
Mit sieben Jahren ist das Kind zur Wissensvermittlung und sittlichen Bildung bereit; einem früheren Alter fehlt noch das Verständn.is. Daher kann man die erste Altersstufe bis zum siebten Jahr zählen. Sie heißt die Kinderzeit (etas infantilis von in und fari), weil das Kind noch kein Sprachvermögen hat. Das heißt nicht, daß es
gar nichts sprechen kann, sondern daß, was es spricht, ein reines Imitieren und Nachsprechen ist und nur mit einem geringen Maß von Verständnis einhergeht. Aus diesem Grund sprechen und handeln die Kinder mehr aus Gewohnheit, weil sie nachahmen wollen, was sie bei den Erwachsenen sehen; [...]
Auch soll das Kind mit geziemenden Spielen und zuträglicher Bewegung beschäftigt und einer gesunden Luft ausgesetzt verden. Geziemende Kinderspiele sind das Puppenspiel, das Herumrollen von Holzspielzeug und sich selbst im Spiegel Betrachten. Denn die Kindheit kennt noch das Erstaunen über kleinste Dinge und ist mit Einfachem zufrieden. Mit solchen Spielen wird die kindliche Seele erfreut, das Blut kommt in Bewegung und der Geist wird geschärft; wobei durch das Herumlaufen zugleich die Gliedmaßen sinnvoll bewegt werden, der gesamte Körper gestärkt wird und auch eine angestrebte Kräftigung erfährt.
zitiert nach: Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance [372], Nr. 46, S. 130-140.
[282] Kinderstube in einem deutschen Bürgerhaus, Holzschnitt des Petrarca Meisters v. 1532
[283] Kleinkindererziehung auf Miniaturen und Holzschnitten aus dem Gesundheitsregimen des Heinrich Louffenberg, 1429
[284] Johannes Ludovicus Vives über die Aufgaben der Mutter bei der Kindererziehung, 1523
Über die Erziehung der Kinder ist schon vieles in besondern Büchern geschrieben worden. Ich will daher nur weniges berühren, was nach meiner Ansicht zur Pflicht einer verständigen Mutter gehört.
Vor allem muß eine Mutter der Ansicht sein, daß alle ihre Schätze in ihren Kindern ruhen. So zeigte Cornelia, die Mutter der Gracchen, einst einer Freundin, die mit ihren Schmucksachen und kostbaren Kleidern prahlte, ihre Kinder und sagte: "Diese sind mein einziger Schmuck." Daher darf man sich bezüglich der Sorge und Pflege dieses Schatzes keine Mühe verdrießen lassen. Die Liebe wird alles leicht machen.
Die Mutter nähre, wenn sie kann, die Kinder selbst und gehorche so der Stimme der Natur. [...] Die Natur schon lohnt ihr dies damit, daß sie gesunder ist als jene, die diese Mühe abweisen. [...] Die Mutter wird - im Gegensatz zur Amme - das mit Freuden thun. Sie wird schon durch den Anblick ihres Kindes erfreut, und wenn es zu lächeln oder zu stammeln beginnt, wird sie von einer unendlichen Freude durchströmt. [...]
Kann die Mutter lesen, so lehre sie selbst ihre kleinen Kinder die Buchstaben kennen.[...] Es werden diese um so besser lernen, da die Liebe die beste Lehrmeisterin ist. Das Mädchen soll sie außer im Lesen auch in den weiblichen Arbeiten unterrichten: Wolle und Flachs zu verarbeiten, zu spinnen, weben, nähen, den Haushalt zu führen. Es wird einer braven Mutter keine Last sein, sich zuweilen mit Schreiben und mit dem Lesen guter und heiliger Bücher zu befassen und die Kinder zu lehren und zu bessern. Das kleine Kind hört die Mutter zuerst und richtet nach deren Sprache sein erstes Stammeln, wie denn jenes Alter nur zum Nachahmen Geschick hat. Die ersten Sinneseindrücke und die erste Seelenbildung erhält das Kind durch das, was es von der Mutter hört und sieht. Daher kommt es bei der sittlichen Bildung der Kinder viel mehr auf die Mutter an, als man glauben möchte. Sie kann das Beste oder das Schlechteste leisten. Damit sie aber das Beste leiste, wollen wir kurz einige Vorschriften zusammenstellen.
Sie muß sich bemühen, der Kinder wegen nicht bäurisch zu reden, damit diese Redeweise, wenn sie in den zarten Kinderseelen sich eingewurzelt hat, nicht mit dem Alter wachse und erstarke, so daß sie kaum mehr verlernt werden kann. Keine Sprache lernen die Kinder besser, keine haftet mehr als die der Mutter. Diese geben sie mit allen Fehlern und Vorzügen wieder. Plato verbietet den Ammen, den
Kindern unnütze und alberne Märchen zu erzählen. Dasselbe muß man den Müttern vorschreiben. Gerade weil solches oft geschieht, kommt es, daß manche bis ins höhere Alter ein weichliches und weibisches Gemüt behalten und nichts Verständiges hören und behalten können, sondern nur nach Büchern voll läppischer Fabeln trachten, die nichts Wahres und Wahrscheinliches enthalten. Die Eltern sollen also einige anziehende kleine Erzählungen und Geschichten zur Hand haben, welche auf die Empfehlung der Tugenden und auf Warnung vor den Lastern abzielen. Solche Erzählungen soll das Kind zuerst hören, und obwohl es noch nicht weiß, was ein Laster und was eine Tugend ist, so wird es doch anfangen, diese zu lieben und jene zu hassen. Es wird mit diesen Neigungen aufwachsen und versuchen, denen ähnlich zu werden, von welchen die Mutter gesagt hat, daß sie gut gehandelt hätten aber nicht denen, die Böses gethan haben. Zudem muß die Mutter die Tugenden loben, die Laster tadeln, das oft wiederholen und den noch leeren Seelen einprägen. Auch soll sie ihnen einige bekannte heilige Gottes- und Lebensregeln vorführen, welche sich dem Gedächtnisse der Kinder dadurch, daß sie dieselben oft hören, einprägen, wenn sie auch etwas anderes treiben. Die Kinder laufen zur Mutter, fragen sie nach allem, und was sie antwortet, glauben, bewundern sie und halten es für gewiß. 0 ihr Mütter, welche große Gelegenheit habt ihr, eure Kinder gut oder schlecht zu machen!
Ferner muß man den Kindern richtige, reine, christliche Ansichten beibringen, daß Reichtum, Macht, Ehre, Ruhm, Adel, Schönheit eitle Dinge, thöricht und verächtlich sind, daß nur Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Tapferkeit, Keuschheit, Bildung, Sanftmut, Mitleid und Nächstenliebe bewundernswert sind, und daß man nach diesen trachten müsse, daß nur diese wahre Güter sind, daß nicht der hoch zu schätzen ist, der jene erstern, sondern wer die letztern besitzt. Was jemand Weises, Kluges und Ehrenhaftes gethan, das muß die Mutter loben; was aber Schlechtes, Verschmitztes, Betrügerisches, Unehrbares und Gottloses verübt worden, muß sie scharf tadeln. [...]
Das alles wird das Kind für erstrebenswert erachten. Es wird nach dem trachten, was die ihm als das Beste hinstellen, die ihm am teuersten sind. Eine brave Mutter wird es niemals mit Lächeln aufnehmen, wenn das Kind etwas Häßliches, Ungezogenes, Freches sagt oder thut; denn die Kinder werden sich an das gewöhnen, was sie von den Eltern gut geheißen sehen, und was sie als Kinder gewöhnt sind, werden sie als Jünglinge und Männer nicht ablegen. In solchem Falle muß vielmehr die Mutter das Kind züchtigen und ihm dadurch zeigen, daß es so nicht handeln darf, daß ihr das nicht gefällt. Dagegen möge sie es umarmen und küssen, wenn es Anzeichen der Besserung giebt. [...]
Sie soll die Gesundheit und Kraft des Körpers und des Geistes und die Tugend nicht durch weichliche Erziehung und falsche Nachgiebigkeit schwächen, Übersättigung durch Speisen verhindern, auch nicht dulden, daß die Kinder sich übermäßigem Schlafe hingeben; denn das alles hemmt die geistige Frische und Lebendigkeit. Es giebt Mütter, denen die Kinder nie genug essen, trinken und schlafen, die die Kinder nie warm genug kleiden und nie genug pflegen können. Sie mögen diese Sorge auf die Seele verwenden und so Seele und Leib stark und kräftig machen. Ich habe selten an Bildung und Wissen hervorragende und große Menschen gesehen, die von ihren Eltern weichlich erzogen worden wären. Auch der Körper wird durch Weichlichkeit geschwächt. So richten die Mütter, während sie ihre Kinder zu erhalten meinen, dieselben zu Grunde und verkürzen ihnen das Leben. Sie sollen allerdings ihre Kinder sehr lieben, wie es billig ist. Denn wer wollte versuchen, das Gesetz der Natur umzustoßen, und wie unmenschlich wäre es, wenn Mütter ihre Kinder nicht liebten! Aber sie sollen ihre Liebe verbergen,
damit die Kinder nicht aus derselben die Erlaubnis herleiten, nach ihrem eigenen Gutdünken und ihren Launen zu handeln. Die Liebe darf nicht hindern, die Laster und Fehler, wo es nötig ist, durch Schläge und Thränen auszutreiben und Körper und Geist durch strenge Erziehung zu stärken. [...]
Denn das Fleisch neigt zum Bösen von Geburt aus und ist dessen schlimmster Sklave. Es kann nur mit Schlägen gebessert werden. Daher sagt der Herr, daß er den liebt, den er züchtigt. Brave Eltern müssen Nachahmer dieser göttlichen Liebe sein. [...]
Besonders das Mädchen muß man ohne Nachsicht behandeln. Nachsicht verdirbt die Söhne, die Töchter aber richtet sie zu Grunde. Wir Männer werden durch Nachsicht schlechter; die Weiber aber werden gottlos, weil ihr zu Genuß und Leidenschaften neigender Geist sie kopfüber in tausend Schlechtigkeiten stürzt, wenn man nicht den Zügel anlegt. In dieser Beziehung mahnt Jesus Sirach: "Hast du Töchter, hüte ihren Körper und zeige ihnen kein freundliches Gesicht." Auf die Töchter muß um so größere Wachsamkeit verwendet werden, je vollkommener Keuschheit und Bescheidenheit bei einem Weibe als bei einem Manne gefordert werden. In den Städten, in denen die vornehmen Frauen gottlos sind, sind selten die Frauen aus dem Volke brav. Und diejenigen, welche von schlechten Weibern erzogen werden, sind selten anders. Sehr wahr ist das alte Sprichwort: "Wie die Mutter, so die Tochter."
Johannes Ludovicus Vives: Die Erziehung der Christin [398] S. 409-414.
[286] Mädchen mit Puppe und Puppenwiege, Holzschnitt um 1540
[287] Tonpuppen aus dem 13./14. Jahrhundert
[288] Bartholomaus Sastrow über die Erziehung seiner Schwestern, 1595
Meine Mutter hielt ihre Töchter von Jugend auf zu der ihnen gebührenden häuslichen Arbeit an. Gertrud, die ungefähr von ihrem fünften Jahre an beim Rocken saß und spann - denn damals waren die Spinnräder noch nicht im Gebrauch -, hörte einst, wie mein Bruder sagte, daß die Kaiserliche Majestät einen Reichstag ausgeschrieben hätte, auf dem der Kaiser, der König, die Kurfürsten und Fürsten, Grafen und Große Herren miteinander zusammenkämen; da fragte sie, was sie da machten. Antwort: "Sie verordneten und beschlössen, wie es in der Welt gemacht werden sollte." Da fing das Mägdlein beim Rocken gar herzbrechend zu seufzen an und sagte in großer Wehmut: "Ach du lieber Gott, daß sie doch auch endlich verordnen möchten, daß solche kleinen Mägdlein nicht spinnen dürften."
Kohl (Hrsg.): Ein deutscher Bürger des 16. Jh. [401 a], S. 16f.
[289] Kleinkindererziehung als Aufgabe der Frau in Gottfried von Straßburgs "Tristan und Isolde", um 1210
Nachdem das Kind getauft, / nach christlicher Sitte des Heils teilhaftig, nahm die tüchtige Marschallin / ihren lieben Sohn / wieder in liebevolle Pflege. Sie wollte allewege wissen / und sehen, ob er sich wohl befinde. / Die liebe Mutter / achtete mit rührendem Eifer auf ihn. / Sie wollte ihm ersparen, / jemals seinen Fuß unsanft aufzusetzen. So hielt sie es mit ihm, / bis er sein siebentes Jahr erreichte, wo er in Rede und Umgangsformen / genügend verständig war. / Da führte ihn sein Vater, der Marschall, / zu einem gebildeten Mann.
Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde [200], S. 55.
[290] Einhard über die Erziehung der Töchter Karls d. Großen, nach 830
19. Die Erziehung seiner Kinder richtete er so ein, daß Söhne wie Töchter zuerst in den Wissenschaften unterrichtet wurden, auf deren Erlernung auch er selbst seinen Fleiß verwandte. Dann mußten die Söhne, sobald es nur das Alter erlaubte, nach der Sitte der Franken reiten, sich in den Waffen und auf der Jagd üben, die Töchter aber sich mit Wollenarbeit abgeben und mit Spinnrocken und Spindel beschäftigen, damit sie sich nicht an Müßiggang gewöhnten, und er ließ sie anleiten zu jeder guten Zucht. [. . .]
Um die Erziehung seiner Söhne und Töchter war er so besorgt, daß er zu Hause niemals ohne sie speiste, nie ohne sie eine Reise machte: seine Söhne ritten ihm zur Seite, seine Töchter aber folgten hinten im Zuge und eine Schar von Leibwächtern war zu ihrer Bedeckung bestellt. Da sie ungemein schön waren und von ihm aufs zärtlichste geliebt wurden, so ist es zu verwundern, daß er keine von ihnen einem seiner Mannen oder einem Fremden zum Weibe geben wollte; aber er sagte, er könne ohne ihre Gesellschaft nicht leben und behielt alle bis zu seinem Tode bei sich im Hause.
Einhard: Leben Karls des Großen [622a], S. 191.
[291] Erziehung des jungen Mädchens an einem fremden Hof in dem Heldenepos "Kudrun", um 1240
Hilde, Hagens Tochter, zwei Kindlein gewann Von Hettel dem König. Da dachte man daran, Wie man sie wohl erzöge. Daß nicht ohn Erben wäre Das Land und die Burgen, weit gemeldet wurde diese Märe. Das eine ward ein Recke und hieß Ortwein; Den befahl er Wate. Der zog das Kindelein, Daß es auf hohe Tugend wandte seine Sitten; Von Jugend an gelehret, erwarb er Ruhm sich, wo je ward gestritten. Seine schöne Tochter mit Namen ward genannt Kudrun die schöne von der Hegelinge Land. Er sandte sie den Dänen, als Freunde sie zu ziehen. Sie dienten damit Hettel, sie scheuten unverdrossen keine Mühen.
Nun wuchs die Maid, die junge, so schön ward ihr Leib, Daß sie mußte loben jeder, Mann und Weib. Auch in fernem Lande war man ihr bald gewogen. Sie war geheißen Kudrun und ward im Dänenlande erzogen.
Kudrun [222], S. 102.
[292]
[293]
Erziehung der Isolde in Gottfried von Straßburgs Tristan und Isolde, um 1210
Da geschah es auch, daß ein Priester hinging / und von Tristans Kunst / zu spielen und zu singen hörte; denn er selbst besaß viel Wissen und Kunstfertigkeit, / verstand sich selber gut auf alle Saitenspiele und konnte viele Sprachen. / Er hatte für höfisches Wesen viel Zeit und Aufmerksamkeit verwendet, / war Erzieher der Königin und gehörte zu ihrem Gefolge. / Er hatte ihr von Kind auf / in vielen guten Fächern / Unterricht erteilt / und manches seltene Wissen / ihr dabei vermittelt. Auch unterwies er fleißig / ihre Tochter Isolde, / das schöne, herrliche Mädchen, von welcher alle sprachen und von der die Geschichte handelt. / Sie war ihr einziges Kind, / und darum hatte sie ihr stets / alle Sorge angedeihen lassen, / damit sie von allem etwas lerne. / Die hatte er auch in seiner Obhut / und lehrte sie ständig die Bücher und das Saitenspiel. [...]
Auch die junge Königin ging nun in seine Lehre. Er gab sich mit ihr Mühe und wandte seine Zeit an sie. Das Beste was er konnte, Wissenschaft und Kunst, was ich nicht einzeln nennen will, / trug er ihr ausführlich vor, / daß sie nach eigenem Wunsch / davon behalten sollte, / was sich für sie geziemte. / Die schöne Isolde
lernte das Beste, was er ihr geben konnte, / erfaßte alles schnell / und war mit Fleiß dabei, was immer es auch war. / Auch nutzte ihr sehr viel, / was sie zuvor gelernt. / Schon vorher konnte sie gute Dinge / und manche höfische Kunst, / Sprachen und Musik: / Das schöne Mädchen beherrschte / die Sprache von Develin, / Französisch und Latein / und konnte auf welsche Art / ganz vorzüglich Fiedel spielen. / Ihre Finger konnten, / wann immer sie begann, / die Leier wunderbar rühren, / und virtuos verstand sie sich / auf die Kunst des Harfenspiels. Sie ließ die Töne schwellen und rasch wieder verklingen; auch sang das begabte Mädchen / mit einer süßen Stimme. / In allem, was sie sonst noch konnte, / half ihr der Lehrer, der Spielmann, / und förderte sie nach Kräften. /
Daneben unterwies er sie / in einem Gegenstand, / den wir die Sittenlehre nennen, die Kunst, die feinen Anstand lehrt. / Darnit sollten sich alle Frauen / in ihrer Jugend befassen. / Sittenlehre, das schöne Wissen, / ist beglückend und gut. / Diese Lehre umfaßt / die Welt und Gott zugleich. j Sie lehrt in ihren Geboten, / Gott und der Welt gefallen, / sie ist die Nährmutter aller edlen Herzen, / damit sie Kraft und Leben / in dieser Lehre finden. / Denn weder Gut noch Ehre / können sie besitzen, / wenn es die Ethik sie nicht lehrt. / Damit beschäftigte sich / die junge Königin am meisten; / hierin lustwandelten oft / ihre Sinne und Gedanken. / Sie wurde dadurch wohlgebildet, / schönen und reinen Sinnes / und ihr Benehmen lieblich. / Das süße junge Mädchen / erwarb in einem halben Jahr / so viele Kenntnisse / und lernte sich so fein benehmen, / daß das ganze Land / ihre Vortrefflichkeit rühmte / und ihr Vater, der König, / sich sehr darüber freute; / auch ihre Mutter war beglückt. [...] So hatte die schöne Isolde / durch die Unterweisung Tristans / sehr viel gelernt: / sie war hohen Sinnes, / von feiner Sitte und Gebärde. / Sie konnte herrlich musizieren / und viele schöne Fertigkeiten: / Text und Melodien finden, / schöne Gedichte verfassen / sowie auch schreiben und lesen.
Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde [200], S. 193, S. 199-201, S. 203.
[294]
[295]
Mädchenerziehung in der Klosterschule nach der Lebensbeschreibung der heiligen Herlind und Reinhild, 2. Hälfte 9. Jh.
Darauf vergingen einige Jahre. Als die Sonne schon höher gestiegen war, das heißt, als die Töchter schon zum Alter der Unterscheidung gekommen waren, sahen die Eltern der ehrwürdigen Jungfrauen die heranwachsende Saat zur Ernte reifen. Die Tür stand schon offen, um die Weisheit aufzunehmen. Vater und Mutter übergaben nun die heiligen Jungfrauen der Äbtissin eines Klosters, das gewöhnlich Valenzina [= Valenciennesl heißt. Sie sollten in göttlichen Lehren, in menschlichen Künsten, in frommen Werken und in den heiligen Schriften unterwiesen werden. Im schwachen Alter sollten sie stark werden durch kräftige Zucht, indem sie nur edle Sitte sahen, nur fromme Worte hörten. ( ... )
In dem genannten Kloster, dem sie zur Erziehung anvertraut waren, wurden sie durch Fügung der göttlichen Barmherzigkeit von oben in jeder göttlichen Lehre, in den verschiedenen Gebräuchen des Gottesdienstes und der Kirchenordnung unterwiesen, im Lesen, Singen und Psallieren, auch im Schreiben, was in unserer Zeit sehr verwunderlich ist, und im Malen, was den ungebildeten Männern unserer Zeit sehr beschwerlich scheint. Auch wurden sie in jener Kunst, die durch die Hände der Frauen in verschiedener Weise ausgeführt wird, ganz angesehene Künstlerinnen: im Nähen und Weben, im Reimen und Dichten, im kunstvollen Einsetzen von Edelsteinen auf gold- und seidengewirkte Stoffe.
Nach und nach kam die rechte Zeit heran, wo sie nach der Sitte der vornehmen Jungfrauen die Schule verlassen und die Heimat wieder aufsuchen sollten. Es schien durchaus nicht mehr richtig, sie andern zu unterstellen, sondern vielmehr sie zu Vorgesetzten über andere zu machen. Die Eltern hörten von ihnen nur Gutes. Sie ließen sie ihrer künftigen Erbschaft wegen mit großen Ehren zurückkommen und die mit heiligem Schleier Bekleideten bei sich wohnen.
zitiert nach: Koch: Hildegard von Bingen und ihre Schwestern [507], S. 47-49.
[296]
Die Tugendlehre des Lehrgedichts "Der welsche Gast" von Thomasin von Zirclaere, 1215/16
[...] Hausfrau, sei dessen gemahnt, wenn dir mein Buch in die Hände gerät, mißfällt dir dann etwas daran, so laß das nicht einen Mann büßen, der ohne jeden Tadel ist. [...] Beide, Frauen und Herren, sollen fremde Leute ehren. Ist ein fremder Mann dessen nicht wert, so haben sie sich selbst geehrt. [. . .] Eine Frau soll nicht mutwillig schimpfen, das ist ganz und gar unweiblich. Ich will auch das erklären, eine Frau soll keinen fremden Mann fest ansehen, das steht ihr wohl. [...] Eine Jungfrau soll sanft und sicherlich nicht laut sprechen. [. . .] Die Zucht verwehrt allen Frauen mit übereinandergeschlagenen Beinen zu sitzen. [. . I Eine Frau soll zu keiner Zeit mit großen Schritten einhergehen. [...] Eine Frau soll sich, das glaubt, wenn sie reitet, nach dem Haupt des Pferdes ausrichten. Man soll wissen, daß sie keinesfalls quer sitzen soll. [...] Eine Frau soll, wenn sie reitet, nicht ihre Hand aus ihrem Gewand herausstrecken. Sie soll auch ihre Augen und ihr Haupt stillhalten, das glaubt. [. - 1 Will eine Frau ihre Zucht bewahren, so soll sie nicht ohne Obergewand ausgehen. Wenn sie keinen Mantel anhat, soll sie ihr Gewand zusammenhalten. [...] Mir dünkt, eine Frau soll nicht zu oft hinter sich blicken. Sie soll mit nach vorne gerichtetem Blick gehen und soll sich nicht oft umsehen. [...] Eine Jungfrau soll selten sprechen, wenn man sie nicht gefragt hat. Eine Frau soll gleichfalls nicht oft sprechen, wenn sie mir glauben will. Und sie soll vor allem dann nicht sprechen, wenn sie ißt, das wißt. [...]
übertragen nach: Boor (Hrsg.): Mittelalter [174], Bd. 1, S. 789, S. 792f.
[297]
Brief des Hieronymus an Laeta über die Erziehung ihrer Tochter, 401
4. Nun will ich Dir zeigen, wie eine Seele zu erziehen ist, die ein Tempel des Herrn werden soll. Sie darf nur Dinge hören und sprechen, die Gottesfurcht atmen. Schmutzige Worte soll sie gar nicht verstehen, weltliche Lieder sollen ihr unbekannt bleiben. Schon in den frühesten Kindesjahren soll sich die zarte Zunge mit den frommen Psalmen vertraut machen. Knaben in den Flegeljahren halte von ihr fern! Ihre Dienerinnen und Zofen sollen von der Außenwelt abgeschlossen bleiben, damit sie nicht Schlimmes lernen und noch Schlimmeres lehren. Besorge ihr Buchstaben aus Buchs oder Elfenbein und lasse sie deren Namen lernen! Sie soll damit spielen, und sie wird aus dem Spiele Belehrung schöpfen. Nicht bloß mit der Reihenfolge der Buchstaben soll sie vertraut werden, sondern auch ihre Namen in Verslein festhalten. Sie sollen häufig durcheinandergeworfen, die letzten mit den mittleren und die mittleren mit den ersten vertauscht werden, so daß sie die Buchstaben nicht nur aussprechen, vielmehr auch ihre Form auseinanderhalten kann. Sobald sie beginnt, mit zitternder Hand den Griffel auf der Wachstafel zu führen, dann möge sich eine zweite Hand darüberlegen und die zarten Finger leiten. Man kann auch die Buchstaben in eine Tafel eingraben, und sie muß dann in diesen Furchen den durch den Rand gewiesenen Weg nachgehen, ohne auszubrechen. Laß sie Silben zusammensetzen und gib ihr, wenn's gelingt, eine kleine Belohnung! Was den Kindern in diesem Alter Freude machen kann, dazu sollen kleine Geschenke anregen. Laß sie zusammen mit einigen Gespielinnen lernen! Das weckt den Ehrgeiz, und das gespendete Lob regt das Elirgefühl an. Geht es nicht rasch genug voran, dann sollst Du nicht gleich schelten, sondern durch ein anerkennendes Wort aufmuntern, so daß es sie freut, wenn sie es besser gemacht hat als die anderen oder sich grämt, falls sie zurücksteht. Man muß vor allem vermeiden, daß sie Widerwillen gegen das Lernen faßt; denn sonst könnte die in der Jugend einsetzende Abneigung über die unverständigen Kinderjahre hinaus anhalten. Die Buchstaben, aus denen sie allmählich Worte zusammenfügt, sind nicht dem Zufall zu überlassen, sondern es sollen bestimmte, mit Absicht gewählte Namen sein, z. B. die der Propheten und Apostel und die ganze Reihe der Patriarchen von Adam an, wie sie sich bei Matthäus und Lukas findet. Was sie zu einem anderen Zwecke tut, dient so dazu, für die Zukunft das Gedächtnis zu stützen. Dann mußt Du einen älteren Lehrer von gutem Ruf und guten Kenntnissen aussuchen. [...]
5. Schon die Art, sie herzurichten und zu kleiden, belehre sie darüber, wem sie versprochen ist. Laß ihre Ohren nicht durchbohren; ihr Christo geweihtes Antlitz soll sie nicht mit Bleiweiß und Purpur bemalen. Belade ihren Hals nicht mit Gold und Perlen, das Haupt nicht mit Edelsteinen! Laß sie das Haar nicht rot färben, erinnert doch diese Tönung zu sehr an das höllische Feuer. Sie besitzt andere Perlen, durch deren Verkauf sie sich die so kostbare Perle des Evangeliums erwerben kann. [...]
8. Sie esse nicht außer dem Hause und nehme vor allem nicht an den Gastmählern bei den Verwandten teil, damit sie keine Speisen kennenlernt, auf die sie lüstern wird. Es gibt zwar Leute, die darin einen größeren Grad von Tugend sehen, daß man bei sich bietender Gelegenheit auf einen Genuß verzichtet. Ich halte aber die Enthaltsamkeit weniger gefährdet, wenn rnan das, wonach es einen gelüsten könnte, überhaupt nicht kennt. Als Knabe habe ich in der Schule gelernt: "Nur mit Mühe kannst du ablegen, was dir zur Gewohnheit geworden ist." Schon jetzt enthalte sie sich des Weines, in dem die Geilheit sich verbirgt. Solange der Körper noch nicht die volle Entwicklung erreicht hat, ist zarten Naturen eine übertriebene Enthaltsamkeit gefährlich. Bis dahin möge sie, wenn es nötig ist, die Bäder besuchen und etwas Wein zu sich nehmen des Magens wegen. Auch kräftigende daß einige den gottgeweihten Jungfrauen verbieten, zusammen mit Eunuchen oder verheirateten Frauen das Bad zu besuchen, weil die einen Männer sind und bleiben, während die anderen in auffälliger Weise ihre Schwangerschaft zur Schau tragen. Mir will es überhaupt nicht passen, daß eine erwachsene Jungfrau badet, die vor sich selbst erröten soll, wenn sie sich unbekleidet sieht. Wenn eine Jungfrau ihren Körper durch Wachen und Fasten kasteit und in Knechtschaft hält, wenn sie danach strebt, das Feuer der Leidenschaft und die Glut des jugendlichen Alters durch die Kühle der Enthaltsamkeit auszulöschen, wenn sie durch gewollte Nachlässigkeit ihre körperliche Schönheit entstellt, wozu soll sie dann durch warme Bäder das gedämpfte Feuer wieder anfachen?
12. Statt an Edelsteinen und an Seide erfreue sie sich an den heiligen Schriften, wobei sie nicht so sehr an den auf goldigem Untergrund und babylonischem Pergament aufgetragenen bunten Bildern Gefallen f"inden möge. Ihr Interesse wende sich vielmehr der Treue des Textes und seiner kritischen Behandlung zu! Zuerst lerne sie das Psalterium, dessen Gesänge sie zerstreuen mögen; dann bilde sie ihr Leben an den Sprüchen Salomos! Aus dem Prediger lerne sie die Dinge der Welt verachten! Nach dem Beispiele Jobs übe sie Tugend und Geduld! Dann gehe sie über zu den Evangelien, die sie eigentlich nie aus der Hand legen sollte. Aus dem Born der Apostelgeschichte und der Briefe trinke sie mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens! Sobald die Schatzkammer ihrer Seele mit diesen Kostbarkeiten bereichert ist, mache sie sich mit den Propheten und dem Heptateuch, weiterhin mit den Büchern der Könige und der Paralipomena sowie mit Esdras und Esther vertraut! Zuletzt, wenn es ohne Gefahr geschehen kann, lese sie das Hohelied. Würde sie damit anfangen, so könnte sie Anstoß nehmen, da sie unter den fleischlichen Worten für das Brautlied der geistlichen Hochzeit kein Verständnis aufbringen dürfte. Sie hüte sich vor allen apokryphen Schriften! Sollte sie diese gelegentlich lesen wollen, nicht um die Wahrheit des Glaubens in ihnen zu suchen, sondern aus Ehrfurcht vor den Wundererzählungen, dann denke sie stets daran, daß sie nicht auf die angegebenen Verfasser zurückgehen. Vielmehr ist ihnen viel Falsches beigemischt, und es bedarf schon großer Klugheit, um das Gold aus dem Schmutze herauszufinden. Die Werke Cyprians seien ihr immer zur Hand! Die Briefe des Athanasius und die Schriften des Hilarius kann sie ohne Bedenken lesen. Sie mag sich an ihren scharfsinnigen Ausführungen erfreuen, zumal in diesen Schriften Frömmigkeit und Glaube auf sicherer Grundlage stehen. Was die anderen Schriftsteller angeht, so gilt es da, erst zu wägen und zu überlegen, ehe man ihnen folgt. zitiert nach: Hieronymus: Ausgewählte Schriften, Bd. 2 [395], S. 389-401.
[298]
Konrad Bitschin über die Erziehung der Mädchen, 1433 68. Von den Töchtern und jungen Frauen und ihrer Unterweisung.
Da nun aber dem Ehebande nicht allein Knaben, sondern zumeist auch Mädchen entsprießen, so muß nun auch, nachdem darüber gesprochen ist, wie man sich gegenüber den Knaben zu verhalten habe, folgerichtig davon gesprochen werden, welche Sorgfalt man den Mädchen angedeihen lassen muß. Und weil mancherlei schon eben von der Art und Weise und den Gewohnheiten der Frauen gesagt worden ist und davon, wie verheiratete Frauen zu beaufsichtigen sind, so muß auch hiervon an dieser Stelle in einer kurzen Auseinandersetzung die Rede sein. Denn ebenso wie es den Ehefrauen und Müttern geziemt, enthaltsam und mäßig, schamhaft und züchtig zu sein, so auch den Töchtern, und so kann vieles andre, was von den Ehefrauen gesagt worden ist, über die jungen Mädchen wiederholt werden. Im einzelnen aber ist hinsichtlich der Unterweisung der Mädchen dreierlei im Auge zu halten, worin die Mädchen mit größter Sorgfalt unterwiesen werden müssen.
Zunächst sollen sie an zu häufigem Umherspazieren und Umherschweifen gehindert werden, damit sie nicht gewohnheitsmäßig herumbummeln; zweitens sollen sie an zu großer Schwatzhaftigkeit gehindert werden, damit sie in gehöriger Weise schweigsames Verhalten annehmen; drittens sollen sie nicht träge, sondern arbeitsam werden.
Zuerst also sollen Mädchen von zu häufigem Umherspazieren abgehalten werden, und das wird wieder auf dreierlei Weise dargelegt: Zuerst soll von den Töchtern und kleinen Mädchen die träge Gewohnheit des Übeltuns ferngehalten werden, denn aus zu vielem Umherschlendern erwächst ihnen die Gewohnheit, Böses zu tun. Denn nach den Worten des Philosophen in der Rhetorik sind die Menschen geneigt zum Übeltun, weil sie mehr zum Bösen als zum Guten veranlagt sind. Damit stimmt auch der Kanon "Omnis actas", XII. quaestio 1. überein. Und dies gilt noch viel mehr bei Frauen als bei Männern, weil es den Frauen noch mehr an verständiger Überlegung fehlt. Unsere Erkenntnis beginnt ja mit den sinnlichen Eindrücken: also müssen Sinneseindrücke und Gesichtswahrnehmungen solcher Art, daß sie uns zu sinnlichen Genüssen verlocken können, sehr sorgfältig gemieden werden. Und um so mehr seitens der Mädchen und Frauen, als es diesen in größerem Maße an verständiger Überlegung fehlt. Damit nun nicht die bequeme Gewohnheit solchen Übeltuns sie beschleicht, so müssen sie vom Umherschweifen zurückgehalten werden, denn die Gelegenheit zu stehlen macht Diebe usw. Der zweite Beweis gehe davon aus, daß sie nicht zu dreist werden sollen. Denn alles Ungewohnte weckt gewissermaßen eine Scheu; denn Personen, die nicht an Umgang mit Leuten gewohnt sind, sind schüchtern in der Unterhaltung, doch solche, die sich viel unter Leuten bewegen, scheuen sich nicht in der Gesellschaft der Menschen. So sind also die Frauen, wenn sie sich nicht daran gewöhnt haben, sich dem Blick der Männer auszusetzen, schüchtern. Die aber, welche daran gewöhnt sind, sich angaffen zu lassen von den Männern, werden frech. Die Schüchternheit ist aber für die Weiber wie ein fester Zügel und wenn sie jene verloren haben, so beginnen sie viel Böses zu tun, denn sie würden ohne Zweifel viel Übles begehen, wenn sie nicht durch die Fessel der Schüchternheit in Schranken gehalten würden, wie der Philosoph in seinem Buche von der Politik sagt. - Der dritte Beweisgang geht davon aus, daß sie nicht schamlos und leichtfertig werden sollen. Mädchen nämlich, die in gehöriger Weise behütet werden, und denen nicht gestattet wird, umherzuschweifen und zu bummeln, werden nicht allein schamhaft, sondern erhalten auch eine gewisse scheue Waldanmut, die das Beste ist zur Erhaltung der jungfräulichen Scham. Sehen wir doch, daß die freien Tiere des Waldes keine Annäherung und keine Berührung dulden, aber daß sie sich anfassen und streicheln lassen, sobald sie an den Umgang mit Menschen gewöhnt sind. So sind auch Frauen und Mädchen, wenn sie nicht an den Umgang mit Menschen gewöhnt sind, von mehr natürlicher Schüchternheit und sind weit schwerer zu Leichtsinn geneigt zu machen; sind sie aber wie Haustiere zahm, so werden. sie schamlos, leichtfertig und eitel.
69. Von der Schweigsamkeit der Mädchen
Ebenfalls auf dreifache Weise wird nachgewiesen, daß die Mädchen und Töchter gehörig schweigsam sein sollen. Zunächst deshalb, weil sie dadurch züchtiger und tugendhafter erscheinen und von ihren Männern dann inniger geliebt werden. Und das wird folgendermaßen erwiesen: Nach dem Philosophen im 2. Buche der Rhetorik geht Begierde und Sehnsucht auf das, was uns fehlt; daher wird die Begierde danach um so heftiger, je mehr etwas, was man besitzen könnte, unzugänglich ist und je mehr es unerreichbar scheint. Wenn also die Frauen schweigsam sind, so erscheinen sie schwieriger erreichbar, und infolgedessen werden sie mehr geliebt. Und weil jedes Ding, was geliebt wird, schön erscheint, so erscheinen sie aus diesem Grunde sittsamer. Wenn jedoch eine Frau zu geschwätzig ist, so gibt sie sich dadurch zu vertraulich und macht sich gewissermaßen verächtlich. Deshalb sagt auch der Philosoph im ersten Buche der Politik: Eine Zierde der Frauen ist Stillschweigen, deshalb werden sie um des Schweigens willen mehr verehrt und nicht so leicht verachtet.
Der zweite Weg, denselben Grund zu erforschen, nimmt seinen Ausgang daher, daß man unüberlegte Rede vermeiden soll, denn dort, wo ein größerer Verstandesmangel ist, muß um so größere Vorsicht im Handeln angewendet werden. Da nun eine wohlüberlegte Sprechweise hervorgeht aus der Schärfe des Verstandes, deshalb sprechen kluge Männer auch wohlüberlegt und klug, weil sie reichlich mit Verstand und Vernunft begabt sind. Den Frauen dagegen mangelt es an Vernunft, und somit sprechen sie weniger überlaut und verfallen leicht in törichtes Geschwätz und in einfältige Rede, wenn sie nicht, ehe sie sprechen, ordentlich überlegen. Deshalb ist bei ihnen in erhöhtem Maße Fürsorge dafür zu treffen, daß sie klug und überlegt sprechen. Und die beste Vorsichtsmaßregel besteht für sie darin, daß sie nichts aussprechen, ehe sie nicht sorgsam geprüft haben.
Der dritte Beweis geht davon aus, da13 sie nicht streitsüchtig und zu Zänkereien und Streitereien geneigt sein sollen, und daß bei ihnen die Streitgier immer wächst, wenn sie einmal anfangen zu streiten, weil sie sich nicht durch die Vernunft zu zügeln vermögen. Deshalb ist es ihre Pflicht, schweigsam zu sein, damit sie nicht in zänkische Reden ausbrechen.
Ein durchaus scherzhafter Grund wird schließlich noch angeführt: er wird aus der Schrift genommen, denn die Frauen und Mädchen sind deshalb zum Schwatzen geneigt, weil sie aus der Rippe oder aus den Knochen des Mannes gebildet sind, also aus einer festen Masse, die lauteren Klang von sich gibt als die Erde, woraus Adam geformt wurde. Ein Versuch bringt erfahrungsmäßige Einsicht, denn drei kleine Knöchelchen, die man in der Hand schüttelt, machen mehr Geräusch als zehn Kügelchen aus Erde.
70. Von der Arbeitsamkeit der Frauen
Auch dahin muß das weibliche Geschlecht unterwiesen werden, und man muß Frauen davor behüten, daß sie nicht müßiggehen und in übermäßiger Ruhe erlahmen, sondern wacker arbeiten. Denn der Philosoph empfiehlt im ersten Buche der Rhetorik die Lust zum Tätigsein bei den Frauen sehr eifrig. Durch dreifachen Grund wird dies erläutert. Der erste wird hergeleitet von der ehrenwerten Erholung, die man davon hat. Denn nach dem Philosophen im 10. Buche der Ethik kann ohne Freude unser Leben nicht bestehen. Somit ist die Meinung derjenigen irrig, die da sagen, jede Freude sei zu vermeiden, denn, wenn wir nicht auf die Dauer glücklich zu leben vermögen, falls wir nicht uns an irgend etwas erfreuen, so ist es unsere Pflicht, irgendwelche erfreuende und ehrenhafte Beschäftigung vorzunehmen, die uns in anständiger und erlaubter Weise Freude bereitet. Ähnlich sollen auch Frauen und Mädchen auf erlaubte und ehrenhafte Beschäftigungen ihr Augenmerk lenken, um nicht müßigzugehen. Weil nun jedes Wesen seine Freude hat an seinem eigenen Werke, wie der Philosoph im 4. Buch der Ethik meint, so nützt dies den Frauen um soviel mehr als den Männern, wie es ihnen mehr an Vernunft gebricht.
Zweitens wird das Gesagte gerechtfertigt durch die Vermeidung unerlaubter Bestrebungen. Nach dem Philosophen nämlich vermag der menschliche Geist überhaupt nicht müßig zu sein, und deshalb wird er abgelenkt auf Unerlaubtes, sobald er nicht mit erlaubten Dingen beschäftigt wird. Durch erlaubte Tätigkeit also werden schändliche Vergnügen und unerlaubtes Trachten ferngehalten.
Der dritte Grund wird hergeleitet aus dem Nutzen und der Frucht, die daraus hervorgeht. Denn immer entsteht und entspringt etwas Gutes aus dergleichen berechtigten Tätigkeitsübungen. Deshalb tadelt der Philosoph im ersten Buche der Rhetorik die Lakedämonier und nennt sie "beinahe halb unglücklich", weil sie keine Maßregeln ergriffen, durch welche ihre Frauen tugendhaft und sittlich gut werden könnten.
Wenn nun aber nachgeforscht wird, welches die Beschäftigungen sind, mit denen sich Frauen befassen sollen, so wird erwidert, dies richte sich nach den verschiedenen Örtlichkeiten und verschiedenen Personen. Im allgemeinen indessen wird Lesen, Weben, Spinnen, Nähen und Seidenarbeit, Leinen- und Wollanfertigung, den Durchschlag halten, die Spindel drehen u. dgl. als geeignet für das weibliche Geschlecht angesehen. Denn bei solchen Arbeiten wird die Schamhaftigkeit gewahrt. Nichtsdestoweniger kann aber auch eine Frau, wenn sie etwa einmal eine so hohe Stellung einnimmt, daß jene Arbeiten in Anbetracht ihrer Würde oder nach der Sitte des Landes sich für sie nicht schickten: dann soll sie in das Studium der Wissenschaft eingeführt werden, damit sie nicht am Ende müßig dahinlebe; sie soll also sich mit Lektüre beschäftigen und sich vom Müßiggange fernhalten. Vollkommen verstand so z. B. ein Mädchen im Hause der Familie infolge anstrengenden Studiums den Gang des Jahres, die künftigen Festzeiten, die monatlichen Feiertage, den Lauf der Planeten, die Ursachen der Abnahme von Tag und Nacht, die Umdrehung der Plejaden und des Windes, den Jahresring der Tage, die Sternbilder, die Anzeichen des Zukünftigen und vieles andre mehr, das zur höheren Wissenschaft zu rechnen ist. In dieser Hinsicht sagt Jesus Sirach VII.: Wenn du Söhne hast, gib ihnen Unterricht, und beuge sie von ihrer Kindheit an; wenn du Töchter hast, behüte ihren Leib und zeige ihnen nicht, daß dein Auge mit Wohlgefallen auf ihnen ruht.
Konrad Bitschins Pädagogik [402], S. 185-189.
[299]
Johannes Ludovicus Vives über die Erziehung der Mädchen, 1523
Übrigens sind auch die Vorschriften der weiblichen Erziehung auf wenige zurückzuführen, was bei denen für das männliche Geschlecht nicht der Fall ist. Denn der Mann ist in die vielfachen Beziehungen des öffentlichen Lebens verwickelt, und um. ihn für alle diese auszubilden, bedarf es umfangreicher Bücher.
Das einzige Ziel weiblicher Bildung ist die Sittenreinheit. Hat man ihr das Wesen dieser Tugend genügend auseinandergesetzt, so hat sie genug gelernt. [...]
Wenn das Kind zu sprechen und gehen anfängt, so muß es mit gleichaltrigen seines Geschlechtes spielen, und zwar immer in Gegenwart der Mutter oder einer Person gesetzten Alters. Durch diese Aufsicht soll dafür gesorgt werden, daß in Spielen Maß gehalten und die Grenzen des Anstandes nicht überschritten werden. Die Knaben müssen von diesen Spielen ganz ferne gehalten werden, damit die Mädchen sich nicht daran gewöhnen, an Personen des andern Geschlechtes Gefallen zu finden. Denn von Natur bleibt am längsten unsere Liebe zu denen haften, mit denen wir die Spielstunden der Kindheit verbracht haben. Und diese Zuneigung haftet noch nachhaltiger im weiblichen Gemüte, weil es überhaupt mehr Neigung zu Vergnügungen hat. In dem Alter, in dem man Gutes vom Bösen noch nicht unterscheiden kann, soll überhaupt nicht gelehrt werden, daß es etwas Schlechtes giebt und worin dasselbe besteht. Das junge Gemüt soll nur mit guten Eindrücken erfüllt werden. [...]
Den Spielen, deren das Mädchen in diesem Alter bedarf, bleibe also jene Schlüpfrigkeit fern. Nichts Obscönes schleiche sich in das Herz und den Sinn ein, und auch die Neigung zur Schwatzhaftigkeit darf nicht genährt werden. Schon in dieser Zeit suche man gleichsam spielend das zu fördern, was den Mädchen später dienlich sein wird. Man erzähle ihnen tugendhafte kleine Geschichten. Man nehme ihnen die Puppen weg, sie sind eine Art Götzendienst und befördern und vergrößern die Putzsucht. Dagegen halte ich die kleinen zinnernen und bleiemen Küchengeräte für ein empfehlenswertes Spielzeug, wie man sie hier in Belgien in großen Mengen findet. Die K.inder spielen gerne damit und lernen auf spielende Weise ihre Namen und den Gebrauch der einzelnen Gegenstände kennen.
In dem Alter, in dem das Mädchen zum Lernen geeignet erscheint, muß es damit beginnen, sowohl was zur Ausbildung des Geistes als was zur Kenntnis des Hauswesens gehört, zu erlernen. [...]
Das Mädchen soll also die Buchstaben lernen, zugleich aber auch das Woll- und Flachsspinnen, zwei Künste, die schon vom Zeitalter der Unschuld an der Nachwelt überliefert, dem Hauswesen von großem Nutzen sind und den Sinn für Einfachheit bewahren helfen, den die Frauen sich besonders aneignen müssen.
Ich will mich nicht auf Kleinigkeiten einlassen, damit es nicht scheint, als ob ich niedrigere Dinge im Auge habe, als meine Absicht ist. Aber ich will durchaus nicht, daß das Weib unerfahren ist in den Handarbeiten, und wenn sie eine Fürstin oder gar eine Königin wäre. Oder was will sie anderes und Besseres thun, wenn sie sich nicht um häusliche Beschäftigungen bekümmert? Sie wird dann Schwätzereien mit Männern oder mit andern Frauen treiben. Wovon wird sie reden? Kann sie denn immer reden? Wird sie nie schweigen? Oder - sie wird nachdenken. Worüber? Das Nachdenken der Frau ist flüchtig und unbeständig, ist ihr fremd und wird wie auf schlüpfrigem Boden, wer weiß wohin, abgelenkt. Aber lesen - das ist das beste, und das empfehle ich besonders. Aber auch wenn sie vom Lesen ermüdet ist, kann ich die Frau nicht müßig lassen. [...]
Dazu muß das Mädchen kochen lernen, nicht die schlemmerischen, unmäßigen Gerichte, wie sie in den öffentlichen Küchen bereitet werden zum Vergnügen und Kitzel des Gaumens, sondern die nüchterne, reinliche, mäßige und sparsame Küche, wie sie die Jungfrau den Eltern, die Gattin dem Manne und den Kindern bereitet. Von diesen wird sie Lob ernten, wenn sie die Bereitung der Speisen nicht den Dienstmägden überläßt, sondern selbst Hand anlegt. Solches Essen schmeckt Eltern, Mann und Kindern besser als das nur von Dienstmägden bereitete, besonders in den Tagen der Krankheit. Für niemand ist der Name "Küche" entehrend. (...)
Das dient alles ebenso der Sparsamkeit als der Reinlichkeit, denn in Gegenwart der Hausherrin oder der Tochter des Hauses wird alles herrlicher, glänzender, auch sorgfältiger und sparsamer bereitet. [...]
Vielen sind gelehrte Frauen verdächtig. Sie meinen, es komme bei solchen zur natürlichen bösen Anlage noch das Hilfsmittel der Bildung hinzu, um sie raffiniert zu machen. Sie bedenken nicht, daß aus demselben Grunde auch für den Mann die Bildung bedenklich ist, wenn sie einer bösen Anlage als Mittel zu Lug und List dient. Die Bildung jedoch, die ich dem ganzen Menschengeschlechte zuteil werden lassen möchte, ist nüchtern und züchtig; sie belehrt und macht die Menschen besser und ist eine ganz andere als die Bildung, welche den Menschen zu unlautern Dingen reizt und rüstet. Wie sie aber immer sein mögen, ich rede von Lebensregeln und Beispielen tugendhaften Lebens für das weibliche Geschlecht. Wenn solche Kenntnis schädlich ist, dann sehe ich nicht ein, wie die Unkenntnis von Nutzen sein kann.
Willst du vielleicht, daß deine Tochter das Böse kennt und das Gute nicht kennt? Sie soll also das besitzen, was zum Verderben führt, das aber, was vor demselben bewahrt, nicht kennen? Urteilst du so unbillig über die Kenntnis des Guten, daß du meinst, sie werde schaden, während die Kenntnis des Allerschlechtesten nicht schaden soll? Wenn nun das Mädchen von einem Laster bedroht wird, das es nicht kennt, was hat es dann für einen Schutz von einer Tugend, die ihm ebenfalls unbekannt ist? Und gesetzt, wir heißen diese Ansicht gut, weshalb führen wir das Mädchen denn in die Predigt? Warum belehren wir es, züchtigen es und ermahnen es zum Bessern? Dann wäre es ja besser, es auf dem Lande abzusondern und seinen Geist, wenn das Mädchen einen solchen hat, zu schwächen und zu unterdrücken, kurz Tiere aus Menschen zu machen, denn so wird es fern von aller Bildung bleiben. [...]
Man wird nicht leicht ein schlechtes Weib finden, das weiß oder doch überlegt, welch großes Gut die Keuschheit ist, welch ein Verbrechen es ist, sie zu verlieren, welch hohes Gut man für ein schmutziges, leichtes und flüchtiges Scheinvergnügen hingiebt, welchem Heer von Übeln es den Eintritt zu ihm gewährt, wenn es die Keuschheit verliert, und welches erwägt, eine wie leere und thörichte Sache ein fleischliches Vergnügen ist, wegen dessen es nicht der Mühe wert ist, die Hand umzuwenden, geschweige denn das wegzuwerfen, das am Weibe das Schönste und Wertvollste ist, und wie thöricht es ist, sich ängstlich zu schmücken, zu frisieren, zu putzen, wie verderblich, anderer Augen und Begierden auf sich zu lenken. Die das und ähnliches aus natürlicher Sittsamkeit oder infolge guter geistiger Verfassung oder durch Lesen weiß, während ihr Herz von frommen Entschlüssen erfüllt ist, die wird niemals etwas Schimpfliches zulassen; oder wenn sie dennoch es thut, trotzdem so viele Tugendlehren, so viele fromme Ermahnungen und Winke sie vom Bösen abhielten, so kann man daraus schließen, wie sie erst sein würde, wenn sie nichts von Tugend gehört hätte.
Und in der That, wenn wir in die vergangenen Zeiten zurückblicken, so finden wir fast kein gelehrtes Weib schamlos, aber viele Laster in der Vergangenheit und Gegenwart (und es giebt derselben mehr unter den christlichen Frauen, als es je im Heidentum gab), die in der Unwissenheit ihren Grund haben, weil die Frauen die ausgezeichneten Vorschriften der heiligen Väter über Keuschheit, Einsamkeit, Schweigsamkeit, weibliche Kleidung und Putz weder gelesen noch gehört haben. [...]
Um die Beredsamkeit mache ich mir keine Sorge. Die braucht die Frau nicht, wohl aber Tugend und Weisheit. Es ist nicht schimpflich, wenn die Frau schweigt, aber es ist häßlich und verabscheuenswert, unverständig zu sein und ein schlechtes Leben zu führen.
Aber dennoch möchte ich nicht ohne weiteres die Beredsamkeit beim weiblichen Geschlecht verdammen, die Quintilian und nach ihm der hl. Hieronymus an der Cornelia, der Mutter der Gracchen, an Hortensia, der Tochter des 0. Hortensius, und an Eunomia, der Tochter des Nazarius, gerühmt haben. Wenn man eine religiöse und gelehrte Frau zum Unterrichten haben kann, so ziehe ich für Mädchen eine solche vor. Im andern Falle wähle man einen bejahrten Mann oder doch wenigstens einen unbescholtenen und bewährten, aber keinen unverheirateten, sondern einen, der eine Frau hat, und zwar keine häßliche, sondern eine, die ihm wert und teuer ist. Dann erst wird er weniger ein Auge für andere haben. Ich durfte diesen Punkt nicht übergehen da bei der Erziehung des Mädchens die hauptsächlichste, ja vielleicht einzige Sorge die Keuschheit in Anspruch nehmen muß. [...]
Es ist leider eine alte Gewohnheit bei uns - und darin sind wir schlechter, als die Heiden waren -, daß Volksschriften, die zu dem Zwecke verfaßt werden, um von mäßigen Männern und Frauen gelesen zu werden, keinen anderen Inhalt zu haben pflegen als Kriege und sinnliche Liebe. [...]
Die Frauen sollen also alle diese Bücher wie Schlangen und Skorpionen fliehen. Wenn je eine durch Lesen dieser Bücher gefesselt werden sollte, so daß sie dieselben n ' icht aus der Hand legen will, so muß man sie ihr nicht nur mit Gewalt nehmen, sondern, falls sie bessere nur mit Widerwillen in die Hand nimmt, müssen Eltern oder Freunde suchen, daß sie durch gänzliches Aussetzen der Lektüre sich vom Lesen entwöhnt und, wenn möglich, es ganz verlernt. Denn es ist besser, ein Gut ganz zu entbehren, als es zu mißbrauchen. Eine sittenreine Frau wird ja auch solche Bücher gar nicht in die Hand nehmen und ihren Mund nicht mit anstößigen Liedern beflecken. Auch wird sie so viel als möglich durch gutes Beispiel und Ermahnungen, sowie durch Befehle und Vorschriften, wenn ihr das möglich ist, dahin wirken, daß andere es ihr gleichthun.
Welche Bücher kann und soll man denn lesen, wird man nun fragen. Über einige giebt es keinen Zweifel, so über die Evangelien des Herrn, die Thaten der Apostel und ihre Briefe, die geschichtlichen und moralischen Erzählungen des Alten Testamentes, Cyprian, Hieronymus, Augustinus, Ambrosius, Chrysostomus, Hilarius, Gregorius, Boethius, Fulgentius, Tertullian, Plato, Cicero, Seneca und ähnliche. Über einige muß man verständige und gelehrte Männer um Rat fragen.
Die Frau darf nicht leichtsinnig dem eigenen Urteile folgen und infolge ihrer geringen Vertrautheit mit den Wissenschaften und der Litteratur Falsches für wahr, Verderbliches für heilsam, Thörichtes für wertvoll halten. Sie muß überhaupt wißbegierig sein, um besser zu leben. Im Urteil aber soll sie vorsichtig sein und sich nicht über Zweifel äußern, sondern das festhalten, was die Kirche mit ihrer Autorität billigt oder das übereinstimmende Urteil der Besten. Sie soll stets bedenken und sich erinnern, daß es nicht ohne Grund ist, wenn Paulus den Frauen das Amt des Redens und Lehrens in der Kirche vorenthalten hat, sondern will, daß sie den Männern unterthan seien und schweigend lernen, was ihnen not thut.
Aber sie braucht auch Dichter nicht zu entbehren, wenn sie an Versen ihren Gefallen findet. Sie hat den Prudentius, Prosper, Juvencus, Paulinus, die alle den alten Dichtern nicht viel nachgeben. Sie wird in den lesenswerten Schriftstellern alles geistvoller, reichlicher, ergötzender finden - mit einem Worte eine sehr angenehme Weide für den Geist. Denn alles dieses ist nützlich fürs Leben und für Geist und Herz eine wundervolle Labung. Daher soll sie an Festtagen immer und zuweilen auch an den Werktagen solches lesen und hören, was den Geist zu Gott erhebt, dem Herzen den christlichen Frieden vermittelt und uns besser macht. Am besten ist es, daß du, ehe du zum Gottesdienste in die Kirche gehst, daheim die Epistel und das Evangelium des betreffenden Tages liesest und, wenn du sie besitzest, eine kurze Erklärung derselben. Sobald du nach Schluß der heiligen Handlung nach Hause zurückgekehrt bist und etwaige Dinge im Hauswesen besorgt hast, lies etwas von dem, was wir ausgeführt haben, ruhig und mit Überlegung, wenn du überhaupt das Lesen verstehst; wenn nicht, so lasse es dir vorlesen. An Werktagen mache es hie und da gerade so, wenn du daheim nicht durch andere notwendige Arbeiten verhindert bist, besonders wenn du geeignete Bücher zur Hand hast, und ganz besonders, wenn ein außergewöhnlich großer Zwischenraum die Feste trennt. Glaube nur nicht, daß die Feiertage von der Kirche eingesetzt sind, damit du spielen und müßigem Geplauder mit deinen Genossinnen dich hingeben kannst, sondern sie sind nur zu dem Zwecke da, daß du da um so eingehender und mit mehr Sammlung an Gott denkst und über dies kurze Erdenleben und jenes ewige Leben im Himmel nachdenkst.
Johannes Ludovicus Vives: Die Erziehung der Christin [398], S. 362, S. 365-367, S. 369, S. 371 f., S. 375 f, S. 379 f.
[300]
Hadwig, Herzogin von Schwaben als Beispiel einer gebildeten Frau der Ottonenzeit in den St. Galler Klostergeschichten des
Ekkehard IV., um 1050
90. Hadwig, Tochter des Herzogs Heinrich, nach dem Tode ihres Mannes Purchard Herzogin von Schwaben, wohnte als Witwe auf dem Hohentwiel; eine sehr schöne Frau wohl, war sie gegen ihre Leute außerordentlich hart und daher weit und breit dem Lande ein Schrecken. Einst als kleines Mädchen war sie dem Griechenkönig Constantin verlobt und wurde durch dessen Eunuchen, die hierzu hergesandt waren, in griechischer Bildung vorzüglich unterwiesen. Als aber ein Maler unter den Eunuchen ein Bildnis von der Jungfrau so ähnlich wie möglich malen sollte, um es seinem Herrn zu schicken, und sie beim Porträtieren genau ins Auge faßte, verzerrte sie Mund und Augen, da ihr die Hochzeit zuwider war. Und nachdem sie also den Griechen beharrlich zurückgewiesen und sich danach lateinischen Studien zugewandt hatte, führte Herzog Purchard sie mit reicher Mitgift als Gattin heim. Er war aber schon alt und schwach, und so lag sie, wie man sagte, umsonst mit ihm im ehelichen Gemach; und als er bald darauf starb, ließ er sie, wie die Kunde geht, unerkannt, wenn auch nicht unberührt, als Mädchen zurück mitsamt Heiratsgut und Herzogtum.
Nun kam Hadwig als Witwe einmal nach St. Gallen, um hier zu beten. Abt Purchard nahm sie, zumal sie seine Nichte war, festlich auf, und wie er sie zum Abschied beschenken wollte, sagte sie, sie wolle kein anderes Geschenk, als daß er ihr Ekkehard für einige Zeit als Lehrer nach dem Hohentwiel überlasse. Denn da Ekkehard Pförtner war, hatte sie sich, über seinen Entschluß schon tags zuvor allein mit ihm abgesprochen. Während aber der Abt nur ungern darauf eingehen mochte und der Onkel sogar abriet, beharrte jener gleichwohl dabei zu tun, worum er gebeten war.
Als er am verabredeten Tage nach Hohentwiel kam, ward er schon ungeduldig erwartet. Hadwig empf ing ihn freundlicher, als er selber wünschte, und führte "ihren Meister", wie sie sagte, an der Hand in ein Gemach, das dem ihrigen zunächst lag. Da pflegte sie bei Nacht und bei Tage mit einer vertrauten Kammerfrau einzutreten, um zu lesen; doch standen immer die Türen offen, damit, selbst wenn einer sich unterfinge, darüber zu erzählen, seine Aussage nichts Arges bedeuten würde. Dort auch fanden Dienstleute und Vasallen und sogar Landesfürsten die beiden wiederholt beisammen, wie sie Lektüre trieben oder Beratung hielten. Dennoch empörte sie ihn oft durch ihren harten und unbeherrschten Charakter, womit sie es dahin brachte, daß er manchmal viel lieber zu Hause als bei ihr gewesen wäre. [...]
94. In der Frühe des anderen Tages erfüllte sie, wie man es dort so hielt, nach dem Herkommen das Schweigegebot der Regel, zu deren Befolgung sie ebenfalls eifrig ermahnte denn schon hatte sie begonnen, auf dem Berg ein Kloster zu errichten -; dann ging sie zum Meister in die Lektürestunde. Und als sie sich gesetzt hatte, fragte sie unter anderem, wozu jener Knabe, der selber dabei stand, gekommen sei. "Wegen des Griechischen, meine Herrin", sagte Ekkehard, "damit er etwas von euren Lippen auffange, darum habe ich ihn euch hergebracht; im übrigen weiß er einiges." Der Knabe selber aber, lieblich anzuschauen und stets mit einem Vers bei der Hand, sagte folgendes auf-.
"Griechisch, Herrin, wär' feiner, wiewohl ich kaum erst Lateiner." Und wie sie denn auf Neues erpicht war, freute sich die Herzogin so sehr über den Vers, daß sie den Knaben an sich zog, küßte und nahebei auf einen Fußschemel setzte. Und neugierig forderte sie von ihm, er solle ihr noch mehr Verse aus dem Stegreif machen. Der Knabe aber, mit einem Blick auf seine beiden Lehrer, als sei er solchen Kuß nicht gewohnt, trug folgendes vor:
"Nein, ich kann mitnichten, passende Verse mehr dichten; Denn mich packte der Schrecken, so Süßes ließ man mich schmecken." Sie aber brach ganz gegen ihre gewohnte Strenge in Gelächter aus, stellte den Knaben vor sich hin und lehrte ihn die Antiphon "Maria et flumina" singen, die sie selber ins Griechische übertragen hat: "Phalassi ke potami, eulogiton kiryon; ymnite pigonton kyrion alleluia." Und immer wieder rief sie ihn danach, wenn sie Zeit hatte, zu sich, nötigte ihm Stegreifverse ab und lehrte ihn griechisch sprechen und war ihm außerordentlich zugetan. Zuletzt gar, beim Abschied, schenkte sie ihm einen Horaz und einige andere Bücher, die jetzt in unserer Bibliothek sind.
95. Aber jener jüngere Ekkehard zog sich inzwischen mit dem Knaben zurück, um, wie gewohnt, einigen anderen Kaplänen der Herzogin, die sie an ihrem Hof keinesfalls müßig sehen wollte, Unterricht zu erteilen; denn er war ebenfalls hinlänglich gebildet. So blieben Hadwig und Ekkehard wie gewöhnlich allein zum Lesen zurück. Vergil beschäftigte sie, aber auch die berühmte Stelle. "Ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen." [. . .]
Ekkehard IV.: St. Galler Klostergeschichten [380a], S. 185-187, S. 193-195.
[301]
Herbert Grundmann, Die Frauen und die Literatur im Mittelalter, 1936
Seit dem 11. Jh. aber entsteht ein religiöses, geistliches Schrifttum in deutscher Sprache, das nicht mehr nur als Unterlage für mündliche Belehrung und Unterweisung gemeint, sondern zu schriftlicher Verbreitung, zur Lektüre bestimmt ist, wie vordem nur lateinische Literatur. Im 12. und 13. Jh. findet dann auch weltliche Dichtung Aufnahme in das Schrifttum, wird nicht mehr nur vorgetragen und gehört, sondern in Büchern verbreitet und gelesen. Und endlich geht im Jahrhundert der deutschen Mystik auch die religiöse Prosa der Predigten, Traktate und Erlebnisberichte in das deutsche Schrifttum ein, das Wort der Prediger wird zum Lesestoff der Mystiker. Wie ist das alles gekommen? Was hat die Schranke gesprengt, die die Volkssprache und die Volksdichtung vom Schrifttum ausschloß? [...]
(Dante) hat darauf eine sehr einfache Antwort gefunden. Der erste, sagt er in der Vita nuova, der in der Volkssprache zu dichten begann, tat das, weil er wollte, daß seine Worte für Frauen verständlich seien, die lateinische Verse nicht gut verstehen. [. . .]
Freilich ist es nicht nur die mangelnde Lateinkenntnis der Frauen, die diese Wendung der literarischen Dichtung zur Volkssprache und deren Einbruch in das Schrifttum herbeiführt. Damit vereinigt sich vielmehr eine andere bedeutsame Tatsache: Die Frauen der mittelalterlichen Gesellschaft, auch wenn sie nicht im Kloster leben, verstehen sich großenteils aufs Lesen wie sonst im allgemeinen nur der Klerus, während die Männer des Laienstandes nur ausnahmsweise lesen konnten. Sie beschränken sich aber nicht wie der klerikale Bildungsstand auf lateinische und geistliche Lektüre; sie eignen sich auch ein Schrifttum in der eigenen Sprache und auch weltliche Dichtungen als Lesestoff an. Für sie entsteht daher ein volkssprachliches Schrifttum. [. . .]
Das junge Mädchen des mittelalterlichen Adels lernt, auch wenn es nicht ins Kloster geht, die Psalmen lesen, und der Psalter begleitet die Frauen des Laienstandes durchs Leben. Am Psalter lernen sie nun freilich auch die Anfangsgründe des Lateinischen, und viele adlige Damen haben es darin so weit gebracht wie nur wenige Männer des Laienstandes. Wie die Gemahlin Ludwigs des Frommen, Kaiserin Judith, belesen genug war, daß ihr Rabanus Maurus seine Kommentare zu Judith und Esther, Walahfrid Strabo seine lateinischen Dichtungen, Bischof Frechulf von Lisieux den zweiten Teil seiner Weltgeschichte widmen konnte, so sind die Frauen der sächsischen Dynastie im 10. Jh. alle lateinisch gebildet, mögen sie im Kloster leben oder nicht. Ottos 1. Tochter Mathilde, die Äbtissin von Quedlinburg, erhält die Zueignung der Sachsengeschichten Widukinds von Corvey; Ottos Nichte Gerberg, die Äbtissin von Gandersheim, liest mit der Dichterin Hrotsvit gemeinsam römische Klassiker; Ottos Mutter Mathilde verlangt in ihrem klösterlichen Witwendasein, daß ihr ganzer Hausstand gleich ihr Lesen lernt. Aber auch Ottos Gemahlin Adelheid, die nicht im Kloster lebt, wird als "litteratissima" gerühmt und "lectionibus intenta" und wechselt Briefe mit dem gelehrten Gerbert von Reims; Ottos Schwester Gerberg, die Gemahlin des französischen Königs Ludwig IV., wird von dem Mönch Adso, der für sie seinen Antichrist-Traktat schrieb, wegen ihres Schrifteifers gelobt, und Ottos Nichte Hadwig, die Herzogin von Schwaben, die sich auf dem Hohentwiel von Ekkehart an Vergil und Ovid Latein lehren läßt; bietet das anschaulichste und bekannteste Bild dieser lateinisch gebildeten Damen der Ottonenzeit. Es hat gewiß auch späterhin nicht an solchen lateinkundigen Frauen unter dem Adel gefehlt. Aber die Psalterkenntnis, auf die sich die meisten Frauen beschränkten, genügte freilich nicht, um auch andere lateinische Schriften ohne weiteres lesen zu können. [...]
Und längst vorher schon zeigen sich deutliche Spuren, daß gerade die Teilnahme der Frauen am literarischen Leben die strenge Geschlossenheit der lateinischen Kirchenbildung auflockert, die Aufnahme der Volkssprache in das Schrifttum und die Verdeutschung der religiösen Literatur befördert.
[...] Die Handschrift des altsächsischen Psalmenkommentars des 10. Jh. stammt aus dem alten Frauenstift Gernrode am Harz, und gerade Psalterübersetzungen und -erklärungen spielen in den Anfängen des volkssprachlichen Schrifttums eine beträchtliche Rolle, weil sie dem weiblichen Erbauungs- und Lesebedürfnis Genüge taten. Notkers deutschen Psalter, bezeichnenderweise die einzige seiner Übertragungen, die weite Verbreitung fand, hat sich auch die Kaiserin Gisela, die Gemahlin Konrads 11. (der selbst nicht lesen konnte!), in St. Gallen abschreiben lassen, wie sie in ihrer umfangreichen Bücherei auch Notkers verschollene deutsche Hiobübertragung besaß. Neben dem Psalter aber treten Bearbeitungen des Hohenliedes und Mariendichtungen in den Mittelpunkt des erwachenden deutschen Schrifttums, und auch diese Werke sind, wenn nicht von Frauen verfaßt., so doch von ihnen vorzugsweise benutzt und gelesen und meist nachweislich geradezu für sie geschaffen worden. Das S. Trudperter Hohelied ist um die Mitte des 12. Jh. ganz ausdrücklich für Nonnen geschrieben - wir wissen nicht sicher, ob nicht auch von einer Frau geschrieben, wie ungefähr gleichzeitig das Arnsteiner Marienlied. Wenn man das St. Trudperter Hohelied als "das erste Werk der deutschen Mystik" bezeichnet -, dann ist eben schon dieses erste wie alle späteren Werke der deutschen Mystik für Frauen geschaffen und auf die besondere Eigenart weiblicher Frömmigkeit abgestimmt: auf die Hinneigung zur Marienverehrung, auf die Empfänglichkeit für die Gedanken der Seelenbrautschaft, auf die "minnichliche gotes erkennusse". Auch die deutschen Marienlieder des Priesters Wernher (von 1172) sind für adlige Frauen gedichtet, sollen von ihnen abgeschrieben und verbreitet werden. Die Gedichte des Pfaffen Wernher vom Niederrhein und des sogenannten Wilden Mannes kennen wir nur aus einer Handschrift, die für eine Frau geschrieben wurde. Bei manchen anderen deutschen geistlichen Dichtungen des 11. und 12. Jh. läßt sich wenigstens vermuten, wenn auch nicht nachweisen, daß sie gleichfalls wenn nicht von Frauen, so doch für Frauen geschaffen sind, für Nonnen oder fromme gebildete Damen, die lesen können und nach religiöser Belehrung und Erbauung verlangen, ohne die Sprache der klerikalen Literatur zu beherrschen.
Die stärkste, entscheidende Triebfeder aber für die Auflösung der Normen, die die Sprache des Volkes aus dem Schrifttum verbannten, liegt offenbar in der Tatsache, daß die Frauen die Bildungsgrenze zwischen Klerus und Laientum überschneiden und verwischen und dadurch die strenge Scheidung zwischen lateinischem Schrifttum und nicht-schriftfähigem "Sprachtum" beseitigen.
Die Bedeutung und Tragweite solcher Beobachtungen muß sich aber erst an der Frage erweisen, ob auch der Eingang weltlicher Dichtungen in das Schrifttum in der Zeit der höf"ischen Kulturblüte um 1200 aus den gleichen Verhältnissen erklärlich wird. [...]
Denn auch die ritterlichen Kreise vom Hochadel bis zur Ministerialität, die nun als Dichter auf den Plan treten, dichten zunächst, wie die Spielleute früherer Zeiten, nicht für eine Leserschaft, sondern für den Vortrag in der Gesellschaft. Auch ihre Werke sind nicht geschaffen, um als Buch in die Hand genommen und gelesen zu werden, sondern sie sollen im Kreise der Standesgenossen "gesungen und gesagt" und angehört werden, die Lieder der Minnesänger ebenso wie die großen Epen. [...]
Auch die höfischen Dichter am Anfang des 13. Jh. können nämlich, wie die adligen und ritterlichen Herren des Mittelalters überhaupt, nicht oder nur ausnahmsweise lesen und schreiben. Wenn Hartmann von Aue mehrmals von sich sagt: Ein ritter so geleret was, daz er an den buochen las, swaz er dar an geschriben vant, so kann doch diese ausdrückliche Versicherung, daß er lesen könne, auf seine Hörer nur dann nicht lächerlich und einfältiggroßsprecherisch gewirkt haben, wenn es eben wirklich die Ausnahme war. [...]
Denn anders als die Ritter und Fürsten und selbst die Dichter dieser Zeit können die Frauen der höfischen Gesellschaft anscheinend alle lesen; von ihnen erwartet man jedenfalls und setzt voraus, daß sie lesen können; es gehört sich für eine Dame.
Nicht den Rittern, sondern ausdrücklich den Frauen, vor allem den jungen Mädchen empfiehlt Gottfried, "moraliteit daz süeze" zu lesen, das heißt Bücher und Dichtungen, aus denen die Lebensformen der höfischen Gesellschaft zu lernen sind. Der Tristan-Fortsetzer Ulrich von Türheim schließt sein Werk (v. mit der Bitte: Swelhe frouwen an disem buoche lesen, die suln mir wünschen heiles unt danken mir. Ähnliche Wendungen, die zeigen, daß der Dichter an Frauen als Leserinnen denkt, kehren als Abschluß höfischer Epen mehrfach wieder. Auch Heinrich von dem Türlin schließt seine "Krone" mit der Bitte um die Huld der Frauen, für die er gedichtet hat. Und sogar der Parzival, das gedankenschwerste Werk dieser Zeit, endet mit den Versen: Ist das durh ein wip geschehn - einer Frau zuliebe gedichtet - diu muoz mir süezer worte jehn. Das ist weder eine bloße galante Schlußwendung noch eine bloße poetische Fiktion. Schon mitten in seinem Gedicht ruft Wolfram einmal jedes verständige, getreue Weib, "diu diz maere geschriben siht", als Zeugen an, daß er die Wahrheit über die Frauen spreche. Auch ihm steht also, unabsichtlich und trotz seines Widerstrebens, sich sein Werk als Buch zu denken, das Bild der lesenden Frauen vor Augen, denen andere ihre Dichtungen ausdrücklich als Lektüre zudenken, wie vor allem auch Ulrich von Lichtenstein, der den "Frauendienst" mit den Worten beschließt: Ditz buoch sol guoter wibe sin, und seinem kleinen Spätwerk, dem "Frauenbuch" von 1257, den Wunsch mit auf den Weg gibt: Die frowen süln ez gerne lesen.
Aber schon in den ersten Anfängen der höf ischen Dichtung läßt sich dasselbe beobachten. Heinrich von Veldeke hat sein erstes Werk, die Servatius-Legende, "das erste deutsche Gedicht in der neuen regelrechten Form", auf Wunsch der Gräfin Agnes von Looz gedichtet, der Frau seines Dienstherrn - derselben, die vielleicht auch den Tristandichter Eilhart von Oberg zu seinem Werk angeregt und gefördert hat. Bezeichnender noch ist es, daß Veldeke sein zweites Werk, die Aeneas-Dichtung, noch bevor sie zu Ende geführt und vortragsreif war, ebenfalls einer Frau anvertraute, der Gräfin Margarete von Cleve, die die Handschrift "lesen und schauen" sollte, noch ehe die Dichtung in der Öffentlichkeit zum Vortrag kam. Dabei ist ihr dann bekanntlich das Mißgeschick zugestoßen, daß die Handschrift, die sie einer ihrer Hofdamen (vielleicht auch zum Lesen) übergeben hatte, im Trubel ihrer Hochzeit mit dem Thüringer Landgrafen verlorenging, entwendet und nach Thüringen mitgenommen wurde; und erst neun Jahre später, als Veldeke selbst nach Thüringen kam, konnte dem Dichter sein unvollendetes Werk wieder zugestellt werden, an dem inzwischen fremde Hände herumgearbeitet hatten. Es ist lehrreich, dieses Schicksal der Veldeke-Handschrift mit dem ähnlichen Mißgeschick zu vergleichen, über das sich wenig später der Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach beklagt. Auch er hat nämlich seine Manuskripte, ehe.er die letzte Hand daran gelegt hatte, zum Lesen ausgeliehen, auch sie sind Frauen, in diesem Fall Klosterfrauen, in die Hände gefallen und von ihnen abgeschrieben worden; und als der Verfasser dann sein Werk in dieser Gestalt wieder zu Gesicht bekam, war er entsetzt, wie entstellt es war, und beschloß, künftig nur noch autorisierte Abschriften der Öffentlichkeit zu übergeben. Solche Vorfälle haben sich später noch oft ganz ähnlich wiederholt. Vor allem Meister Eckhart und Seuse haben sich durch ihre weibliche Leserschaft zu ganz ähnlichen Beschwerden veranlaßt gesehen. [. . .]
Alle diese Zeugnisse und Beobachtungen weisen darauf hin, daß in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, Frauen die Leserinnen der höfischen Dichtung sind, daß durch sie und für sie die volkssprachliche Dichtung in das Schrifttum aufgenommen worden, zur "Literatur" geworden ist.
Das wird auch nicht durch die Tatsache widerlegt, daß so viele Dichtungen dieser Zeit fürstliche Herren als Gönner, Auftraggeber und Anreger nennen. Fürsten und große Herren haben gewiß an ihren Höfen die Dichter und Sänger beherbergt und zu Worte kommen lassen. Sie haben ihnen die Mittel zur Verfügung gestellt, um sich die literarischen Quellen und das kostbare Pergament beschaffen und ihren Unterhalt finden zu können, und sie haben dafür den Dank der Dichter geerntet. Oft genug aber treten neben diesen Gönnern und Förderern ihre Frauen hervor als die, von denen die geistig-literarische Anregung und Nachfrage eigentlich ausgeht. Schon der Pfaffe Konrad preist den Baiernherzog Heinrich als seinen hohen Gönner, der ihn mit der Verdeutschung des Rolandsliedes beauftragt und ihm die französische Vorlage dazu verschafft hat - aber auf Wunsch seiner Gemahlin: des gerte di edele herzoginne. Reinbot von Durne hat seinen Heiligen Georg im Auftrag des bairischen Herzogspaares gedichtet und sich dabei, wie er versichert, dem Wunsch der Herzogin gefügt und auf unwahre dichterische Ausschmückung der Legende verzichtet; auch hier gibt also ihr literarischer Geschmack den Ausschlag. Der Reichsschenk Konrad von Winterstetten beauftragte nicht nur Ulrich von Türheim mit der Tristandichtung, die wie gesagt auf Leserinnen rechnet, sondern ließ sich auch von Rudolf von Ems den Willehalm dichten - ze dienste siner vrouwen. Die großen Herren dieser Zeit haben es sich etwas kosten lassen, die Wünsche ihrer Damen nach Dichtungen und Lesestoff zu erfüllen: so dürfte das Verhältnis des Fürstentums zur mittelhochdeutschen Literatur richtiger zu kennzeichnen sein als mit dem antiken Begriff des Mäzenatentums.
Es bedarf noch genauerer Untersuchung, wie im einzelnen die Stil- und Formwandlungen in der Epigonen- und Verfallszeit der höfischen Dichtung - bis zur Umschmelzung der Epenstoffe in Prosaromane - dadurch bedingt und mitbestimmt sind, daß aus dem Sprach- und Vortragswerk der Dichter ein Schrifttum, ein Lesestoff für eine vorwiegend weibliche Leserschaft wurde. Vor allem ist dabei aber zu beachten, wie seit der Mitte des 13. Jh. die höf"isch ritterliche Romanliteratur zurückgedrängt und gleichsam überflutet wird durch eine neue starke Welle religiösen, erbaulichen und belehrenden Schrifttums in der Volkssprache, das teils die Kunstmittel der höfischen Dichtung benutzt und geistlichen Stoffen dienstbar macht, teils aber auf alle Kunstmittel verzichtend zum erstenmal die ungebundene Sprache, die deutsche Prosa unmittelbar in die Literatur einführt und zu Lesestoff werden läßt. Wenn man dieses von der Literaturforschung noch wenig beachtete religiöse deutsche Schrifttum, das auf die Glanzzeit der höfischen Dichtung folgt und der Hochblüte der deutschen Mystik am Anfang des 14. Jh. vorangeht, auf seine Herkunft und Bestimmung untersucht, so ergibt sich einerseits eine überraschende Wiederholung und Bestätigung unserer Beobachtungen über die entscheidende Bedeutung der weiblichen Leserschaft für die Entstehung eines volkssprachlichen Schrifttums; und andererseits tritt dabei erst die Bedeutung und Tragweite dieser Zusammenhänge für die literarische und geistesgeschichtliche Entwicklung ins rechte Licht. Wie früher die weltliche Dichtung, so werden nun auch Predigten und andere religiöse Äußerungen in der Muttersprache literaturfähig und finden Eingang ins deutsche Schrifttum. Was früher nur lateinisch geschrieben und deutsch nur gesprochen wurde: Predigten und Gebete, religiöse Betrachtungen und theologische Erörterungen, die Darstellung religiöser Erlebnisse und Visionen, und schließlich die Bibel selbst - alles das wird seit der Mitte des 13. Jh. ein wesentlicher und in der Blütezeit der deutschen Mystik am Anfang des 14. Jh. sogar der wichtigste Bestandteil der deutschen Literatur.
Grundmann: Die Frauen und die Literatur im Mittelalter [393], S. 130-140, S. 145-151.
[302]
Schreib- und Lesekenntnisse von Männern und Frauen in Ulrich von Liechtensteins Frauendienst, 1255
Ihre weiße Hand empfing das Schreiben, und sie (d. h. Ulrichs Dame) sagte sogleich zum Boten: "Freund, warte hier." Frohgestimmt ging sie in ihr Kabinett und las dort, was in dem Brief stand. Die liebe Schöne las das Schreiben, in dem die folgenden Strophen standen. [...]
Nun paßt gut auf, was ich erzähle. Der Bote blieb zwei Tage da. Dann schickte meine Herrin nach ihm. Sie sagte: "Nimm dieses Büchlein und bringe es deiner Herrin zurück. Ich habe es häufig gelesen, seitdem (du es brachtest). Es steht in der Tat ein gutes Gebet darin. Sei's drum, ich will doch darauf verzichten.
Der Bote nahm das Büchlein und brachte es seiner Herrin zurück. Sie schlug es auf und entdeckte, daß mehr darin stand, als vorher. Da schickte sie es mir sofort. Als ich entdeckte, daß mehr darin stand, freute ich mich herzlich darüber und dachte bei mir: "Ob sie mir darin vielleicht doch eine Botschaft geschickt hat, die mich fortwährend in freudige Stimmung versetzt? Ich weiß sehr wohl, daß sie gut ist. Wenn sie mir hier ein freundliches Zeichen zukommen läßt, darf ich immerdar glücklich leben und alle Trauer fahren lassen."
Mein Schreiber, der mir meine vertraulichen Briefe vorlas und solche auch oft schrieb, war nicht bei mir. Deshalb blieb das Büchlein zehn Tage lang ungelesen. Ich kann euch versichern, daß mir während der ganzen Zeit das Büchlein nie vom Busen kam.
zitiert nach: Curschmann/Glier (Hrsg.): Deutsche Dichtung des Mittelalters [182], Bd. 2, S. 729-733.
[303]
[304]
Dodana: Handbüchlein als Anleitung zur Selbsterziehung für ihren Sohn, 841-844
Ich mahne dich, mein sußer und vielgeliebter Sohn Wilhelm, daß du bei den zeitlichen Sorgen dieser Welt nicht versäumst, dir eine Sammlung von Büchern zu erwerben, worin du über Gott, deinen Schöpfer, durch den Mund heiliger Lehrer dich unterweisen und erleuchten kannst, vollständiger und besser, als ich dir zu schreiben vermag. Bete ihn an, liebe ihn, diene ihm. Tust du das, so wird er dir Hüter, Tröster, Führer und Gefährte, Weg, Wahrheit und Leben sein. In dieser Welt wird er dir reichlich alles Gute gewähren und alle deine Feinde zum Frieden bekehren. Du aber, gemäß den Worten Jobs, "umgürte wie ein Mann deine Lenden". Sei demütig von Herzen, keuschen Leibes, dem Höhern zugewendet. Halte auf Ehre und schöne Kleider. Was nun weiter? Deine Mahnerin Dodana ist in-imer bei dir, mein Sohn. Und wenn ich, vielleicht bald, nicht mehr da bin, so hast du dieses mein Gedenkbüchlein, worin du wie in einem Spiegel mich betrachten kannst, indem du mit dem Geiste und den Augen darin liest und Gott bittest. Daraus kannst du hinreichend ersehen, was du mir gegenüber zu erfüllen hast. Mein Sohn, du wirst Lehrer haben, welche dir mehr und Nützlicheres beibringen als ich, deine Mutter, aber nicht mit einem so von Liebe glühenden Herzen. Mein erstgeborener Sohn Wilhelm, lies diese Worte, die ich dir sende, fasse sie wohl auf und vollführe sie im Werke. Deinen kleinen Bruder, dessen Namen ich nicht kenne, der inzwischen wohl die Gnade der Taufe in Christo empfangen haben wird,
muntere auf, stärke, liebe, leite ihn vom Guten zum Besseren. Dieses Handbüchlein, das ich verfaßt und dir zugeeignet habe, zeige ihm, wenn er zum Alter gelangt ist, da er vollkommen reden und lesen kann, und ermuntere ihn beim Lesen, denn er ist dein Fleich und Blut, dein Bruder. Auch mahne ich euch, eure gemeinsame Mutter Dodana, daß ihr in den Sorgen und Bedrängnissen dieser Welt wenigstens zuweilen euer Herz nach oben richtet. Schauet auf den, der im Himmel herrscht, dessen Name Gott ist. Er, der Allmächtige, dessen ich nicht würdig bin zu gedenken, möge euch und euern Vater, meinen Herrn Bernhard, in dieser Welt glücklich und zufrieden machen, ihm beständiges Wohlergehen verleihen, nachdem der Lauf dieses Lebens vollendet ist, euch mit den Heiligen zur ewigen Freude eingehen lassen. Amen!
zitiert nach: Schoelen: Erziehung und Unterricht im Mittelalter [434], S. 41 f.
[305]
[306]
Eintragung in das Rechnungsbuch des Hans Praun über die Lehre seiner Tochter, 1471-1478
Am St. Barbara Tag, am Montag den 4. Dezember, habe ich meine Tochter zu dem Seidennäher Endres Ehenfelder gelassen und habe zugesagt, sie zwei Jahre bei ihm zu lassen, da sie bei ihm lernen solle. Und ich soll ihm die zwei Jahre für Kost und Lehre 15 rheinische Gulden geben. [...] Sie nahm in ihren Dienst insgesamt 4 Maß Wein mit, die 24 Pfennig kosteten, für das Gesinde 2 Maß und den Herren und die Frau auch 2 Maß. Gott der Allmächtige gebe ihr Glück. übertragen nach: Pohl: Das Rechnungsbuch des Nürnberger Großkaufmanns Hans Praun [424a], S. 95.
[307]
Hermann Weinsberg über die Lehre seiner Schwester Cathrin, 2. Hälfte 16. Jh.
Im Jahre 1543 hat mein Vater meine Schwester Cathrin bei Melchior Koch zu Saleck für sieben Jahre nacheinander in die Lehre gegeben; sie sollte im siebenten Jahr einen englischen Rock verdient haben. Sie sollte das Seidamt lernen und was ihr weiter nottat. Man brauchte nichts dazu zu geben wegen der langen Dienstzeit; sonst hätte sie das Amt in vier Jahren lernen können, wenn sie Geld dazu hätte geben wollen. Dahin ist meine Schwester gekommen zum Wohnen und ist auch bis zum siebenten Jahr dort geblieben, bis sie ausgestattet wurde, hat wenig Verdruß dabei gehabt bis zum Schluß; da war sie mit nach Frankfurt gezogen, schrieb einen Brief hierher und beklagte sich über etliche Übelstände. Sie ist von diesem Haus ausgestattet worden und hat das Recht zur Ausübung des Seidhandwerks.
zitiert nach: Schuster: Die Stellung der Frau in der Zunftverfassung [435a], S. 16.
[308]
Brüsseler Schulordnung v. 25. 10. 1320
Und wenn gleich es von alters her eine Rechtsgewohnheit gewesen ist und gebilligt, daß nur zwei Schulen zu sein pflegen, nämlich eine hohe Schule für Knaben und eine kleine für Mädchen, so wollen wir nichts destoweniger zum Besten und zum Frieden unserer vorgenannten Bürger, daß unser vorgenannter Scholaster oder der Rektor der hohen Schule von Brüssel, der von demselben Scholaster beauftragt ist, der es jetzt ist oder nachmals in Zukunft sein wird, vier Untermeister anstellen soll innerhalb unserer Stadt Brüssel und den fünfen zu Molenbeke, um die Knaben, und vier Unterlehrer oder Unterlehrerinnen, um die Mädchen getreulich zu lehren ihre kleinen Dinge bis zum Donat und nicht weiter. Und dann sind die Knaben schuldig, zu der hohen Schule zu kommen, um allda gelehrt zu werden in der Grammatik, in Musik und in guten Sitten. Ferner soll den fünften Untermeister oder die fünfte Untermeisterin einsetzen der vorgenannte Scholaster oder der oberste Meister der hohen Schule, der dazu vom Scholaster beauftragt ist, oder [den er] nachmals in Zukunft beauftragen wird, um die Kinder zu lehren in Sitten getreulich, in der Grammatik und in der Musik. Diese vorgenannten Schulen soll man einrichten in unserer vorgenannten Stadt Brüssel zur größten Bequemlichkeit oder Gemächlichkeit unserer vorgenannten Bürger, die eine von der anderen in gehöriger Entfernung. Wir wollen nicht, daß die Knaben mit den Mädchen in der hohen Schule oder in der niederen Schule zusammen gehen, es wäre denn, daß einer unserer vorgenannten Bürger mehr Kinder hätte an Knaben und Mädchen, denn eins, daß [dann] die Kinder zusammen gehen mögen nach dem Willen von Vater und Mutter, unter Wahrung der Anordnung über den Donat, die hier oben gegeben worden ist. Weiter ist ein Obermeister schuldig zu prüfen-1 zu beaufsichtigen, zu tadeln und abzusetzen die Meister oder Meisterinnen der niederen Schulen und andere an die Stelle zu setzen, so oft und so manchmal es den Kindern nutz ist und ihm nötig dünken wird. Und da niemand schuldig ist, zu arbeiten ohne Lohn, so wollen wir, daß die Untermeister und Meisterinnen von den zehn vorgenannten unteren Schulen 12 Schilling derzeit gültiger Münze für sich und für den Obermeister jährlich von jedem Kinde haben und empfangen sollen, wovon sie dem Obermeister den dritten Teil geben und bezahlen sollen.
zitiert nach: Müller: Vor- und frühreformatorische Schulordnungen [416], Nr. 3, S. 8f.
[309]
Vertrag wegen der Mädchenschule zu Emmerich v. 26. 4. 1445
Zu wissen [sei:] da Dekan und Kapitel von Emmerich auf der einen und die Stadt Emmerich auf der anderen Seite uneins sind wegen der Schule betreffs der Mädchen, die zu Emmerich zur Schule gehen, so ist darüber verabredet, daß die Stadt ein oder zwei Frauenspersonen oder so viele, als ihrer in der Zeit dazu nötig sein wird, verordnen soll, [um] die Mädchen zu lehren. Und die Lehrerinnen soll die Stadt dem Dekan und Kapitel präsentieren, und falls diese gegen die Frauenspersonen mit Reden nicht Einspruch erheben können, so sollen sie dieselben dazu bestätigen und zulassen. Und ob sie mit Reden Einspruch erhöben, so soll die Stadt gleicherweise andere für die Stelle präsentieren. Das Gleiche soll die Stadt auch thun, so oft sie irgend welche Lehrerinnen abbestellen und andere in die Stelle erheben wollte. Wäre es der Fall, daß die Lehrerinnen ungebührlich lebten also, daß vorgen. Dekan und Kapitel meinten, gewissenshalber das strafen zu müssen, das mögen sie, so oft das nötig wird, der Stadt zu erkennen geben, die sich dann auch nach den meisten Reden darin benehmen soll mit Absetzung [der Lehrerinnen] und Einsetzung anderer in die Stelle inmaßen, wie oben berührt ist, oder Strafe darüber verhängen [soll], wie es nach Art der Umstände das Beste sein wird. Und jede Lehrerin soll dem Schulmeister alle Jahre geben zum Bekenntnis dieser Vergünstigung einen alten Groschen oder einen kölnischen Weißpfennig. Ausgenommen [ist] in den vorsteh. Punkten: ob jemand seine Tochter oder Töchter in der großen Schule zur Schule wollte gehen lassen, daß sie das thun mögen und daß die Stadt daran kein Hindernis sein oder bereiten soll. Ferner da die vorgen. Parteien noch andere Gebrechen unter einander haben, so ist darüber verabredet, daß sich jeder von ihnen darob förderlich und gütlich bedenken und [man] sich gebührlich und redlich beiderseits halten und benehmen solle, und ob ihrer einem dünkt, daß er von der anderen Partei verkürzt werde, das soll die eine der anderen gütlich zu erkennen geben und soll dann jede zwei ihrer Freunde, die die Dinge gern in Güte beilegen, dazu geben. Die Vier sollen die Gebrechen in Güte erkunden und sie [sc. die Parteien] in Freundschaft mit ihrer beiden Wissen und Willen darin bescheiden, wenn sie können. Und ob sie [betreffs] der Entscheidung so nicht eins würden, so sollen die Vier einen Obmann wählen, von dem sie meinen, daß er dazu am nützlichsten sei; der soll dann mit Rat und Hilfe der vorgen. Vier noch förder darum versuchen und zusehen, ob er sie in Freundschaft, auch mit Wissen und Willen der vorgen. Parteien darüber bescheiden kann. Und wenn man dann die Freundschaft und Entscheidung auf keine der vorberührten Weisen finden kann, so mögen die Parteien oder welcher von ihnen das nötig were, ihre Gebrechen auf dem Rechtswege fordern nach Gebühr. Und wenn es so zur Rechtsforderung käme, so soll der vorsteh. Vertrag über die Schule aus und tot sein und keine der Parteien an ihrem Rechte zu Hindernis oder zu Schaden kommen und alles ohne Arglist. [Vorstehendes ist] festgesetzt durch Vermittelung des Propstes und Dekans von Cleve auf Wunsch der Parteien von beiden Seiten am Montag nach Cantate i. J. 1445.
zitiert nach: Müller: Vor- und frühreformatorische Schulordnungen [416], Nr. 31, S. 54 f.
[310]
Ordnung für die deutschen Schulmeister und Schulfrauen zu Bamberg v. 25.4. 1491
Ein jeglicher deutscher Schulmeister und Schulfrau sollen miteinander im Ehestand sitzen und sich durch einen ehrbaren und unbescholtenen Lebenswandel, Handlungsweise und Wesen ausgezeichnet haben und sich in einem solchen Stand auch weiterhin halten und nicht anders befunden werden bei Strafe und Buße, wie sie vom Schultheiß und vom Rat beschlossen werden.
Ein jeder Schulmeister soll bei seinen Kindern, die ihm anvertraut werden, selbst zugegen sein, sie getreulich unterweisen und lehren und keiner anderen Beschäftigung nachgehen oder ausüben, solange die Kinder in der Schule sind; auch nicht seine Ehefrau mit den Kindern umgehen lassen, wenn sie nicht selbst gelehrt ist; auch nicht ein Kind beauftragen, das andere zu befragen oder ihm die Aufsicht übertragen, sondern selbst mit ganzem Fleiß auf sie acht geben, ihnen vortragen und vorlesen, sie abhören, aber nicht zornig mit Schnauzen, Fluchen oder Schelten mit ihnen umgehen, sondern mit geziemenden, belehrenden Worten und Gebärden, durch die sie an Zucht und Wissen gebessert werden, bei Buße und Strafe, die vorzunehmen Schultheiß, Bürgermeister und Rat vorbehalten bleibt.
übertragen nach: Müller: Vor- und frühreformatorische Schulordnungen [416], Nr. 55, S. 109 f.
[311]
Bericht über die Nürnberger Schulkinder beim Besuch von Kaiser Friedrich III. in der Stadt, 1487
Im Jahr 1487 in der Kreuzwoche gingen die deutschen Schreiber mit ihren Lehrknaben und Lehrmädchen, desgleichen auch die Lehrfrauen mit ihren Mädchen und Knaben auf die Feste Nürnberg in die Kapelle der Burg mit ihrem deutschen Gesang und sangen darin und gingen danach in den Burghof hinaus und sangen um die Linde. Und da sah Kaiser Friedrich aus seinem neuen Stüblein neben der Kapelle und warf seinem Ausgeber Gulden herab und der ersten Gruppe ließ er zwei Gulden geben und etlichen einen und dann wieder zwei, je nach der Größe der Gruppe. Da forderte der Rat die Gulden von den Schreibern und Lehrfrauen wieder zurück. Weiterhin am folgenden Sonntag nach unseres lieben Herren Himmelfahrt da forderte der Kaiser und bat den ehrbaren Rat, diese Kinder alle beieinander zu sehen, wäre ihm ein großes Wohlgefallen. Und danach, am Sonntag, kamen nach der Predigt um viertausend Lehrknaben und Mädchen in den Graben unterhalb der Feste, denen gab man Lebkuchen, Fladen, Wein und Bier. übertragen nach: Chroniken der deutschen Städte [378 b], Nürnberg Bd. 4, S. 382 f.
[312]
Verleihung der Mädchenschule zu Memmingen an Martin Huber, 23. 8. 1400 Im Jahre des Herrn (1400) [...] hat der ehrbare Rat die hiesige Mädchenschule auf ein Jahr an Martin Huber verliehen [. . .] und (er darf) von jedem Mädchen jedes Vierteljahr 4 Pfennig Heller nehmen. Und wenn er sich nicht zur Zufriedenheit des Rates verhält, so mag ihm der Rat die Schule noch vor Ablauf des obengenannten Jahres nehmen. Und er soll keine Knaben unterrichten. Er hat geschworen.
übertragen nach: Müller: Vor- und frühreformatorische Schulordnungen [416], Nr. 4, S. 269.
[313]
Paktverschreibung des lateinischen Schulmeisters zu Überlingen v. 30. 1. 1456
§ 10. Und da nun die Wantzenrutinin Töchter lehrt und etliche Leute dieser Stadt geneigt sind, ihre Kinder deutsch unterrichten zu lassen und zu ihr in den Unterricht schicken, haben sie zu erkennen gegeben, daß es mir, nachdem es eine derartige Form angenommen hat, Schaden bringt und meiner Schule hinderlich ist, und (sie haben) angeordnet und es ist auch ihre Meinung, wenn jemand einen Sohn zu der 'Lehrfrau schickt, um ihn deutsch unterrichten zu lassen, daß mir dann die obengenannte Lehrfrau für jeden Knaben pro Jahr für meinen Verlust drei Schilling Pfennig geben und überantworten soll, auch ohne Einwand und Widerrede.
übertragen nach: Müller: Vor- und frühreformatorische Schulordnungen [416], Nr. 35, S. 68.
[314] Werbeschild eines Schulmeisters und einer Schulmeisterin, gemalt von Hans Holbein d. J., 1516
Übertragung des Werbetextes:
"Wenn jemand hier ist, der gern deutsch lesen und schreiben lernen will auf die kürzeste Art, die man sich nur denken kann, wodurch jeder, der vorher nicht einen Buchstaben kannte, schnell und bald die Grundlagen begriffen hat, womit er dann selbständig aufschreiben und lesen lernt, was jedermann ihm schuldig ist; und wer so ungeschickt ist, daß er es nicht lernen kann, den will ich ganz umsonst unterrichtet haben und keinen Lohn dafür nehmen, er sei, wer wolle, Bürger oder Handwerksgeselle, Frau oder Jungfrau. Wer Bedarf dafür hat, der komme nur herein, und er wird gegen einen geziemenden Lohn unterrichtet werden. Die jungen Knaben und Mädchen aber (werden zusammen) nach dem Fronfasten (wieder aufgenommen), wie es der Brauch ist." 1516.
[315]