Indien

Frauenbefreiung in Indien

  • (* Women's Liberation in India.
    Zuerst erschienen in new left review 153 (1985); gekürzt.
    Erläuternde Anmerkungen von Shalini Randiria.)

Die sozio-ökonomischen und kulturellen Bedingungen Indiens unterscheiden sich so grundlegend von denen der entwickelten kapitalistischen Welt, daß es seltsam wäre, wenn die Frauen- oder die Arbeiterbewegung die Parolen ihrer jeweiligen Gegenstücke einfach nachplapperten. In den letzten 15 Jahren haben sich die Frauenorganisationen hier auf einige Forderungen konzentriert. Viele davon werden den Frauen im Westen wahrscheinlich fremd sein. Wir haben die Sache der Dienstmädchen aufgegriffen, gegen Tempel-Prostitution [1] gekämpft, wir haben Aberglauben und Hexenverfolgung gebrandmarkt, und der Entwaldung sowie der Ausbeutung von Dalit-Frauen und Stammesfrauen (tribal women)[2] Widerstand entgegengesetzt. Die Probleme der Slumbewohnerinnen und die sozio-ökonomische Unterdrückung von Frauen der Arbeiterklasse und von Bäuerinnen standen immer im Vordergrund. Da die überwältigende Mehrheit der Frauen unter Bedingungen extremer Armut und Entbehrung lebt, ist das kaum überraschend. Gleichzeitig gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß Vergewaltigungen, das Schlagen von Ehefrauen, ökonomisch motivierte Morde und andere Greueltaten gegenüber Frauen abnehmen.
In den 70er Jahren wuchsen die Kämpfe der Frauen aufs neue an. Das markierte einen Bruch mit jeder Tradition und gab dem Netzwerk von Frauengruppen einen ungeheuren Auftrieb. Nie zuvor engagierten sich Frauen für Forderungen, die sich speziell auf ihr Geschlecht bezogen. Im 19. Jahrhundert wurde die Reformbewegung gegen den Kindermord an Mädchen, gegen Sati (Witwen-Selbstverbrennung), für das Recht auf Wiederverheiratung von Witwen und Ausbildung für Frauen von liberalen Männern getragen. Frauen waren also Objekt eines liberalen Humanismus, der seinen Höhepunkt während der Unabhängigkeitskämpfe erreichte. Anschließend wurden die Frauen aufgefordert, zu ihrer häuslichen Arbeit zurückzukehren. Obwohl die Verfassung des unabhängigen Indien den Frauen einen »gleichberechtigten Status« garantiert, erlebte die überwältigende Mehrheit keine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Dies demonstriert eindrucksvoll die Demographie des heutigen Indien: Die Sterblichkeitsrate der Frauen ist höher als die der Männer; der Frauenanteil an der Gesamtbevölkerung geht kontinuierlich zurück: 1901 kamen 972 Frauen auf 1.000 Männer, 1971 waren es nur noch 930.

Frauen und Arbeit

Wie in anderen Teilen der Dritten Welt hatte die Entwicklung des Kapitalismus in Indien widersprüchliche Folgen: vorkapitalistische soziale und ökonomische Verhältnisse wurden abgeschafft und neue eingeführt, die die Frauen mit anderen Herausforderungen konfrontieren. Wenn auch alle Untersuchungen darauf hinweisen, daß die ökonomische Entwicklung Frauen tendenziell aus Arbeitsverhältnissen verdrängt, waren die Frauen der Arbeiterklasse immer gezwungen, Arbeit außerhalb des Hauses zu suchen. In einem Land, in dem der größte Teil der Bevölkerung niemals regelmäßig Arbeit hat, deckte der Zensus 1981 auf, daß nur 14% der Erwerbstätigen Frauen waren. In Sektoren mit stabiler Frauenbeschäftigung erhalten sie ungleichen Lohn für gleiche Arbeit, insbesondere in den Minen, auf Plantagen und in der industrialisierten Landwirtschaft.
Die Intensivierung kapitalistischer Produktionsmethoden auf dem Lande brachte eine neue Schicht von Reichen hervor, während viele Bauern und marginalisierte Farmer ihren Grundbesitz verloren. Das hat den Anteil der Landarbeiterinnen auf heute 50% dramatisch erhöht. Nur 6% arbeiten im formellen Sektor. Die Arbeitsbedingungen sind hier etwas besser als im informellen,[3] wo der Lohn unsicher, die Arbeit gefährlich, ermüdend, unsicher und langweilig ist und die psychische Konstitution schädigt. Technologische Veränderungen verschlechterten die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in der Landwirtschaft und in Manufakturen. Städtische Arbeiterinnen sind heute vor allem in der Lebensmittelherstellung, im Baugewerbe, in der Bekleidungsindustrie und anderen Kleinindustrien beschäftigt; Frauen aus den unteren Kasten müssen als Straßenkehrerin und Hausdienerin arbeiten. Nur wenige arbeitende Frauen kommen in den Genuß von Wohnheimen, Kinderkrippen oder Rechtsbeistand.
Drei Viertel aller Inderinnen sind Analphabetinnen. Die Zahl der Frauen mit höherer Schul- und Berufsausbildung ist in den letzten dreißig Jahren gestiegen. Im Vergleich zu den Millionen von Frauen, die weder lesen noch schreiben können und permanent am Rande des Existenzminimums leben, ist ihre absolute Zahl aber nach wie vor erbärmlich niedrig. Frauen, die über die Grundschule hinausgekommen sind, finden Anstellung vor allem als Lehrerin oder Kinderschwester. 1978 waren von den drei Millionen Beschäftigten im Erziehungssektor 750 000 Frauen. Das Verhältnis wird jedoch, wie in den meisten Ländern, in den Bereichen höherer Qualifikation ungünstiger: 28 000 Frauen von 133000 Beschäftigten insgesamt.[4]

Mißbrauch/Mißhandlung von Frauen

Arme Frauen werden systematisch als Versuchskaninchen benutzt, um Methoden und Medikamente zur Geburtenkontrolle zu testen. Multinationale  Gesellschaften bringen  rücksichtslos  Medikamente  wie Depo-Provera und E.P.Forte auf den Markt. Dabei werden sie von den einheimischen herrschenden Klassen unterstützt, die ihre eigenen ökonomischen Interessen verfolgen. Asiens Feministinnen können es sich nicht leisten, diesen direkten Einfluß westlicher kapitalistischer Mächte auf unser soziales und kulturelles Leben zu übersehen. Im Westen fordert die Frauenbewegung kostenlose Verhütungsmittel und das Recht auf freie Abtreibung. In Indien aber müssen wir gegen Zwangssterilisation und gegen Abtreibungskampagnen kämpfen, wie sie z.B. während des von Frau Gandhi verkündeten Ausnahmezustands geführt wurden. Selbst Gegnerinnen dieser Kämpfe waren schockiert, als das Skalpell bei Männern angelegt wurde. Zu schnell war die Mißhandlung von Frauen vergessen, ebenso wie die Tatsache, daß die ganze Sache unter Weltbankprotektion stattfand. Techniken zur pränatalen Bestimmung des Geschlechts werden ebenso mißbraucht. Offen gesagt, wurde der wissenschaftliche Fortschritt in Indien dazu benutzt, den Kindermord an Mädchen zu ermutigen — einer der Gründe für die sinkende Geburtenrate von Mädchen.
Indische Frauen sind in allen gesellschaftlichen Bereichen Gewalt ausgesetzt: in der Familie, am Arbeitsplatz und durch den Staat. In der Stadt wie auf dem Land mißbraucht die Polizei arme Frauen als Sexualobjekte, und die Vergewaltigungen von Landarbeiterinnen und Arbeiterfrauen sind unzählbar. Viele Gefangene haben die Erniedrigung beschrieben, die sie durch sexuellen Mißbrauch und durch besonders brutale Foltermethoden erlitten. Hinzu kommt noch die mit Religion und vorkapitalistischen Bräuchen verbundene Gewalt. Mehrere hundert Frauen wurden allein 1984 von ihren Ehemännern verbrannt, unmittelbar nachdem die Ehe ihren Zweck erfüllt hatte: die Mitgift zu kassieren. Die Mörder konnten anschließend nach neuen Opfern Ausschau halten. Die Todesrate war so hoch, daß die Polizei in Delhi spezielle »Mitgift-Kommandos« aufstellen mußte — mit geringem Erfolg. Bestimmte Interpretationen hinduistischer Bräuche werden benutzt, um Frauen zur Prostitution zu zwingen. Moslemischen Frauen werden in Indien durch islamische Gesetze die meisten Rechte vorenthalten, die ihren Schwestern z.B. in der Türkei oder in Ägypten zustehen. Die Lebensbedingungen der Stammesfrauen verschlechterten sich in dem Maße, wie der Kapitalismus in ihre Gebiete eingedrungen ist und die Entwaldung sie an den Rand der Städte vertrieb.
In Indien sind Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung verbunden mit staatlicher Repression, Klassenunterdrückung, Kastenwesen und kommunalistischen Vorurteilen.[5] Selbst wenn wir akzeptieren, daß alle Frauen als Frauen unterdrückt sind, reicht diese Erkenntnis — wie in den meisten Ländern der Dritten Welt — nicht aus, um die alltägliche Realität der Unterdrückung bekämpfen zu können. Der Klassengegensatz zwischen der überwältigenden Mehrheit der Frauen und einer Minderheit von Frauen ist viel zu groß, um ihn zu ignorieren. Täglich gibt es in den Mittel- und höheren Mittelklassen Konflikte zwischen Dienstmädchen und den »Damen des Hauses« — die Situation ähnelt der im England der Jahrhundertwende, nur das Ausmaß der Konflikte ist viel größer, und der Modernisierung steht eine Sozialstruktur entgegen, deren Mauern nicht von allein fallen werden. Weniger als anderswo können Feministinnen in Indien ihren Kampf von dem der unterdrückten Massen trennen.

Die Entstehung der autonomen Bewegung

Die Frauenbewegung entwickelte sich in unterschiedlichen Phasen der Mobilisierung. Während des Eisenbahnerstreiks von 1975 unterstützten Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Töchter die Männer. Sie demonstrierten, sie schliefen auf den Schienen, um die Streikbrecher daran zu hindern, weiter zu fahren. Sie wurden zu Stockschlägen verurteilt, massenhaft vergewaltigt, ihre Häuser wurden niedergebrannt und geplündert, aber sie gaben nicht nach. Die Polizei entführte viele Kinder, um die Frauen zu erpressen, aber sie rührten sich nicht von der Stelle.
Drei Jahre später initiierten Stammesfrauen in Nordindien eine Bewegung, die als Chipko-Bewegung bekannt wurde — eine Rebellion gegen Forstbeamte und Unternehmer, die ihren Leuten eine Abfindung gezahlt hatten und jetzt kamen, um Bäume zu fällen. Einhundert bewaffnete Polizisten wurden zur Unterstützung der aus Nepal importierten Holzfäller eingesetzt (ortsansässige Arbeitskräfte konnte man für diese Aufgabe nicht finden). Doch am 1. Februar 1978 besiegten die unbewaffneten Stammesfrauen, die weder lesen noch schreiben konnten, die Beamten der »wissenschaftlichen Forstwirtschaft«. Während sie die Bäume schützten, sangen sie: »Himalayas sind heute aufgewacht/ die grausamen Äxte werden vertrieben/ Baumfäller, denke nach/ zieh' Mutter Erde nicht die Haut ab«. Die Äxte und Bajonette wurden zum Rückzug gezwungen. In den folgenden Jahren gab es weitere Konfrontationen, und kleinere Siege wurden errungen, obwohl die Bewegung sich spaltete. Der eine Flügel, geführt von Bahugana, legte das Schwergewicht auf Wiederaufforstungsprogramme und wollte die Entwaldung auf parlamentarischem Wege aufhalten. Der andere, geführt von Chandi Prasad, organisierte weiterhin Demonstrationen, Kundgebungen und andere Protestaktionen gegen die lokalen, althergebrachten Interessen. Er spielte eine zentrale Rolle in der Kampagne gegen das reaktionäre Waldgesetz, das die Regierung 1982 verabschiedete. Diese Erfahrungen inspirierten Frauen aus den Bergregionen von Gujarat und Karnataka, ähnliche Bewegungen zu entwickeln.
Im selben Zeitraum beeinflußten Texte und Kampagnen der westlichen Frauenbewegungen viele indische Frauen mit höherer Bildung. Der Hauptgegenstand dieses neuen Bewußtseins — die Kritik an der Behandlung von Frauen als Sexualobjekt — wurde von den meisten Männern als Witz abgetan. Sie erzählten uns, dies sei eine Bewegung frustrierter Frauen, die wegen ihrer Häßlichkeit von Männern zurückgewiesen worden waren. Dennoch bildeten sich im Jahre 1975 kleine Gruppen frauenbewegter Frauen in verschiedenen Teilen des Landes. Die ersten Aktivistinnen waren überwiegend Frauen, die in oder mit linken Gruppen gearbeitet hatten: Sie waren schockiert, daß diese Organisationen, die so offen für die Probleme der Armen waren, der Klassen- und Kastenunterdrückung so feindlich gegenüberstanden und die Religion und ihre Vorurteile verachteten, gegenüber der Frauenunterdrückung im privaten und politischen Bereich nahezu blind waren. Die erste und vielleicht größte dieser frühen feministischen Gruppen war die Progressive Frauenorganisation (Progressive Organization of Women) in Hyderabad. 1974 waren dort ungefähr 5000 Frauen organisiert. Sie arbeiteten eng mit radikalen Studentenorganisationen zusammen. 1975 brachte eine Konferenz 800 Frauen zusammen, überwiegend aus der Arbeiterklasse. Aber die traditionellen linken Parteien boykottierten den Kongreß. Im selben Jahr wurde in Bombay unter der Patenschaft der SNDT Universität eine Abteilung für Frauenforschung eingerichtet. Sie begann sofort mit ernsthafter Forschung und trug dazu bei, erziehungswissenschaftliche Institute zu überzeugen, Kurse für Frauenstudien einzurichten.
Eine weitere wichtige Entwicklung war die Gründung der autonomen Sozialistischen Frauengruppe 1977 in Bombay. Sie bestand zwar nur aus sieben Frauen, unterstützte aber Frauen aus der Arbeiterklasse dieser Region aktiv bei ihrer Organisierung. Mit ihrer Hilfe fand 1978 ein landesweiter Frauenkongreß statt. Er fand ein gutes Echo. Beschlossen wurde die Publikation verschiedener Infos in Englisch und Hindi sowie die Gründung eines nationalen Koordinationskomitees, um die Isolation der Frauengruppen zu überwinden. Im Juli 1978 erschien das erste Rundschreiben, Feminist Network. Es diente dazu, die Frauen aus den Sozialistischen Frauengruppen in einem sich entwickelnden Kollektiv mit anderen Kräften zusammenzubringen. Als im Januar 1979 die erste nicht-kommerzielle feministische Zeitschrift in Indien, Manushi, erschien, entschieden sich die Herausgeberinnen von Feminist Network nach sechs Nummern, ihre ganze Kraft in dieses neue Unternehmen zu stecken. Manushi wurde die Stimme der autonomen Frauenbewegung und erreichte eine Auflage von einigen Tausend. Sie bot den verschiedenen Strömungen der Bewegung ein lebendiges Diskussionsforum und begleitete die Höhepunkte der Kampagnen.
Das nationale Koordinationskomitee der Frauenbewegung (Women's Liberation Coordinating Committee) organisierte 1979 eine erfolgreiche Konferenz, die Frauen aus den verschiedensten Landesteilen und Schichten zusammenführte: Stammesfrauen aus Bhulia, Dahnu und Nagpur; Arbeiterinnen aus Sholapur, Pune, Bombay und Kolhapur; Dalit-Frauen aus Marathwada; Tempelprostituierte und Tabakarbeiterinnen aus Nipani und eine große Zahl von Lehrerinnen, Journalistinnen, Krankenschwestern, Sozialarbeiterinnen, Gewerkschafterinnen, Politikerinnen, Studentinnen und Forscherinnen mit unterschiedlich radikalem politischen Hintergrund. Seitdem trifft sich das Komitee regelmäßig dreimal im Jahr; jede teilnehmende Organisation entsendet eine Vertreterin. Es hat die Funktion, Aktionsprogramme einzuleiten.

Frauen gegen Vergewaltigung

Die erste Kampagne der sich entwickelnden Bewegung konzentrierte sich auf Polizeigewalt gegen Frauen. Drei Fälle, in denen Frauen von Polizisten vergewaltigt wurden, brachten Hunderte von ähnlichen Vorfällen ans Licht. Aber erst die »Mathura-Vergewaltigung« bewirkte eine landesweite Mobilisierung. Im März 1978 wurde ein 14jähriges Stammesmädchen nachts zur Polizeistation in Chandrapur bestellt, einer kleinen Stadt in der Nähe von Nagpur. Dort wurde sie von zwei Polizisten vergewaltigt. Das Gericht bezeichnete Mathura als ein Mädchen mit »lockerer Moral« und sprach die beiden Polizisten frei. Der Oberste Gerichtshof hob das Urteil auf und verurteilte beide zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis. 1979 intervenierte das Höchste Gericht und stellte fest, Mathura habe dem Geschlechtsverkehr zugestimmt. Diese Entscheidung veranlaßte vier Juraprofessoren der Universität Delhi zu einem offenen Protestbrief an das Gericht. Zur selben Zeit organisierte die Frauenbewegung Versammlungen und Demonstrationen im ganzen Land und diskutierte verschiedene Zusätze zu dem geltenden Gesetz gegen Vergewaltigung. Zwei Schriften wurden dazu veröffentlicht: »Der Entwurf zum Vergewaltigungsgesetz« (The Rape Bill) von einem unabhängigen Rechtsanwaltskollektiv und »Vergewaltigung, Gesellschaft und Staat« (Rape, Society and State) von der Volksunion für Demokratische Rechte (People's Union of Democratic Rights). Auf einer nationalen Konferenz über »Perspektiven der Frauenbewegung« in Bombay im November 1980 stellten die Frauenorganisationen nach einer lebhaften Diskussion folgende Forderungen auf:

  1. eine Frau soll nur in ihrer eigenen Wohnung polizeilich vernommen werden;
  2. sie soll das Recht haben, einen männlichen Verwandten, einen Freund oder eine Sozialarbeiterin hinzuzuziehen;
  3. Frauen, die in Haft genommen werden, sollen an einem ausschließlich Frauen vorbehaltenen Ort festgehalten werden. Gibt es keinen solchen Platz, in einem Kinder- oder Frauenheim, das den Schutz der Frau gewährleistet; 
  4. nach einer Vergewaltigung muß sofort ein medizinischer Bericht über den Zustand des Opfers erstellt werden, mit Aufführung der Gründe für den Zustand des Opfers. Dieser Bericht muß unverzüglich dem Richter zugeleitet werden, um verfälschende Eingriffe zu verhindern; 
  5. das Geschlechtsleben des Opfers ist während eines Vergewaltigungsprozesses als Beweismittel nicht zulässig; 
  6. ein Polizeibeamter, der sich weigert, eine Anzeige aufzunehmen, muß bestraft werden; 
  7. Zustimmung muß, um als Zustimmung zu gelten, absolut frei und freiwillig erfolgt sein; 
  8. wenn es sich bei dem Angeklagten um einen Beamten des öffentlichen Dienstes, einen Polizeibeamten, den Leiter eines Gefängnisses, eines Krankenhauses oder eines Untersuchungsgefängnisses handelt, Geschlechtsverkehr nachgewiesen wurde und die Frau schwört, nicht zugestimmt zu haben, soll das Gericht von der Annahme ausgehen, daß sie nicht zugestimmt hat.

Unter dem Druck der Frauenbewegung setzte die Regierung schließlich im Juni 1980 eine Kommission ein, die die bestehende Gesetzgebung zu Vergewaltigung überprüfen sollte. Ihr Bericht nahm die meisten der oben genannten Vorschläge auf, die sich auf die polizeiliche Vernehmung von Frauen bezogen, fand aber nur wenig öffentliches
Interesse und wurde von der Presse grob entstellt. Bis heute haben die einzigen bemerkenswerten Gesetzesänderungen die Diskretion in bezug auf den Verhandlungsablauf und die Identität des Opfers in einem Vergewaltigungsprozeß zugestanden, die Strafbarkeit für Vergewaltigung in der Ehe eingeführt (allerdings nur, wenn die Ehefrau unter 15 Jahren ist) und die Beweislast dem Täter auferlegt, wenn es sich um einen Vorgesetzten, einen Beamten, den Leiter eines Gefängnisses, einer Untersuchungshaftanstalt oder eines Krankenhauses handelt.
Eine der größten Organisationen, die im Zuge dieser neuen Welle von Aktivitäten entstand, war das »Forum gegen Vergewaltigung« in Bombay, das im Januar 1980 gegründet wurde. Es bestand hauptsächlich aus Frauen der Mittel- und höheren Mittelklasse, die über eine gute Ausbildung verfügten und Erfahrungen mit radikalen Bewegungen hatten, überwiegend Rechtsanwältinnen, Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen, Forscherinnen, Journalistinnen und Lehrerinnen, wenige Studentinnen und Hausfrauen. Die ersten Veröffentlichungen und Kampagnen bezogen sich auf den Mathura-Fall. Aber schon bald verfaßten sie allgemeinere Petitionen, organisierten Ausstellungen, verteilten Flugblätter und machten Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen zum Thema in Straßentheaterstücken und Liedern. Im August 1980 benannten sie sich um in »Forum gegen die Unterdrückung von Frauen«. Selbst die offiziellen kommunistischen Parteien demonstrierten hinter den Fahnen der Anti-Vergewaltigungskampagne, und am 8. März 1981 fanden ihre Forderungen große Resonanz in der Linken. Im ersten Jahr seiner Existenz konnte das Forum mit 60 regelmäßig teilnehmenden Frauen rechnen. Einige Gesichter wechselten seitdem, doch es gibt immer noch einen festen Mitgliederstamm von 30 Frauen und eine wachsende Zahl von Sympathisantinnen.

Aufruf an die breiten Massen

Jede Einschätzung der indischen Frauenbewegung muß zu dem Schluß kommen, daß sie sich in gewisser Hinsicht in einem besseren Zustand befindet als die westlichen Frauenbewegungen, die eine ziemlich introvertierte Tendenz zum Akademismus gezeigt haben. Der auffälligste Unterschied besteht vielleicht darin, daß die Bewegung in Indien ständig bemüht ist, den Feminismus durch eine ganze Skala politischer und kultureller Aktivitäten für die breiten Massen akzeptabel zu machen. Ein Indikator dafür sind die acht wichtigsten feministischen Zeitschriften des Landes: Manushi (Hindi und Englisch), Delhi; Sahla (Bengali), Kalkutta; Apni Azade ke liye (Hindi), Patna; Aawaz Aurat Ki (Hindi), Patna; Samata (Kannada), Bangalore; Anusaya (Gujarati), Ahmeda-bad; Bauja (Marathi), Poona; Maitreve (Englisch), Bombay. In vielen Städten gibt es heute Frauenzentren, in denen Frauen auf der Suche nach emotionaler, medizinischer und juristischer Unterstützung immer Zuflucht finden können. Ein Ergebnis dieser Aktivitäten ist, daß auch der Staat die Frauenfrage ernst nehmen mußte. An den indischen Universitäten schießen Frauenkurse wie Pilze aus dem Boden, und eine Nationale Konferenz über Frauenstudien im April 1981 erregte bei Politikern und Planern ebenso Aufmerksamkeit wie bei Akademikern.
Ein starker Beweis für die Klassendimension der Bewegung war das enthusiastische Echo auf den Dienstmädchenstreik 1981 in Poona. Am 8. Februar traten die Dienstmädchen in den Streik. Sie forderten eine Lohnerhöhung, Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, einen fünfzehnprozentigen Fond zur Unterstützung in Notfällen und zwei bezahlte freie Tage im Monat. Sie forderten die Regierung auf, dafür zu sorgen, daß die Arbeitsgesetzgebung auch auf Dienstmädchen angewandt wird. Sie beschwerten sich über die zahlreichen sexuellen Angriffe, über physische Angriffe gegen Kindermädchen und über falsche Diebstahlsbeschuldigungen gefolgt von Lohnkürzungen. Bis auf fünf gebildete Frauen aus der Mittelklasse waren die auf einer Vollversammlung gewählten Führerinnen der Dienstmädchen-Gewerkschaft selber Dienstmädchen. Nach und nach interessierte sich die Gewerkschaft für andere feministische Aktivitäten wie den Internationalen Frauentag, den Kampf gegen den Alkoholismus der Männer, Sexismus in Filmen und Liedern, frauenfeindliche religiöse Vorurteile. Die Tatsache, daß zu den Unterdrückern der Dienstmädchen auch Frauen aus der mittleren und oberen Mittelklasse gehörten, zwang sie dazu, Klassen- und Geschlechterunterdrückung als verbunden zu begreifen. Viele ihrer Arbeitgeberinnen verkauften selbst ihre Arbeitskraft in Fabriken und Büros, Schulen und Krankenhäusern, und doch konnten sie nicht die Ähnlichkeit zwischen ihrer eigenen Klassenlage und der ihrer Dienstmädchen sehen. So kamen die Widersprüche zwischen den Unterdrückten selbst zum Vorschein. Der Erfolg der Dienstmädchen von Poona inspirierte viele ihrer Schwestern in anderen Städten Indiens.

Gewerkschaften

Die Bindungen zwischen den Frauen und der männlichen Arbeiterklasse würden enorm gestärkt, wenn die Gewerkschaften grundlegende Forderungen aufgriffen. Die Mitgliedschaft von Frauen in den Gewerkschaften ist bislang marginal, zum einen wegen der doppelten Belastung durch Haus- und Lohnarbeit, zum anderen wegen der Entmutigung seitens der Verwandten und der männlichen Gewerkschafter. Die Gewerkschaftsführer zeigten wenig Begeisterung, Kampagnen um Dinge wie Kinderbetreuung, billige Essensmöglichkeiten, erträgliche Arbeitsschichten, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oder geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu organisieren. In der Textilindustrie trafen Gewerkschafter sogar stillschweigende Übereinkommen mit den Arbeitgebern, die Beschäftigung von Frauen auf einem bestimmten Niveau einzufrieren oder in Zeiten der Rationalisierung und Mechanisierung Frauen durch Männer zu ersetzen. Unter diesen Bedingungen haben viele Feministinnen ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, eigene Gewerkschaften zu gründen, aber sie blieben hin-und hergerissen zwischen dem Kampf für Frauenrechte und der Einheit der Arbeiterklasse. Weit verbreitet ist die Vorstellung, die Gewerkschaften nicht frontal anzugreifen, sondern sich innerhalb der Gewerkschaften zu organisieren, um Druck auf die Gewerkschaftsführer auszuüben, damit sie die spezifischen Probleme der arbeitenden Frauen aufgreifen. Die Bildung von Frauengruppen innerhalb der Gewerkschaft CITU [6] ist ein guter Schritt in diese Richtung. Die von der CPI [7] geführte AITUC [8] hat in den letzten Jahren besondere Anstrengungen unternommen, weibliche Mitglieder zu rekrutieren und einen Forderungskatalog für weibliche Angestellte aufzustellen. Die CPI hat auch explizit gefordert, 25% der Arbeitsplätze für Frauen zu reservieren.

Die Rolle der politischen Parteien

Die neuen Frauengruppen, insbesondere seit der Bewegung gegen Vergewaltigung, haben in den letzten zehn Jahren alle politischen Parteien dazu gezwungen, den Problemen der Frauen ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Rechte Organisationen wie die Bharatiya Janata Partei [9] und Rashtriya Seva Sangh [10] haben starke Frauenflügel, die für eine Wiederbelebung der alten indischen Kultur eintreten, mythologische Frauengestalten preisen und anti-islamische und anti-sikh Emotionen anheizen. Vor kurzem hat sogar die Kongreß-Partei begonnen, sich stärker für Frauen zu interessieren, und kurz vor ihrem Tod konnte man von Frau Gandhi demagogische Reden über »Frauenpower« hören. Nachdem Rajiv Gandhi mit bemerkenswerter Unterstützung von Frauen an die Macht gekommen ist, hat er für Mädchen Schulgeldfreiheit bis zum Gymnasium eingeführt und ein eigenes Ministerium für Frauen und Soziales eingerichtet.
Die beiden kommunistischen Parteien haben eigene Frauenorganisationen: Die Nationale Föderation indischer Frauen der CPI (National Federation of Indian Women — NFIW) und die All-Indische demokratische Frauenvereinigung der CPI(M)[11] (All India Democratic Women's Association - AIDWA) und, ebenfalls von der CPI(M), das All-Indische Koordinationskomitee der Arbeiterinnen (All India Coordination Committee of Working Women). Jede Organisation hat ihre eigene Zeitung und rekrutiert Frauen unter den Landarbeiterinnen, Bäuerinnen, Beamtinnen, Arbeiterinnen, Intellektuellen und Hausfrauen. Sie kämpfen für ökonomische Forderungen, Weltfrieden, Säkularisierung, nationale Integration, gegen Grausamkeiten gegen Frauen und Preissteigerungen. Die CPI hat gegenwärtig zwei Frauen in den Leitungsgremien der Partei, und die NFIW organisiert nach eigenen Angaben 750 000 Frauen. Die CPI(M) hat keine Statistiken veröffentlicht, aber es gibt eine marginale Beteiligung von Frauen in ihren lokalen und regionalen Komitees. Frauen beider Parteien arbeiten jetzt in bestimmten Fragen enger mit autonomen Frauengruppen zusammen, aber sie betrachten sie immer noch mit Mißtrauen und halten sie für »apolitisch« oder »männerfeindlich«. Andere linke Gruppen standen der Frauenbewegung sehr feindselig gegenüber, sind aber dabei, ihr früheres Sektierertum schrittweise abzubauen. Die autonomen Frauengruppen haben nach wie vor eine unversöhnliche Haltung gegenüber der Instrumentalisierung durch politische Parteien und deren manipulativen Annäherungsversuchen. Sie weisen jede Art von gönnerhafter Unterstützung zurück. Mit den Frauenorganisationen der verschiedenen Parteien wollen sie aber eine Front bilden. Die Einsicht herrscht vor, daß fundamentale gesellschaftliche Veränderungen nötig sind, um die Probleme der Frauen zu lösen.

Perspektiven

Feministinnen artikulierten in ihren Debatten immer wieder die Sorge, der Staat und seine Institutionen könnten die Frauenorganisationen vereinnahmen. Da sich viele Forderungen der Feministinnen an den Staat richten und von ihm verlangen, Frauen zu schützen, gibt es die Befürchtung, der Staat könnte als eine neutrale Macht erscheinen und der Massenkampf erlahmen. Wie auch immer, wie kann man von einer patriarchalischen herrschenden Klasse erwarten, das Bild der Frau zu verbessern? Könnte ein Verbot von Pornographie, obszöner Literatur und obszönen Filmen nicht gegen die progressiven Kräfte gewendet werden, die versuchen, die Verdummung zu bekämpfen, die sich als »nationales Ethos« oder als »indische Kultur« maskiert? Viele Feministinnen würden argumentieren, daß es angemessener sei, die öffentliche Meinung für einen massenhaften Boykott dieser Filme und Publikationen zu mobilisieren. Es wird auch befürchtet, der Vorschlag, Gewalt gegen Frauen und Verbrechen im Zusammenhang mit der Mitgift in besonderen Verfahren zu verfolgen, könne die Illusion nähren, die gegenwärtige Staatsmaschinerie könnte Frauen Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Das Profil der Frauenkämpfe in der jüngsten Vergangenheit hat uns davon überzeugt, daß die Frauen eine wesentliche Kraft im Kampf für soziale Umwälzungen sein können. Einige werden sagen, die Revolution werde alle unsere Probleme lösen. Das ist ebenso falsch wie unverantwortlich und durch Beispiele aller Revolutionen in unserem Jahrhundert widerlegt. Die Frauenbewegung muß mit all denen gemeinsam kämpfen, die für Veränderungen eintreten. Unser Kampf ist nicht zu trennen von dem der Arbeiter, die den Kapitalismus abschaffen oder von dem der Dalits, die Kastenvorurteile abbauen wollen. Der Sozialismus wird eines Tages die Klassengesellschaft in Indien abschaffen. Eine Frauenbewegung ist unentbehrlich, um sicherzustellen, daß der Kampf für eine nicht-hierarchische Lebensweise dann nicht verschwindet. Denn wir kämpfen für weit mehr als nur für die Abschaffung des Klassensystems, die allerdings eine Vorbedingung ist. Wir kämpfen für die Befreiung aller Menschen.
Aus dem Englischen von Nora Räthzel

Kann die Frauenbewegung eine anti-kommunalistische Kraft werden?*

  • (* Women's Movement and Religion. Zuerst erschienen in:
    Gabriele Dietrich: Women's Movement in India.
    Conceptual and Religious Reflections. Bangalore 1989; gekürzt.)

Während der Internationalen Frauendekade ist das Verhältnis von Frauen und Religion nicht sehr in den Vordergrund getreten. Das ist nicht überraschend, denn in den feministischen Debatten wurde Patriarchat verstanden als Ausbeutung von Frauenarbeit, weiblicher Sexualität und Fruchtbarkeit. Deshalb ist es nur logisch, wenn die Aufmerksamkeit vorrangig ökonomischen Aspekten und der physischen Unterjochung der Frauen gilt. Die Religion ist nur dort ins Blickfeld gerückt, wo es um die Forderung nach einer säkularisierten Familiengesetzgebung ging, die immer wieder gestellt wurde. Bei diesen Kämpfen geht es um das Recht der moslemischen Frauen auf Unterhalt, das Recht der christlichen Frauen auf Scheidung, es geht um den Kampf gegen extrem diskriminierende Erbschaftsrechte, wie sie z.B. im »Travancore Christian Succession Act« niedergelegt sind. Die Forderung nach einem weltlichen Zivilrecht in bezug auf Ehe und Erbfolgerecht ist nicht neu. Schon im Bericht des »Komitees für die Stellung der Frau in Indien« (Committee on the Status of Women in India) von 1975 wurde ein einheitliches Zivilrecht gefordert. Aber zehn Jahre später sind wir seiner Einführung keinen Zentimeter näher gerückt.
Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten: In der letzten Dekade hat der Kommunalismus [12] an Boden gewonnen, und trotz des Blutbades gegen die Sikhs in Delhi, Kanpur und vielen anderen Städten hat es keine der Oppositionsparteien bei den letzten Wahlen für opportun gehalten, die Frage des Kommunalismus in die Debatte zu bringen. Es ist bezeichnend, daß die feministische Zeitschrift Manushi zu denjenigen gehörte, die nach den Anti-Sikh-Unruhen am mutigsten ihre Stimme gegen den Kommunalismus erhoben. Die Frage der Religion wurde jedoch nicht aufgeworfen, weil die Auffassung vorherrscht, die Wurzel des Kommunalismus sei nicht die Religion. Das ist auch richtig, wie eingehende Studien gezeigt haben. Bipan Chandra hat auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß die kommunalistischen Kräfte normalerweise nicht von religiösen Leuten geführt werden und daß Menschen, die in den Dimensionen religiöser Reform denken, meist anti-kommunalistisch sind. Im Rückblick auf die Geschichte des Unabhängigkeitskampfes stellt Chandra fest, daß »Religion weder der Grund noch das Ziel des Kommunalismus war — sie war nur sein Mittel« (1984, 131).
Es ist deshalb wichtig, die Frage zu stellen: Wie ist das Verhältnis der Frauenbewegung zur wirklichen religiösen Reform? Wirkliche religiöse Reform möchte ich als eine Reform definieren, die es Individuen und Gruppen ermöglicht, an weltlichen politischen Prozessen für die Gleichheit aller Bürgerinnen und gegen ökonomische, politische und kulturelle Ausbeutung teilzunehmen, ohne daß sie gezwungen sind, die Glaubensdimension, ihre religiöse Identität, aufzugeben. Darüber hinaus verdichtet die wirkliche religiöse Reform den humanistischen Gehalt einer Religion, so daß sich die Gläubigen anderer Religionen oder Nicht-Gläubige zu diesem humanistischen Gehalt auf ihre spezifische Weise verhalten können. Diese letzte Dimension ist unverzichtbar, um eine reichhaltige weltliche Kultur zu entwickeln.
Die Frauenbewegung hat sich diesem Problem nie ernsthaft gestellt, vielleicht aus drei Gründen:

  1. Die Frage nach einer wirklichen religiösen Reform wird in der allgemeinen Debatte um Säkularisierung normalerweise nicht gestellt. Gewöhnlich wird Religion zu einem finsteren Überbleibsel erklärt, das über Bord geworfen werden muß.
  2. Vor allem Frauen sind Opfer orthodoxer Religion und haben deshalb gute Gründe, gegenüber der Religion im allgemeinen zurückhaltend zu sein. Deshalb überraschte es nicht, als der Saheli im Kielwasser der Unruhen in Delhi eine sehr simple, reduktionistische Sichtweise über das Verhältnis von Frauen und Religion propagierte. Der Artikel endet mit dem Aufruf: »Wir müssen aufhören an einen Gott zu glauben und müssen beginnen, an uns selbst zu glauben, an unser unveräußerliches Recht auf ein anständiges Leben auf dieser Erde. Unser Gott muß ersetzt werden durch unsere Liebe zur Menschheit und unseren Haß auf Ungerechtigkeit.« (1985,6ff.) Eine Demonstration verschiedener Frauengruppen am 8. März (Internationaler Frauentag) in Delhi artikulierte ihre Ansichten über Religion in ähnlicher Weise. Nur ein nachdenklicher Artikel von Ruth Vanita in Manushi (27/1985) stellte diese Form in Frage.
  3. Aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft haben Frauen bei der Ideologieproduktion, insbesondere der religiösen, nie im Vordergrund gestanden. Sie waren selten Theologinnen. Einige waren berühmte Mystikerinnen oder Dichterinnen. Daher ist es kein Wunder, daß die Domäne der religiösen Reform im allgemeinen von männlichen aufgeklärten Individuen besetzt blieb, die zuweilen kreativ genug waren, in ihren jeweiligen Religionen die Stellung der Frau neu zu denken. Die Frage ist, wie weit Frauen selbst in die religiöse Ideologieproduktion eingreifen müssen.

Die Stellung der Frauen in den Religionen muß neu überdacht werden

Obwohl es im Rahmen dieses Textes nicht möglich ist, näher auf die Inhalte der Befreiungstheologie einzugehen, möchte ich doch aus meinen eigenen Arbeitserfahrungen auf diesem Feld einige methodische Prinzipien entwickeln. Vielleicht helfen sie uns, unser Denken für die Frage zu öffnen, wie mit religiöser Tradition umzugehen ist:

  1. Es ist notwendig, religiöse Quellen so weit wie möglich mit den Methoden materialistischer Geschichtsschreibung zu analysieren, d.h. zum Beispiel jede Aussage über Frauen mit ihrer Lage innerhalb der Produktionsverhältnisse der Zeit zu verknüpfen, aus der die Aussage kommt. Wir müssen auch einbeziehen, daß die meisten religiösen Quellen und Geschichtsbücher von Männern geschrieben wurden.
  2. Forschungen über die Rolle der Frau in der Religion können sich nicht primär auf die religiösen Gesetze und ethischen Normen konzentrieren, die den Frauen eine bestimmte festgelegte Position zuschreiben. Die religiösen Gesetze und ethischen Normen beschränken sich auf Ehe und Familie, während die Beiträge der Frauen zur ökonomischen und kulturellen Produktion unterbewertet werden und die Frau nicht als selbstbewußtes Individuum betrachtet, sondern im wesentlichen auf ihren Beitrag als Ehefrau und Mutter reduziert wird. Auf der anderen Seite kennen die meisten religiösen Quellen auch Frauen, die ihr eigenes Leben nach eigenem Ermessen gelebt haben, seien sie unverheiratet, verheiratet oder verwitwet gewesen. Unsere Aufmerksamkeit muß sich auf die Rollen dieser Frauen richten, die es uns erlauben, eine weitergehende Perspektive zu entwickeln. Oft ist es auch nötig, sich auf anthropologische Erkenntnisse zu stützen, die von allgemeiner humanitärer Bedeutung sind, und sie gegen repressive Rollenzuweisungen in die Waagschale zu werfen. So hebt zum Beispiel die biblische Feststellung, daß alle Menschen, Männer und Frauen, nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, andere Aussagen auf, in denen die Frau als dem Mann untergeordnet erscheint (vgl. Dietrich 1985).
  3. Es ist auch wichtig, die Einstellungen und offenen Widersprüche in den meisten konservativen Schriften zu verstehen. Auf der einen Seite wird ein goldenes Zeitalter von Freiheit und Gleichheit in die Vergangenheit projiziert, während auf der anderen Seite Frauen an ein untergeordnetes Leben als Hausfrauen und Mütter gebunden werden. Um mit diesem Widerspruch fertig zu werden, werden Frauen auf einen Sockel gehoben. Diese Art von Entstellung entsteht aus einem realen Widerspruch, der in verschiedenen Produktionsweisen unterschiedlich auftritt. Die Notwendigkeit der Produktion des Lebens (Gebären und Aufziehen von Kindern, lebenerhaltende Arbeiten), die als Aufgabe der Frauen in der Familie gesehen wird, steht in einem Spannungsverhältnis zur Notwendigkeit, die Arbeit der Frauen für die Produktion von Gebrauchswerten und Tauschwerten zu nutzen, was Frauenarbeit außerhalb des Hauses erfordert. Das zugrundeliegende Problem ist hier die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung einerseits und die Aufrechterhaltung des Patriarchats (Kontrolle der Arbeit der Frauen, ihrer Sexualität und Fruchtbarkeit) andererseits. Religion war eine der stärksten Kräfte, die die Institution der patriarchalischen Familie aufrecht erhält. Die religiösen Familiengesetze dienen alle diesem übergeordneten Zweck. Ebenso hat die patriarchalische Familie wiederum die institutionalisierte Religion gestärkt. Diese Allianz zu durchbrechen ist eine vordringliche Aufgabe. Die Frauenbewegung hat bislang nicht einmal versucht, sie in Angriff zu nehmen.

Diese drei Leitlinien sind bis zu einem gewissen Grad auch auf religiöse Symbole anwendbar. Vielleicht wird es nicht immer möglich sein, die historischen Ursprünge eines Symbols zurückzuverfolgen, aber wir können analysieren, wie religiöse Symbole in einem bestimmten sozialen Umfeld funktionieren und wie sie von verschiedenen Klassen angeeignet werden. Sita, die zum Beispiel in den Augen der Orthodoxie das Symbol für die sich selbst opfernde Ehefrau war, bekam durch Gandhis Interpretation die Qualitäten einer eigenwilligen, mutigen Frau, und sie kann vielleicht unmittelbar als Protestsymbol fungieren, wenn sie mit feministischen Augen gesehen wird. Im Indian Express (7.11.1985) hat Bina Agarwal ein sehr bewegendes Gedicht mit dem Titel »Sita, sprich!« veröffentlicht, in dem Sita ermutigt wird, ihre Version der Geschichte zu erzählen. So wie es wichtig ist, die religiösen Texte über Frauen genau zu lesen, die über die sanktionierten Institutionen Familie und Ehe hinausgehen, so ist es auch wichtig, das mythologische Erbe der Religionen zu untersuchen, um kulturellen Konstruktionen auf die Spur zu kommen, die sich in der öffentlichen Meinung finden.
In der tamilischen Kultur gibt es zum Beispiel die weit verbreitete Annahme, die Frauen seien Trägerinnen einer höheren Macht und diese Macht müsse kontrolliert werden, weil sie ohne Kontrolle destruktiv wird. Es wird angenommen, diese Macht der Frauen liege in ihrer Reinheit (karpu), um die Kontrolle der Männer über die Frauen abzusichern. Wenn man sich die Mühe macht, die Tempel-Mythen der tamilischen Nadu (Volksstamm im Bundesstaat Tamil Nadu) zu untersuchen, dann entdeckt man eine uralte Grundlage der Religion einer weiblichen Gottheit, in der die Göttin eine Jungfrau ist oder eine mächtige, unabhängige Einheit, die nach ihren eigenen Rechten lebt. Die sthala puranas [13] kennen viele Versionen, in denen über die Unterwerfung der Göttin berichtet wird, die gewöhnlich mit einer heiligen Eheschließung endet. Dieser Prozeß bezieht sich nicht nur auf Göttinnen, sondern auch auf halb historische Figuren, wie zum Beispiel auf die Amazonenkönigin Alli. Die Erforschung solcher historischen Hintergründe kann ein Protestpotential aufdecken, das bisher unberührt geblieben ist.

Säkularisierung und kulturelle Identität

Ich bin mir schmerzhaft bewußt, daß die Idee, tief in religiöse Texte, Mythen und Symbole einzutauchen, für die meisten Frauen in der Frauenbewegung exotisch klingen muß. Sicher gibt es eine Unzahl drückenderer Probleme. Dennoch gibt es keinen Zweifel, daß der Kampf um säkularisierte Gesetzgebung für den Privatbereich, der in der Frauenbewegung Priorität hat, Teil eines allgemeineren Kampfes um einen säkularisierten Staat und eine nationale Kultur ist. Diese Verbindung ist von einigen feministischen Autorinnen (Balasubramanian 1985) herausgestellt worden, ohne daß sie aber umfassend analysiert haben, was in die Herausbildung einer säkularisierten Kultur eingeht. Die ganze Argumentation neigt dazu, sich auf den juristischen Aspekt zu konzentrieren, wobei die Forderung nach einem säkularisierten Zivilrecht einfach immer wieder erhoben und breit publiziert wird.
Wie unterstützenswert diese Forderung auch ist: ihre Verwirklichung stockt genau wegen des mehr oder weniger subtilen Drucks des Kommunalismus der Mehrheit, der während der Sikhaufstände im November 1984 das Land überschwemmte. Im Wahlkampf fand dieser Kommunalismus seinen Ausdruck in der Anzeigenkampagne der Regierungspartei, die Gewalt und eine Spaltung des Landes heraufbeschwor. Madhu Kishwar und Ruth Vanita haben eine bemerkenswerte Analyse dieses Wahlkampfes gemacht. Dir Ausgangspunkt war die Frage, was Frauen von der Regierungspartei zu erwarten hatten. Obwohl sie den Kommunalismus nicht direkt angegangen sind, wurde in diesem Artikel doch klar, in welchem Ausmaß kommunalistische Tendenzen mit dem patriarchalischen Familiensyndrom und mit dem Phänomen der dynastischen Herrschaft verknüpft sind (Manushi 26/1985). Das ist ein Klima, in dem eine säkularisierte Familiengesetzgebung nicht eingeführt werden kann, weil die kommunalistischen Erschütterungen, die provoziert wurden, um die »hinduistische Stimme« zu bekommen, es erfordern, den »Minderheiten« zu versichern, daß ihre »Rechte« nicht angetastet werden. In Wirklichkeit heißt das, den männlichen Muslims und Christen zu versichern, daß ihre Vorherrschaft in der Familie nicht angetastet wird.
Es ist gut und notwendig, die Sache vom Standpunkt der Gesetzgebung aus anzugehen, wenn es darum geht, Frauenrechte einzuklagen. Trotzdem bleibt das eine Teilforderung. Es geht erst dann um eine allgemeine Frage, wenn die Religionsreform und der Aufbau einer nationalen Kultur vom feministischen Standpunkt aus aufgegriffen werden. Nur so können wir eine eingeengte Sichtweise überwinden. Dies muß allerdings in dialektischer Weise geschehen. Der Frontalangriff von Rationalisten und Teilen der Frauenbewegung auf die Religion führt in die Irre, weil er die Religion zum Erzfeind der Menschheit macht (vgl. Bargava). So wird ein Schreckgespenst aufgebaut, auf das leicht eingeschlagen werden kann, während die Dimensionen von Klasse, Patriarchat und politischem Eigennutz vollkommen unsichtbar bleiben. Diese Strategie ist ein Eigentor. Ruth Vanita (1985) hat richtig hervorgehoben, daß die Opfer der Ausschreitungen gegen die Sikhs sich nicht als Opfer eines religiösen Fanatismus begriffen, sondern sehr wohl die konzertierten Kampagnen von Politikern und Polizei erkannten. Sie warnte auch davor, dem Land eine Spielart von Säkularisierung aufzubürden, wie sie die hinduistische Mehrheit möchte, weil »die Regierung das sowieso schon tut«.
Madhu Kishwar hat kürzlich einen sehr bewegenden Beitrag zum Aufbau einer säkularisierten nationalen Kultur geleistet. In der Veröffentlichung ihrer Eindrücke vom Besuch des Dorfes Longowal und eines Interviews mit Sant Longowal (ein Heiliger der Sikhs) verknüpft sie die spirituellen Qualitäten des Mannes und des Ortes mit einem klaren humanistischen Konzept. In dem Text wird deutlich, daß die Kräfte, die Mord und Fanatismus entfachten, nicht religiös waren, während der humanistische Kern der Sikh-Religion dem Land in der reformierten Fassung nahegebracht wurde, die Sant vertritt. Es wird auch klar, daß diese aufgeklärte religiöse Toleranz sehr viel weniger männlich-chauvinistisch ist als die säbelrasselnde Militanz kommunalistischer Fanatiker. Ich möchte das als ein Beispiel anführen, wie der humanistische Gehalt einer Religion Nicht-Gläubigen und Menschen anderen Glaubens zugänglich gemacht werden kann.
Im Kommunalismus, in der Religion und in der Frauenbewegung wird jeweils dieselbe Frage aufgeworfen, aber unterschiedlich beantwortet: die Frage nach der kulturellen Identität. Der Kommunalismus suggeriert die falsche Vorstellung, daß Menschen derselben Religion automatisch dieselben ökonomischen Interessen haben, unabhängig von Klassenzugehörigkeit oder Geschlecht. Er versucht, dieses Interesse durchzusetzen, indem er sich auf Basis der Religion politisch organisiert. Die Verteidigung eines religiös bestimmten Zivilrechts ist für diese Herangehensweise entscheidend. Die Frauenbewegung unterstellt, daß es in gewisser Weise gemeinsame Interessen aller Frauen gibt und daß die Schranken der Klassenzugehörigkeit, der Kastenzugehörigkeit und der politischen Überzeugungen überwunden werden müssen. Während der Wille, die Klassenschranken zu überwinden, klare politische Entscheidungen zugunsten der armen und ausgebeuteten Frauen zur Folge hat, wird versucht, die Schranken von Kasten und Kommunalismus in voluntaristischer Weise zu überwinden, indem einfach behauptet wird, sie seien künstlich und deshalb irgendwie unwirklich. Die wirkliche religiöse Reform geht mit der Sache dialektischer um: Sie sieht die soziale Realität der Spaltungen durch Kasten und Kommunalismus und identifiziert und bekämpft ihre religiösen Sanktionen. Es wird versucht, das Bedeutungssystem zu überwinden, das solche Spaltungen legitimiert.
Eine Leitfigur wie Dr. M.M. Thomas erklärt, wo immer er ist, Christen könnten keine Kommunalisten sein, weil sie für die neue Menschlichkeit in Christus einstehen müssen und deshalb verantwortlich sind, die Menschenrechte jedes einzelnen zu schützen. Er behauptet, Rationalismus und religiöser Glaube sind aufeinander angewiesen, um ihre gegenseitige Selbstgerechtigkeit zu korrigieren. Da M.M. Thomas' radikale Reden in religiöser Sprache hält, erleidet er oft das Schicksal, weder von Gemeinden (wegen seiner politischen Überzeugungen) noch von weltlichen politischen Bewegungen (wegen seines Glaubens) gehört zu werden. Man muß jedoch auch erwägen, ob der Rationalismus seine eigene Rationalität überhaupt für erwiesen halten kann (die Behauptung z.B., die Religion sei der größte Spalter der Menschheit, ist nicht rational), während ein humanistischer Glaube mit dem Ziel, eine menschliche Gesellschaft aufzubauen, sehr rational sein kann.
Swamy Agnivesh geht ähnlich an die Religion heran wie Thomas. Er war sofort in safrangelber Kleidung auf der Straße, um gegen die Gewalt in den Sikhunruhen zu protestieren. Ebenso wie Thomas verteidigt er sein Eintreten für die Armen und seine politischen Überzeugungen mit theologischen Argumenten. Zugleich stellt er klar, daß politische Prozesse ohne Kontrolle durch religiöse Institutionen stattfinden müssen. Seine gelbe Kleidung und seine religiöse Sprache mögen manchen Rationalisten und auch manchen, der denkt, Vedanta [14] könne nur reaktionär sein, befremden. Auf der anderen Seite erreicht er die Menschen, die sich diesen religiösen Traditionen verbunden fühlen und bietet ihnen Identifikation mit den Armen, mit der Sache der Menschenrechte und mit anti-kommunalistischer religiöser Toleranz, Dinge, die andernfalls außerhalb ihrer Denkweise bleiben würden.
Bei den Muslims ist es Asgkar Ali Engineer, der unermüdlich die humanistischen Traditionen innerhalb des Islam wieder aufgegriffen hat. Für diese Bemühungen hat er einen hohen Preis bezahlt. Von seiten der reaktionären Kräfte war er unmittelbarer physischer Gewalt ausgesetzt. Seine Reinterpretation eines Jihads (Heiliger Krieg) der Befreiung im Gegensatz zum aggressiven Jihad eröffnet eine Dimension sozialer Gerechtigkeit, die von den konservativen Kräften unterdrückt wird. Glaube bedeutet für ihn, die Perspektive der Hoffnung aufrecht zu erhalten. Die Souveränität Gottes steht für ihn nicht in Konkurrenz zum menschlichen Handeln. Im Gegenteil, sie setzt Handlungsenergien frei. Dieser religiöse Humanismus ist zwar selten und gerät unter den Druck der institutionalisierten Religion, aber er ist dennoch ein Ferment kultureller Transformation. Da solche aufgeklärten Individuen offen sind für die Frauenfrage, wird sie manchmal auch von ihnen einbezogen. Eine feministische Dimension von Befreiungstheologie ist jedoch noch nicht in nennenswertem Ausmaß entwickelt worden.
Es gibt noch einen Grund, warum die Frauenbewegung sich intensiver mit der Kulturfrage auseinandersetzen muß. Um den Frauen eine neue Identität anzubieten, eine Identität jenseits der Familie, der Kaste und der Religion, muß die Frage der kulturellen Identität und Kontinuität ernstlich in Angriff genommen werden. Es ist vergleichsweise einfach, die Elemente herauszuarbeiten, die in unserer Kultur für Frauen repressiv und zerstörerisch waren. Wenn man Oberflächlichkeit vermeiden will, muß man aber auch die Frage beantworten, welche Elemente unserer kulturellen Tradition für Widerstand und Menschlichkeit stehen. Das materialistische und rationalistische Erbe herauszuarbeiten, ist nur eine Art, an diese Frage heranzugehen. Der Bestand an Humanismus innerhalb der Religion bleibt auf diese Weise völlig unentdeckt. Auch angesichts der Aufgabe, Kinder vernünftig zu erziehen, stellt sich die Notwendigkeit, diesen Bestand zu nutzen. Frauen in der Frauenbewegung schrecken davor zurück, religiöse Fragen zu berühren, weil sie kommunalistische Reaktionen und Spaltungen fürchten. Das ist tatsächlich ein Problem. Es ist aber etwas anderes, die jeweils eigenen Symbole füreinander zugänglich zu machen. Das kann sehr konstruktiv sein.

Bündnis anti-kommunalistischer Kräfte

Weil Säkularisierung nicht nur eine Teilforderung ist, kann die Frauenbewegung diesen Kampf nicht allein ausfechten. Sie muß sich mit anderen Kräften verbünden, die für die gleiche Sache eintreten. Aber die Kräfte, die zur Zeit versuchen, die Säkularisierung durchzusetzen, sind in keiner Weise homogen.
In Kerala konnte die CPI(M) (Communist Party of India, Marxist) die säkularisierte Zivilgesetzgebung bis zu einem gewissen Grad vorantreiben. In diesem Staat herrscht im Vergleich zu anderen Staaten eine sehr viel günstigere Situation. Die CPI(M) hat hier eine breite Basis, und eine Volksbewegung für Wissenschaft hat dazu beigetragen, ein wissenschaftliches Bewußtsein zu entwickeln. Dennoch schwächen wahltaktische Überlegungen oft die Bereitschaft der linken Parteien, einen klaren anti-kommunalistischen Standpunkt einzunehmen. Das wurde im nationalen Wahlkampf 1984 deutlich. Aufgeklärte Individuen der verschiedenen religiösen Gemeinschaften spielen auch oft eine wichtige Rolle bei der Entwicklung eines anti-kommunalistischen Klimas. Die Dalit-Bewegung und die Bewegung der Stammesmitglieder, die das Kastenwesen scharf angreifen und die Vorherrschaft der hin-duistischen Hauptströmung bekämpfen, leisten ebenfalls einen wichtigen Beitrag zu einer pluralistischen, weltlichen Kultur. Gleichzeitig wird es für sie schwer sein, mit den Kräften dieses Hinduismus, die die religiöse Reform vorantreiben, zurechtzukommen.
Die Frauenbewegung wird wiederum ihre eigenen Schwierigkeiten haben, sich zu all diesen Kräften zu verhalten: Sie wird die aufgeklärten Intellektuellen in ihrem Verhältnis zu Frauen paternalistisch finden, sie wird nicht einverstanden sein mit den Analysen der Partei in bezug auf Klassen und Patriarchat, sie wird die Vorkämpfer der Stämme und der Dalit-Kultur in ihren Vorstellungen über Frauen sehr romantisch finden — für die Steinzeit —, aber nicht sehr hilfreich für die alltägliche Kommunikation. Schließlich und endlich werden wir erkennen, daß wir uns auch innerhalb der Frauenbewegung nur sehr schwer einigen können, wenn es um Fragen der Kultur und der Religion geht. Es gibt keine einfachen Antworten, aber es gibt Indikatoren dafür, daß die Perspektive der Säkularisierung, der religiösen Reform und einer pluralistischen humanistischen Kultur zunehmend Eingang findet in die Frauenbewegung. Wenn die Herausforderung angenommen wird, werden Frauen imstande sein, den entscheidenden Beitrag für den Aufbau eines wirklich humanen säkularisierten Staates zu leisten.

Aus dem Englischen von Nora Räthzel