Zehn Berichte und Selbstdarstellungen
(Die folgenden Texte sind der österreichischen Zeitschrift »Dokumente der Frauen« entnommen.)
Seidenweberinnen
Wenn der Fremde durch den fruchtbaren, waldreichen Norden Mährens fährt, dann wird sich sein Auge entzückt an den weissen Dörfern weiden, die so schmuck und frisch aus dem Grün der Wiesen leuchten. Die niedrigen, reinlichen Häuser mit ihren altersgrauen Schindeldächern, den kleinen Gärten vor den Thüren haben etwas Friedliches, Anheimelndes, das zum Bleiben einlädt. Betritt man das Innere dieser Häuschen, so tönen dem Nahenden eigenthümliche, schnurrende Laute entgegen. Den Fremden werden sie unangenehm in die Ohren klingen, der Einheimische ist sie gewöhnt. Fast in jedem Hause kann man sie hören, denn überall gehen die Webstühle vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht. Manchmal stehen in einem Stübchen zwei solcher Stühle, so dass nur ein enger Raum für die Betten übrig bleibt. Oft gehen die Stühle auch in der Nacht. Immer klappern die Stühle, Tag für Tag, Jahr um Jahr. In demselben Raume wird geschlafen, gekocht und gewohnt. Die Leute gewöhnen sich an diese eintönige Musik, die ihr ganzes Leben begleitet.
Kaum sind diese Menschen der Schule entwachsen, so lernen sie weben. Denn ausser der Weberei gibt es in jenen Gegenden fast gar keine Industrie, welche auch Frauen beschäftigt. Es gibt in Nordmähren Fabriken, in denen vier Fünftel der Arbeiter Frauen sind. In der Hausindustrie arbeiten meist Mann und Frau gemeinsam.
In der Seidenweberei werden die Vorarbeiten in der Fabrik gemacht. Er bekommt das Material bis zu dem sogenannten Einziehen in den Stuhl. Zu diesen Vorarbeiten gehören:
Das Umlaufen. Das Material, die Seide, wird bei dieser Arbeit von den Strähnen auf Spulen gewickelt. Diese Spulen sind von grösserer Dimension. Von diesen wird die Seide auf kleine Spulen übertragen, eine Arbeit, die die Spulmaschine unter der Aufsicht der Spulerin verrichtet. Manche Spulerin hat tausend Spulen zu beaufsichtigen, jede vollgelaufene Spule auszuwechseln und zu sorgen, dass die Spulen gleichmässig gefüllt werden.
Die Zettlerin besorgt jene Arbeiten, welche man bei der Tuchweberei das Aufbäumen nennt. Sie spannt die Seidenfäden über den Kettenbaum und den Zeugbaum, welche die Andreherin sodann in der Mitte zusammendreht.
Nun zieht die Einzieherin die Litzen, welche das Muster dirigiren und den Schuss, welcher den Querfaden zieht, ein.
All diese Arbeiten werden der Hausweberin bis zu dem Einziehen geliefert, dieses muss sie selbst besorgen; diese Arbeit erhält sie nicht separat entlohnt und ihr Lohn wird dadurch verkürzt. Die Hausweberin verdient durchschnittlich 3-4 fl (= Gulden) per Woche, doch sind auch Wochenlöhne von 1 fl 50 kr nicht selten. Der Jahresverdienst beträgt im Durchschnitt 137 fl Für schwere Seidenstoffe, welche im Handel 3 fl per Meter kosten, erhält die Weberin einen Weblohn von 15 kr (= Kreuzer) per Meter.
Eine 14-16stündige Arbeitszeit ist ja bei jeder Heimarbeit zu finden, da die Löhne gewöhnlich noch elendere sind als bei der Fabriksarbeit. Die Seidenweberin hat aber auch keine Sonntagsruhe, da sie gewöhnlich, um keine Arbeitszeit während der Woche zu versäumen, an diesem Tage in die Fabrik den fertigen Stoff liefern geht. Wenn sie 1-2 Stunden von der Fabrik entfernt wohnt, so muss sie fast einen Tag opfern. Ja, es müssen kleine, schwache Kinder den schweren Stoff zum »Liefern« tragen, damit die Eltern keine Zeit verlieren. Für jeden Fehler werden der Arbeiterin Abzüge gemacht, worunter speciell die Anfängerin leidet. Auch wird mitunter so schleuderhaft gemessen, daß sie statt 75 Meter nur 70 gezahlt erhält.
Die Hausweberin muss für alle Krankheitsfälle versichert werden, genau so wie die Fabriksweberin, worüber ich noch ausführlich sprechen werde.
Von dem Fabrikanten erhält sie ausser dem nöthigen Material auch den Webstuhl.
Im Jahre 1889 waren in der Seidenweberei 61 Percent weibliche Arbeitskräfte beschäftigt. Nach dem letzten Gewerbeinspectorenbericht des Olmützer Aufsichtsbezirkes waren 1899 daselbst in 142 Betrieben, von welchen 100 fabriksmässige Betriebe und 32 solche ohne Motoren waren, 645 männliche Arbeiter von 14-16 Jahren und 6405 männliche Arbeiter in einem Alter von mehr als 16 Jahren beschäftigt. Dem stehen gegenüber: 952 Frauen von 14 bis 16 Jahren und 7204 Frauen von mehr als 16 Jahren.
In der grössten Seidenfabrik von Mährisch-Schönberg arbeiten 1 200 Leute, von denen 900 Frauen sind. Auch hier wird die Frau nur wegen ihrer Fügsamkeit lieber verwendet. Sie ist mit schlechtem Material und schlechter Behandlung viel früher zufrieden als der selbstbewusstere Mann. In der Seidenweberei in Mährisch-Neustadt werden die Frauen sogar für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt als die Männer, und zwar erhalten sie um 2 kr per Meter weniger. Die Arbeitszeit ist seit dem grossen Brünner Strike in vielen Fabriken eine zehnstündige. Im Jahre 1899 betrug dieselbe nach dem Gewerbeinspectorenbericht in 30 Betrieben des Olmützer Aufsichtsbezirkes 10 Stunden, in 26 Betrieben 101/2 Stunden und in 44 Fabriken 11 Stunden. Mehr als 11 Stunden wurde nirgends gearbeitet.
Derselbe Bericht erzählt von 102 Unfällen, doch sind diese nicht detaillirt, so dass die Zahl der verunglückten Frauen nicht zu ermitteln ist. Den Arbeiterinnen kann viel leichter ein Unfall passiren, weil die rückwärts an dem Webstuhl angebrachten Kammräder nicht immer überkapselt sind, worin sich ihre Röcke leicht fangen. So gibt es eine Weberei, in der nur ein Webstuhl mit dieser Schutzvorrichtung versehen ist. Es soll die Arbeiterin den Stuhl stehen lassen, sobald sie in der Nähe der Räder zu thun hat, aber dies raubt ihr Zeit und in Folge dessen auch etwas von ihrem Lohn, so dass die Weberin die Gefahr in der Hast, mehr zu verdienen, vergißt.
Die Weberei an mechanischen Stühlen ist für die Frauen auch in gesundheitlicher Beziehung schädlich, da sie den ganzen Tag bei dem Webstuhl stehen müssen. Die Hausweberin hat es in dieser Beziehung besser, da sie bei dem Webstuhl sitzt, doch muss sie denselben selbst bewegen und das Weberschiffchen, welches die Schussfäden zieht, hinüber- und herüberstossen.
Ein weiterer Uebelstand ist die Ueberfüllung der Arbeitsräume mit Webstühlen. Nach einer Vorschrift des Gewerbeinspectorats soll zwischen zwei Stühlen ein Abstand von 50 Centimetern sein. In zwei Betrieben wurde im vergangenen Jahre ein Bewegungsraum von nur 35 Centimetern constatirt. Ist der Zwischenraum zwischen zwei Stühlen ein so kleiner, so ist namentlich starken oder schwangeren Frauen das Manipuliren um den Stuhl sehr erschwert, da sie sich leicht anstossen.
Die durchschnittlichen Wochenlöhne sind folgende: Eine Zettlerin verdient 3-5 fl.
Eine Spulerin, auch Winderin genannt, erhält für das Spulen von 1 Kilogramm Seide 70 kr, 1 Kilogramm Zwirn für halbseidene Stoffe 9 kr; ist dieser doppelt gedreht, 11-14 kr; Wochenverdienst 3-5 fl Eine Umlauferin wird nach der Spule gezahlt, die je nach dem Material entlohnt wird; Wochenverdienst 3-5 fl Eine Andreherin erhält für 1000 Fäden 10 kr, bei Rohseide (Grége genannt) 8 kr für färbige Seide; Wochenverdienst 3-4 fl Die Einzieherin arbeitet mit einer Gehilfin. Beide zusammen verdienen 8-10 fl die Woche. Von diesem Verdienst erhält die Arbeiterin zwei Drittel, die Gehilfin ein Drittel. Junge, noch ungeübte Weberinnen verdienen 11fl 50 kr bis 2 fl 50 kr, ältere 3-5 fl per Woche. Es gibt auch Arbeiterinnen, welche zwei Stühle versehen, diese verdienen 9-12 fl, doch ist die doppelte Arbeit so anstrengend, dass sie nur die kräftigsten Arbeiterinnen aushalten.
Die Weberin hat jedoch nicht, wie die Vorarbeiterin, einen fortlaufenden Verdienst. Sobald sie mit einem Stück fertig ist, muss sie warten, bis der Webstuhl neu eingerichtet ist. Dies dauert manchmal 2-5 Tage, die der Arbeiterin nicht vergütet werden. Der Accordlohn macht es den Fabrikanten sehr leicht, die Löhne, wenn eine schlechte Conjunctur eintritt, herabzusetzen. Es brauchen nur neue Waaren eingeführt zu werden, und der Lohn kann sich verschlechtern. So wurde für einen breiten Stoff per Meter 22 kr gezahlt, für welchen die Arbeiterinnen nun nur 171/2 kr erhalten. Bei einem anderen Artikel wurden früher 40 Schuss im Centimeter gemacht und 18 kr dafür bezahlt, nun wurde ein neuer Artikel eingeführt, der dieselbe Breite und Qualität wie der frühere hat, doch werden 52 Schuss im Centimeter gemacht, die Arbeiter erhalten aber nur 15 kr Auch den Fabrikweberinnen werden für Fehler Abzüge gemacht, und dasselbe ungenaue Messen schädigt sie wie bei der Hausindustrie.
Die Lehrzeit dauert sechs Wochen. Eine ältere Weberin unterrichtet die Neueintretende unentgeltlich. Wie anstrengend die Weberei ist, zeigt eine amtliche Statistik, nach welcher ein Textilarbeiter ein Durchschnittsalter von 32,2 Jahren, eine in der Weberei beschäftigte Frau aber nur ein solches von 26,9 Jahren erreicht.
Die Krankenversicherung ist verschieden. Mehrere Fabriken haben ihre eigenen Krankencassen. Die Arbeiterinnen unter 16 Jahren zahlen 24 kr, die älteren 34 kr Krankengeld im Monat. Im Erkrankungsfalle erhalten die Arbeiterinnen 35 kr tägliches Krankengeld. Die meisten der Betriebe haben aber ihre Arbeiter in der Bezirkskrankencasse versichert, in welche die älteren Arbeiterinnen 42 kr, die unter 16 Jahren 28 kr per Monat zahlen. Im Erkrankungsfalle erhält die Weberin ein tägliches Krankengeld von 48 kr und wenn sie stirbt, 32 Kronen Beerdigungskosten. Eine Vorarbeiterin erhält 60 kr tägliches Krankengeld und 42 Kronen Beerdigungskosten. Für die Haus- und Fabriksweberinnen zahlt der Fabrikant bei Betriebs- und Bezirkskrankencassen ein Drittel der Versicherung, die Arbeiterin aber zwei Drittel. Sie muss zum grossen Theile die Kreuzer, welche sie während einer Krankheit erhält, in gesunden Tagen selbst verdienen.
Cantinen oder Volksküchen gibt es nicht. In einigen wenigen Fabriken gibt es Arbeiterwohnungen, doch so wenige, dass sie nur den Werkmeistern zugute kommen. Viele der Arbeiterinnen wohnen 1-2 Stunden weit von der Fabrik, und bei jedem Wetter müssen sie nach einer zehnstündigen Arbeitszeit diesen weiten Weg zurücklegen. Ein warmes Mittagessen gibt es für die fernwohnenden Frauen nicht. Während der einstündigen Mittagspause können sie nicht nach Hause gehen, und Geld, um im Gasthaus zu essen, haben sie nicht. Oft sind auch die Fabriksräume schlecht geheizt, so dass die Arbeiterinnen erstarrte Finger bekommen.
Kommt aber die verheiratete Frau nach Hause, dann warten ihrer 4-6 Kinder und wollen essen. Oft wird es 11-12 Uhr Nachts, bevor die arme Frau ihre Wäsche gewaschen, ihre Stube gereinigt und die zerrissenen Kleider geflickt hat. Was sie in der Woche nicht bestreiten kann, muss Sonntag gethan werden. Für die verheiratete Weberin gibt es weder Feierabend noch Sonntagsruhe. In den Jahren aber, in denen ihre kleinen Kinder einen Theil ihres ohnehin kärglichen Schlafes rauben, muss man sich wundern, dass diese Frauen unter der Last von Arbeit und Sorgen nicht zusammenbrechen.
Die Ernährung ist natürlich ungenügend in Qualität und Quantität. Mädchen, welche schon 16 Jahre alt sind und zwei Jahre in der Fabrik arbeiten, hält man wegen ihrer schwächlichen Constitution für Schulkinder. 90 Percent der Weber von Mährisch-Schönberg sind tuberculös.
Und doch findet sich niemand, der den armen Frauen und Männern helfen würde. Sie erreichen nur das, was sie in doppelter Noth und Entbehrung im Strike erringen, wie den Zehnstundentag. Wohl fand im vergangenen Jahre eine Enquéte in Brünn statt, welche sich mit dem Elend der Hausweber befasste; doch verlief sie ohne positive Resultate. Von socialdemokratischer Seite wurde das Weberelend im Parlament zur Sprache gebracht, doch von dem sterilen Parlament war nichts zu erlangen. Man darf sich nicht wundern, wenn die Weber in der Selbsthilfe ihre einzige Rettung sehen.
Kürzlich gelangte ich durch eine Enquéte unter den Seidenweberinnen zu interessanten Daten über die Lebenshaltung, welche die momentanen Löhne einer solchen Familie ermöglichen. Der besser bezahlte Fabriksweber verdient im Durchschnitte 4-5 fl pro Woche, seine Frau erzielt durchschnittlich denselben Lohn. Da durch die Wartezeit, während welcher der Webstuhl neu aufgebäumt wird, der Wochenlohn auch unter 4 fl sinkt, kann man ein Durchschnittseinkommen von 8 fl pro Woche, d.h. 416 fl im Jahre annehmen. Eine Familie mit vier schulpflichtigen Kindern muss nach den Angaben der Weberinnen folgende Auslagen im Jahr begleichen:
Zins für eine Wohnung, bestehend aus einem mittelgrossen Zimmer | fl 60,- |
Holz und Kohle | fl 25,- |
Licht | fl 6,- |
Schuhe und Kleider | fl 35,- |
Brot (bei einem Verbrauch von 10 Kilogramm pro Woche) | fl 96,- |
Krankencasse | fl 10,76 |
Summe | fl 232,76 |
Es bleiben einer solchen Familie für die Nahrung eines ganzen Jahres 183 fl 24 kr Rechnet man nun noch für kleine Anschaffungen im Haushalt, wie Besen, Ersatz von zerbrochenem Geschirr, Hadern, Bürsten, Nähutensilien 3 fl 24 kr, so hat eine Fabrikswebersfamilie wöchentlich 3fl 46kr zu verzehren. Diese verwendet sie, wie folgt:
Milch (täglich 1 1/2Liter à 8 kr) | fl -,84 |
Kaffee | fl -,20 |
Cichorie | fl -,06 |
Zucker | fl -,46 |
Fett (zum Kochen und zum Brot) | fl -,20 |
Seife für Wäsche, Stubenreinigung etc. | fl -,06 |
Erdäpfel | fl -,24 |
Gemüse | fl -,40 |
Mehl, Hefe etc. | fl -,60 |
Fleisch | fl -,40 |
Summe | fl 3,46 |
Eine solche Familie kann sich wohl im Winter eine warme Stube gönnen, aber trotzdem Mann und Frau wöchentlich 60 Stunden arbeiten, ist ihre hauptsächliche Nahrung Brot, Kartoffeln und Kaffee. In dieser Berechnung fehlt jede unnütze Ausgabe. Tabak und Bier, Zeitungen und sonstige Vergnügen zwingen den Weber, seine Nahrung noch elender zu gestalten. Aber der Fabriksweber lebt immer noch besser als der Hausweber. Mann und Frau verdienen bei einer vierzehnstündigen Arbeitszeit 6fl pro Woche, das sind 312 fl im Jahr. Seine Jahresausgaben dürfen daher nur Folgendes betragen:
Zins für ein Zimmer, das entweder klein, feucht oder finster ist, weil der Hausweber wegen des Geräusches des Webstuhles schwerer eine Wohnung erhält |
fl 50,- |
Kohle (das Holz wird meistens im Sommer gesammelt) | fl 15,- |
Licht, da er in der Nacht arbeitet | fl 61,- |
Kleider, Schuhe etc | fl 17,- |
Krankencasse | fl 10,76 |
Brot (bei einem Wochenverbrauch von 10 Kilogramm) | fl 96,- |
Summe | fl 194,76 |
Steigen die Kohlenpreise oder ist der Winter besonders streng, müssen diese Leute frieren oder hungern, denn jede Mehrausgabe geht von dem Betrag, der auf Nahrung verwendet werden kann. Dieser beträgt ohnedies pro Woche nur 2 fl 27kr, im Jahre 117 fl 4 kr Davon wird gekauft:
Milch (täglich 1 1/2 Liter abgerahmte Milch) | fl -,40 |
Kaffee | fl -,15 |
Cichorie | fl -,03 |
Zucker | fl -,32 |
Fett | fl -,20 |
Seife, Bürsten, Hadern, Besen etc . | fl -,07 |
Erdäpfel | |
Gemüse | fl -,20 |
Mehl und Hefe etc. | fl -,60 |
Summe | fl 2,27 |
In diesem Budget fällt das Fleisch ganz aus der Berechnung und ist nur an hohen Feiertagen zu erschwingen. Milch und Kaffee werden schlechter, die Erdäpfeln werden Hauptnahrung. Eier oder Butter dürfen überhaupt nicht verwendet werden. Und eine solche Lebenshaltung ist der Lohn für eine wöchentliche Arbeit von 84 und mehr Stunden. Und doch gibt es noch eine Kategorie von Webern, die noch schlechter leben müssen. Bei den Leinenwebern verdienen Mann und Frau gemeinsam wöchentlich 3 fl 50 kr, das kommt einem Jahreseinkommen von 182 fl gleich.
Emmy Freundlich (1901)
Glasarbeiterinnen
Das Isergebirge, welch wunderbarer Anblick! Unglaublich würde es gar Manchen klingen, das Klagelied tausender Geschöpfe zu hören, die ihr elendes Dasein in den Schönheiten des Isergebirges verwünschen. Ich will hier einige Thatsachen aus dem Leben der Glasarbeiterinnen des Isergebirges schildern. Beiläufig 1450 Frauen und Mädchen sind in der so viel gepriesenen Krystallerie beschäftigt. Sie strömen aus 21 Ortschaften dahin zusammen. Die Glasindustrie ist einer der Gesundheit schädlichsten Erwerbszweige.
Wohl könnte man sagen, dass seit zehn Jahren, seit dem Bestande der Organisation eine förmliche Umwälzung vor sich gegangen ist. Die Zustände, die vor dieser Zeit herrschten, werden vielen von uns in schrecklicher Erinnerung bleiben. Die Werkstättenreinigung,wurde sehr mangelhaft vorgenommen, von Ventilation war keine Spur. Wer schon einmal in eine Schleifmühle gekommen ist, kann sich sehr leicht vorstellen, daß es kein Vergnügen ist, in einem solchen Locale nur einige Stunden zu verbringen. In diesen mit Staub und Schmutz überfüllten Räumen arbeiteten Frauen bis zur letzten Stunde vor ihrer Niederkunft. Sehr häufig kam es vor, dass den vierten, fünften Tag nach der Niederkunft die Arbeit wieder aufgenommen wurde, und das Neugeborene, welches erst seit Kurzem das Licht der Welt erblickt hatte, wurde in der Wiege neben den Polirkasten gestellt, wo es die verpestete Luft einathmen musste, und die Mutter nur mit Widerwillen das Schreien des Kindes besänftigte, weil sie dadurch in der Arbeit gestört wurde.
Die Arbeitszeit betrug damals 14-15 Stunden. Darf es uns wundern, dass die Zahl der Sterbefälle von Jahr zu Jahr stieg? Die Löhne waren derart gering, dass es selbst der besten Arbeiterin nicht möglich war, einen Wochenlohn von 2-3 fl zu erreichen. Immer mehr machte sich die Nothwendigkeit, diese Übelstände zu beseitigen, bemerkbar, und immer mehr brach sich die Erkenntniss Bahn, dass nur die Einigkeit der Arbeiter, die Organisation dies im Stande sein werde. Ein Theil der Arbeiterinnen schloss sich der Organisation mit dem Bewusstsein an, durch jahrelanges vereintes Kämpfen ein besseres, ein menschenwürdigeres Dasein zu erreichen.
Im Jahre 1889 wurde ein Krankencassengesetz geschaffen, das vorschreibt, dass die Wöchnerin erst vier Wochen nach der Niederkunft die Arbeit wieder auf nehmen darf. Des Weiteren wurde daran gegangen, Ventilationen zu schaffen. Die Organisation der Glasarbeiter im Isergebirge hat ziemlich starke Wurzeln gefasst. Die Arbeitszeit ist auf acht bis zehn Stunden verkürzt. Nach dem allgemeinen Strike im Jahre 18go schien es sich einigermassen zu bessern. Es wurden Minimallöhne, eigentlich könnte man sagen Hungerlöhne festgesetzt, welche wohl schon einigemal in Gefahr standen, wieder verringert zu werden, doch hat die organisirte Arbeiterschaft bis zum heutigen Tage dieselben gehalten. Der Verdienst ist in der Krystallerie wie in anderen Branchen sehr verschieden, ein Durchschnittslohn würde sich schwer feststellen lassen. Es gibt mitunter Arbeiterinnen, welche 3-4 fl- pro Woche verdienen, der grösste Theil muss mit dem Lohne von 2,50 fl, 2 fl, ja noch weniger ihr Leben durchschleppen. Nun wird man sich fragen: ja ist es denn möglich, dass Von 2 fl die Woche Jemand leben kann? Was geschieht mit jenen Frauen, welche zwei, drei Kinder zu ernähren haben?
Die Glasindustrie ist, wie schon erwähnt, einer der schädlichsten Erwerbszweige. Ich übertreibe nicht, wenn ich angebe, dass es wohl keine einzige Schleifmühle gibt, wo nicht Lungentuberculose beschäftigt sind. Es ist nachgewiesen, dass im Laufe der letzten zehn Jahre die Krankheit immer mehr verbreitet wurde, trotzdem schon viele Schutzmaassregeln getroffen wurden, ferner dass dort, wo die Glasschleiferei mehr fabriksmässig betrieben wird, wie zum Beispiel in Dessendorf, die Ansteckungsgefahr eine grössere ist. Hauptsächlich wird das weibliche Geschlecht davon ergriffen, weil das Kehren, das Reinigen der Werkstätten diesen allein übertragen wird. Auswurf, Tabakasche, Obstabfälle u.s.w., alles wird auf den Fussboden geworfen, und diesen Morast müssen die Arbeiterinnen, selbst schwangere Frauen aufräumen.
Im verflossenen Jahre bildeten die Arbeiterinnen in 15 kleineren Orten eigene Sectionen. Es war ihr eifrigstes Bestreben, über die Werkstättenfrage zu discutiren und eine Regelung einzuführen.
In Dessendorf wurde seitens der Organisation eine Werkstättenordnung ausgearbeitet, die folgende Maassnahmen verfügt:
- Sollen die Werkstätten täglich gereinigt, ausgekehrt werden.
- Die Verunreinigung des Fussbodens in den Werkstätten durch Ausspucken des Auswurf es von Hustenden ist verboten, und ist die Anbringung geeigneter Spucknäpfe, deren Inhalt häufig zu entleeren und zu verbrennen ist, vorzusehen.
- Sind die Werkstätten regelmässig während der Arbeitspausen und in den Nachtstunden ausreichend zu lüften und für genügende und gute Ventilatoren Vorsorge zu treff en.
- Ist der Genuss alkoholischer Getränke (Schnaps) in den Werkstätten verboten.
- Die Schleifzeuge, Polirkästen, Wasserfässer etc. sind von Zeit zu Zeit einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.
- Es ist für eine regel- und gleichmässige Beheizung der Arbeitsräume Sorge zu tragen.
- Die Arbeitszeit darf nicht über das festgesetzte Ausmaass ausgedehnt werden.
- Es ist dahin zu wirken, dass die Lohnverhältnisse gehoben werden, da eine Verbesserung der Ernährungsweise, Kleidung, Wohnung u.s.w. für den Gesundheitszustand der Arbeiter von grösster Bedeutung ist.
Diese Verordnungen wurden in allen Schleifmühlen aufgehängt, und in einzelnen Werkstätten wurde auch nach dieser Vorschrift gehandelt. Diese Maassregeln sollten in allen Werkstätten auf das Strengste befolgt werden, weil dies nicht nur für die dort Beschäftigten, sondern auch für die kleinen daheim gebliebenen armen Kinder ein grosser Vortheil wäre. Es ist schauderhaft, dass in Böhmen in einem Jahre 22 532 Menschen der Schwindsucht zum Opfer fielen, das ist durchschnittlich 36,63 auf 1000 Lebende oder 15,6 Percent aller natürlichen Todesfälle; auf nicht ganz 13 Sterbefälle kommen zwei durch Schwindsucht oder auf Stunden gleichmässig vertheilt gedacht, fallen Tag für Tag in Böhmen fast 60 Menschen der Schwindsucht zum Opfer! In der Gemeinde Dessendorf erkrankten im Jahre 1899 von 246 Glasarbeitern und 194 anderer Berufsarten von Ersteren 146; 26 starben. Diese bezogen zusammen 2215 Gulden 21 Kreuzer Krankenrente und 1248 Gulden 10 Kreuzer Aerzte und Medicamente, zusammen 3463 Gulden 37 Kreuzer, also im Durchschnitt 14 Gulden 10 Kreuzer für jedes Mitglied! Von den 194 Mitgliedern aus anderen Berufen erkrankten 16, eines starb. Diese 16 bezogen 291 Gulden 70 Kreuzer an Krankenrente, 128 Gulden für Aerzte, zusammen 419 Gulden 70 Kreuzer oder 2 Gulden 17 Kreuzer per Mitglied.
Und was sagen die Unternehmer zu alledem? Es lässt sie kühl. Nun will ich für diesmal schliessen mit der Überzeugung, dass jeder, der diese Zeilen gelesen, beim Anblick des Isergebirges sich mahnend fragen wird: Wie leben die Menschen in dieser herrlichen Gegend?
Eine Glasschleiferin (1901/02)
Heimarbeiterinnen
(...)
In der Glasindustrie in Halda-Steinschönau ist die Frau des Heimarbeiters - nach dem Bericht - im wahren Sinne des Wortes das »Lastthier«. Diese Frauen müssen den ganzen Tag über Körbe mit Glaswaren im Gewichte von 30-50 Kilogramm schleppen; Wind und Schneewetter häufig ausgesetzt, besorgen sie den Transport der fertiggestellten Glaswaren Oft 3-4 Stunden weit zum »Raffineur«, dem Unternehmer. Diese tagsüber so geplagten Frauen arbeiten mit Mann und Kindern oft die Nächte hindurch. Sie schleifen Glaswaren, athmen unablässig den schädlichen Glasstaub ein mit einer ohnehin verdorbenen Luft, die die Wohnräume dieser Leute erfüllt.
Es wird auch des Sonntags gearbeitet, und zum Schlusse resultiren Wochenlöhne von zwei Gulden. Diese Frauen leiden an Erkrankungen aller Art. - In der Perlenbläserei im Gablonzer Bezirke sind Frauen und 250 schulpflichtige Kinder beschäftigt. Nach dem Schulunterrichte arbeiten diese des Abends bis 9, bis 10 Uhr, häufig auch bis 3 Uhr Früh. Sie fädeln Perlen auf. Für ein »Bündel« Perlen, das sind 3 000 Dutzend, auffädeln erhalten sie 21/4-21/2 kr »Eine Person, die fleissig arbeitet, kann bei sechzehnstündiger Arbeitszeit im Tage 22-25 kr verdienen. An dieser Arbeit nehmen fünfährige Kinder theil.«
So der Gewerbeinspector. In der Krystallwaren-Industrie desselben Bezirkes sind 550 Heimarbeiterinnen und Kinder beschäftigt. Sie schleifen und montiren (verbinden) Lusterbehänge, wobei eine »fleissige Person« im Tage 20-30 kr verdienen kann. Schier unglaublich ist, was der amtliche Bericht über die Verhältnisse im Budweiser Bezirke sagt, wo circa goo Heimarbeiter mit der Erzeugung von Eisennägeln beschäftigt sind. Darnach hat eine Budweiser Maschinennägelfabrik bis zum heurigen Frühjahr 15 Heimarbeiterinnen beschäftigt. Sie fertigten Papierhülsen zum Einpacken der Nägel an. Diese 15 Arbeiterinnen haben im Jahre 1897 zusammen 320 fl 50 kr verdient. Das ist pro Arbeiterin im Tage ein Verdienst von fünf ganzen und neunzehntel Kreuzer. Stark verwendet werden Kinder in der Holzspan-Schachtelerzeugung in Senftenberg. Sie arbeiten schon vom fünften bis sechsten Jahre an mit. Sie bringen alle ihre freie Zeit mit der Schachtelmacherei zu; für sie gibt es weder eine körperliche noch eine geistige Erholung, ihr junges Leben ist eine Kette von Drangsal, Arbeit und Noth.» Ist es ein Wunder«, fragt das amtliche Organ, »wenn sie bei mangelhafter Ernährung bei solcher Überanstrengung geistig und körperlich krüppelhaft heranwachsen?« Ihre Eltern halten sie häufig der Arbeit wegen vom Schulbesuche fern; diese selbst sind Oft 24 Stunden hindurch, also Tag und Nacht thätig. Tagesverdienste von 30 kr kommen hier nur bei »grosser Geschicklichkeit« und bei 4stündiger Arbeitszeit vor. In der Korbflechterei in Melnik werden Kinder im zartesten Alter verwendet. Ein Korbflechter sagte - nach dem Berichte - wörtlich: »Von dem Momente an, als das Kind die Weidenruthen vom Boden aufheben und sie dem auf dem Arbeitsschemel sitzenden Vater reichen kann, beginnt bereits seine Mithilfe.« Und in welchen Wohnräumen leben und arbeiten diese Kinder? In von Kochdünsten erfüllten Räumen und vom Abbrühen der Ruthen schlecht riechenden Dämpfen verbringen sie ihre ersten Kinderjahre! Bei angestrengtester Familienarbeit, bei 16stündiger Arbeitszeit und noch länger resultirt ein Wochenverdienst von vier Gulden. - Traurig sieht es in der Schilfflechterei in Bakov mit der Frauen- und Kinderarbeit aus. Sie flechten Zöpfe aus Schilf, dreitheilig, und verdienen pro Stunde etwa 2 kr. Kleine, schulpflichtige Kinder erhalten von ihren Eltern die Aufgabe, in ihrer schulfreien Zeit einen 5o Meter langen Schilf zopf zu flechten; sie müssen fleissig arbeiten, oft bis nach 10 Uhr Abends, und dürfen nicht schlafen gehen, ehe sie ihr Pensum erledigt haben. Ein achtjähriges Kind musste an Wochentagen mit halbtägigem Unterrichte zwei solche Zöpfe (100 Meter) flechten. Um einen 50 Meter langen Schilfzopf zu flechten, benöthigt eine erwachsene Person ungefähr drei Stunden! Gelebt wird da von Kaffee, der Mittags aufgewärmt wird, Abends gibt es dann zur »Abwechslung« Kartoffeln - Ebenso triste sieht es in der Bastflechterei im Schluckenauer Bezirke aus:
Beschäftigt sind daselbst 1 100-1 500 Heimarbeiter; drei Viertel davon sind Kinder, welche schon mit fünf Jahren zu flechten anfangen. Eine geschickte Arbeiterin kann bei zwölfstündiger Arbeitszeit im Tage 50-60 kr verdienen.
In Neu-Straschitz sind 50 Heimarbeiter mit der Erzeugung von Ruthenbesen beschäftigt. Darunter 30 Frauen und Kinder. Gewandte Personen bringen mit Hilfe der Kinder 20-25 Besen im Tage zustande. Vom Händler bekommen sie11/2-2 kr, im günstigsten Falle aber 3 kr für das Stück. Bei häufiger Ermangelung an barem Gelde tauschen diese Heimarbeiter gerne das erforderliche Brot für ihre Besen ein. In der Perlmuttererzeugung in Tachau und Graslitz kommen fleissige Heimarbeiterinnen auf Wochenlöhne von 2 fl, dafür kommen im Tetschener Aufsichtsbezirke bei der Erzeugung von Steinnussknöpfen Wochenlöhne von 50 kr vor. - Im Budweiser Bezirke besorgen Frauen das Aufnähen von Knöpfen auf Papierkarten; für ein Grossdutzend Knöpfe, das sind 144 Stück, erhalten sie 2 kr - In der Rohrflechterei bei Möbeln aus gebogenem Holze, gleichfalls im Tetschener Bezirke, sind zumeist Frauen, etwa 500, beschäftigt. Sie haben Wochenlöhne von 80 kr bis zu 3 fl Ihr gewöhnlicher Verdienst schwankt jedoch bei zwölfstündiger Arbeitszeit zwischen 25-40 kr pro Tag. - In der Holzindustrie im Isergebirge werden unter Anderem Wäscheklammern(Kluppen) zumeist unter Mithilfe von schulpflichtigen Kindern unter zehn Jahren erzeugt. Eine solche Klammer geht bis zu ihrer Vollendung mindestens durch zehn Hände. Für 60 Stück solcher Klammern erhalten die Erzeuger 7,8-10 kr. Im Bezirke Tachau erzeugen die Heimarbeiter die kleinen Holzscheiben, die zu »Nachtlichtl« verwendet werden. Es helfen da sechsjährige Kinder tüchtig mit; gearbeitet wird von 3 Uhr Früh bis 11Uhr Abends. Für 1000 Stück Holzscheibchen erhält der Erzeuger 3-5 kr.
Die hier angeführten Daten reichen lange nicht an die Hälfte des von den k. k. Gewerbeinspectoren erstatteten Berichtes. Soll dies erschöpfend geschehen, dann müsste ein weiterer Aufsatz folgen. Kurz erwähnt sei hier nur noch Folgendes:
Trotz der erschreckend niedrigen Löhne der Heimarbeiter und deren Familien gelingt es diesen nicht immer, ihr Geld sofort zu erhalten. Die Händler oder Unternehmer zahlen dies oft in Raten aus; die Sonntagsruhe existirt bei diesen Arbeitern nicht; in der Nagelerzeugung des Budweiser Bezirkes blüht das Trucksystem, als hätte es nie ein diesbezügliches Verbot gegeben; die meisten Arbeitsräume der Arbeiter, die zugleich Schlafstätte, Wohnraum und Küche sind, sind selbstredend gesundheitsschädlich, gefährlich geradezu für die Gesundheit sind die Räume, wo Glasätzer (Mattieres) wohnen und arbeiten. Was sagen diese authentisch festgestellten Thatsachen? Nichts Anderes, als dass die Heimarbeiter sich selbst, ihrem Elend überlassene Menschen sind! Physisch und geistig verkümmert bringen sie ihr Leben hin, dessen einziger Inhalt Arbeit, Entbehrung und Noth ist; kein Gesetzesparagraph regelt ihre Arbeitszeit, Niemand bewahrt sie und ihre Kinder vor schrankenloser Ausbeutung, sie sind hilflos der Beutegier des kleinen und grossen Unternehmers preisgegeben. Es wird ihnen der Vorwurf gemacht, dass sie zu sehr am Alten hängen, modernen Productionsformen abhold seien! Mag sein! Doch wer wird dies nicht begreiflich finden? Menschen, deren Grossväter und Urgrossväter dieselbe Arbeit verrichtet, freilich, da die Grossindustrie noch nicht bestand, unter ungleich günstigeren Verhältnissen, reissen sich nicht so leicht los von der Scholle, an der sie berechnende Unternehmertaktik überdies gern festhält. Diese Heimarbeiter in ihrer fast unglaublich tiefen Lebenshaltung sind dem Capitale ein zu prächtiges Ausbeutungsobject, ihre »Arbeitgeber« jeglichen Callbers zu praktische Leute, als dass sie sich eine solch immer fliessende Quelle des Profits selbst verstopfen würden. Denn alle diese Heimarbeiter in Fabriken unterbringen, sie der Vortheile der gewerblichen Bestimmungen, des Unfall- und Kranken-Versicherungsgesetzes sowie der Wohlthat einer geregelten Arbeitszeit theilhaftig werden lassen, wäre ja gleichbedeutend mit Fabriksgründungen, Prämienleistungen, kurz, mit Capitalinvestitionen. Und das ist der springende Punkt: Das wollen, das werden die Capitalisten aller Länder so lange hintanzuhalten, so lange zu vermeiden trachten, bis nicht eine vis major sie zwingt, das zu thun, was sie aus eigenem Antrieb nie thun werden.
Betty Brod (199/1901)
Confectioneusen
Ja, können denn die Menschen hier gedeihen? So frug, naiv erstaunt, einmal eine neugierige Fürstin, die sich die Arbeitsräume des grossen Confectionshauses zeigen liess, das ihr die Kleider lieferte.
Nein, Frau Fürstin! Die Menschen gedeihen hier nicht, durchaus nicht. Sie werden vor der Zeit alt, werden blass und krank aus Mangel an Sauerstoff, blind aus Mangel an Licht und bucklig von dem jahrelangen gebückten Sitzen auf den harten, lehnenlosen Stühlchen.
Und wenn sie blass, blind und bucklig sind, dann werden sie entlassen wegen der Unfähigkeit, flink zu arbeiten, finden aus demselben Grunde keine Aufnahme in einem anderen Geschäfte und eine Altersversorgung gibt es nicht.
Gerade jetzt, da ihr in euren prächtigen, frühlingsfarbenen Toiletten spazieren geht, 0 schöne Damen, gerade jetzt müsstet ihr einen Blick in das Dunkel der Werkstätten werfen. Soferne ihr nicht allzu empfindsam seid, denn sonst verliert ihr am Ende alle Freude an der Poesie eurer zarten, hellen Frühlingskleider, und darum wäre eigentlich auch schade.
Stühlchen an Stühlchen sitzen die Arbeiterinnen dicht gedrängt an langen Tischen. Sie haben gerade nur so viel Platz als nöthig ist, den Faden auszuziehen. Eine Pariser Erste in jedem Zimmer, die immer hartherzige »madame la premiére«, welche mit unglaublicher Geschicklichkeit und Behendigkeit zuschneidet und zugleich die Arbeiterinnen überwacht. Die arglistigen Chefs geben ihr Procente vom Überschuss. Das ist die wirksamste Peitsche. Je schneller die Leute nähen, desto grösser der Überschuss. Geld macht die Menschen hart.
Zwischen madame la premiére, dem Comptoir- und Salonpersonal und den Arbeiterinnen liegt eine Welt. Hie Bourgeoisie! hie Proletariat! Während jene Vormittag und Nachmittag in einem hübsch eingerichteten Pausenzimmer, essend und schwätzend, ihre Ruhepausen halten, ist diesen der Genuss eines trockenen Stückchens Brot bei Androhung sofortiger Entlassung verboten.
Während jene um 1/2 9 oder 9 Uhr, gemüthlich schlendernd, durch das grosse Portal, über die prächtige breite Treppe, den »Gräfinnen-Aufgang«, in das Geschäft kommen, hasten diese, ein dunkler, trauriger Schwarm, über eine enge, halsbrecherische Wendeltreppe im Lichthofe, an der Controluhr vorbei, welche jede zu spät gekommene Minute grausam markirt. Das hat nebst Lohnabzügen noch Schreiereien von Madame im tristen Gefolge. So beginnen die Tage. In der viel zu engen Garderobe, einem finsteren Loch, Kämpfe um einen freien Kleiderhaken, sechs Jacken übereinander, verdrängte, herabgefallene, in den Staub getretene Hüte, dann die Arbeit.
Von den weiblichen Arbeitern getrennt, sitzen an eigenen Tischen die Schneider. Es ist an jedem Tisch mindestens ein Lungenkranker. Diese Ärmsten spucken nun, theils aus Unkenntnis der Gefahr, die das für die übrigen hat, theils weil sie sich nicht anders helfen können, fortwährend auf den Boden. Oft geschieht es, dass ein Mädchen mit einem dieser Kranken zusammen an einem Kleidungsstück nähen muss. Das bedingt allernächste, körperliche Nähe, so dass immer und immer wieder der kranke Athem sie anweht. Wenn der Lungenkranke einen Hustenanfall bekommt und das Mädchen ein Wenig sich abwenden möchte, in der Furcht, von einem Sputumtröpfchen getroffen zu werden, fährt Madame mit einem »ah, qu'elle est paresseuse, celle-là!« zornig drein.
Im Winter ist, da die Fenster nicht geöffnet werden können und es keine Ventilationen gibt, die Luft nach zwei Stunden schon so schlecht, dass der Chef, welcher gewöhnlich um 10 Uhr die Runde durch die Ateliers macht, sich unbedingt ein Riechfläschchen vor die Nase halten muss, damit ihm nicht übel werde. Die Mädchen vermeiden es, hinauszugehen, um, wenn sie dann wieder hereinkommen, nicht die schlechte Empfindung dieses dicken, stinkenden Nebels zu erhalten. Während sie darin verharren, spüren sie es nicht so sehr.
Während sie nähen, nähen, nähen, lebt in Keiner etwas Anderes als die Sehnsucht nach dem Zwölf-Uhr-Läuten. Dann, wenn es endlich so weit ist, neuerdings Kämpfe in der Garderobe, Eile, Hast, da die Mittagspause knapp ist, und der Weg weit vom Centrum in die Vorstadt. Die vielen, alleinstehenden Mädchen, welche nicht nach Hause zu Tisch gehen können, suchen ein Tschecherl auf. Ihr Mittagmahl besteht aus Kaffee und Buchteln. Für Fleisch langt es nicht, denn die Bezahlung ist schlecht. Die Anfängerinnen erhalten 60 Kreuzer pro Tag. Diese Löhne steigen bei geschickten Arbeiterinnen allmählich einmal um 10 Kreuzer pro Tag, bis zu einer gewissen, nicht allzu hohen Höhe, auf der sie dann stehen bleiben. Diese kargen Bezüge sind aber nicht einmal sicher, da die Arbeitsleute für einzelne Tage und in der stillen Zeit für mehrere Wochen entlassen werden können. Am härtesten trifft es die Neulinge in den grossen Betrieben. Sie müssen, kaum dass die Arbeit ein bischen nachlässt, zu Hause bleiben und sind oft monatelang ohne Beschäftigung. Sie versuchen dann als »Aushilfe« in ein anderes Geschäft zu kommen, das ist aber schwer und immer nur zufallsweise. In der stillen Zeit braucht man eben nirgends Arbeiter. Ist es nicht traurig, dass gerade die ärmsten Menschen den Schaden der saison morte tragen müssen?
Eines der schlimmsten Capitel im Handarbeiterinnen-Elend sind die Überstunden. Diese Macht des Unternehmers selbst über die freie Zeit des Arbeiters, dieser Zwang, bis Mitternacht und darüber zu nähen, wenn der Chef es wünscht und irgend eine reiche Dame ein zu spät bestelltes Kleid morgen haben will. Was nützen die 12 oder 20 Kreuzer pro Stunde, wenn wir unsere besten Kräfte, unsere Jugend und Frische in diesen qualvollen Stunden der Nachtarbeit lassen müssen? Wo bleibt das Gesetz, das als Maximum zwei Überstunden erlaubt, wenn die Mädchen nach Mitternacht und oft erst am grauenden Morgen, todmüde, mit schmerzendem Rücken und entzündeten Augen vom Portier durch die Hinterthüre hinausgelassen werden, nachdem er sich zuerst überzeugt hat, dass kein Wachmann in der Nähe ist? Ich schweige von den psychischen Qualen derjenigen, die auf einem höheren geistigen Niveau stehen als das Gros der Arbeiterinnen und die den Raub an ihrer freien Zeit als tausendfach ärgeren Schmerz empfinden, als alle die körperlichen Schmerzen, die die schwere, grausame Nachtarbeit verursacht.
O Damen, die ihr das leset!
Bestellt eure Kleider, wenn es angeht, nicht erst im letzten Moment. Tragt so ein Scherflein bei zur Linderung des Elends einer grossen Classe Menschen. Von dem Gelde, das ihr für ein so rasch verfertigtes Kleidungsstück mehr bezahlt und das vielleicht bis jetzt euer Gewissen entlastet hat, von diesem Gelde erhalten gerade diejenigen nichts, die am meisten, und ich sage, mit Blute, an der Herstellung der »Postarbeit« betheiligt sind.
Vielleicht könnten die furchtbaren Übelstände im Dasein der Handarbeiterinnen aufgehoben werden, wenn diese selbst sich zusammen thäten und als eine compacte, mächtige Masse gegen den gemeinsamen Feind ankämpfen würden. Leider ist aber eine Organisation nur schwer möglich in Folge der vielen stumpfsinnigen Elemente, die unter ihnen, die ein Sichauflehnen, ein Kämpfen, ein Besserwollen gar nicht begreifen und die, wenn der Chef es wünscht, in hündischem Respect vor ihm aus dem Zimmer gehen, wenn die Gewerbe-Commission kommt, um die Ateliers auf ihren Menschengehalt zu prüfen. Dieses Letzte zu sagen, ist mir schwer gefallen.
Ilka Gollmann (1902)
Telegraphen-Manipulantinnen
Da ich glaube, dass nur die Wenigsten das traurige Los einer Telegraphen-Manipulantin kennen, deren in Wien über dreihundert, in Osterreich-Ungarn über tausend beschäftigt sind, möchte ich dasselbe schildern. In der Wiener Telegraphencentrale allein sind circa 250 weibliche Kräfte beschäftigt. Diese Centrale ist eine der grössten staatlichen Anstalten, welche mit Frauen arbeitet, und es ist gewiss interessant zu erfahren, auf welche Art und Weise dies geschieht. Wer einmal Gelegenheit hatte, den grossen Saal der Telegraphencentrale zu betreten, der erhält den Eindruck, als hätte er eine große Weberei besucht: hier wie dort nervenerschütternder Lärm. Die Telegraphen-Manipulantin muss sieben Stunden täglich jahraus jahrein in diesem Getöse verbringen und - arbeiten. Es ist dies eine Arbeit, welche die höchste Aufmerksamkeit erfordert und deren siebenstündige Verrichtung in Folge ihrer Monotonie geradezu geisttödtend wirkt. Ganz besonders angestrengt ist das weibliche Personal, welches den Hughes versieht. Es ist dies ein Apparat, welcher hauptsächlich zwischen internationalen Stationen verwendet wird. Im Sommer ist er in Folge gesteigerten Verkehres in unausgesetzter Thätigkeit. Es ist nothwendig, bei diesem Apparat von fünf zu fünf Minuten ein 30-40 Kilogramm schweres Gewicht aufzuziehen, was mittelst des Fusses geschieht (es wäre mit der Hand gar nicht möglich zu bewerkstelligen).
Oft höre ich darüber Beschwerden von männlichen Bediensteten, und mancher von ihnen vermochte diesen Apparat auf die Dauer nicht zu versehen. In andern Grossstädten bedient man sich schon lange der elektrischen Kraft zum Aufziehen des Gewichtes. Bei uns jedoch ist nur ein Theil der Apparate so eingerichtet, und dies erst seit kurzer Zeit. [23]
Solche Einrichtungen kosten eben Geld. Der österreichische Staat arbeitet aber mit Frauen, um Geld zu ersparen. Er nimmt auf ihre physische Schwäche nicht die geringste Rücksicht. Die Hughes-Arbeiterinnen, es sind ihrer über hundert in der Telegraphencentrale, beziehen einen Gehalt von 30 fl monatlich gleich jeder Telegraphistin und 5 fl Zulage, welche jedoch immer nur eine gewisse Anzahl von Arbeiterinnen bekommt. Das hiefür bestimmte Budget darf nicht überschritten werden, aus diesem Grunde geniessen nicht alle den Vortheil. Weiters hat die Hughes-Arbeiterin noch 10-15 fl Tantiéme. Manchem wird sich nun die Frage aufdrängen: Warum geht eine Telegraphen-Manipulantin zum Hughes, nachdem doch kein Zwang herrscht? Ärger jedoch als der persönliche ist der Zwang der Verhältnisse. Es gibt so viele arme Mädchen, welche die 10 oder 15 fl absolut nicht entbehren können, weil sie eine alte Mutter zu erhalten haben oder jüngere Geschwister unterstützen müssen. Man sieht solche Mädchen von Jahr zu Jahr förmlich dahinsiechen. Eine solche Arbeitslast wäre vielleicht bei gesunder, kräftiger Nahrung ohne Schaden für die Gesundheit zu bewältigen. Wie ist dies aber bei solch karger Entlohnung möglich? Diejenigen Mädchen, welche nun nicht imstande sind, den Hughes zu versehen, oder welche ihre Gesundheit nicht aufs Spiel setzen wollen, müssen sich bei dem Morse Apparat mit einem Monatslohn von 30 fl, (wovon 13 kr. für den Quittungsstempel und 84 kr. für den Pensionsfonds abgezogen werden), begnügen. Die Tantiémen betragen im Durchschnitte 3-4 fl monatlich und werden auf folgende Art berechnet: Für zehn Einheiten 2 kr. Eine Einheit bildet jedes Telegramm bis zu zehn Taxworten. Ober zehn bis zwanzig Worte sind zwei Einheiten u. s. w. 400 Einheiten sind monatlich für den Staat zu machen, dürfen also nicht verrechnet werden. Bei ausserordentlich rascher Arbeit vermag eine geübte Arbeiterin 250-300 Einheiten im Tag zu machen. Dies ist jedoch ein Ausnahmefall, der höchst selten beim Morse eintritt, da die Linien in der Regel nicht derart belastet sind. Hat eine Telegraphen-Manipulantin einmal im Monat einen solchen erträgnissreichen Tag, dann wird sie von sämmtlichen Colleginnen beneidet. Die mühevollste und aufregendste Arbeit ist auf Strecken, wo viele Stationen eingeschaltet sind. Gerade bei solchen Leitungen ist ein geringerer Tantiémenertrag. Daher wäre es gerecht und wünschenswerth, wenn die Tantiémen ganz abgeschafft und statt ihrer die Bezüge systemisirt würden. Es ist doch kaum denkbar, sich mit 30 fl Kost, Kleidung, Wohnung und Heizmaterial zu schaffen. Von Daseinsfreuden will ich gar nicht sprechen. Darauf darf eine Telegraphen-Manipulantin keinen Anspruch erheben. Und doch sind es Mädchen, die oft die beste Erziehung im Elternhause genossen, Mädchen, denen geistige Nahrung zum Lebensbedürfnis geworden ist. Diese Mädchen hungern seelisch ebenso sehr wie körperlich, und das Verbrechen, das an ihnen begangen wird, fällt schwer auf das Gewissen der menschlichen Gesellschaft. Als zur Zeit des Kaiserjubiläums an einen Vorgesetzten die Anfrage nach Besserstellung der Telegraphen-Manipulantinnen gewagt wurde, äusserte der Betreffende sich folgendermassen: »Es ist nur gut, dass die Telegraphistinnen nicht mehr haben, sie würden mir sonst über den Kopf wachsen.« Der Mann folgert ganz logisch: Hunger macht ja selbst Thiere zahm, warum nicht auch Menschen.
Es sind gewöhnlich intellectuell und körperlich gesunde Mädchen, welche sich dem Beruf der Telegraphie widmen. Jede Prüfungscandidatin muss die Bürgerschule mit gutem Erfolge absolvirt haben. Ferner hat sich dieselbe einem Specialcurs für Telegraphie zu unterziehen. Dieser umfasst folgende Gegenstände: Lehre der Telegraphie, Reglement, Geographie, Physik, Schaltungslehre und Apparatlehre. Diese Kenntnisse muss sich die Candidatin auf privatem Wege verschaffen, was den Nachtheil nach sich zieht, dass die Privatlehrer den Curs, welcher in sechs Monaten absolvirt sein kann, in vielen Fällen bis auf ein Jahr hinausziehen, um grössere Honorare herauszuschlagen. So gibt es Mädchen, die an 100 fl Lehrgeld zahlen mussten. (Besonders ist vor gewissen »Schulen« zu warnen). Nach gut absolvirter Staatsprüfung kann die Candidatin um eine Stelle ansuchen, die sie oft erst in zwei bis vier Jahren erhält. In den letzten Jahren hat es sich eingebürgert, dass Substitutinnen auf 40 Tage oder über die Sommermonate einberufen und dann wieder entlassen werden. Kein Mensch bekümmert sich darum, wovon diese Mädchen während der verdienstlosen Zeit leben. Ist die Substitutin dauernd angestellt, so muss sie den Postcurs besuchen. Ein solcher wird eröffnet, sobald etwa 30-40 Novizinnen vorhanden sind. Er dauert vier bis sechs Monate und umfasst die Gegenstände*. Post, Geographie und Reglement. Diesen Curs müssen die Substitutinnen neben ihrem Dienst in ihrer freien Zeit besuchen. Danach werden die Manipulantinnen je nach Bedarf beim Telegraph, bei der Post oder auch beim Telephon verwendet. Nach dreijähriger Dienstzeit erfolgt die definitive Anstellung und damit die Vorausbezahlung der monatlichen 30 fl Der Bezug eines Quartiergeldes ist mit dem Definitivum nicht verbunden, nur können die Manipulantinnen jetzt im Kriegsfalle auch zum Nachtdienst verhalten werden.
Die Altersversorgung ist natürlich dem Gehalt angemessen. Nach zehn jähriger Dienstzeit kann sich die Manipulantin mit staatsärztlichem Zeugnis, das ihre vollständige Dienstunfähigkeit bezeugt, mit 45 Percent der angemeldeten Pensionsquote von 500 fl pensioniren lassen, sie erhält demnach monatlich 18 fl; nach fünfzehnjähriger Dienstzeit bekommt sie 50 Percent, also 21 fl; nach zwanzigjähriger Dienstzeit 55 Percent, das sind 23 fl; nach fünfundzwanzig Jahren 60 Percent, das sind 25 fl; nach dreissig Jahren 70 Percent, das sind 300 fl, Eine längere Dienstzeit dürfte nach den gemachten Erfahrungen wohl kaum eine Telegraphen-Manipulantin erreichen.
Die Avancementverhältnisse sind ebenso unvortheilhaft. Die Manipulantin avancirt alle fünf Jahre um 5 fl monatlich, bis zu einem Monatsgehalt von 50 fl Von den im Post-, Telegraph-und Telephondienst in Österreich vom Staate angestellten 2422 der Frauen stehen in der ersten Gehaltsstufe (50 fl) 173; in der zweiten Gehaltsstufe (45 fl) 135; in der dritten Gehaltsstufe (40 fl) 65; in der vierten Gehaltsstufe (35 fl) 580; in der fünften Gehaltsstufe (30 fl) 1142 Manipulantinnen.
Trotzdem von den männlichen Beamten bis zum Official keine höhere VorbiIdung und keine anderen Leistungen im Dienste verlangt werden wie von dem weiblichen Personale - viele ehemalige Feldwebel bekleiden in der Telegraphencentrale den Rang von Officialen und sind die Vorgesetzten der Manipulantinnen haben doch die Bezüge der Letzteren in den achtundzwanzig Jahren, seit der Staat Frauen zu seinem Dienste herangezogen hat, keine Aufbesserung erfahren.
Ganz allgemein ist die Klage der Manipulantinnen über das uncollegiale Betragen der Beamten sowie über die unglaubliche Behandlung von Seite der Vorgesetzten, denen der Regierungsrath darin mit gutem Beispiel vorangeht.
Das Leben einer Telegraphen-Manipulantin scheint durchaus nicht als Menschenleben taxirt zu werden. Hiefür ein Beispiel: Kürzlich wurde bei einem Apparat ein Accumulator eingeschaltet, ohne das dabei manipuilrende Mädchen darauf aufmerksam zu machen. Dasselbe beschäftigte sich ahnungslos bei seinem Apparat, als plötzlich ein heftiger elektrischen Schlag, die Glieder lähmend, es niederwarf und ihm die Besinnung raubte. Es ist fraglich, ob die Beamtin je wieder im Stande sein wird, ihrem Berufe nachzugehen. Wird sie aber wieder berufsfähig, so ist es doch sicher, dass sie ihr ganzes Leben hindurch unter den Folgen jener Nervenstörung zu leiden haben wird. Ich bin der Meinung, dass solche Fahrlässigkeit streng geahndet werden sollte, nicht todtgeschwiegen, wie es leider in diesem Falle geschehen ist und oft und oft geschieht.
Die Mädchen selbst in ihrer gedrückten Lage, in geradezu erniedrigender Abhängigkeit von ihren zumeist feindlich gesinnten Vorgesetzten sind gänzlich muthlos und haben nicht die Kraft, sich gegen solche Übelstände zu wehren.
Der Dienst dauert im Winter von 8-1/2 2, im Sommer von 7 Uhr Früh bis 1/2 2 oder Nachmittags von 1/2 2-9 Uhr. Einmal wöchentlich hat die Manipulantin einen Dienst von 1/2 2-7 Uhr Nachmittags. Einen ganzen freien Tag gibt es nur zu hohen Festtagen. Dann ist an Sonntagen ein 5 Uhr-Dienst eingeführt; einige der Mädchen gehen um diese Zeit weg, während die übrigen bis 9 Uhr bleiben. Diese Begünstigung trifft jede Manipulantin jeden zweiten Monat. Jeden vierten Monat haben die Mädchen einmal einen Dienst von 10 Uhr Vormittags bis 4 Uhr Nachmittags.
Einen Urlaub erhält die Manipulantin nur jedes zweite Jahr, und zwar in der Dauer von 14 Tagen; will sie einen längeren Urlaub, so muss sie nebst dem mit einem 50 kr-Stempel versehenen Gesuch noch ein gestempeltes ärztliches Zeugnis beilegen, so dass sich dieses Urlaubsgesuch auf 3 fl stellt, was ein Zehntel ihres Monatslohnes beträgt. Will eine Manipulantin zwei Jahre hintereinander auf Urlaub gehen, so kann sie es im zweiten Jahre nur in dem Falle, als eine ihrer Colleginnen ihren Dienst für die Zeit ihrer Abwesenheit übernimmt und daher Doppeldienst hat, da sie ja auch den eigenen Dienst versehen muss; die dann vom Urlaub Zurückgekehrte muß sich in derselben Weise revanchiren. Ob in diesem Falle von einer Erholung überhaupt die Rede sein kann, bleibe dahingestellt.
Wenngleich nun das ärztliche Zeugnis sechs Wochen für unbedingt nöthig erklärt, bekommt die Petentin doch nur drei Wochen oder auch nur vierzehn Tage, worauf nicht selten nach der Rückkehr ihre strafweise Versetzung auf eine Station erfolgt. Der Dienst auf einer solchen ist aber noch schwerer und verantwortungsvoller. Es wechseln hier nur zwei Mädchen im Dienst ab; entweder Vormittags von 7-1/2 2 Uhr oder Nachmittags von 1/2 2-9 Uhr, diese Eintheilung gilt auch für Sonn- und Feiertage, so dass eine solche Manipulantin im ganzen Jahr auch nicht einen einzigen freien Tag hat.
Erkrankt eine der Manipulantinnen, so hat die zweite den vollen Dienst, von 7 Uhr Früh bis 9 Uhr Abends, ohne Vergütung der Mehrleistung zu machen. Nur bei länger andauernder Krankheit wird Ersatz gesendet. Bei jeder Erkrankung einer Manipulantin, welche die Dauer von vier Tagen überschreitet, muss ein ärztliches Zeugniss mit einem 30 kr -Stempel eingesendet werden. Wenn sie auch ganz gut die Behandlung ihres Leidens weiss, sie muss dennoch den Arzt holen lassen und natürlich auch bezahlen. Gerade die Kränklichen, also doppelt Armen müssen von dem geringen Taggeld noch solche Auslagen bestreiten. Es existirt zwar eine Krankencasse, doch die Wenigsten wissen davon, auch wird ein weiterer Abzug der kargen Besoldung gescheut, denn der Staat, der es wohl häufig genug, wie wir oben gesehen haben, an den nothwendigsten Schutzapparaten fehlen lässt, leistet keinen Betrag zur Krankenversicherung.
Ich möchte nun noch der sanitären Zustände erwähnen. Die Telegraphencentrale ist geradezu ein Herd für die Lungentuberculose. Der grosse Saal, in dem hunderte von Menschen täglich ein- und ausgehen, wird kaum einmal im Jahre auf gewaschen. Er ist daher mit einer dicken Staubschichte überzogen, die fortwährend aufgewirbelt wird. Die Spucknäpfe, welche mit Sand gefüllt sind, werden nie ordentlich gereinigt, sondern bloss hie und da nachgefüllt. In solch grossen öffentlichen Anstalten sollten Näpfe mit Wasser, das täglich mindestens einmal gewechselt werden müsste, aufgestellt werden. [24]Die Ventilatoren, welche direct über den Köpfen des Personals angebracht sind, können nicht geöffnet werden. Der Saal ist daher mit schwerer, dunstiger Luft erfüllt, die selbst von einem Vorgesetzten mit der eines Pferdestalles verglichen wurde. Den Hausinspector, dem die Reinigung und Lüftung der Localitäten obliegt, sieht man das ganze Jahr nicht. Die Saalreinigung sowie die Heitzung ist den Bediensteten aufsichtslos überlassen. Im grossen Saal ist im Winter eine solche Kälte, daß die Manipulantinnen in den Überkleidern bleiben müssen, während das Personal des kleinen Saales über zu grosse Hitze klagt.
Die schlechten sanitären Verhältnisse, die anstrengende Thätikeit, die durch die geringe Besoldung verursachte Unternährung, der Mangel einer Sonntagsruhe und eines hinreichenden Erholungsurlaubes verursachen wohl den ungeheuren Krankheitsstand in der Centrale, der von Jahr zu Jahr zunimmt. So waren im verflossenen Winter über achtzig Kranke an einem Tag gemeldet.
(1899/1900)
Weibliche Handelsangestellte
Die Thatsache, dass gerade überall dort, wo den Frauen nur ein karger Verdienst, eine untergeordnete Stellung und damit eine auf das äusserste Minimum herabgedrückte Existenz geboten wird, in Massen weibliche Arbeitskräfte angetroffen werden, liefert den Beweis, wie zwingend die wirthschaftlichen Ursachen sind, die die Frauen zur Betheiligung am Daseinskampf nöthigen. Ganz besonders spricht hiefür die von Jahr zu Jahr rapid steigende Anzahl der bei kaufmännischen und gewerblichen Unternehmungen thätigen Comptoiristinnen, Buchhalterinnen, Correspondentinnen, Stenographinnen und Maschinschreiberinnen.
Die weibliche Handelsangestellte hat weder aus specieller Neigung noch aus besonderer Veranlagung der Frauen zu diesem Berufe diesen Erwerbszweig ergriffen; es gab auch keinen Kampf um Zulassung zu demselben.
Das Experiment der Handelsschulen, ihren Schülerkreis durch Aufnahme von Mädchen zu erweitern, hat sich durch die Wirthschaftslage bewährt. Der Unternehmer verwendet ganz gerne die von vornherein billigere weibliche Arbeitskraft, die Frau aber braucht Brot, sie muss es eben dort nehmen, wo man es ihr nicht ganz verweigert. Dass dadurch ihr Dienstverhältnis vollständig ungeregelte, meistens sehr unerfreuliche Zustände aufweist, liegt auf der Hand. Arbeitszeit, Arbeitsleistung und Entlohnung sind sehr verschieden. Wir finden Frauen mit einer Minimalarbeitszeit von 8, aber auch solche mit io Stunden, Firmen, die in der Saison oder um Weihnachten eine ununterbrochene Arbeitszeit von 8 Uhr früh bis i und 2 Uhr Nachts festsetzen und ihre Angestellten am nächsten Tage wieder um 8 Uhr Früh beginnen lassen. Eine bekannte Confectionsfirma stellt in dieser Zeit auch die Mittagspause ein, das Essen wird vom Personal nur schnell im Comptoir verzehrt, und auch am Vormittag des sonst dienstfreien Sonntages wird gearbeitet. Trotzdem diese gesteigerte Arbeitsleistung oft ein paar Wochen andauert, wird für dieselbe keine separate Entschädigung geboten.
Die Entlohnung kann zu Anfang 10, 12 und 15 fl betragen, und steigt nach 1-2 Probemonaten bei Verwendbarkeit auf 20, 25 30 fl, kann aber auch längere Zeit stabil bleiben. So weist der Aufnahmsschein einer absolvirten Handelsschülerin als Comptoiristin in eine grössere Firma folgenden Wortlaut auf: »Marie N...wurde am ... bei unserer Firma als Comptoiristin in Stellung aufgenommen gegen eine Gehaltsvereinbarung von fl 10 per Monat nebst Abzug der entfallenden Gebühren für die Krankencassa. Eventueller späterer Gehalt fl 15.
Es erklären sich beide Theile zu jederzeitiger Lösung dieses Dienstverhältnisses ohne Kündigungsfrist einverstanden.« In letzter Zeit ist es auch keine seltene Erscheinung, dass sowohl in Comptoirs als auch in kaufmännischen Bureaux bei Arbeitshäufung, die eine Vermehrung des Personales nothwendig macht, statt des früheren Anfangsgehaltes von 25-30 fl nur mehr 15 und 20 fl gezahlt werden; die enorme Steigerung des Angebotes macht es dem Unternehmer möglich, eine Verdoppelung der Arbeitsleistung mit nur geringen Mehrkosten zu erzielen.
Allerdings gibt es Firmen, die nach wie vor einen Anfangsgehalt von 25 und 30 fl zahlen, und einige tüchtige, intelligente Buchhalterinnen mit Sprachkenntnissen und grosser Geschäftsumsicht, die das Glück hatten, bei anständigen, concurrenzfähigen Firmen unterzukommen, beziehen ein monatliches Einkommen von 6o, 8o und 100 fl Doch diese wenigen dürfen über die precäre Situation der vielen anderen nicht hinwegtäuschen. Unter 40 Schülerinnen einer Classe nach Absolvirung der Handelsschule lässt sich folgende Gruppirung annehmen.
Fünf Mädchen werden nach Verlauf von 3-6 Monaten über Recommandation Posten mit einem Gehalte von 25-30 fl erhalten, zwanzig theils sofort, theils nach einer Wartezeit bis zu sechs Monaten Posten mit einem Gehalte von 10-15 fl, fünf andere nach einer Wartezeit bis zu 12 Monaten Posten mit einem Gehalte von 10-20 fl und fünf auch nach 12 Monaten noch keinen Posten gefunden haben; sie gehen eventuell in andere Berufe ab; die letzten fünf reflectiren nicht unbedingt auf eine Stellung, nehmen aber eine solche sofort an, wenn sie eine ihnen zusagende finden.
Von den schon seit Jahren in Stellung befindlichen dürften 60 Percent nicht mehr als höchstens 25 fl, 20 Percent 30-35 fl, 10 Percent 40-45 fl, 5 Percent 50-60 fl beziehen und die übrigen 5 Percent sich auf höhere Entlohnungen vertheilen.
Trotzdem ein gesetzlicher Zwang zum Beitritt in eine Krankencassa besteht, kommt es häufig vor, dass der Stellunggeber seine Bedienstete gar nicht oder nicht rechtzeitig anmeldet, was dann für dieselben im Erkrankungsfalle die unangenehmsten Folgen nach sich zieht. Auch die Urlaubsverhältnisse hängen natürlich ganz von dem Firmenchef ab, und gewöhnlich wird Urlaub nur gegen Verzichtleistung auf den Gehalt gewährt.
Aus dem früher Gesagten erhellt, dass der überwiegenden Mehrzahl der im Handelsfache thätigen Frauen auch bei bescheidenster Lebensführung die selbstständige Deckung ihres Unterhaltes nicht möglich ist, dass ihre Existenz von der Anlehnung an ihre Angehörigen bedingt ist und dass, wo diese fehlt oder wo sie noch unterstützen Soll, ihr Dasein das denkbar kümmerlichste ist, das sie vorschnell auf reibt. Nicht die Arbeit an sich richtet die Frau zugrunde, sondern die Unzulänglichkeit der ihr durch dieselbe gebotenen Subsistenzmittel.
Es muss uns auf fallen, dass die Entlohnung der weiblichen Angestellten in jeder Branche und in jedem Zweig weit hinter der ihrer männlichen Collegen zurückbleibt. Die erste Ursache mag darin liegen, dass sich ihre Verwendbarkeit bei der Mehrzahl auf die in den Bureaux und Comptoirs vorkommenden untergeordneten Leistungen und Schreibarbeiten sowie auf rein mechanische Manipulationen erstreckt, für deren Verrichtung der Privatunternehmer oder Firmenchef billige und fügsame Arbeitskräfte braucht. Die Anstellung selbst erfolgt lediglich aus Ersparungsrücksichten. Durch die gewöhnlich geisttödtende, langweilige Beschäftigung sinkt ein gut Theil der Arbeitenden zu reinen Maschinen herab, und es bedarf einer grossen Selbstständigkeit und eines bedeutenden Selbstbewusstseins, zwei Factoren, die den Frauen durch ihre Erziehung ganz abhanden kommen, sich die Energie des Denkens zu bewahren. ist sie dennoch vorhanden, so dass die weibliche Arbeitskraft der des männlichen Personals gleichwerthig wird, so wird ihr dennoch für die gleiche Leistung unter Hinweis auf den Mangel einer nachweisbaren höheren Fachbildung die gleiche Entlohnung verweigert.
Die geringere Entlohnung der weiblichen Arbeitskräfte hat eine weitere Ursache in der Erziehung unserer Mädchen. Während der junge Mann von frühester Kindheit an weiss - und seine ganze Erziehung darin gipfelt - dass er sich eine Stellung zu erringen hat, bedeutet die Annahme einer solchen für die jungen Mädchen keinen Lebenszweck, sie ist ihnen kein Mittel zur Erreichung einer selbstständigen Position mit allen Freuden und Schwierigkeiten des selbstgewählten Berufes, sondern lediglich ein Ausfüllen der Wartezeit von der Schule bis zur Ehe - ein Interimszustand. Dadurch wird eine Oberflächlichkeit erzeugt, die unendlich verhängnisvoll für die in Stellung Befindlichen wird, und der Ernst der Situation wird ihnen gewöhnlich erst zu einer Zeit klar, wo es für ein Handeln meist zu spät ist. Dazu kommt noch die von vornherein ungenügende theoretische Vorbildung und der Mangel einer praktischen Einführung, zwei Nachtheile, denen ihre männlichen Berufscollegen durch den breiteren Ausbau des Lehrplanes der für junge Männer bestimmten Handelsschulen, durch den Besuch der Handelsakademie und durch die Praktikantenjahre entgehen.
Zur Heranbildung von weiblichen Handelsangestellten existiren in Wien 7 von der Gewerbekammer errichtete unentgeltliche Fortbildungsschulen, von denen nur i auf kaufmännischer Basis gegründet ist, 7 Privathandelsschulen und 3 Privatcurse. Gemeinsam haben nun sowohl die unentgeltlichen als auch die Privatschulen den Nachtheil der unbedingten Aufnahme der absolvirten Bürgerschülerinnen - bei den unentgeltlichen sogar der Volksschülerinnen - wenn dieselben nur ein halbwegs genügendes Zeugniss mitbringen. Durch den Umstand, dass unsere Bürgerschule durchaus nicht in dem Elementarsten gefestigte Schülerinnen entlässt, wird den Handelsschulen ein Schülermaterial zugeführt, das zum grössten Theile noch nicht reif für eine Fachbildung ist.
Hiezu gesellt sich dann noch, dass die unentgeltlichen Schulen einen sehr beschränkten Lehrplan haben, und dass der Besuch der Privatschulen, deren Lehrplan allerdings ein breiterer ist, kostspielig ist. So müssen für die vorgeschriebenen Lehrgegenstände inclusive Stenographie gewöhnlich 6 fl, für die Erlernung einer fremden Sprache 2 fl und einer zweiten Sprache 1 fl, also monatlich 8-9 fl, das ist für zwei Jahre 160-180 fl entrichtet werden. Paris verausgabt alljährlich für die von der Gemeinde erhaltenen 18 Mädchenhandelsschulen, an denen per Jahr 1 000 Schülerinnen kostenlos Unterricht geniessen, 100 000 Francs. Über deutsche Verhältnisse gibt das Werk des Generalsecretärs Dr. Silbermann in Berlin über kaufmännische Unterrichtsanstalten für weibliche Angestellte Aufschluss und enthält derselbe auch manchen beherzigenden Wink für den Ausbau entsprechender Schulen, die auch in Deutschland noch nicht vorhanden sind.
Welcher ungeheure Zudrang heute zu den Handelsschulen bei uns stattfindet, beweist die Thatsache, dass sowohl die unentgeltlichen wie die Privatschulen wegen Raummangels alljährlich eine grosse Zahl von Angemeldeten zurückweisen müssen. So musste heuer eine unentgeltliche Schule von 60 Aufnahmsbewerberinnen 292 abweisen.
Die ausserordentliche Frequenz dieser Schulen, die durch den Mangel anderer weiblicher Fachschulen verursacht wird, hat eine von Jahr zu Jahr in beängstigender Weise sich steigernde Zunahme von Stellungsuchenden, ein Überbieten an Leistungen und ein Unterbieten an Entlohnung zur Folge, das sich dadurch noch steigert, dass viele Chefs, um recht billiges Arbeitsmaterial zu bekommen, Mädchen aufnehmen, von denen sie keine eigentliche kaufmännische Vorbildung, sondern bloss eine gefällige Handschrift und Kenntnisse in der Stenographie verlangen. Die Stellungsuchenden sind nun bei uns, da eine zweckentsprechende organisirte Stellenvermittlung, wie sie beispielsweise Berlin in dem von Frau Mina Bauer gegründeten kaufmännischen und gewerblichen Hilfsverein für weibliche Handelsangestellte hat, nicht existirt, lediglich auf die Recommandation und die Zeitungsinserate angewiesen. Charakteristisch ist die sich immer wiederholende Erscheinung, dass, wenn eine Firma in-i Morgenblatt ein Inserat wegen Aufnahme einer Comptoiristin einrücken lässt, sie bis 1 Uhr Mittags bereits im Besitze von 100-120 Offerten ist. Ein Chef hat sogar, weil über sein Inserat der Zudrang der Stellungsuchenden bereits Vormittags so gross war, dass die Passage vor den Arbeitsräumen und dem Comptoir gehemmt war, den Harrenden mittheilen lassen, dass er bereits sein Personal ergänzt habe, nur um alle wieder fortzubekommen. Andererseits finden wir wieder Stellungsuchende, die trotz Beantwortung von Inseraten und Aussendung von fünfzig und noch mehr Offerten keinen Posten finden können.
Es ist klar und bedarf keiner weiteren Begründung, dass unter diesen Verhältnissen der in's Unendliche gesteigerte Concurrenzkampf Gefahren in sich birgt, die für das gesammte Wirthschaftsleben eines Theiles der Bevölkerung von ungeheuerem Nachtheile sind. In einem kaufmännischen Bureau, wo beinahe das gesammte männliche Personal durch weibliche Kräfte ersetzt wurde, die für die gleichen Leistungen statt des Gehalts von 100 fl und mehr, wie ihn ihre männlichen Collegen bezogen, nun nur 50 und 60 fl bekommen, werden jetzt noch ausserdem die Bezüge der nachkommenden weiblichen Angestellten fort und fort reducirt; den Gewinn dabei hat eben nur der Unternehmer.
Es wäre hoch an der Zeit, dass die betheiligten Kreise ihr Augenmerk auf solche schädigende Vorgänge richteten. Es war eine schlechte Taktik des Wiener kaufmännischen Vereines, den bei der letzten Generalversammlung eingebrachten Antrag auf Erweiterung des Aufnahmsrechtes von Frauen als Mitglieder einstimmig abzulehnen und damit die Sache für erledigt zu halten. Die Frauen sind nun einmal auf dem Plan, die wirthschaftliche Noth zwingt sie, sich selbst zu erhalten oder ihren Angehörigen einen Theil der Sorgen um die Existenz abzunehmen; Ignoriren allein ist ein schlechtes Mittel, um die aus diesem Mehrangebot von Kräften entstehenden Consequenzen abzuleiten. Die männlichen Berufscollegen müssen einsehen, dass sie in ihrem eigensten Interesse daran beteiligt sind, die Frauen in ihre Organisationen aufzunehmen. Bei der heutigen Ausdehnung des Handels und Verkehrs ist es nicht nothwendig, dass durch eine gesteigerte Concurrenz das Wirthschaftsleben gefährdet werde, man müsste eben der Ausbeutung eine gemeinsame Organisation entgegenstellen. Nicht uninteressant ist der letzte Jahresbericht der Gremialkrankencasse, in welchem auf das stete percentuelle Zunehmen der weiblichen und das Abnehmen der männlichen Mitglieder hingewiesen wird, allerdings nur in dem Sinne des ihm politisch verwandten Vereines österreichischer Handelsangestellter, der fort und fort das - wörtlich citirt: »Hinaus mit den Weibern« hören lässt. So zählte diese Krankencassa im Jahre 1890 93,62 Percent männliche und 6,38 Percent weibliche Mitglieder gegen 87,90 Percent männliche und 12,10 Percent weibliche Mitglieder im Jahre 1898, eine Verschiebung, die ein Steigen der weiblichen und gleichzeitiges Verdrängen der männlichen Arbeitskräfte um beinahe 6 Percent bedeutet.
Den Ansatz zu einer gemeinsamen Organisation finden wir nur bei dem auf socialdemokratischer Basis gegründeten Verein kaufmännischer Angestellter, der eine Section für weibliche Handelsangestellte errichtet hat. Wenn die betheiligten Kreise erkennen werden, dass es getrennte Interessen zwischen dem Einzelindividuum und der Allgemeinheit, zwischen dem männlichen Angestellten und seiner weiblichen Berufscollegin nicht gibt, und dass eine entsprechende Organisation dem gegenseitigen Ausspielen des Mannes gegen die Frau und umgekehrt ein Ende bereiten würde, wird auch das Bedürfniss nach einer gemeinsamen Organisation sich nicht mehr eindämmen lassen. Allerdings werden wir nur auf dem Umwege einer getrennten Organisation zu diesem Ziele gelangen, aber eben darum muss immer und immer wieder auf die Nothwendigkeit und den Werth der gemeinsamen Organisation hingewiesen werden. Die Devise jeder vorbereitenden Organisationsbestrebung aber sei: Stärkung des Gemeingefühles und Achtung vor der eigenen und der fremden Arbeit.
Caroline Gronemann (1899/1900)
Trafikantinnen
In einer Zeit, in der die Arbeiter aller Branchen eine achtstündige Arbeitszeit anstreben, wird von den Verkäuferinnen der k.k. Tabak-Trafiken eine mehr als 15stündige ununterbrochene Arbeitszeit verlangt und auch in den meisten Fällen geleistet. Ununterbrochen schon aus dem Grunde, weil die Mädchen nicht eine Mahlzeit im Tage ruhig geniessen können, da nicht einmal Mittags eine halbstündige Pause eintreten darf.
Man bedenke: eine 15stündige ununterbrochene Arbeitszeit, verbunden mit geistiger Überanstrengung, da so ein Mädchen doch die ganze Zeit über rasch rechnen muss, In einer Atmosphäre, die nichts weniger als gesund ist, denn, abgesehen von dem starken Geruch, den der Tabak an und für sich hat, werden noch zu allem Überfluss den ganzen Tag über die verschiedensten Sorten Cigarren und Cigaretten angezündet. Die Herren haben nämlich die Gewohnheit, irgend eine Zeitung in die Hand zu nehmen, durchzublättern oder gar zu lesen und dabei natürlich dichte Rauchwolken auszustossen, so dass der ganze Raum in Tabaksqualm eingehüllt wird. Es ergibt sich wohl von selbst, dass jedes Mädchen nach längerer oder kürzerer Zeit bei dieser Existenz leidend werden muss. Wehe dem Mädchen, das es wagt, wenn es z. B. einen Hustenanfall bekommt, die Herren zu ersuchen, im Local etwas weniger zu rauchen, es kann sofort die Antwort hören: »Wenn Sie so zimperlich sind und Rauch nicht vertragen können, so gehen Sie in keine Trafik, das sollten Sie schon gewöhnt sein« und dergleichen mehr.
Gesetzlich verpflichtet ist eine Verkäuferin bloss zu einer 8-10stündigen Arbeitszeit. In der Praxis sieht das aber ganz anders aus. Denn die Geschäftsgebahrung bringt es mit sich, dass eine Ablösung nicht sein kann, weil die Verkäuferin für Alles verantwortlich ist und einige Stunden Ablösung die Verkäuferin den ganzen Monatsgehalt kosten könnte, wenn die für sie eintretende Person nicht ausgezeichnet rechnen kann, und sich beispielsweise beim Stempelverkaufe irrt, was besonders jetzt bei der Kronenwährung sehr leicht sein kann. Man sollte meinen, eine zwölf stündige Arbeitszeit, z. B. von 8 Uhr Früh bis 8 Uhr Abends mit einer mindestens halbstündigen Mittagspause, wäre bei der grossen Verantwortung, die ein Mädchen in einer Trafik hat, genug geleistet.
Zu Schaden würde weder der Staat, noch irgend ein Trafikant kommen, weil jeder Raucher dafür Sorge tragen würde, dass er sein nöthiges Quantum Rauchmaterial hat; und sollte er einmal vergessen, so bekommt er dies in jedem Gast- oder Kaffeehaus.
Natürlich müsste darauf strenge gesehen werden, dass die Geschäfte rechtzeitig gesperrt werden, und sollte und müsste jede Gesetzesübertretung auf das Strengste gestraft werden; dass rechtzeitig aufgesperrt wird, dafür sorgen schon die Trafikanten.
Da die Mädchen fortwährend in Lebensgefahr schweben, weil doch Überfälle auf die Trafikverkäuferinnen nicht zu den grössten Seltenheiten gehören, sollte auch, mehr für die Sicherheit dieser Wesen gesorgt werden, z. B. sollte jeder Trafikinhaber dazu verpflichtet sein, Alarmsignale anbringen zu müssen.
Es wäre schon das Bekanntwerden dieser Massregel allein ein Schutz für die Mädchen; so Mancher würde sich dann einen überfall oder Diebstahl wohlweislich überlegen. Letztere kommen sehr häufig am hellichten Tage vor. Was wird in den Trafiken nicht Alles gestohlen! Ganze Stempel- und Briefmarkenbücher werden davongetragen, beim Geldwechseln wird die zu wechselnde Note wieder eingesteckt; verlangt das Mädchen das Geld, wird ihr erwidert, sie habe das Geld doch schon genommen, von den Cigarrenmardern gar nicht zu sprechen, und dies Alles soll ein Mädchen ersetzen, weil sie doch dazu da ist, um aufzupassen! Wie leicht sie aber besonders bei einem größeren Andränge betrogen werden kann, an das denkt Niemand.
Zur Feier der grössten Kirchenfesttage, ebenso je am Sonntag vor und nach Weihnachten wird den Mädchen sogar die vorschriftsmässige Sonntagsruhe entzogen, weil das Ansuchen der Trafikinhaber um zehnstündiges Offenhalten der Trafiken jedesmal bewilligt wird. Diese zehn Stunden können sich die Trafikinhaber nach ihrem Belieben eintheilen, in Folge dessen lassen 98 Percent derselben Unterbrechnungen von einer bis drei Stunden eintreten, und auf diese Weise ist so ein Mädchen gezwungen, den ganzen Tag und den ganzen Abend im Geschäfte zuzubringen. So rücksichtsvolle Trafikinhaber, die die zehn Stunden ohne Unterbrechung offen lassen, dass die Mädchen von vier oder fünf Uhr frei sein könnten, gibt es, wie oben erwähnt, sehr wenige.
Alle Feiertage, die an einen Wochentag fallen, sind für die Traflken gewöhnliche Arbeitstage. Warum dürfen Trafikverkäuferinnen gar keinen Feiertag haben und warum wird ihnen die oben erwähnte Sonntagsruhe entzogen? Die Sonntagsruhe, die ohnehin so beschränkt ist, da die Mädchen doch nur auf jeden zweiten Sonntagsnachmittag rechnen dürfen, weil doch Vormittag jeden Sonntag und 'eden zweiten Sonntag Nachmittags zwei Stunden die Geschäfte offen sein müssen, und, wenn z.B. diese zwei Stunden auf eine Trafik gerade Mitte Nachmittags fallen, sie doch zu Hause bleiben müssen, um die vorgeschriebene Zeit nicht zu versäumen. Bedürfen denn diese Mädchen gar keiner Erholungszeit und gar keiner frischen Luft? Wäre es nicht möglich, diese zwei Stunden, die ohnehin beinahe keinen anderen Zweck haben, als den armen Mädchen, die die ganze Woche keine Luft geniessen können, diese auch Sonntags zu entziehen, abzuschaffen? Da die Herren Nachmittags nicht herumlaufen wollen, bis sie eine offene Trafik finden, kaufen sie sich ihren Bedarf schon in den Vormittagsstunden.
Es wird ein freundliches, zuvorkommendes Wesen im Verkehr mit dem Publicum beansprucht. Wie kann aber ein Mädchen immer freundlich bleiben bei dieser grossen Überanstrengung, bei dieser langen Arbeitsdauer? Muss sie nicht nervös, mürrisch, übellaunig werden?
Und dann die Bezahlung. Der monatliche Gehalt variirt zwischen 30-45 fl, ohne Wohnung, ohne Kost, ohne Wäsche. Ist das für solch lange, ununterbrochene Arbeitsdauer eine Bezahlung?
Wäre eine kürzere Arbeitszeit, so könnten sich die Mädchen manche Sachen selbst machen, nähen oder ausbessern, sich hie und da einen Gang selbst besorgen, während sie jetzt für Alles zahlen müssen, was bei der mehr als 15stündigen Geschäftsdauer gar nicht möglich ist.
Mit Angst muss auch solch ein Mädchen daran denken, wenn sie in Folge der Überanstrengung keine Zeit zum Essen findet und eben unwohl wird und einen oder zwei Tage aussetzen muss, und welchen Schaden sie haben könnte, wenn sie von jemandem im Geschäfte vertreten wird, der, wie oben erwähnt, nicht gut im Rechnen ist und sich irrt, während sie die Verantwortung behält!
In Brünn werden die Trafiken gegen 8 Uhr Morgens aufgesperrt und um 8 Uhr Abends, mit Ausnahme einer einzigen, die um 9Uhr schliesst, gesperrt, und können die Herren Raucher sowie das marken- und stempelbedürftige Publicum sowie die Traflkanten dort existiren, wäre es also in Wien nicht möglich, diese Stunden gesetzlich zu bestimmen?
Vielleicht tragen diese Zellen dazu bei, den Trafikverkäuferinnen eine etwas bessere Existenz zu verschaffen.
Copie einer Trafikantinnen-Geschäftsordnung.
- »Die Interessen des Geschäftes sind nach jeder Richtung hin strenge zu wahren und wird dies bei Nichtbefolgung mit sofortiger Entlassung bestraft.
Die Geschäftsbücher dürfen bei sofortiger Entlassung, ausser den vorgesetzten Behörden und deren Organen, Niemandem zur Einsicht vorgelegt werden.
Sämmtliche Inventargegenstände sind rein und in Ordnung zu halten - etwaige Beschädigungen sind sofort zur Anzeige zu bringen; der gefertigten Besitzerin wird es anheim gestellt, auf wessen Kosten beschädigte Gegenstände hergestellt, eventuell neu angeschafft werden.
Bei den monatlichen Verrechnungen sich ergebende Mancos sowie fehlende Inventargegenstände und durch Ausserachtlassung der Geschäftsinteressen entstandene materielle Schäden sind bei Constatirung sofort zu ersetzen.
Ohne Wissen und Einwilligung der Geschäftsinhaberin darf deren Name nicht unterzeichnet werden.
Den Kunden ist ein freundliches und zuvorkommendes Benehmen entgegenzubringen; dieselben müssen rasch bedient werden und sind deren Wünsche nach Thunlichkeit zu respectiren, etwaige Beschwerden sind zu melden.
Mit schlecht beleumundeten Personen darf kein Verkehr unterhalten werden, widrigenfalls dies mit sofortiger Entlassung bestraft wird. Bei Lösung des Dienstverhältnisses wird 14tägige Kündigung festgesetzt.
Ein ohne Einwilligung der Geschäftsinhaberin gewährter Credit wird nicht gebilligt und muss ersetzt werden.«
Eine Trafikantin (1901)
Friseurinnen
Das steigende Bedürfniss nach Luxus und Bequemlichkeit bringt es mit sich, dass immer mehr Verrichtungen, selbst persönlichster Art nicht mehr von den Frauen selbst oder ihrer Hausdienerschaft, sondern von eigens dazu ausgebildeten Specialisten ausgeführt werden. So ist das Ordnen der langen Haare der Frauen eine Thätigkeit, die, so sollte man meinen, jede selbst besorgen kann, und nur die ganz besonders künstlichen Frisuren, die für festliche Gelegenheiten hergestellt werden sollen, bedürften einer Nachhilfe durch Handwerker. Dem ist aber mit nichten so. Immer mehr greift die Sitte um sich, dass jede Frau, die nur halbwegs die Mittel dazu besitzt, sich ein eigenes Mädchen hält, die täglich ins Haus kommt, um den Kopf der Dame mit der neuesten Modefrisur zu schmücken. Dieser grossen Nachfrage nach Friseurinnen wird durch die Nothwendigkeit, dass in einer immer wachsenden Anzahl von Familien nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter und die Kinder erwerben, um des Lebens Unterhalt hereinzubringen, entsprochen. So ist es unter Eingeweihten kein Geheimniss mehr, dass die Zahl der Friseurinnen in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen hat und ein scharfer Concurrenzkampf unter diesen Mädchen entstanden ist, der die Lohnverhältnisse arg beeinflusst. Wie leicht ist es überdies, sich diesem Erwerb zu widmen. jedes Mädchen lernt ja die Kunst des Frisirens an ihrem eigenen Kopf oder oft an dem ihrer Geschwister, und besucht dann eines der Frisierinstitute, deren es in Wien mehrere gibt. Dort macht sie Bekanntschaft mit den gewöhnlichsten Modefrisuren, und nach 14 Tagen ist die »Friseurin« fertig.
Sie braucht jetzt Kunden, Damen, die ihren Kopf den Händen dieser Anfängerinnen anvertrauen, und sie findet thatsächlich solche, zuerst vielleicht im Kreise ihrer Verwandten; sie wird dann weiter empfohlen, und so erhalten diese Mädchen nach und nach einen Kundenkreis. Es beginnt für sie nun das unruhige Leben einer Friseurin. Von den frühesten Stunden des Tages bis in den Nachmittag hinein eilt sie von einem Haus zum anderen. Sie steigt oft bis in die höchsten Stockwerke, um nach kurzer Zeit wieder weiter zu wandern. Bei jedem Wetter muss sie auf die Strasse, unter allen Umständen, mag sie gesund oder krank sein, muss sie die vielen Stiegen steigen. Ist sie aber einmal an der Arbeit, dann beginnt erst recht für sie die Pein. Wie oft geschieht es, dass eine Frisur der Dame nicht gefällt. Ohne Rücksicht auf die beschränkte Zeit des Mädchens werden die kleinsten Fehler bekrittelt. Flugs werden dann die Nadeln aus den Haaren gezogen, der künstliche Bau zerfällt, und die Arbeit muss nochmals gemacht werden. Wenn die Damen unserer Zeit auch nicht mehr wie die Damen der römischen Kaiserzeit ihren Sclavinnen die Schmucknadeln in Brust und Arme bohren können aus Ärger über eine misslungene Toilette, bildlich thun sie es noch ebenso. Dabei versucht man die armen Mädchen noch um ihr bischen Brot zu bringen. Oft erscheint die Friseurin zu ihrer gewohnten Stunde, hört aber, dass die Dame noch schläft, und soll dann zu einer anderen Zeit wieder kommen, trotzdem ihre Stunden vollkommen mit Arbeiten besetzt sind. Manche Frauen, die Abends eine besondere Frisur für ein Concert, einen Ball oder eine ähnliche Gelegenheit bedürfen, erklären am Vormittag der erschienenen Friseurin, sie möge am Abend kommen, um auf diese Weise die Bezahlung für diese besondere Frisur zu ersparen.
Die Entlohnung für alle diese Plage ist eine äusserst elende. Vor nicht gar langer Zeit bekam die Friseurin für ein monatliches Abonnement, wobei sie täglich zu einer Frisur erscheinen musste, 5 fl. Heute, wo der Zudrang zu diesem Gewerbe ein so starker geworden ist, ist der Preis im Durchschnitt auf 3 fl gesunken. Aber ein Abonnement von 2 fl oder 2fl 50 kr ist auch keine Seltenheit. So wird eine Frisur für 10 kr gemacht. Dabei bleiben die Damen gerne schuldig, und nur mit grösster Mühe kommen die Mädchen dann zu ihrem Geld. In den Sommermonaten ruht die Arbeit gänzlich, und nur durch sieben Monate im Jahre sind die Friseurinnen voll beschäftigt. Das Jahreseinkommen solcher Mädchen beläuft sich daher auf kaum 250 fl. Es stellt eben nichts Anderes als einen Zuschussverdienst zu dem Einkommen des Vaters oder Mannes dar, obwohl es viele Mädchen gibt, die sich davon erhalten müssen. Dieses Einkommen wird nun noch gemindert durch die Kosten, die der Wechsel der Mode den Friseurinnen verursacht. Die Art, die Haare zu ordnen, wechselt ziemlich rasch. Jede neue Frisur erfordert aber ein neues Studium. Hat das Mädchen natürliches Geschick, so wird es ihr leicht, nach den vorhandenen Bildern und den Modellen in den Schaufenstern der grossen Damenfriseure die neue Haartracht abzugucken und sie dann selbst zu copiren. Hat sie diese Geschicklichkeit aber nicht, dann muss sie sich die neue Mode in den Instituten zeigen lassen und bezahlt für jede Lection einen Gulden.
Die Mädchen betreiben ein vollkommen freies Gewerbe. Sie stehen in keinem Zusammenhang mit der Genossenschaft der Friseure und auch nicht mit ihrer Gehilfenschaft. Die grossen Damenfriseure haben allerdings manchmal Mädchen angestellt, die in die Häuser frisiren gehen und vom Geschäfte aus einen festen Gehalt beziehen. Die Mehrzahl von ihnen betreibt das Geschäft aber auf eigene Rechnung. Wie bei allen anderen Schichten erwerbender Frauen, die sich aus bürgerlichen Kreisen recrutiren, so ist auch hier von einem Zusammengehörigkeitsgefühl keine Rede. Die Mädchen stehen im schärfsten Concurrenzkampf einander gegenüber, sie beklagen zwar die Entwerthung ihrer Arbeit, aber wenn man ihnen von einem geschlossenen Zusammengehen zur Aufrechterhaltung eines angemessenen Lohnes für ihre Thätigkeit spricht, so betrachten sie dies für einen Scherz, der gar nicht in Discussion zu ziehen ist. Die unausbleibliche Folge davon muss ein weiteres Sinken des Lohnes sein und damit ein noch schärferes Hervortreten aller der Übel, die schon heute mit diesem Beruf verbunden sind.
Eine Friseurin (1899/1900)
Wäscherinnen
Das Wäschewaschen ist keine leichte Arbeit. Schon lange wird nicht mehr im Waschtrog gewaschen, in allen grösseren Betrieben verwendet man Waschmaschinen, die mit Wasserdampf die Wäsche reinigen; die Arbeit der Menschen besteht hauptsächlich nur im Nachbürsten der aus der Maschine gekommenen Wäsche Dort sind überhaupt wenig Wäscherinnen angestellt, dafür aber mehr Büglerinnen. Es ist jedoch von vornherein ein Unterschied zu machen zwischen dem Waschen der neuen und der alten Wäsche, d. h. der eben genähten, die von der Wäschefabrik in die Wäscherei kommt, und der bereits gebrauchten, die von Privatkunden oder von Hotels und Gasthäusern zum Reinigen gegeben wird. Das Arbeiten an der neuen Wäsche erfordert viel mehr Anstrengung und Arbeit, und selten wird eine Arbeiterin bei dieser Beschäftigung alt. Wenn man so Tag für Tag und noch dazu so manche Nacht beim Waschen steht, immer im feuchten Local, die Füsse durchnässt, die Kleider ganz feucht, am Leib keinen trockenen Faden hat, und wenn man dann gezwungen ist, aus der heissen Luft der Waschküche auf den kalten Hof oder in den zugigen Gang zu gehen, dann zieht man sich nur zu leicht eine Krankheit zu. Lungenkranke sind gar keine Seltenheit unter den Wäscherinnen. Ebenso ist es in der Bügelei. Auch hier der fortwährende Dunst, die ewige Hitze, im Sommer noch unerträglich gesteigert durch die natürliche Wärme, im Winter wieder der grosse Unterschied gegen die Luft ausserhalb des Locales. Die Arbeitsweise wäre vielleicht zu ertragen und würde auf den Körper keinen so grossen Schaden ausüben, wenn die Arbeitszeit keine solch lange Dauer hätte. Wenn alle Leute noch schlafen, ist die Wäscherin bereits auf, und wenn die Leute wieder schlafen, arbeitet sie noch immer. Die Arbeitszeit beträgt gewöhnlich 12-18 Stunden und an Freitagen und Samstagen wird die ganze Nacht bis in die Frühe hinein durchgearbeitet. Wer denkt wohl daran, wenn er Sonntag ein frisches Hemd, einen reinen Kragen nimmt, dass in diese Stücke die Nachtruhe von Mädchen, ja von Müttern hineingearbeitet ist. Es gibt Fälle, wo die Mädchen wochenlang gar nicht zu Bette gehen, da dauert die Arbeit bis 314 Uhr Früh, man legt sich auf die schmutzige Wasche »schlafen«, ruht sich ein wenig aus, und um 6 Uhr Früh ist die Frau, die natürlich während der Nacht geschlafen hat, wieder da und weckt die Arbeiterinnen. Nicht genug, dass diese Arbeit die ganze Woche hindurch dauert, wird in manchen Betrieben auch am Sonntage gearbeitet, oft bis 4 Uhr Nachmittags. Wenn die Arbeit dann zu Ende ist, hat man für nichts mehr Sinn, man ist froh, wenn man schlafen kann, und doch gibt es genug Frauen, die, wenn sie von früh bis Abends bei der Wäsche oder beim Bügeleisen gestanden sind, zu Hause noch kochen und aufräumen müssen. Dass da der Haushalt kein gut geführter ist, kann man sich leicht denken. Erfordert doch schon die Hausarbeit viel Kraft, und wenn diese Kraft in der Arbeit verbraucht ist, gehört eine besondere Energie und Reinlichkeitsliebe dazu, im Hause zu machen, was nothwendig wäre.
Der Lohn bei all diesen Frauen ist ein elender. Die Büglerinnen haben 5-6 fl in der Woche, bei der alten Wäsche 7-8 fl, manchmal 9 fl, die Wäscherinnen bei der Waschmaschine 4- 5 fl, in den Wäschereien, die gebrauchte Wäsche reinigen, 60-70 auch 80 kr. täglich. Manchmal kommt dazu noch zweimal täglich Kaffee, der zum grössten Theile mit Cichorie und gewässerter Milch bereitet ist. In manchen Wäschereien besteht auch der Brauch, von der Frau das Essen zu bekommen. Das ist dann wenig und schlecht. Die vielen Kräfte, die die Arbeit verbraucht, kann es nicht ersetzen, und die schlechte Ernährung steigert dann die üblen Folgen der langen Arbeitszeit. In den Wäschereibetrieben besteht dann noch ein ganz besonderes Ausbeutungssystem. Es werden nämlich viele Mädchen nicht als Arbeiterinnen, sondern als Dienstmädchen auf genommen und nur zur Arbeit in der Werkstätte verwendet, das sind Mädchen vom Land, aus Böhmen oder Slovakinnen, sie erhalten die Kost und 4-5 fl im Monat und erfüllen alle Forderungen, die man an sie stellt. Sie meinen, es muss so sein. So verbrauchen's ihre Kraft im Dienste dieser Wäscher, die die jungen Mädchen um die schönsten Jahre ihres Lebens bringen. So ein Mädchen vom Lande hat niemand Bekannten in Wien, sie steht ganz allein, schläft, arbeitet und isst im Hause ihrer Dienstgeberin und ist in Folge ihrer Hilflosigkeit der Ausbeutung vollständig preisgegeben.
Bei dem geringen Lohn ist natürlich nicht daran zu denken, dass die Arbeiterin sich irgend etwas gönnt, irgend ein Vergnügen mitmacht. Sie ist froh, wenn ihr der Lohn auf das Essen und die nothwendigsten Bedürfnisse ausreicht. So leben die »Wiener Wäschermädel«. Die Bezeichnung erinnert an ein lustiges, kräftiges Geschöpf, das gerne lacht und singt, recht fesch ist und die Männer abzublitzen versteht. Aber in Wirklichkeit sehen diese Mädchen ganz anders aus. Elend und Kummer sind auf ihrem Lebensweg ihre steten Begleiter, und von Gesang und Tanz kann überhaupt keine Rede sein. (Eine Wäscherin 1900)
Frauen auf der Landstrasse
In unserer Zeit, wo nicht nur die Frauen, sondern auch vielfach Kinder gezwungen werden, den Kampf ums Dasein aufzunehmen und in Fabrikssälen oder in den Höhlen der Hausindustrie zur Austragung zu bringen, darf es nicht Wunder nehmen, dass neben der Überproduction an männlichen Arbeitskräften jetzt auch eine solche an weiblicher Arbeitskraft von Tag zu Tag immer grösser wird.
Und so wie der männliche Arbeiter, wenn ihn der Unternehmer nicht mehr benöthigt, eventuell gezwungen ist, in einer anderen Stadt, in einem anderen Lande sein Glück zu versuchen, genau so ist eine ziemliche Anzahl von weiblichen Arbeitern dazu verurthelit, einen Theil ihres Daseins auf der Landstrasse zu verbringen.
Speciell in Deutschland: in Bayern, Württemberg und Sachsen kann man täglich ein paar solcher reisender Frauenzimmer (»Tippelschicksen« heissen sie in der Handwerksburschensprache) auf der Landstraße treffen.
Es ist charakteristisch, dass sich die überwiegende Mehrzahl dieser reisenden Frauenzimmer meistens aus Mägden und landwirthschaftlichen Arbeiterinnen, seltener aus Fabriksarbeiterinnen und Dorf Kellnerinnen recrutirt.
Es ist selbstverständlich, dass diese Frauen, wenn sie einmal auf der Landstrasse liegen, in allerkürzester Zeit total verkommen. Wenn schon der Handwerksbursche den Behörden als vogelfrei gilt, so ist die auf der Landstrasse wandernde Frau nicht nur den Behörden, sondern auch noch den durch das Landstrassenleben verrohten, vogelfreien Handwerksburschen vollkommen ausgeliefert ...
So wie die Prostituirten in den Grossstädten ohne Zuhälter nicht existieren können, so hat sich auch auf der Landstrasse ein Zuhälterthum von einer unerhörten Rohheit, Gefühl- und Rücksichtslosigkeit den armen Weibern gegenüber herausgebildet. Was diese bedauernswerthen Wesen auf der Landstrasse von ihren »Beschützern« zu erdulden haben, das spottet jeder Beschreibung - das muss man einfach selbst mitangesehen haben.
Nicht nur, dass der mit einer »Tippelschickse« reisende Handwerksbursche ihr das erbettelte Geld unbarmherzig abnimmt - er verkauft das bedauernswerthe Geschöpf noch um wenige Pfennige an die anderen Handwerksburschen...
Ein Übelstand, der hier sehr ins Gewicht fällt, ist auch der, dass diese reisenden Frauenzimmer nirgends ordentliche Unterkunft finden. Sie sind gezwungen, in sogenannten »wilden Pennen«, das sind Herbergen, die von Privatpersonen zu ihrem persönlichen Vortheil gehalten werden, zu übernachten. Nachdem eine solche Herberge von der Behörde nicht oft und strenge genug controlirt werden kann, findet sich verschiedenes Gesindel dort ein - und es sind nicht immer die angenehmsten Sachen, die einem passiren können, wenn man gezwungen ist, in einer solchen »wilden Penne« zu übernachten.
Zur Zeit der Hopfenernte, die Mitte September bis Ende October stattfindet, strömen alljährlich z. B. in Spalt und Umgebung, wo es die größten Hopfengärten Bayerns gibt, Tausende von »Walzbrüdern« und »Walzschwestern« zusammen, die alle beim »Hopfenzupfen« Beschäftigung finden.
Es sind dies zumeist Leute, die gar nicht mehr darauf rechnen, in ihrem erlernten Gewerbe Beschäftigung zu finden; Leute, die sich bereits mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, den ganzen Rest ihres Lebens auf der Landstraße verbringen zu müssen ...
Ein ansehnlicher Bruchtheil der bei der Hopfenernte Beschäftigten ist Gesindel, das in seinem Leben noch nie mehr gearbeitet hat, als eben diese paar Wochen beim »Hopfenzupfen«. Und so mancher Langgesuchte, bei dessen Photographie ein »interessantes« Wiener Blatt vergeblich fragen würde: »Wer ist das?« befindet sich darunter.
Für die Kost, das Nachtlager auf einem Bund Stroh in der Scheune und 50 Pfennige bis 1 Mark täglich wird nun von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet.
Da man nicht gewohnt ist, den bei der Hopfenernte beschäftigten männlichen und weiblichen Arbeitern im Nachtquartier spanische Wände aufzustellen, kann man sich leicht vorstellen, wie da »nach des Tages Mühn und Lasten«, gerastet wird, was für Scenen sich in einer solchen Scheune abspielen ...
Und was thun die Behörden, um solchem Greuel ein Ende zu machen? Sie wenden das einzige Mittel an, worüber der Staat in solchen und ähnlichen Fällen verfügt, das Universalmittel gegen alle socialen Krankheiten - den Arrest und den Schubwagen ...
Da aber die meisten dieser reisenden Frauenzimmer armen Gemeinden angehören, die keine Versorgungs- und Arbeitshäuser besitzen, entledigen sich dieselben ihrer armen Ortsangehörigen auf die einfachste Weise der Welt. Die Schüblinge werden von der Polizei dem Ortsvorsteher übergeben. Derselbe empfängt dieselben mit einer Strafpredigt, drückt ihnen ein Markstück in die Hand - und sie sind entlassen. Der Zirkel ist geschlossen: Wieder hinaus auf die Landstrasse! ...
Dass man bei einem solchen Dasein, welches man zwischen Arrest, Schubwagen und Landstrasse zu führen gezwungen ist, in der elendigsten Weise zugrunde gehen muss, ist ja erklärlich.
Und doch könnte ein grosser Theil dieser armen Geschöpfe durch die Errichtung von Frauenheimen, wie einige bereits in Deutschland bestehen, vor dem sicheren Untergange gerettet werden.
Es bestehen - so viel ich weiss - in Deutschland vier solche, den »deutschen Arbeitercolonien« sehr ähnliche Institutionen zur Aufnahme von arbeitslosen, verkommenen Frauen und Mädchen.
Diese Institutionen verfolgen genau dieselben Ziele wie die deutschen Arbeitercolonien, nämlich: die sittliche Hebung, die Gewöhnung an regelmässige Arbeit und die möglichste Unterbringung in dauernde Beschäftigung.
Es bestehen demnach: das Frauenheim in Schönebeck, mit einer »Heimatcolonie« verbunden, in der ältere Trinkerinnen sogar Jahre verbleiben können. Dieses Institut verfügt über circa 20 Plätze.
Sodann das Frauenheim »Himmelsthür« bei Hildesheim mit etwa 100 Plätzen; das Frauenheim Borsdorf bei Leipzig mit circa 70 Plätzen für alle Art arbeits-, obdach- und heimatsloser Frauen und Mädchen und endlich das Frauenheim »Tobiasmühle« bei Radeberg mit 20 Plätzen.
210 Plätze für auf der Landstrasse verkommene Frauen - das war bis jetzt Alles, was man in Deutschland in dieser Hinsicht thun konnte ...
Die Frauen werden in diesen Instituten in der Wäscherei, Haus-, Feld- und Gartenwirthschaft beschäftigt; die ersten drei bis vier Wochen nur gegen Kost und Wohnung, später auch gegen kleines Entgelt, um den Frauen Gelegenheit zu geben, sich Schuhe und Kleider anzuschaffen.
Da wegen der geringen Anzahl verfügbarer Plätze die Frauen nach wenigen Monaten die Anstalt wieder verlassen müssen, um neuen Hilfesuchenden Platz zu machen, ist in vielen Fällen die »sittliche Hebung« keine sonderlich anhaltende.
Jedenfalls wäre es sehr nothwendig, dass man diesen unglücklichen Frauen auf der Landstrasse endlich einmal energisch zu Hilfe kommt - nicht durch Vertröstungen auf ein besseres himmlisches Leben, nicht durch den Hinweis auf den Zukunftsstaat, sondern durch die Errichtung von gemeinnützigen Institutionen, wie es die Frauenheime sind.
Hilfe kommt - nicht durch Vertröstungen auf ein besseres himmlisches Leben, nicht durch den Hinweis auf den Zukunftsstaat sondern durch die Errichtung von gemeinnützigen Institutionen, wie es die Frauenheime sind
Ad. Fuchs (1900)
WIR FORDERN
Ihr meine Schwestern, die ihr schafft
In Scheun' und Stall, in Flur und Feld,
Ihr meine Schwestern, deren Kraft
In dumpfiger Fabrik zerschellt,
Und ihr, die ihr die fleiß'ge Hand
In Heimarbeit beständig regt,
Und denen erst am Grabesrand
Die Feierabendglocke schlägt.
Ich ruf euch alle! Kommt herbei
Aus Nacht und Elend, Not und Leid,
Macht euch von euren Ketten frei,
Euch ruft der Geist der neuen Zeit.
Euch ruft, was groß und stark und rein,
Euch ruft das Recht und ruft die Pflicht,
Seht, dort im hellen Flammenschein
Erglänzt der Zukunft Angesicht!
Ihr macht durch eure Armut reich
Den Feind, durch euren Hunger satt.
Ist eine einzge unter euch,
Die nur genug zum Leben hat?
Geht nicht, selbst in der besten Zeit,
Die Sorge ständig aus und ein,
Und raunt euch zu: So ging es heut,
Wie aber wird es morgen sein?
Von früh bis in die späte Nacht
Ist es ein Hetzen ohne Ruh.
Ihr schafft den Reichen Lust und Pracht
Und seht mit leeren Händen zu.
Jedoch nun wollen endlich wir
Die Früchte unserer Arbeit sehn
Und nicht vor des Gesetzes Tür
Als Bettler ohne Rechte stehn.
(1914)