Die Entwicklung Mexikos
und die Frauenbewegung 1968 bis 1989
Wie überall in der westlichen Welt war das Jahr 1968 auch in Mexiko von Studentenunruhen geprägt. Die Studentinnen traten für mehr Demokratie in allen Gesellschaftsbereichen ein. Das Massaker, das die Polizei am 2.10.68 unter einer friedlich versammelten Menge von 10 000 anrichtete, setzte dieser Bewegung ein blutiges Ende. In den politischen Gremien der Studentenbewegung, auf Demonstrationen und Versammlungen waren Frauen stark vertreten. Die staatliche Gewalt nahm ihnen gegenüber eine ambivalente Haltung ein: auf der einen Seite Geringschätzung und latente Drohungen (»Bloß weil ihr Frauen seid, kommt ihr nicht ins Gefängnis; geht nach Hause«), auf der anderen Seite Brutalität. Verhaftete Frauen wurden oft geschlagen, manchmal sogar vergewaltigt. Dies weist auf die allgemeine gesellschaftliche Ambivalenz der Frau gegenüber hin. Als Ehefrau, Tochter und vor allem Mutter wird sie idealisiert; sobald sie selbstbewußt auftritt und sich politisch betätigt, reagiert man mit Aggressivität. Trotz ihrer Kürze hatte die Studentenbewegung im starren politischen System Mexikos doch einiges in Bewegung gebracht: der Marxismus hielt Einzug in den Hochschulen, vor allem im Bereich der Sozialwissenschaften, und immer mehr Frauen wurden politisch aktiv.
Nach 1968 sind vor allem zwei Daten wichtig für das Verständnis der heutigen Situation: die Erdbeben vom 19. und 20. September 1985 und die Wahlen im Juli 1988.
Das Stadtgebiet von Mexiko-Stadt bildet die größte städtische Zusammenballung, die es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hat: Auf einer Fläche von 2018 Quadratkilometer leben ungefähr 21 Millionen Menschen, die überwiegende Mehrheit unter menschenunwürdigen Bedingungen. In diesem übervölkerten Gebiet kam es am 19. und 20. September 1985 zu mehreren Erdbeben. Tausende (die Schätzungen reichen von 5000 bis 20 000) verloren ihr Leben, 25 000 bis 300 000 wurden verletzt oder obdachlos. Die Rettungs- und Hilfsaktionen, oder vielmehr deren Behinderung, warfen ein deutliches Licht auf die seit langem bestehenden Mißstände in Regierung, Bürokratie und Wirtschaft. Die offizielle Desorganisation und Inkompetenz führten dazu, daß nicht einmal der Einsatz von Expertenteams aus dem Ausland viel ausrichten konnte. Bemerkenswert war die spontane Hilfe großer Teile der mexikanischen Bevölkerung, die unter den Trümmern nach Überlebenden suchten und auf diese Weise vielen Menschen das Leben retteten. Die Probleme, die im Zusammenhang mit dem Erdbeben besonders kraß zutage traten, existierten schon seit langem: schlechte Wohnverhältnisse, ein ungenügendes Gesundheits- und Erziehungswesen, Massenarbeitslosigkeit. Doch die Erdbeben brachten den Mexikanerinnen die Mißstände, mit denen sie so lange gelebt hatten, auf drastische Weise zum Bewußtsein. Die Welle der Solidarität mit den Erdbebenopfern führte in den folgenden Monaten und Jahren zur Entstehung zahlreicher neuer politischer Gruppierungen. Zu erwähnen wären die »Asamblea de Barrios«, eine Art Dachverband der Bewohnerinnen der Elendsviertel, die am härtesten von den Erdbeben betroffen waren, die »Union de Vecinos y Damnificados 19 de septiembre« (Bund der Geschädigten des 19. September) und die Schneiderinnengewerkschaft 19. September, deren Mitglieder zu 90% Frauen sind.
Das schlechte Abschneiden der Regierungspartei PRI bei den Wahlen im Juli 1988 ist unter anderem diesen Organisationen zu verdanken. Um an der Macht zu bleiben, mußte sie ihre Zuflucht zu massiven Wahlfälschungen nehmen; dies war nicht das erste Mal in der Geschichte der PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution). Doch bis zum Juli 1988 war ihre Monopolstellung nie wirklich in Gefahr gewesen. Von daher kann der Wahlerfolg des Oppositionsbündnisses FND (Demokratisch-Nationale Front) und seines Präsidentschaftskandidaten Cuauhtémoc Cárdenas als Zäsur in der Geschichte des Landes angesehen werden. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, daß wir heute in einem anderen Land als dem Mexiko vor dem Juli 1988 leben. Und die Frauen tragen in allen Lebensbereichen ihren Teil zu der notwendigen Umgestaltung des Landes bei. Zur Zeit macht Mexiko eine der schwersten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte durch. Im Einklang mit den Interessen des multinationalen Kapitals hat der Staat ein »Modernisierungs«-Programm beschlossen, dessen Haupteffekt eine noch größere Verschuldung und Abhängigkeit vom Ausland sein wird. Für 1989 geht man von einer Inflationsrate von 51% aus. Unter diesen Umständen kann eine durchschnittliche Familie nicht mehr allein vom Verdienst des »Familienoberhauptes« leben. Daher werden immer mehr Frauen erwerbstätig.
- »1930 betrug der Anteil der Frauen an der lohnarbeitenden Bevölkerung nur 4,6%. Zwanzig Jahre später hatte er sich auf 13,6% erhöht, und 1980 machten Frauen mehr als ein Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung aus (über 6 Millionen).« (Centro de Estudios del Trabajo: Los trabajadores mexicanos. Mexiko-Stadt 1985)
Und diese Tendenz hat sich noch verstärkt. Frauen finden Anstellung vor allem im Handel und im Dienstleistungsbereich. Nach der Volkszählung von 1980 waren über zwei Millionen Frauen in diesem Sektor beschäftigt, also fast die Hälfte. Typische Berufe sind Kellnerin, Kassiererin, Sekretärin oder Verkäuferin. In der Industrie steigt der Frauenanteil langsamer. Er lag 1980 bei etwas über einer Million. Die Mehrzahl der Frauen ist in kleineren und mittleren Manufakturbetrieben zu finden, vor allem in der Textilindustrie. Die typischen Frauenberufe entsprechen den Tätigkeiten, die das traditionelle Rollenklischee Frauen zuschreibt. Dies liegt zum Teil auch daran, daß Frauen keine Möglichkeit haben, sich für andere Berufe zu qualifizieren. Das trifft in verstärktem Ausmaß für die vielen Frauen zu, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen vom Land in die Stadt einwandern. Angesichts der schlechten Bezahlung von Frauenarbeit wäre es für die Zukunft nötig, dafür zu sorgen, daß Frauen eine Berufsausbildung erhalten und daß ihre Löhne denen der Männer gleichgestellt werden. Viele erwerbstätige Frauen, vor allem Teilzeitbeschäftigte und Straßenhändlerinnen, die z.T. ihre Waren selbst herstellen, tauchen in offiziellen Statistiken gar nicht auf.
Die wichtigsten Frauenorganisationen
In einem Land mit starken Gegensätzen zwischen den Klassen, zwischen Stadt und Land, in einem Land mit 56 verschiedenen Ethnien und der daraus folgenden kulturellen Vielfalt ist es schwierig, von »der« Frauenbewegung zu sprechen. Die Wirtschaftskrise trifft jedoch alle, und was die Massen der Armen angeht, so sind ihre Lebensumstände in vielerlei Hinsicht vergleichbar, unabhängig davon, ob es sich um Bäuerinnen, Arbeiterinnen oder kleine Angestellte handelt.
Übereinstimmung innerhalb der Frauenbewegung besteht in den Forderungen nach mehr Demokratie und Respektierung der Wahlergebnisse sowie im Kampf gegen Teuerungen, für bessere Wohnverhältnisse, eine ausreichende Gesundheitsversorgung und gegen die Unterdrückung kultureller Minderheiten. Im folgenden werde ich den Standort der Frauenfrage und einige Frauenorganisationen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen kurz skizzieren.
Indio-Organisationen: Diese entstehen meist auf lokaler Ebene zur Verteidigung des gemeinschaftlichen Landbesitzes. Wenige beschäftigen sich mit der spezifischen Problematik der Frau. Es gibt jedoch eine eigenständige Frauenorganisation, die der Mazahua-Frauen. Die Frauen, die sich hier zusammengeschlossen haben, stammen aus dem gleichnamigen Gebiet im Bundesstaat Mexiko und leben mittlerweile in Mexiko-Stadt, wo sie vom Verkauf selbstgefertigter Handarbeiten (Puppen, Blusen etc.) zu leben versuchen. Ihre Männer, ursprünglich Bauern, arbeiten als Bauarbeiter oder Tagelöhner innerhalb und außerhalb des Landes. Die Mazahua-Frauen sind Opfer der Landflucht sowie der schlechten Arbeitsmarktsituation und gehören zu den Ärmsten und Unterdrücktesten in ganz Mexiko. Sie sind ständig Repressalien von seiten der Polizei ausgesetzt. Im Kampf um die Verteidigung ihres traditionellen Kunsthandwerks werden sie von einigen Organisationen der Linken unterstützt.
Frauen des radikalisierten Kleinbürgertums und Intellektuelle: Hier wäre vor allem auf die Existenz von Frauenstudienzirkeln an verschiedenen Universitäten hinzuweisen. Sie widmen sich der Frauenforschung, verfugen über eigene Publikationsorgane und führen Konferenzen und Veranstaltungen durch. In manchen Fällen erhalten sie Zuschüsse von der jeweiligen Universität. Sie wenden sich mit ihrer Arbeit vor allem an fortschrittliche Intellektuelle. An der Universidad Autonoma Metropolitana in Mexiko-Stadt gibt es eine Gruppe, die medizinische, psychologische und nach Möglichkeit finanzielle Unterstützung für Frauen anbietet, die in irgendeiner Weise Opfer von Gewalt geworden sind. Eine ähnliche Unterstützungsarbeit, vor allem juristischer Art, wird vom Kollektiv der Zeitschrift FEM geleistet.
Politische Organisationen: Die meisten Parteien (einschließlich PRI und PAN) haben inzwischen die Frauen »entdeckt«. Feministische Positionen, wie etwa die Forderung nach Gleichberechtigung und die Straffreiheit bei Abtreibungen, lassen sich allerdings nur bei Organisationen der Linken ausmachen, vor allem in der PRD (Partei der Demokratischen Revolution), in der sich zahlreiche linke Gruppierungen zusammengefunden haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz auf eine der neueren Organisationen eingehen, das Movimiento del Pueblo Mexicano (MPM). Sie entstand im August 1987. Es handelt sich eher um eine Bewegung als eine Partei. MPM hat sich die Aufgabe gestellt, die Wirklichkeit des Landes und die Probleme der Bevölkerung von Grund auf kennenzulernen und ein realistisches Grundsatzprogramm aus der Praxis heraus zu entwickeln. Der Verwirklichung demokratischer Zustände messen sie herausragende Bedeutung zu, betonen aber, die Demokratie lasse sich nicht von oben verordnen, sondern müsse im täglichen Kampf erobert und verteidigt werden.
Seit einiger Zeit hat MPM sich der Arbeit mit Frauen zugewandt. Denn die Hausfrauen sind am unmittelbarsten mit der immer prekäreren Versorgungslage konfrontiert und leisten die Hauptarbeit in Kindererziehung, unentgeltlichen Dienstleistungen und Stadtteilarbeit. Als Arbeiterinnen werden sie noch stärker ausgebeutet als ihre männlichen Kollegen. Ihre Löhne sind geringer, und viele Stellen werden nur mit Männern besetzt. Dazu kommt, daß die meisten arbeitenden Frauen nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Immerhin stellen Frauen inzwischen ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung, in manchen Berufen sind sie überproportional vertreten (z.B. Kosmetikindustrie, Volksschulerziehung, Handel und Dienstleistungsbereich).
Für MPM sind die Frauen die Basis und die treibende Kraft des gesellschaftlichen Wandels. Das Augenmerk gilt vor allem den Frauen, die noch nicht organisiert sind. Aus einer Publikation des MPM (Marcha Nr.l, August 1987):
- »Unsere Hauptprobleme sind nicht individueller, ja nicht einmal familiärer Art, obwohl diese natürlich auch existieren. Die Inflation macht uns immer ärmer; die Verletzung unserer zivilen und Arbeitsrechte ist ein nationales Problem; über 70% der Bevölkerung sind von den schlechten Lebensbedingungen in den Städten betroffen. Jede einzelne von uns wird benötigt, um diese Probleme anzugehen. Gemeinsam werden wir uns den Weg zur legitimen Teilnahme an den Entscheidungen erkämpfen, die das alltägliche Leben des Volkes und speziell der Frauen maßgeblich bestimmen.«
Frauen der städtischen Unterschichten: Frauen sind in großem Maße, oft auch an führenden Stellen in den zahlreichen Organisationen tätig, die in der Stadt zu akuten Problemen oder zur allgemeinen Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen entstehen. Diese Bewegung läßt sich als »movimiento urbano-popular« bezeichnen und ist parteipolitisch unabhängig. Viele der Organisationen entstanden nach dem Erdbeben von 1985. Sie treten mit Demonstrationen, Sit-ins, Versammlungen, Volksfesten u.ä an die Öffentlichkeit — ihr Einfluß wächst. Ein Beispiel aus Mexiko-Stadt: Im Armenviertel San Pedro Märtir wurde vor einiger Zeit das Wasser abgestellt, um es den Pferdeställen der nahegelegenen Militärschule zuzuleiten. Binnen kurzem hatten die Frauen des Viertels sich zu einem Protestmarsch formiert und stellten sich Polizei und Behörden mit dem Ruf entgegen: »Erst unsere Kinder, dann die Pferde!«. Die Frauen, die im movimiento urbano-popular aktiv sind, stellen nicht nur Forderungen. Gemeinsam bauen sie selbst Häuser, Straßen und Schulen.
Im Dachverband »Asamblea de Barrios« gibt es eine eigene Frauenorganisation, »Mujeres de Asamblea de Barrios«. Noch bedeutungsvoller dürfte die Gründung der Koordinationsstelle »Benita Galeana« im November 1988 sein, an der 23 Gruppen, die meisten aus dem Großraum Mexiko-Stadt, beteiligt waren — Stadtteilorganisationen, unabhängige Frauengruppen und Frauenverbände einiger anderer Organisationen wie etwa Gewerkschaften. Auch die »Mujeres de Asamblea de Barrios« arbeiten in »Benita Galeana« mit. Benita Galeana ist übrigens der Name einer Aktivistin, die auch auf der Gründungsveranstaltung der nach ihr benannten Koordinationsstelle anwesend war.
Der Öffentlichkeit stellte sich die Organisation mit einem »Manifest an die mexikanischen Frauen« vor, in dem sie aufruft zum Kampf für Demokratie und Beachtung der Wahlergebnisse, gegen jede Form von Gewalt und für die Schaffung menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ihr Ziel ist eine gerechtere und von mehr Liebe erfüllte Gesellschaft.
- »Als Frauen waren wir in unseren Familien Bürgerinnen zweiter Klasse und haben dort gelernt, was Autoritarismus, Gewalt und Demokratielosigkeit sind ... Wir möchten, daß unsere Stimme gehört wird und daß unsere Erfahrungen berücksichtigt werden, wenn wir Mexikaner und Mexikanerinnen lernen wollen, was Demokratie heißt.« (Aus dem Manifest)
Unabhängige Organisationen: Auch einige unabhängige Organisationen unterstützen Forschung und Arbeit der Frauenbewegung innerhalb ihres jeweiligen Aktionsradius. Ein Beispiel ist das Forum der Mexikanischen Kultur (FCM), das seit fünf Jahren besteht. Es widmet sich vor allem der Erforschung und Verbreitung der Kultur des Volkes und steht daher in enger Verbindung mit Organisationen des movimiento populär sowie fortschrittlichen Intellektuellen und Künstlerinnen. Ähnliche Organisationen findet man heute überall in Mexiko. Ihre Aufgabenschwerpunkte liegen in den verschiedensten Gebieten, wie etwa Ernährung oder Volksgesundheit, um nur zwei weitere zu nennen. Frauen sind zahlreich, oft mehrheitlich in ihnen vertreten. Durch die praktische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen tragen sie zur Entwicklung einer neuen historischen Rolle für die Frau bei.
Aus dem Spanischen von Barbara Hauck
Die feministische Bewegung in Mexiko
Feministische Bewegung ist in Mexiko nicht mit Frauenbewegung gleichzusetzen, sie ist nur eine ihrer Ausprägungen. Die mexikanischen Frauen haben sich aus unterschiedlichen Gründen und im Rahmen des gesamten politischen Spektrums als Frauen organisiert. Wenn man versucht, die demokratischen Kämpfe der Frauen seit dem Wiederaufleben des neuen Feminismus 1970 zu klassifizieren, kann man fünf Stränge ausmachen — die reaktionären Bewegungen, wie die Anti-Abtreibungs-Demonstrationen rechter Frauen oder das Herankarren von Frauen zu Regierungskundgebungen nicht eingeschlossen: 1. die Arbeits- und Gewerkschaftskämpfe von Arbeiterinnen und Angestellten; 2. die Kämpfe von Frauen auf dem Land um Boden, Wasser oder Produktionsmittel;
die Kämpfe, die Frauen traditionell geführt haben, wenn sie sich mit den Auseinandersetzungen ihrer Männer und Genossen solidarisiert haben, indem sie Unterstützungskomitees bilden, oder die zu trauriger Berühmtheit gelangten Komitees der Mütter von Verschwundenen;
die Kämpfe für frauenspezifische Angelegenheiten, die aber spontan entstehen und keine feministische Struktur haben; und 5. die im eigentlichen Sinne feministischen Kämpfe. In diesem Artikel werde ich mich ausschließlich mit diesem fünften Strang beschäftigen.
Die Anfänge: 1970 bis 1976
Der mexikanische Feminismus ist nicht mit der gleichen Stärke in Erscheinung getreten wie der europäische oder nordamerikanische Feminismus. Das erklärt sich zum Teil aus unserer spezifischen nationalen politischen Entwicklung und aus bestimmten Aspekten der sozioökonomischen und kulturellen Realität. Mexiko ist ein Land mit schwach entwickelten bürgerlichen Institutionen aber einer starken machistischen Struktur. Die Linke hat keine stabile politische Praxis, der Einfluß der katholischen Kirche ist groß, unabhängige soziale Organisationen gibt es fast gar nicht. Nur wenige Gewerkschaften werden nicht von der Regierung kontrolliert, und es gibt keine Tradition der Mobilisierung und Bürgerbeteiligung. Vor diesem Hintergrund ist das Auftauchen einer autonomen feministischen Bewegung, so klein sie auch ist, und ihr mehr als 18jähriges Bestehen schon ein Erfolg.
Eine der mobilisierenden Kräfte der westlichen Frauenbewegungen war der Bewußtwerdungsprozeß der Frauen darüber, welche Unterdrückung die Hausarbeit und das Hausfrauendasein bedeuten. In Mexiko war das anders. Die mexikanischen Frauen der Mittelschicht, auch die aus der unteren Mittelschicht und sogar viele Proletarierinnen müssen die Hausarbeit nicht allein machen. Daher können sie die Spannungen, die die Hausarbeit vor allem in der Partnerbeziehung auslöst, weitgehend vermeiden. Da sie eine Hausangestellte haben oder die Mutter, die Schwestern oder andere Familienangehörige bei den täglichen Pflichten und beim Kinderhüten helfen, sind jene Mexikanerinnen mit einer Art »Polster« ausgestattet, das die Auseinandersetzung, die Erschöpfung und all die anderen Probleme abfedert, die durch die Hausarbeit entstehen. Dieses Polster machte aus den politischen Vorschlägen des Feminismus Forderungen ohne Widerhall im Alltag derer, die in der Lage waren, sich damit auseinanderzusetzen: der Frauen der Mittelschicht.
Auch wenn sich zahlreiche Frauen persönlich für »Women's Lib« auf der anderen Seite der Grenze interessierten, so wurde doch erst 1970 die erste organisierte Gruppe gegründet. Unter diesen Frauen waren ehemalige Nonnen, Kommunistinnen, Hausfrauen, Intellektuelle. Auch wenn einige der Frauen nicht damit einverstanden waren, Politik und »persönliche« Fragen zu vermischen, festigte sich die Gruppe innerhalb weniger Monate. Ihr erstes öffentliches Auftreten, unter dem Namen »Frauen in solidarischer Aktion« (MAS), war im Mai 1971 ein Protestakt gegen den Muttermythos (»die Übersteigerung der biologischen Funktion, um ihre Unterdrückung als denkendes und autonomes menschliches Wesen zu verschleiern«). Die Entscheidung auf die Straße zu gehen, bedeutete für die MAS, daß zwei Drittel ihrer Mitglieder die Gruppe verließen. Nach den blutigen Ereignissen vom 10. Juni 1970 [1] hatte es keine politische Gruppe mehr versucht. Als die Behörden der Hauptstadt von der geplanten Demonstration erfuhren, versuchten sie, die Feministinnen von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie boten ihnen zunächst ein »bequemes Theater mit Samtsitzen« für ihr »Festival« an und drohten später damit, daß »die Polizei jedes öffentliche Auftreten verhindern würde«. Ängstlich aber entschlossen führten die Feministinnen die geplante Aktion vor dem Denkmal durch.
Erschwert wurde die Entwicklung eines feministischen Projektes in Mexiko in den ersten Jahren dadurch, daß Männer und Frauen gleichermaßen erhebliche Schwierigkeiten damit hatten, die feministischen Forderungen zu verstehen, die sich auf das Verhältnis von Produktion und Reproduktion bezogen. Es schien unmöglich zu verstehen, daß das, was im Haus geleistet wird, die Fabrikarbeit ergänzt. Wir scheiterten in unserer Arbeit mit Arbeiterfrauen, die die männliche Vorherrschaft in den entscheidenden Positionen der Gewerkschaften anerkannten und Doppelbelastung und sexuelle Belästigungen für »private« Probleme ohne Bezug zu ihrer Arbeitssituation hielten.
Um die Bewegung zu verbreitern, arbeiteten wir Feministinnen von MAS ab 1973 mit Frauen, die zumindest anfangs nicht mit unseren Ideen übereinstimmten und die politisch etwas anderes suchten. Diese Frauen waren meist wie wir: Studentinnen, also Mittelschicht. Da sie die Bewegung nicht brauchten, um die eigene Lebenssituation zu verbessern, lebten die meisten mexikanischen Feministinnen ihr feministisch-Sein als Anspruch mit wenig Widerhall im eigenen täglichen Leben. Ihre Teilnahme blieb eine Frage der Überzeugung, nicht der Notwendigkeit. Neben der Gruppe MAS gründeten sich Anfang der 70er Jahre noch andere Frauengruppen, z.B. das »Zentrum für Information und Humane Entwicklung für Lateinamerika« (CIDHAL). CIDHAL arbeitete zunächst in Verbindung mit fortschrittlichen Kräften der katholischen Kirche (Ivan Mich) und widmete sich im Laufe der Zeit immer mehr der Arbeit mit Frauen aus den Elendsvierteln.
1973 entstand die »Nationale Bewegung der Frauen« (MNM). Es waren vor allem berufstätige Frauen aus dem Medien- und Verlagsbereich, die keine Beziehung zu den linken politischen Parteien hatten, aber zum Teil familiäre und persönliche Beziehungen zu Persönlichkeiten aus den Parteien PRI [2] oder PAN.[3] Ihr vorrangiges Ziel war »die rechtliche, soziale und politische Gleichheit der Geschlechter in allen Bereichen«. Als Gruppe mit einer eher liberalen Konzeption sprach MNM ganz andere Frauen an als die, die das Vorhaben der MAS teilten: »das Leben zu verändern«.
1974 gründete nach einer internen Spaltung ein Großteil ehemaliger MAS-Frauen die »Bewegung für die Befreiung der Frau« (MLM). Der Rest der MAS-Gruppe löste sich auf. Einige ihrer Mitglieder integrierten sich ins Regierungsprogramm zum Internationalen Jahr der Frau. 1975 entstanden innerhalb der Linken zahlreiche neue Frauengruppen, die sich für die Organisation eines Gegenkongresses zu den offiziellen Veranstaltungen zum Jahr der Frau zusammenschlössen. Ende 1975 gab es in Mexiko alle drei Strömungen des Feminismus — die sozialistische, die radikale und die liberale — und innerhalb jeder dieser Strömungen machten Frauen Aufklärungs- und Rekrutierungsarbeit.
Die zweite Phase: 1976 bis 1982
Diese sechs Jahre waren die dynamischste Zeit der mexikanischen Frauenbewegung, nicht nur wegen der zahlreichen neuen Gruppen, die im ganzen Land entstanden, sondern auch wegen der Aktivitäten, die sie durchführten und der öffentlichen Präsenz. Der »Volksfeminismus«, d.h. die Arbeit mit Hausangestellten und Frauen in Armen- und Elendsvierteln, nahm deutlichere Gestalt an. Hier arbeiten vor allem christliche Frauen, Ex-Mitglieder linker Parteien und sozialistische Feministinnen, die sowohl in feministischen Gruppen wie MLM mitarbeiten als auch in Gruppen, die sich noch nicht als feministisch bezeichnen, wie CIDHAL. Diese Frauen organisierten 1980 das 1. Treffen von unterprivilegierten Frauen (aus Elendsvierteln, Kleinbäuerinnen, Indiofrauen, Fließbandarbeiterinnen).
Während der ersten Jahre der Bewegung haben sich einige von uns gewundert, daß es in unseren Gruppen keine Lesben zu geben schien. Die lesbischen Genossinnen hatten wohl Hemmungen, angesichts der erdrückenden heterosexuellen Mehrheit in der Bewegung offen zu ihrem lesbisch-Sein zu stehen. Ende 1976 wurde dann offensichtlich, daß die Lesben einen eigenen Raum brauchten, und es entstanden die Gruppen Lesbos, Oikabeth und Acratas. Sie verstanden Lesbisch-Sein nicht nur als eine bestimmte Form der Sexualität: »Lesbisch-Sein reduziert sich nicht auf die Gefühlsbeziehung, sondern schließt eine neue Herangehensweise ans Leben mit ein, nämlich die Verweigerung, uns der traditionellen Frauenrolle zu unterwerfen.« 1982 entstand das Marxistisch-Leninistische-Lesben-Seminar, das im Zusammenhang mit den durch das Erdbeben 1985 geschädigten Näherinnen eine entscheidende Rolle gespielt hat. Auch in der Provinz entstanden zahlreiche neue Gruppen. Feministinnen haben sich organisiert in Oaxaca, Baja California, Coahuila, Morelos, Jalisco, Colima und Michoacán.
Vor allem zwei Gruppen haben das Entstehen der Koalition vorangebracht: die MNM und die neu gegründete »Feministische Bewegung Mexikos« (MFM). Im Oktober 1976 schlössen sie sich in einer Koalition zusammen und griffen damit eine von allen Gruppen gemachte Erfahrung auf: die Notwendigkeit, die Kräfte zu vereinigen und Kommunikationsstrukturen unter den Feministinnen aufzubauen. Mit der Koalition war nicht die Vereinheitlichung der verschiedenen Strömungen innerhalb der Feministischen Bewegung beabsichtigt, sondern Übereinstimmungen in punktuellen Forderungen. Außerdem sollten nichtorganisierte Frauen die Möglichkeit haben, sich an der konkreten Arbeit zu beteiligen.
1977 glich der Versammlungsraum der Koalition einem brodelnden Kessel von Treffen und Projekten. Das erste gemeinsame Vorhaben war der Kampf um das Recht auf Abtreibung. Das bedeutete eine Auseinandersetzung mit den Kommunisten, die die Feministinnen beschuldigten, »Agenten des Imperialismus« zu sein, indem sie eine so »reaktionäre« und »malthusianische« Forderung stellten. Die Losung der lateinamerikanischen Linken zu der Zeit ist in den Zeilen eines Liedes enthalten: »Gebärt, lateinamerikanische Mütter, gebärt mehr Guerilleros, auf daß sie Gärten pflanzen, wo es Müllhalden gab«.
1976 organisierte die MNM den ersten nationalen Kongreß zur Abtreibung. Zur gleichen Zeit beschloß die mexikanische Regierung angesichts des Drucks, den der Internationale Währungsfonds wegen des Bevölkerungswachstums ausübte, die Auswirkungen von Abtreibungen in Mexiko zu analysieren. Sie bildete eine interdisziplinäre Kommission (GIA), um die Abtreibungssituation in Mexiko zu erforschen, die sich Ende 1976 für die Straffreiheit aussprach für den Fall, daß die Abtreibung freiwillig durchgeführt wurde, und für die Einführung von angemessenen technischen sanitären Normen für einen Eingriff. Die Regierung ließ diesen Vorschlag in der Schublade liegen.
Da eine Abtreibung für die meisten Frauen unerschwinglich bleibt, forderte ein Teil der Bewegung, daß Abtreibung in den staatlichen Krankenhäusern als Teil des öffentlichen Gesundheitswesens durchgeführt werden solle. Diese Position setzte sich durch. Die Abtreibungskampagne wurde zur zentralen Kampfachse für alle feministischen Gruppen. Jede Gelegenheit wurde genutzt, um für die Abtreibung zu demonstrieren. 1978 schlug die MNM vor, am Muttertag einen Trauermarsch von Frauen zu veranstalten. Die Frauen sollten in einem Zug über die bedeutendste Straße von Mexiko-Stadt, Reforma, Trauerkränze bis zum Mütterdenkmal tragen. Der Trauerzug sollte jener Mütter gedenken, die bei mangelhaft durchgeführten Abtreibungen gestorben sind. Dieser Zug wurde zu einer der rituellen Veranstaltungen des mexikanischen Feminismus.
Ein anderes Thema, das die Frauen der Koalition einte, ist der Kampf gegen sexuelle Gewalt. Die MLM baute eine Art Notruf für vergewaltigte Frauen auf. Das »Zentrum zur Unterstützung von Vergewaltigten Frauen A.C.« (CAMVAC) nahm 1977 die Arbeit auf; gemeinsam mit mexikanischen Ärzten und Anwälten wurden Informationen zusammengetragen. 1978 wurde der erste Ausbildungskurs für Frauen veranstaltet, die vergewaltigte Frauen betreuen sollten. 1979 wurde ein Notruf-Telefon eingerichtet, 1980 bekam das Zentrum eigene Räume. Die Koalition baute ein gutes Verhältnis zu den Gerichten auf, wodurch sie einige Verbesserungen erreichte: Freiwillige des CAMVAC dürfen in Gerichtsprozessen anwesend sein und können die Vergewaltigungsopfer begleiten. Vor allem wurde durchgesetzt, daß die Namen von vergewaltigten Frauen nicht mehr an die Presse weitergegeben werden.
Ende 1975 gab es in der MLM eine Spaltung. Eine kleine Gruppe wollte das Büro schließen und alle Kräfte in die Veröffentlichung einer Zeitschrift stecken. So entstand im September 1976 La Revueita. Die Zeitschrift lebte zwei Jahre, aber die Aufklärungsarbeit von La Revueita dauert an. 1979 und 1980 veröffentlichten die Mitglieder des Kollektivs Artikel in der neuen Tageszeitung der mexikanischen Linken Unomasuno und koordinierten dort sogar eine Frauenseite. Ebenfalls im September 1976 gab Alaide Foppa,[4] zusammen mit Margarita Garcia Fores und anderen die Feministische Zeitschrift (FEM) heraus. Dies Projekt unterscheidet sich wesentlich von La Revueita. Intellektuelle Frauen und Schriftstellerinnen schlugen eine analytische Zeitschrift vor, mit namentlich gezeichneten Artikeln und der Mitarbeit von Männern. Die Zeitschrift existiert heute noch. Es gab noch eine Reihe von kurzlebigen Veröffentlichungen, kleinere Zeitschriften. Ein Versuch, der Koalition der Feministischen Frauen eine Stimme zu verleihen, war die Zeitschrift Cihuatl (das Wort für Frau in der Indiosprache Nahuatl). Sie kam über ein halbes Dutzend Nummern nicht hinaus.
Am 8. März 1978 organisierten Feministinnen gemeinsam mit Frauen aus Parteien und Gewerkschaften eine Reihe von Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag. Die Idee wurde geboren, eine gemeinsame Front von Feministinnen und militanten Frauen aus Parteien und Gewerkschaften zu bilden. Schon an ihrem Namen — für die Befreiung und die Rechte (FNALIDM) — wird die Breite des Spektrums deutlich, das einbezogen werden sollte. Als bei der Gründungsversammlung 1979 aber zwei lesbische Gruppen (Lambda und FHAR) der Front beitraten, bedeutete das den Austritt der Frauen aus der Nationalen Frauenunion, die die Beteiligung von Lesben nicht tolerierten.
1979 wurde der Gesetzesvorschlag zur Abtreibung, den die Feministinnen 1977 vorgelegt hatten, überarbeitet. Die Kommunisten, die zum ersten Mal im Parlament vertreten waren, sollten ihn einbringen. Bei der Ausarbeitung des neuen Entwurfes kam es zu unerwartet heftigen Auseinandersetzungen über die Frist, die für Abtreibungen festgesetzt werden sollte. Schließlich einigten sich die Frauen auf eine 5-Monats-Frist. Die Kommunisten veränderten den Entwurf dann noch einmal und setzten die Frist auf drei Monate herab. Im November wurde der Entwurf unter Beibehaltung des feministischen Namens »Freiwillige Mutterschaft« vorgelegt.
Die Koalition und FNALIDM zeigten bald Ermüdungserscheinungen. Einer der Hauptgründe für das allmähliche Aufreiben der Koalition war die Nicht-Anerkennung demokratischen Vorgehens, wenn Schwierigkeiten auftauchten. Auch die Beziehung zu den Gruppen in den Provinzen war mangelhaft, und es gelang nicht, eine nationale Koordination aufzubauen. Das bohrende Problem der Führung, das bisher wenig analysiert worden ist, hatte in diesem Zersplitterungsprozeß ein bedeutendes Gewicht. Der Ausgangsfehler, die Stimme aller an einige wenige zu delegieren, war nicht nur politisch uneffektiv, sondern auch zu einer Art Bremse für die politische Entwicklung von einigen von uns geworden.
Die dritte Phase: 1982 bis 1988
Etwa ab 1982 kann man einen Wandel in der Bewegung feststellen: die Auswirkungen der Krise werden spürbar. Die ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen den Frauen werden deutlicher. Und obwohl der Feminismus die Einheit der Frauen gegen die machistische Unterdrückung vertritt, gehen in der dritten Phase der Bewegung mehr Frauen eine Klassenallianz mit den Männern ein als eine Geschlechterallianz untereinander. Darum ist es nicht erstaunlich, daß sich in dieser Phase deutlich eine sozialistische Tendenz, der Arbeit mit Frauen aus Elendsvierteln und unteren sozialen Schichten, innerhalb der Bewegung herausbildet. Es entstehen zahlreiche Gruppen, wie z.B. CIDHAL Mexico, die nicht als feministische Gruppen gegründet werden, sondern als Frauengruppen, die aus einer deutlichen Klassenperspektive Arbeit mit Frauen machen. Später gründen einige Feministinnen das feministische Solidaritätskomitee zur Unterstützung der durch das Erdbeben geschädigten Näherinnen. In dieser Phase kommt es außerdem zu einer Konsolidierung des Feminismus im akademischen Bereich. Das Interdisziplinäre Programm für Frauenstudien (PICM) wird am Colegio de Mexico gegründet (1983), und in der Psychologischen Fakultät der Nationalen Universität von Mexiko-Stadt entsteht das Zentrum für Frauenstudien (CEM).
Bei dem Erdbeben am 19. September werden in Mexiko-Stadt Hunderte von kleinen Nähwerkstätten, die für große Firmen zugeschnittene Teile zusammennähen, unter den Ruinen der alten Gebäude im Zentrum der Stadt begraben. Tausende von Näherinnen verlieren ihre Anstellung und sehen sich der Habgier und Gleichgültigkeit ihrer Arbeitgeber ausgesetzt, die erst die Maschinen und dann die Leichen bergen und die sich weigern, ihnen die vor dem Erdbeben gearbeiteten Tage auszubezahlen, indem sie den Bankrott erklären. Das löst eine solche Empörung aus, daß die Näherinnen beschließen, sich vor den Fabriken zu sammeln und keinen Schritt von dort weg zu gehen. Die Feministinnen tauchen am nächsten Tag auf und entfachen eine Diskussion über Arbeitsbedingungen, Arbeitsrecht, Entschädigung. Die Näherinnen entdecken den politischen Inhalt ihres Zorns und entfachen eine Bewegung zur Verteidigung ihrer Rechte, die schon bald die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt. Die Solidarität verschiedenster gesellschaftlicher Sektoren und die ausgezeichnete Berichterstattung in der Presse zwingen die Regierung dazu, das Problem der Näherinnen aufzugreifen und ihrer dringendsten Forderung stattzugeben: der Gründung einer nationalen, autonomen Gewerkschaft. Einige Feministinnen gründen das Feministische Solidaritätskomitee, das als vorrangige Aufgabe die Versorgung der Näherinnen mit Lebensmitteln übernimmt und zahlreiche Personen und Organisationen zur Unterstützung zusammenbringt. Bis heute setzen die Feministinnen ihre Arbeit in der Gewerkschaft und mit den Näherinnen in den Fabriken fort. 1986 entsteht auf der Grundlage dieser Arbeit eine neue Gruppe, die »Frauen in gewerkschaftlicher Aktion« (MAS). Die Mitglieder dieser Gruppe sind Ex-Mitglieder der MLM, der GAMU, einige Frauen von CIDHAL und der PRT (Trotzkisten). Sie definieren sich von Anfang an als feministisch.
Der feministische Einfluß wird deutlich, als nach dem Erdbeben Frauenorganisationen, die vorher nicht feministisch waren, anfangen, selbst feministische Forderungen zu stellen. Zu den Demonstrationen, die traditionell von Feministinnen organisiert werden, wie die am 8. März, am Muttertag und am Tag gegen Gewalt gegen Frauen, rufen die Frauen von CONAMUP (der nationalen Konföderation der städtischen Volksbewegung) und die Gewerkschaft der Näherinnen auf. Von 1986 an sind die Teilnehmerinnen an diesen Demonstrationen vor allem Frauen aus Elendsvierteln und Arbeiterinnen und nur noch ganz wenige »alte« Feministinnen. Heute hat die »sozialistische« Tendenz des mexikanischen Feminismus das stärkste politische Gewicht.
Die Arbeit der Feministinnen »fürs Volk« ist mehrfach kritisiert worden. Eine dieser Kritiken ist, daß die Teilnahme von Frauen aus den Elendsvierteln und von Arbeiterinnen an feministischen Veranstaltungen einen deutlichen Charakter von »Herangekarrtwerden« habe. Leider ist das richtig, aber das muß man den politischen Organisationen ankreiden, die die Frauen herankarren, und nicht den Feministinnen. Eine andere, eher qualitative Frage ist, daß die grundlegenden Forderungen des Feminismus die Lebensbedingungen in den Elendsvierteln nicht hinreichend berücksichtigen.
1986 bildet sich eine Koordinationsgruppe, um das IV. lateinamerikanische Feministinnentreffen vorzubereiten, das im Oktober 1987 stattfindet. Die Diskussion dreht sich vor allem darum, ob das Treffen pluralistisch und demokratisch sein soll, ob alle Frauen daran teilnehmen können, die sich selbst als Feministinnen bezeichnen und daß es keine »Prüfung« gibt, um festzustellen, wer feministisch ist oder nicht. An dem Treffen nehmen mehr als 2.500 Frauen teil, und obwohl beim Abschlußplenum einstimmig die Losung »Wir sind alle Feministinnen« gerufen wird, sind doch während des Treffens viele Beiträge zu hören, die das Gegenteil behaupten. Viele Fragen werden aufgeworfen, die bis heute ohne Antwort geblieben sind, und die darum kreisen, was es bedeutet, feministisch zu sein: Kann man sich feministisch nennen, ohne eine dementsprechende Praxis zu leben? Was tun mit Frauen, die am Frauenthema interessiert sind und die »gegen« den Feminismus sind? Wie sollen wir die Interessen und Bedürfnisse der Feministinnen, die schon Jahre in der Bewegung aktiv sind, mit denen verbinden, die zum ersten Mal davon hören?
Schlußfolgerungen und Perspektiven
Für uns mexikanische Feministinnen hat es einen hohen Preis gehabt, uns in erster Linie dafür einzusetzen, einen Raum und politische Anerkennung innerhalb der Linken zu erobern. Wir haben uns von weitergehenden politischen und sozialen Prozessen ferngehalten. Das hatte zur Folge, daß unsere globale Perspektive mangelhaft und beschränkt geworden ist, und wir konnten keine Strategien entwickeln, um uns in nationale Prozesse zu integrieren. Auch wenn wir mit großer Klarheit unsere antiimperialistische Linie festgelegt haben, haben wir auf nationaler Ebene keine Linie definiert. Unsere Fähigkeit, auf aktuelle Ereignisse zu antworten, ist mangelhaft gewesen und es ist uns nur bei sehr wenigen Gelegenheiten gelungen, politisch präsent zu sein. Ohne daß wir es gewollt hätten, ist unser Kampf mit dem Kampf für Abtreibung gleichgesetzt worden, wobei der ganze feministische Beitrag auf eine einzige Forderung reduziert wird. Es fehlt ein klares feministisches Projekt. Die Bewegung hat sich verstreut und ineffektiv bewegt.
Die Hindernisse, mit denen wir konfrontiert waren, waren enorm. Der Kampf für die Bekanntmachung unserer Perspektiven und unserer Forderungen ist sehr hart gewesen. Dem patriarchalen Benehmen unserer angeblichen Gefährten entgegenzutreten ist aufreibender gewesen als dem reaktionären Sexismus zu begegnen.
Und schließlich ist der mexikanische Feminismus mit allen ihm eigenen Besonderheiten Teil einer internationalen Bewegung und macht ähnliche Prozesse durch. In letzter Zeit hat es eine neue Blüte im Kult um das »Weibchen« gegeben. Das ist zum Teil eine Folge von feministischen Strömungen, die stark fundamentalistisch oder rein kulturell orientiert sind. Zum Teil wird der Feminismus aber auch mißbraucht, um politische Loyalität zu erreichen oder um zu entpolitisieren. In der Politik wird der Feminismus immer noch als Bedrohung angesehen, der man mit der symbolischen Präsenz einiger Frauen entgegentreten muß. Dieser Einsatz von einigen entscheidenden weiblichen Figuren soll zeigen, daß es keine Hindernisse für die Beteiligung der Frauen gibt und daß ihre Selbstorganisation nicht nötig ist.
Die mexikanische Regierung hat ein politisches Programm, das sich in einem wichtigen Teil an Frauen richtet. Im Rahmen eines Modernisierungsvorhabens hat die jetzige Regierung sich vorgenommen, ganz speziell für Frauen neue Räume zu schaffen und ihre Rechte zu verteidigen. Auch wenn dieses politische Vorhaben von entscheidenden Widersprüchen gekennzeichnet ist, bleibt ohne Zweifel, daß es vielen Frauen nützen und sie anziehen wird. Für die Bewegung wird es deshalb wichtig, ihr Verhältnis zum Staat und zur Teilnahme an Regierungsprogrammen viel deutlicher zu definieren.
Auch hier gibt es von seiten der »sozialistischen« Tendenz ein klares Bewußtsein über die Notwendigkeit, als feministische Bewegung an dem Prozeß der Konsolidierung der Selbstbestimmung der Linken, die mit der Volks-Mobilisierung nach der Wahl liiert ist, teilzunehmen. Diese Beteiligung könnte z.B. in der Gründung einer neuen Partei bestehen oder in der organisierteren Teilnahme innerhalb der schon bestehenden politischen Organisationen, vor allem innerhalb der »Mexikanischen Sozialistischen Partei« oder der »Bewegung zum Sozialismus«.
Was tatsächlich unaufschiebbar ist, ist ein rigoroses Arbeiten an der Definition klarer politischer Alternativen, die die jetzigen Forderungen der Frauen artikulieren. Die Mehrheit der Frauen mobilisiert sich aus anderen Gründen. Wir Feministinnen haben gesehen, wie sich tausende von Frauen für die PAN in Chihuahua organisierten. Sie haben dort aktiv mitgearbeitet, ohne eine einzige feministische Forderung zu stellen und unter der Fahne demokratischer Veränderungen. Die Präsidentenwahl von 1988 hat bei tausenden von Menschen einen Bewußtwerdungsprozeß ausgelöst. Mehr als die Hälfte der Wähler waren Frauen. Die Volksbewegung, die durch den Wahlbetrug der PRI und durch den Fortschritt der Linken als aktivster politischer Kraft im Land entstanden ist, hat feministische Gruppen, Frauen in Parteien und Gewerkschaften und unabhängige Frauen dazu bewegt, Möglichkeiten der Beteiligung zu suchen. Ihr Ziel scheint es zu sein, eine gemeinsame Ebene zu finden, auf der die zahlreichen Probleme angegangen werden können, die wir Frauen täglich erleiden. Als Rahmen dafür ist eine nationale Organisation vorgesehen, die als eingetragener Verein mit dem Namen »Frauen im Kampf für die Demokratie« gegründet werden soll.
Wie auch immer das Demokratiekonzept aussehen mag, das so viele Frauen (mehr als 600) zusammenbrachte, so läßt sich doch nicht leugnen, daß diese Frauen sich an der Demokratie als Weg orientieren, um ein emanzipatorisches politisches Projekt zu erreichen. »Demokratie im Land und im Haus«, sagten vor Jahren die Chileninnen, und die Losung ist erneut eine Forderung geworden, die sich in Lateinamerika bemerkbar macht. Die Schwierigkeit mehrerer Gruppen, sich am Aufbau der Demokratie zu beteiligen, hat auch damit zu tun, daß der Feminismus als »revolutionäre« Option angesehen wird und der Kampf um Demokratie als reformistisch. Erst Ende 1988 haben die feministischen Gruppen der sozialistischen Tendenz und einige unabhängige Feministinnen sich vorgenommen, eine Debatte über eine feministische Konzeption von Demokratie zu führen, die unter anderem das Grundrecht der Menschen auf ihren eigenen Körper beinhaltet, was von der Frage der Abtreibung bis zu freier Sexualität reicht.
Heute sieht die feministische Bewegung in Mexiko ihre Fähigkeit, die Frauen politisch zu organisieren, in Frage gestellt, da sie die Fragen, die die Frauen interessieren, nicht anspricht. Auch wenn die Utopie der politischen Einheit der Frauen — mit ihrem Hintergrund eines Paktes der Klassen — immer noch von einigen Gruppen vertreten wird, so erkennt doch die Mehrheit, daß es keine »natürliche« Einheit der Frauen gibt, sondern daß sie politisch aufgebaut sein muß. Auch wenn die Frauen ein spezifisches Frauenbewußtsein entwickeln müssen, um gegen die Unterschiede Frau-Mann zu kämpfen, bleiben viele schon am Anfang dieses Prozesses stehen und begnügen sich mit dem Kult des »Weibchens«. Eine Politik, die in der »Selbstfindung« verwurzelt ist, ist wenig solidarisch mit anderen ausgebeuteten sozialen Gruppen und kaum effektiv. Ein Teil des Preises, den man für diese Politik zahlen muß, ist die Isolierung und die Abgesondertheit, die die Bewegung erlebt hat. Jetzt ist es wichtig aufzuhören, von der Einheit unter den Frauen zu sprechen und ernsthaft die brutalen Unterschiede zwischen den Frauen anzugehen, und auch der Tatsache zu begegnen, daß es in unserem Land große Massen von ausgebeuteten und unterdrückten Männern gibt. Darum fragen wir Feministinnen uns, ob wir nicht die Mühe auf uns nehmen müssen zu verstehen, was die verschiedenen Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen in unserem Land vereint, statt unsere weiblichen Erfahrungen weiter zu vertiefen.
Nach 18 Jahren haben wir immer noch kein Projekt erarbeitet, das den Widerspruch zwischen Produktion und Reproduktion aufgreift, mit Möglichkeiten einer politischen Beteiligung für diejenigen Frauen, die außerhalb der traditionellen politischen Angebote bleiben (Mütter, Hausfrauen, Hausangestellte und Prostituierte). Dafür ist es notwendig, die Hoffnungen und Wünsche der Frauen zu sammeln, die sich in großem Maße auf die Mutterschaft beziehen: Bedingungen schaffen — sowohl im Arbeits- als auch im sozialen Bereich —, die es ihnen erlauben, bessere Mütter zu sein: Arbeitszeiten, die mit der Mutterschaft vereinbar sind, Alternativen für die Kinderbetreuung, soziale Hilfen für Hausarbeiten, eine wirkliche Möglichkeit die Mutterschaft zu wählen. Diese Wünsche zu konkreten Punkten des Kampfes zu machen — Kindergärten, öffentliche Waschsalons und Kantinen, Verhütungsmittel und Abtreibung — ist eine wesentliche Aufgabe, die der mexikanische Feminismus nicht aufgenommen hat. Und er hat es, abgesehen von den schon angeführten Gründen, deshalb nicht getan, weil es so schwierig ist, die Unterschiede zu akzeptieren, mit ihnen zu arbeiten, um ein politisches Projekt zu konstruieren, das sie respektiert: das Projekt einer wirklichen Demokratie, die die Vielfalt versteht, ohne ihre Verpflichtung gegenüber den am meisten Ausgebeuteten zu verlieren; die tolerant ist, ohne dabei aufzuhören, sich über das Leiden und den Mißbrauch zu entrüsten; die solidarisch ist mit anderen Gruppen und sich nicht in ihrem eigenen Kampf einigelt. Vielleicht ist das die aktuelle Herausforderung für den Feminismus, mit seiner Spezialisierung auf den Sexismus zu brechen und den Reichtum seiner Analyse und seiner Praxis auf das gemeinsame politische Terrain zu bringen, und dabei entschieden beizutragen zum Aufbau einer neuen sozialen Ordnung, die nicht nur wir Frauen wollen.
Aus dem Spanischen von Annette von Schönfeld
Geschichte der mexikanischen Frauenbewegung
Historische Leitbilder
Im 20. Jahrhundert gewannen die mexikanischen Frauen den Kampf um politische Gleichberechtigung. 1953 durften sie zum ersten Mal wählen. Ein langer Kampf war zu Ende gegangen, der Jahrhunderte gedauert und viele verschiedene Formen angenommen hatte. Zahllose Frauen haben im Verlauf der Geschichte für diesen Sieg gefochten, doch die Erinnerung an sie ging durch eine männliche Geschichtsschreibung verloren. Heute versuchen einige von uns, diese unverzeihliche Verdrängung aufzuarbeiten; sie durchforschen das Material vergangener Jahrhunderte und rekonstruieren die Geschichte fest vergessener Frauen. Diese Bemühungen tragen entscheidend dazu bei, eine Vielzahl positiver weiblicher Rollenmodelle zu schaffen, die heutige Frauen inspirieren können. Wie Carlos Fuentes, einer der besten mexikanischen» Schriftsteller, formulierte: »Ein Land ohne lebendige Vergangenheit hat keine lebensfähige Zukunft.«
Mexiko hat aus der Vergangenheit zwei mächtige Traditionen geerbt: die alte aztekische und die spanisch-katholische. Wir Mexikanerinnen stehen zwischen diesen beiden Kulturen, sind Mestizinnen im Kampf um eine eigene Identität. Wir stammen sowohl von der spanisch-männlichen Kultur, die die westliche Weltsicht verkörpert, wie von einer weiblichen aztekischen Kultur ab. Wir sind Erbinnen auch dieser »anderen«, von Frauen überlieferten Tradition, die verdrängt und vernachlässigt wurde, weil sie in doppelter Hinsicht als minderwertig galt: zum einen, weil sie nicht katholisch war, zum anderen, weil sie mit Frauen assoziiert wurde. Erst mit der Revolution von 1910, durch die ein neues Nationalgefühl geweckt wurde, rückte die aztekische Tradition wieder stärker ins Bewußtsein.
Bei dem Versuch, die Geschichte der Frauenbewegung in Mexiko von einer feministischen Perspektive her aufzuzeigen, habe ich aus der Vergangenheit Frauenbilder ausgegraben und versucht, ihre versteckte Bedeutung für Frauen heute herauszuarbeiten, angefangen mit Coatlicue. Diese aztekische Göttin, »Unsere Große Mutter«, bekannt auch unter dem Namen »Nuestra Madre Tonanzin«, verkörpert in ihrer Gestalt das Wissen und die Weisheit von Jahrhunderten. Ihre Verdrängung durch den christlichen Gott der Spanier schloß die religiöse Eroberung erfolgreich ab: der spanisch-katholische Gott-Vater herrschte über Coatlicue, die indianische Muttergottheit, die in Guadalupe mit der Jungfrau Maria zu einer Gestalt verschmolz. Doch es war ein oberflächlicher Sieg. Die Göttin, jetzt im Kleid der Maria, wurde von den Menschen weiter in denselben alten Heiligtümern, an demselben festgesetzten Tag und mit denselben traditionellen Maisopfern verehrt. Wir sind die Erbinnen einer Göttin, und fast scheint es paradox, daß Mexiko als Land der »Machos« eine so tiefe Bewunderung erst für die aztekische Göttin und dann für die Jungfrau Maria aufbrachte. Bis heute blieb Maria den Mexikanern wichtiger als Gott der Vater. Das mütterliche Prinzip hat nichts von seiner Bedeutung verloren.
Die paradoxe Situation, unterdrückt und gleichzeitig von zentraler Bedeutung zu sein, ist Teil unserer Tradition. Obwohl die Frauen im vorkolumbianischen und kolonialen Mexiko eine entscheidende wirtschaftliche Rolle spielten, riesige Haushalte führten und aktiv am religiösen Leben teilnahmen, wurden sie nicht als gleichberechtigt anerkannt. Aus dieser Situation entstand aber auch ein Netzwerk sich gegenseitig helfender und unterstützender Frauen. Die starke Gemeinschaft weiblicher Familienangehöriger machte es den Frauen leichter, ihre ohnmächtige und auferzwungene Opferrolle zu ertragen. Nicht alle aztekischen Frauen nahmen ihr Schicksal widerspruchslos hin, einige lehnten sich gegen die schlimmsten Unterdrückungsstrukturen der patriarchalen Gesellschaft auf. Belegt sind z.B. Proteste gegen die doppelte Sexualmoral, die bis heute gilt. In einer Reihe von aztekischen Gedichten, die sich an Frauen richten, wird deutlich, daß Ehebruch verheirateter Frauen — obwohl wahrscheinlich mit Todesstrafe bedroht — häufig vorkam.
Auch in der spanischen Kolonialgesellschaft führte die sexuelle Doppelmoral zu Protesten, ebenso wie die Vorurteile gegenüber gebildeten Frauen. Eine berühmte Frauengestalt jener Zeit ist die Nonne Sor Juana Ines de la Cruz. Im 17. Jahrhundert war sie die bekannteste Kritikerin des Machismus und eine der größten Dichterinnen der spanischen Welt. Sie war die uneheliche Tochter eines Spaniers und einer Mexikanerin und teilt damit das Schicksal aller Mexikaner, die »Söhne und Töchter eines tapferen Eroberers und einer unterwürfigen Indianerin« sind. Sie lernte sehr früh lesen und schreiben. Schon als sie ein junges Mädchen war, zeigte sich ihre literarische Begabung. Sie wurde an den Hof des Vizekönigs in Mexiko City gebracht, wo sie außer in Latein auch in anderen Fächern unterrichtet wurde. Eine frühe und wohl authentische Erzählung handelt von einer glänzend bestandenen mündlichen Prüfung, die die Dreizehnjährige vor 40 führenden Professoren und Autoritäten aus Wissenschaft, Philosophie, Mathematik, Literatur, Theologie und Musik ablegte (Macias 1982). 1669 trat sie in den Orden von St. Jerome ein. Als Nonne fand Sor Juana Zeit und Gelegenheit, sich der Wissenschaft und Literatur zu widmen. In ihrem Kampf für eine einheitliche Sexualnorm und gleiche Bildungsmöglichkeiten für Mann und Frau nahm Sor Juana die heutige Frauenbewegung in Mexiko vorweg. Zu Lebzeiten verehrte man sie als »zehnte Muse Mexikos«. In ihrem berühmtesten Gedicht, das alle Mexikaner auswendig kennen, »Hombres necios ...« (Dumme Männer), richtet sie sich gegen jene männlichen Verführer, die die Frauen dazu bringen, die geltende Moral zu brechen, und sie dann als »schlechte Frauen« diskreditieren. Ihr autobiographischer »Brief an Sor Filotea« plädiert für das Recht der Frauen, Theologie und andere Wissenschaften zu studieren und verurteilt die gängige religiöse Theorie, nach der die Frau als Wurzel des Bösen in der Welt gilt.
Die von Sor Juana entwickelten Pläne für die Ausbildung einer weiblichen Eliteklasse machten im 18. und 19. Jahrhundert einige Fortschritte. Viele berühmte Bildungseinrichtungen wurden im kolonialen Mexiko gegründet, doch bis ins 20. Jahrhundert hinein waren sie hauptsächlich darauf ausgerichtet, die Frauen zu besseren Müttern und Ehefrauen zu erziehen und ihre künstlerischen Fähigkeiten zu verfeinern. Bis auf wenige Ausnahmen konnten Frauen allenfalls Grundschullehrerinnen werden. Es brauchte seine Zeit, bis der Traum Sor Juanas Wirklichkeit werden sollte. Wie sehr die Frauen sich nach besseren Bildungsmöglichkeiten und einer selbständigen Existenz sehnten, zeigt sich an vielen schriftlich belegten Äußerungen von Frauen zu diesem Thema und ihrem unermüdlichen Kampf um Zugang zu den Universitäten.
Ich möchte die Reihe mexikanischer Frauenbilder mit dem Porträt einer zeitgenössischen Frau fortsetzen: Frida Kahlo, die heute weltberühmte mexikanische Malerin. Ihr Leben und Werk repräsentiert die Verknüpfung aztekischer und spanischer Frauentraditionen, in ihrer Gestalt und Malerei spiegeln sich die Möglichkeiten zeitgenössischer Frauen in Mexiko. Auf einem ihrer frühesten Bilder malte sie sich selbst als Zentrum ihres Hauses, als Zentrum Mexikos, als Zentrum der Welt. Entgegen einer Tradition, die Frauen darauf konditioniert, ihren Ehrgeiz zu unterdrücken, war Frida Kahlo extrem ehrgeizig. Sie war davon überzeugt, daß Frauen ihre traditionelle Erziehung überwinden und eine andere, neue Form von Stolz entwickeln müßten, um zu einer Persönlichkeit zu reifen. Frida portraitierte ihre indianische Amme als Verkörperung unseres aztekischen Erbes. Das Bild weist mexikanische Frauen von heute auf die Notwendigkeit hin, sich die alte Kultur zu vergegenwärtigen und stolz auf das indianische Erbe zu sein, das uns von den liebevollen Frauen vermittelt wird, die in der Kindheit für uns sorgen: den »Nanas«.
Die Aufhebung traditioneller Werte durch die mexikanische Revolution prägte Fridas persönliche und künstlerische Entwicklung. Sor Juana hatte davon geträumt, an einer Universität studieren zu können und dafür sogar ihre Mutter gebeten, sie als Mann zu verkleiden. Drei Jahrhunderte später erfüllte sich der Traum: Frida Kahlo war eine der ersten mexikanischen Frauen, die kurz nach der Revolution an der Nationaluniversität studierten (von 2.000 Studenten waren damals 35 Frauen). Nachdem das Land jahrelang unter einer spanischen Kultur gelebt und französische Lebensmodelle kopiert hatte, rollte damals eine Welle neuen Nationalgefühls durch Mexiko. Intellektuelle und Künstler jeder Art waren von dem brennenden Wunsch besessen, die »mexikanische Seele« zu entdecken. Zu jener Zeit entstanden auch die berühmten Wandgemälde von Diego Rivera, Orozco, Siqueiros und — später — Tamayo. Unter dem Einfluß dieser politisch engagierten Künstlergruppe wuchs Frida heran. Mit 18 war sie eine fortschrittliche junge Frau, erfüllt vom Geist des Jahres 1920, sie lehnte die traditionellen Moralvorstellungen in bezug auf Kleidung, Benehmen und Arbeit ab und nahm dafür auch die Ablehnung ihrer Freunde in Kauf. Sie- wollte bewußt als Mexikanerin leben, aber nicht auf konventionelle Art, sondern in Verbindung mit einer freien und selbstbestimmten Form des Lernens, der Arbeit und der Liebe (Herrera 1986).
Doch ein schreckliches Busunglück veränderte ihr Leben grundlegend. Ihr Wunsch nach Mutterschaft wurde für immer zerstört, und sie litt körperlich und seelisch schwer unter den Folgen des Unfalls. Zahllose Operationen folgten bis zu ihrem Tod im Alter von 47 Jahren. Trotz dieser Hindernisse behielt sie ihren eisernen Willen, sie wurde eine berühmte Malerin, engagierte sich politisch für die Belange ihres Volkes und konnte auch die verschwenderische Geliebte und Frau Diego Riveras sein. Ihre Leidenschaft galt der mexikanischen Volkskunst und Kultur, die durch Frida Kahlos Arbeit reicher geworden sind.
Wir mexikanischen Frauen müssen uns unsere Identität selbst schaffen. Die alten Lebensideale haben ihre Gültigkeit verloren. Wir lehnen das weibliche Rollenmodell ab, nach dem Frauen unterwürfig und nur auf Küche, Kinder und Kirche ausgerichtet zu sein hatten. Doch es gibt auch noch keine neuen Modelle. Wir leben in einer Übergangszeit, wir haben die Schwierigkeit, aber auch die Chance, uns für neue Wege des Denkens, der Sprache und der Arbeit entscheiden zu müssen. Coatlicue, die »Große Mutter«, Sor Juana, die weise Gelehrte, und Frida, die Künstlerin und politische Kämpferin, sind einige der weiblichen Spiegelbilder für die mexikanische Frau von heute.
In dieser Tradition steht auch die Arbeit von »La Maestra« (Die Meisterin) Rosario Castellanos, die den mexikanischen Feminismus in seiner heutigen Form entscheidend beeinflußte. Sie erlebte die Entwicklung Mexikos zu einem modernen Staat. Sie wurde geboren, bevor Präsident Cardenas (1934-40) die sozialistische Landreform zur Neuverteilung des Grundbesitzes durchführte und viele, bis heute wirksame sozio-ökonomische Prozesse einleitete. Diese Maßnahmen bereiteten den Boden, auf dem sich später der Kampf um das Frauenwahlrecht, um gleiche Löhne und Bildungsmöglichkeiten entwickeln konnte. Rosario Castellanos schrieb die erste Dissertation über eine weibliche Kultur (1950). Sie setzte sich vor allem für die Indianerinnen von Chiapas ein und schilderte in ihren literarischen Arbeiten das mexikanische Indianerproblem, das darin besteht, die verschiedenen Kulturen in einem schöpferischen Prozeß so zu integrieren, daß sie ihre Identität nicht verlieren. Desweiteren beschäftigte sie sich mit dem Problem der sexuellen Identität, als Frauen noch gar nicht auf die Idee gekommen waren, für ihre sexuelle Selbstbestimmung zu kämpfen — bis heute gestattet man ihnen kaum, über ihre eigene Anatomie Bescheid zu wissen.
1971 wurde Rosario zur mexikanischen Botschafterin in Israel ernannt, und ihre Antrittsrede stellte eine Revolution in der Geschichte Mexikos dar. Rosario forderte die mexikanischen Frauen eindringlich dazu auf, für ihr Recht auf Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung zu kämpfen. Sie verurteilte weibliche Unterwürfigkeit als »verrückte Tugend« und formulierte: »Die Ungleichheit zerstört den Rechtsgeist, die Ungleichheit, die der einen Seite jede Handlungsfreiheit gibt, während die andere in gelähmter Stellung verharren muß.« Eine solche Rede hatte man auf den offiziellen Versammlungen unserer »nationalen Partei« (PRI) noch nicht gehört. Rosario wollte vor allem die rein dekorative Erziehung, die man den Mädchen der Mittel- und Oberschicht gewährte, durch einen stärker praxisorientierten Unterricht ersetzen. Die Frauen sollten befähigt werden, gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu erkennen und zu verändern.
Rosario Castellanos starb bei einem Unfall in Israel, wo sie große Anerkennung gefunden hatte. Sie wurde in der »Ruhmeshalle« in Mexiko beigesetzt; ein öffentlicher Park, eine Schule und ein Literaturpreis sind nach ihr benannt. Ihre Ideen und Taten haben mexikanische Frauen dazu ermutigt, offen gegen die Unterdrückung zu kämpfen. Diese vier mächtigen Frauengestalten: Coatlicue, Sor Juana Ines de la Cruz, Frida Kahlo und Rosario Castellanos, formen ein lockeres Gewebe weiblicher Geschichte vor dem Hintergrund männlicher Schlüsselfiguren.
Ursprünge der Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert gibt es nur vereinzelte feministische Spuren. Die Mexikanerinnen, die im Jahr 1821 bürgerliche Rechte für Frauen forderten, kämpften später auch auf sehen der Liberalen gegen die Konservativen. 1876 gründete Dolores Jimenez »La Comuna«, eine Organisation, die für das Streikrecht und gegen die Frauendiskriminierung kämpfte. (Garcia Flores 1979)
1861 änderte Präsident Juarez im Rahmen seines Regierungsprogramms die Bildungsgesetze: Mädchenschulen wurden gegründet und Frauen konnten nun auch höhere Schulen besuchen. Gegen Ende des Jahrhunderts machte die Schriftstellerin Laureana Wright de Kleinhaus den Gedanken populär, daß bessere Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Emanzipation bedeuteten. Sie gründete und leitete die vielleicht erste feministische Zeitschrift Mexikos: Violetas de Anahuac (1884-1887), in der das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung gefordert wurden.
Auch in der Arbeiterbewegung waren Frauen aktiv, 1880 führte Carmen Huerta den Vorsitz beim zweiten Arbeiterkongreß. Von 1883 bis 1893 veröffentlichte das Magazin El Correo de las senoras regelmäßig Artikel zur Emanzipation und Gleichberechtigung. Von 1895 an kämpfte die Feministin Juana Gutierrez de Mendoza, Tochter einer Eisenbahnerfamilie und mit einem Eisenbahnarbeiter verheiratet, für die mexikanische Revolution. In Zapatas Armee stieg sie zur Coronela auf. Juana setzte sich insbesondere dafür ein, Frauen vor Soldatenübergriffen zu schützen. Sie verband als erste den Gedanken der Gleichberechtigung mit der mexikanischen Revolution. 1905 gründete sie die revolutionäre Zeitung Vesper. Die darin veröffentlichten Manifeste brachten Juana mehrfach ins Gefängnis.
1904 gab es in Mexiko City den ersten feministischen Verein, die »Gesellschaft zum Schutz der Frauen«, die noch im selben Jahr unter der Leitung der Lehrerin Correa Zapata eine Zeitung mit dem Titel Mexikanische Frauen herausbrachte. 1906 wurde die Internationale Frauengesellschaft »Cosmos« gegründet.
Während der Revolution von 1910 übernahmen die Frauen traditionelle Dienstleistungstätigkeiten: sie arbeiteten als Krankenschwestern, bei der Nachrichtenübermittlung, beim Drucken von Propagandamaterial, sie nähten Uniformen und Flaggen, halfen bei der Waffenverteilung und in sozialen Einrichtungen. Doch es gab auch Frauen, die Truppen anführten, die hohe militärische Funktionen bekleideten und z.B. im Rang eines Coronels standen. Einige von ihnen, wie z.B. Carmen Serdan und Elvia Carrillo Puerto erwiesen sich als herausragende Führerinnen. 1913 gründeten sie »Die Töchter von Cuauhtemoc«, einen Revolutionsklub für Frauenrechte.
1914 wurde das Scheidungsgesetz verabschiedet. Dem außergewöhnlichen Einsatz des sozialistischen Gouverneurs von Yucatan, Salvador Alvarado, ist es zu verdanken, daß im Jahr 1915 der mexikanische Feminismus in das Regierungsprogramm aufgenommen wurde. General Alvarado rief auch den ersten Frauenkongreß zusammen, der 1916 in Merida stattfand. Die Frauen, Journalistinnen, Lehrerinnen, Angestellte und Arbeiterinnen, die an diesem Kongreß teilnahmen, hatten aktiv in der Revolution gekämpft. Sie wollten die revolutionären Ideale weiter verfolgen und vor allem Frauenforderungen verwirklichen. Ihr Hauptinteresse galt dem Kampf um gleiche Bildungsmöglichkeiten. (Cano 1987)
1919 wurde der Mexikanische Feministinnenrat gegründet, der sich für die politische, soziale und ökonomische Emanzipation der Frau einsetzte, die Organisation brachte eine vierzehntägig erscheinende Zeitung heraus. 1920 fand ein Kongreß der Arbeiterinnen und Bäuerinnen statt. 1923 wurde der erste Nationale Feministinnenkongreß in Mexiko City abgehalten, an dem 100 Delegierte teilnahmen. Die erste und einzige Forderung betraf das Frauenwahlrecht und gleiche moralische Normen für Mann und Frau. 1925 fand in Chiapas der zweite Nationale Feministinnenkongreß statt.
1926 wurde mit Guadalupe Zuniga de Gonzalez die erste Frau zur Jugendrichterin ernannt. 1929 erhielt Ester Chapa als erste Frau eine Vollzeitprofessur an der medizinischen Fakultät der Mexikanischen Nationaluniversität. Ebenfalls im Jahr 1929 ging Palma Guillen als erste weibliche Botschafterin Mexikos nach Dänemark.
1928 wurde unter Präsident Calles das neue Bürgerliche Gesetz (das alte stammte von 1884) verabschiedet, das den Frauen gleiche Bürgerrechte gewährte, wenn ihnen auch die politische Gleichberechtigung noch immer vorenthalten wurde. 1935 bildete sich die sogenannte »Vereinte Front« zur Verteidigung der Frau. Die Organisation rief Frauen aus dem ganzen Land und jedweder Couleur, Sozialistinnen und Katholikinnen, Akademikerinnen und Bäuerinnen, zusammen. Unter der Leitung von Maria del refugio Garcia kämpften sie für das Frauenwahlrecht.
1931 fand in Mexiko City der Erste Nationale Kongreß der Arbeiterinnen und Bäuerinnen statt. 600 parteipolitisch ungebundene Frauen nahmen daran teil. Den Hauptdiskussionspunkt bildete die Forderung nach Gleichberechtigung, aber auch Themen wie Mutterschaft und Hilfe bei der Kinderversorgung kamen zur Sprache. Während des Kongresses zeigte sich zum ersten Mal die Spaltung zwischen liberalen und kommunistischen Frauen. Letztere wollten Frauenforderungen als Teil des Klassenkampfes verstanden wissen, die liberalen plädierten für eine primäre Frauensolidarität. Einige kommunistische Teilnehmerinnen des Kongresses wurden verhaftet, weil sie Regierungsmitglieder als Verräter an der Revolution bezeichnet hatten. (Cano 1987)
In den Jahren von 1920 bis 1930 war das Engagement zahlloser mexikanischer Lehrerinnen ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Frauenbewegung. Diese mutigen, solidarischen Frauen brachten unter großen persönlichen Opfern Dutzende und später Tausende von Frauen dazu, um Schulbildung für die unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen zu kämpfen. Mit ihrem mutigen Einsatz für das Volk zogen sie sich den Zorn der konservativen Kräfte zu. Die Lehrerinnen spielten eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung kulturpolitischer Pläne der Regierung, vor allem durch ihren großen Einfluß in den ländlichen Schulen. Sie bildeten eine progressive Kraft im antiklerikalen Kampf für die Säkularisierung des Landes, so z.B. in den Regierungsprojekten »Sozialistische Erziehung« und »Sexualerziehung«. Viele dieser mutigen Frauen haben auf tragische Weise für ihre fortschrittlichen Ideale bezahlt, als sie von den sogenannten »Christlichen Soldaten« der Katholischen Revolution mißhandelt, vergewaltigt und ermordet wurden.
In den folgenden Jahren wurde es still um die Bewegung. Das änderte sich grundlegend erst, als der Rat der Vereinten Nationen im Jahr 1975 die Frauendekade ausrief. Die erste Internationale Frauenkonferenz wurde in Mexiko City abgehalten. Den thematischen Schwerpunkt bildete die Diskriminierung von Frauen in allen Teilen der Welt. Unter dem Motto: Gleichheit, Entwicklung und Frieden wurde ein weltweites Aktionsprogramm aufgenommen, das in der Konferenz von Nairobi 1985 gipfelte. Das Treffen von Nairobi bildete eine Zwischenstation auf dem langen Weg mexikanischer Frauen, der im 17. Jahrhundert begonnen und über die Suffragetten des 19. Jahrhunderts zum antikolonialistischen Kampf unserer Tage geführt hat. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Treffen in Mexiko 1975 und Kopenhagen 1980 gab es in Nairobi kein einheitliches Zukunftskonzept mehr: die individualistische Position westlicher Feministinnen prallte auf die stärker gesellschaftspolitisch orientierte Konzeption, die in unterschiedlichster Form von den Ländern der Dritten Welt vertreten wurde. (Lourdes/Arizpe 1986)
Der Feminismus und die Linke
In den 70er Jahren erstarkten mexikanische Feministinnen zu neuer Kraft. Als Frauenbewegung traten sie erstmals 1971 öffentlich in Erscheinung. Die Arbeit der Gruppe »Frauen in solidarischer Aktion« bildete die Grundlage der heutigen Frauenbewegung. Von 1971 bis 1974 bemühte sie sich in einem Prozeß wachsender Unabhängigkeit um eine autonome Position innerhalb des linken Spektrums. Sie verstanden Feminismus als Teil des Klassenkampfes, doch innerhalb der Linken wurden ihre Forderungen ständig als kleinbürgerlich und sektiererisch abgetan. Man beschuldigte sie, imperialistisch und yankeefreundlich zu sein, weil sie für die straflose Abtreibung kämpften. Die Frauen der Gruppe waren ehemalige oder aktive Mitglieder der Kommunistischen Partei, der Internationalen Partei (Trotzkisten) und maoistischer Gruppen. Bedeutsam war wohl auch die Tatsache, daß viele dieser Frauen emotional an Männer der linken Bewegung gebunden waren. Sicher lag hier einer der Gründe für die ständigen Zweifel an der Legitimation und Notwendigkeit einer unabhängigen Frauenbewegung. Immer wieder tauchten Fragen auf. Warum eine Frauengruppe? Worin besteht die Legitimation unserer Bewegung? Welche Bedeutung hat eine feministische Bewegung angesichts der mexikanischen Realität? Auslösendes Moment war die Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten, der die mexikanischen Frauen trotz aller Schwierigkeiten folgen wollten.
1975 kam die Frauenbewegung der Linken einen großen Schritt voran, nicht in erster Linie wegen des Internationalen Frauenjahres, sondern aufgrund eines neuen linken Frauenbündnisses. Da Feministinnen linker Gruppen auf internationaler Ebene dieselben Forderungen vertraten wie die Frauen in Mexiko, nahm die Regierungspartei PRI als erste Partei Mexikos diese Forderungen in ihr Programm auf. Die Frauenstatute der IV. Internationale, vor allem in Frankreich und den USA, wurden in Mexiko offiziell anerkannt und eine Frauenkommission gegründet. Es kam es zu einem Bündnis zwischen Frauen der PRI und trotzkistischen Feministinnen. Diese neue Gruppe übernahm die gesamte Öffentlichkeitsarbeit der Partei. Ihr ist es auch zu verdanken, daß der Kongreß zum Internationalen Jahr der Frau nicht Regierungsinteressen zum Opfer fiel, die darin vor allem eine Möglichkeit sah, über die Einladung prominenter ausländischer Politikerfrauen Kontakte zu einflußreichen Staatsmännern zu knüpfen. Die neue feministische Gruppe widersetzte sich dieser geplanten Manipulation der Teilnehmerinnen und organisierte einen Gegenkongreß.
1975 entstand aufgrund italienischer Vorbilder die radikale feministische Gruppe »La Revueita«, die die Zusammenarbeit mit hierarchisch strukturierten politischen Parteien ablehnte. 1976 kam es zum ersten Mal zur Zusammenarbeit unterschiedlicher feministischer Gruppen, zu denen auch eine Lesbengruppe gehörte. Die feministische Bewegung läßt sich seither in drei Hauptrichtungen aufteilen: eine reformistische wie die NOW, eine radikale, die im Geschlecht das Hauptkriterium sieht (wie ich) und eine sozialistische bzw. marxistische Strömung.
war ein wichtiges Jahr für den Kampf feministischer Frauen um eine eigenständige Position innerhalb der parteipolitisch organisierten Linken. In jenem Jahr wurde das erste Festival der PCM (Kommunistische Partei Mexikos) abgehalten. Linksgerichtete Feministinnen vertraten inzwischen sehr fortschrittliche Positionen der Frauenrevolution und waren in ihren Forderungen sehr viel radikaler als die primär parteipolitisch orientierten Frauen. Sie mußten hart darum kämpfen, überhaupt an den Diskussionen teilnehmen zu dürfen; Frauenfragen sollten erst auf dem nächsten Festival behandelt werden. Zwar gab es zahlreiche Frauengruppen auf dem Treffen: Gewerkschafterinnen, Frauen, die sich für die Freiheit politischer Gefangener und vermißter Personen einsetzten, Frauen, die für freie Universitäten kämpften, doch feministische Forderungen wurden von der Linken nach wie vor als sekundär betrachtet. Trotzdem gelang es den Frauen, ihre spezifischen Forderungen darzustellen.
veranstalteten politisch organisierte Frauen gemeinsam mit Feministinnen zur Feier des Internationalen Frauentages die Konferenz für Frauenangelegenheiten. Dabei entstand die Idee einer gemeinsamen Front (Frente) von politisch organisierten Frauen, feministischen Gruppen und Gewerkschafterinnen. Zu den feministischen Gruppen gehörten das Colectivo de Mujeres und Lucha Feminista. Zu dem dritten Festival der Opposition 1979 wurden die Feministinnen zu den Diskussionen eingeladen. Zum ersten Mal wurde die nationale Parteiführung der PCM in der Rede Amalia Garcias öffentlich von einer feministischen Perspektive aus bewertet.
Innerhalb der Parteien begann der Frauenkampf, bei der PCM kam er aus der Basis, bei der PRT aus der Parteiführung. Die erste Konferenz der Frente fand 1979 statt, die Gruppe nannte sich Nationale Front zur Befreiung und Geichberechtigung der Frau. Zu Auseinandersetzungen kam es, als traditionell eingestellte Kämpferinnen sich weigerten, die offene Haltung der Jüngeren zu Fragen der Sexualität und Homosexualität zu akzeptieren. Doch die neuen Ideen konnten sich schließlich durchsetzen.
Auf dem Festival 1980 kam es zu zwei großen Debatten: eine um das Thema Mutterschaft, die andere zum alten Problem des doppelten Kampfes (Frauenkampf und/oder gesellschaftspolitischer Kampf). Das eigentliche Problem zwischen politischen Parteien und Feministinnen besteht wohl darin, daß die klassenkämpferisch orientierten Frauen innerhalb der Parteien nicht auf Feministinnen angewiesen sind, um ihre Ziele zu verwirklichen. Im Gegensatz dazu wollen und brauchen die feministischen Gruppen den Kontakt mit Frauen, die nicht mit der Linken verbunden sind: sie brauchen die Unterstützung unpolitischer Frauen, auch solcher, die es mit der Angst bekommen, wenn sie eine rote Fahne nur sehen.
In Lateinamerika entstehen Spannungen bzw. Autonomieprobleme zwischen Feminismus und linken Gruppen immer wieder aus der festverwurzelten Überzeugung, daß die Frauenbefreiung mit den Kämpfen der ausgebeuteten Klassen verbunden sein muß. Aufgrund der viel größeren wirtschaftlichen Not als z.B. in Europa oder den USA haben Feministinnen traditionell mit linken Gruppen zusammengearbeitet, was dazu geführt hat, daß es letzten Endes keine Frauenbewegung gibt, die einzig mit Fraueninteressen und nicht gleichzeitig mit kommunistischen Ideen identifiziert würde. (Lamas 1981)
Der mexikanische Feminismus ist einen langen Weg gegangen, um den Herausforderungen standhalten zu können. 17 Jahre sind vergangen, seit mit der Entstehung autonomer Frauengruppen aus der Linken die mexikanische Frauenbewegung zu neuem Leben erwachte. Die Gründung von FEM ist ein Meilenstein in der Geschichte der mexikanischen Frauenbewegung. Die Loslösung von der Linken und die Existenz von FEM bilden die Grundlage der Frauenbewegung in ihrer heutigen Form. FEM ist eine feministische Zeitung, die sich mit dem Befreiungskampf mexikanischer Frauen beschäftigt. Die erste Ausgabe erschien im Oktober/Dezember 1976. Die Zeitung wird ausschließlich von Frauen geschrieben und publiziert. Sie will die Geschichte des Feminismus rekonstruieren und die Welt davon in Kenntnis setzen, was auf diesem Gebiet in Mexiko und Lateinamerika geschieht. FEM ist nicht das Sprachrohr einer bestimmten Gruppe. FEM glaubt, daß der Frauenkampf nicht getrennt vom Kampf aller Unterdrückten für eine bessere Welt gesehen werden kann.
Der mexikanische Feminismus bildet heute eine autonome Kraft. Der Kampf innerhalb der Bewegung zur Überwindung gängiger autoritärer Stukturen hat sich als außerordentlich fruchtbar für kleine Gruppen erwiesen, aber es ist schwierig, dieses Konzept bei der Organisierung einer nationalen Bewegung umzusetzen. Diese Schwierigkeiten können
die Erfolge der mexikanischen Frauenbewegung nicht schmälern. Es ist ihr gelungen, die Frauenfrage zu einem ständigen Thema in allen Regierungsausschüssen, Parteien, Universitätsdiskussionen und Gewerkschaftskämpfen zu machen. Darüber hinaus hat die Frauenbewegung auch in der Öffentlichkeit ein neues Bewußtsein geweckt, indem sie traditionelle Beziehungsformen, vor allem in der Familie, in Frage stellt. Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird sichtbar, in den verschiedenen Klassen und ethnischen Gruppen (Lamas 1987).
Mexikanische Feministinnen sind gegenwärtig mit drei Hauptthemen befaßt: dem Verhältnis Arbeit-Klasse, klassenunabhängigen Frauenproblemen und der feministischen Theoriebildung. Die Wirtschaftskrise behindert den feministischen Kampf, weil sie Frauen dazu veranlaßt, eher Klassen- oder ethnische Bündnisse einzugehen als feministische. Die Aufgabe der Zukunft wird es sein, den von Mittelschichtsfrauen und Akademikerinnen geprägten Feminismus in eine Kraft zu verwandeln, die die Bedürfnisse der mexikanischen Frauen aller Klassen und ethnischen Gruppen umfaßt, indem wir eine stabile geschlechtliche Identität und eine neue Gesellschaftsordnung schaffen.
Sozialdaten
Mexiko ist ein Land, in dem alle 15 Minuten eine Frau sexuell angegriffen wird. 100 Vergewaltigungen pro Jahr werden angezeigt. Jährlich werden 1.200000 Abtreibungen von den öffentlichen Gesundheitsämtern registriert. Die Abtreibung ist nach dem Gebärmutterkrebs die zweithäufigste Todesursache bei Frauen (einer von vier weiblichen Todesfällen geht auf eine unsachgemäße Abtreibung zurück). Täglich werden vier Frauen (freiwillig oder unfreiwillig) sterilisiert (Daten: IMSS, Staatlicher Gesundheitsdienst). — Drei von fünf Haushalten werden von einer alleinstehenden Frau unterhalten. Wir haben die höchste Rate unverheirateter Frauen Lateinamerikas. — Im letzten Jahrzehnt ist der Anteil der Frauen an der berufstätigen Bevölkerung von 18% auf 25% gestiegen. In den großen Städten ist der Anteil der Prostituierten bei den 18- bis 35jährigen Frauen auf 25% angestiegen. — Von den 20 Millionen stimmberechtigten Bürgern sind über 10 Millionen Frauen. In Städten wie Chihuahua, Puebla, Guanajuato, Zacatecas und Edo de Mexico entscheiden die Frauen den Wahlausgang. — 90% der Werbung richtet sich an Frauen, die die größte Käufergruppe darstellen. — Die Frauen stellen den höchsten Anteil der Analphabeten. Die »Verweiblichung der Unwissenheit« ist heute ein stehender Ausdruck. — In politischen Entscheidungspositionen sind Frauen nur mit 0,03% vertreten. Nur 25 der 400 Landesdelegierten sind Frauen, die meisten von der PRI. — Mexiko wird allmählich zu einem der Hauptzentren industrieller Teilzeitarbeit. Vierzig Industrieparks entstehen in 18 Städten. Frauen mit Kindern bilden den größten Teil der Beschäftigten, doch bei den Problemen der Kinderversorgung gibt es keine offizielle Unterstützung (Lovera 1987).
Aus dem Englischen von Maren Klostermann
Temoatzin:[5] Ein Selbsthilfeprojekt in einem Elendsviertel von Mexiko-Stadt
Die mexikanische Frau wird auf doppelte Weise unterdrückt. Neben der wirtschaftlichen Ausbeutung durch einen abhängigen (neokolonialen) Kapitalismus steht die ideologische Entfremdung durch das patriarchalische System. Im folgenden wird von Erfahrungen die Rede sein, die in einem kleinen Umfeld die ersten kollektiven Schritte von Frauen auf dem Weg zu einer umfassenden Befreiung darstellen. Die Arbeit, die sie leisten, hatte und hat ihre Grenzen, sie ist aber insofern von Bedeutung, als sie aus dem Volk selbst hervorgegangen ist und nach theoretischer Klarheit inmitten der Widersprüche und Beschränkungen der Realität strebt. Diese Erfahrungen sind nur in dem ökonomischen und politischen Kontext des heutigen Mexiko interpretierbar.[6] Bemerkenswert
hierbei ist vor allem, wie viele Frauen sich engagieren bei Demonstrationen, Kursen zur politischen Bildung, bei der Überwachung der Wahlen und im Kampf gegen Wahlbetrug. Die überproportionale Teilnahme von Frauen in Organisationen des movimiento populär [7] ist unbestreitbar.
In den Elendsvierteln am Rande von Mexiko-Stadt wird die schwierige Lage des Landes greifbar. Hier leben über sechs Millionen Mexikanerinnen unter den menschenunwürdigsten Bedingungen des Systems. Barrio Norte, eine der tausend Armensiedlungen der Riesenstadt, befindet sich im Westen genau zwischen zwei bürgerlichen Wohnvierteln, Las Aguilas und Chapultepec. In diesem von der kapitalistischen Erschließung nicht erfaßten Gebiet siedelten sich seit 1970 in völlig unkoordinierter Weise ZuwanderInnen aus den ländlichen Gebieten an.
Barrio Norte ist überbevölkert. Es fehlt jegliche städtebauliche Planung. Besonders gravierend ist die ungeklärte Frage des Bodenbesitzes. Übereilte Maßnahmen von Seiten der Regierung zu einer Regulierung der Eigentumsverhältnisse haben die Verwirrung nur vergrößert: auf einige Parzellen erheben zwei Bauherren Anspruch, mehrere Familien wurden vertrieben, in Teilen des Viertels gibt es keine Straßen, viele Häuser wurden über Gruben errichtet und sind daher ständig vom Einsturz bedroht. Die Menschen leben dichtgedrängt, durchschnittlich werden 100 m2 von drei Familien, d.h. 15 Personen bewohnt.
Um uns nicht zu sehr in statistischen Abstraktionen zu verlieren, betrachten wir einmal, wie eine der Lehrerinnen der Gemeinschaftsvorschule Temoatzin wohnt. Sie ist 23 Jahre alt, unverheiratet und lebt zusammen mit ihren drei jüngeren Geschwistern bei ihren Eltern. Die Wohnung besteht aus einem 20 m2 großen Raum, der gleichzeitig als Schlafzimmer, Wohnzimmer, Eßzimmer und Küche dient. Manchmal werden hier auch die Kinder gebadet, weil dieser Raum besser geschützt ist und einen festen Boden (aus Lehm) hat. Das Dach besteht aus Pappkartons und wird von Holzbalken gestützt. An Mobiliar gibt es ein Ehebett, ein Stockbett, einen Kleiderschrank, einen Tisch, Stühle und einen kleinen Gasofen. Im Hinterhof befindet sich die Toilette und ein Waschraum mit einem Wassertank, es gibt kein fließendes Wasser. Außer den fünf Menschen leben hier auch noch einige Tiere, ein Hund, eine Katze, Hühner, ein Truthahn. Das Haus steht am Flußufer, ganz in der Nähe des Stauteiches, in den die Abwässer des Viertels geleitet werden.
Es ist durchaus nicht unüblich, daß eine ganze Familie über nur einen Wohnraum verfügt. Die vier Frauen zum Beispiel, die für die Vorschule verantwortlich sind, leben alle mit einem bis sechs Kindern in nur einem Zimmer. Meist schlafen die Kleinsten bei ihren Eltern im Bett, und die größeren Kinder teilen sich ein Bett mit Bruder oder Schwester. Den Beziehungen zwischen den Eheleuten und zwischen Eltern und Kindern ist eine solche Wohnsituation natürlich nicht gerade zuträglich. Auch die affektive Entwicklung der Kinder, die keinen Platz für sich selbst haben, leidet darunter.
Hinzu kommt noch, daß in den Armenvierteln die Wohnungen jederzeit für Verwandte und Freunde offenstehen. So teilen Familien sich oft ihren beschränkten Wohnraum noch mit einer anderen Familie oder jungen Leuten, die in die Stadt kommen, um Arbeit zu suchen. Nicht selten bleiben Söhne, die heiraten oder mit einer Frau zusammenleben, bei den Eltern wohnen, an deren Häuschen sie dann vielleicht noch ein »vorläufiges Zimmer« anbauen. Das hat weniger mit Familienanhänglichkeit zu tun als mit der Schwierigkeit, eine eigene Parzelle zu erwerben.
Die Frauen, von denen hier die Rede sein wird, kommen aus ländlichen Familien, die vor Jahren nach Mexiko-Stadt zogen, weil sie sich dort günstigere Lebensbedingungen erhofften (zur Zeit wandern täglich 700 Menschen nach Mexiko-Stadt ein).
Die meisten Familien in Barrio Norte gehören zu jenen 50%, die über kein festes Einkommen verfügen. Den Glücklicheren unter ihnen gelingt es, immerhin den Mindestlohn zu erwirtschaften (ungefähr 100 US-Dollar). Davon müssen Nahrung, Transport, Schulbildung, Kleidung und Medizin für durchschnittlich fünf Personen bezahlt werden. Zur Verdeutlichung hier die Preise einiger Grundnahrungsmittel: ein Liter Milch 1000 Pesos, ein kg Eier 2200 Pesos, ein kg Bohnen 2000 Pesos, ein kg Tomaten 2000 Pesos, ein kg Rindfleisch 13000 Pesos. Man geht davon aus, daß ein Großteil der mexikanischen Bevölkerung fehl- und unterernährt ist. Aufgrund der starken Umweltverschmutzung leiden viele Bewohnerinnen der Hauptstadt außerdem an Erkrankungen der Verdauungsorgane und der Atemwege. Da Hausarbeit »natürlich« Frauensache ist, sind es die Frauen, die den täglichen Kleinkrieg gegen das Verhungern ihrer Familien führen. Dazu haben sie zahlreiche Überlebensstrategien entwickelt. Die Palette reicht von individuellen Lösungen wie der Streckung der Nahrung durch Mehl, damit wenigstens die Bäuche voll werden, auch wenn die gesunde Entwicklung der Kinder unter dieser Ernährung leiden muß, bis zum Zusammenschluß Dutzender von Frauen, die billige Lebensmittelgeschäfte und die Bezuschus-sung von Grundnahrungsmitteln fordern oder gemeinsam einkaufen und kochen.
Da ihr Beispiel typisch ist, werde ich hier das Leben einer der Frauen anführen, die aktiv am Aufbau des Gemeinschaftslebens beteiligt war. Sie wurde in einem Dorf im Bundesstaat Oaxaca geboren. Als Mädchen kam sie mit ihren älteren Geschwistern nach Mexiko-Stadt und wohnte dort bei Verwandten. Zwei Jahre Volksschule in ihrem Heimatdorf waren ihre einzige Schulbildung. Ihre Eltern, Bauern, waren so arm, daß sie ihr nicht einmal einen Bleistift hatten kaufen können. In Mexiko-Stadt arbeitete sie zunächst als Hausangestellte oder »Dienstmädchen«. Im Alter von 15 Jahren heiratete sie.
Jetzt hat sie sieben Kinder, von denen eines an Gehirnlähmung leidet. Ihr Mann, der nie die Schule besucht hat, arbeitet seit 20 Jahren als Hilfsarbeiter in einer Zementfabrik, wo er die Zementbehälter reinigt. Weil die Arbeitsbedingungen ausgesprochen schlecht sind, ist er oft krank. Der Lohn liegt an der untersten Grenze. Um die Grundbedürfnisse der Familie einigermaßen befriedigen zu können, muß die Frau sich einiges einfallen lassen. Seit kurzem hat sie einen kleinen Laden, d.h. einen kleinen Tisch vor der Haustür, an dem sie Süßigkeiten verkauft. Oft besteht die Mahlzeit der Kinder nur aus Bohnentortillas und Kaffee. Alle Kinder haben Schwierigkeiten in der Schule und haben schon öfter ein Schuljahr wiederholen müssen. Die Frau ist sehr aktiv in der politischen Organisierung der Siedlung. Sie nimmt an allen Kundgebungen und Versammlungen teil, denn sie ist sich der Tatsache bewußt, daß die Armen ihre bedrückenden Lebensumstände nur dann ändern können, wenn sie sich zusammenschließen und gemeinsam kämpfen.
Die Bürgervereinigung »Trino de Ave«:[8]
»Wir sind ein Volk, das erwacht«
Mitglieder verschiedener Basisgemeinden [5] gründeten vor acht Jahren die Bürgervereinigung »Trino de Ave« (TAV) als eingetragenen Verein. Sie wählten diese Rechtsform, um mehr Einflußmöglichkeiten und Zugang zu öffentlichen Geldern im Dienste der Verbesserung der Lebensbedingungen in Barrio Norte zu erlangen. TAV ist inzwischen aus Barrio Norte nicht mehr wegzudenken. Die Vereinigung hat sich mit den verschiedensten Problemen befaßt, jedoch nie die Ausgangsidee aus den Augen verloren, in Hinblick auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel Organisations- und Aufklärungsarbeit auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet zu betreiben.
Zur Zeit besteht die Vereinigung aus 16 Mitgliedern, zehn Frauen und sechs Männern. Sie treffen sich einmal die Woche, um Aktionen zu koordinieren und sich die betreffenden theoretischen Kenntnisse (in Soziologie und Methodologie) anzueignen. Es geht demokratisch zu, alle haben die gleichen Rechte und Pflichten. Die ständigen Aktivitäten der Vereinigung sind: Dienst im gemeinschaftlichen Lebensmittelladen und Durchführung von Konsumentinnenmassenveranstaltungen, mit denen sie ca. 1.000 Familien erreichen; Dienst in der Gemeinschaftsschule auf zwei Ebenen: Bildung der Kinder und der Mütter; Beratung und Unterstützung zweier kleiner Kooperativen, die Süßigkeiten und eingelegte Chilischoten herstellen; Betrieb einer eigenen Kooperative, in der Lebensmittel hergestellt werden. Daneben wird TAV auch aktiv, wenn es um aktuelle Forderungen und Probleme geht wie z.B. Transportwesen, Wahlen und der Kampf gegen Wahlfälschungen. Sie führt auch kulturelle Veranstaltungen zu traditionellen Feiertagen und Feste durch, sowie Solidaritätsaktionen mit anderen Basisgruppen.
Die Ideale der Basisgemeindenbewegung: Gläubigkeit, Dienstbereitschaft und Pflichtbewußtsein, leiten die Mitglieder bei der Bewältigung ihrer zahlreichen Aufgaben. Für die praktische Arbeit haben sich »drei Schritte« bewährt, die aus der dialektischen Methodologie der Volkserziehung übernommen wurden: von der Realität ausgehen, theoretische Kenntnisse aneignen, zur Realität zurückkehren. Von der Realität ausgehen bedeutet, das Umfeld eines Problems, die Praxis und die Auffassung von der Praxis, die die Gruppe hat, zu berücksichtigen, und zwar in einer Fortbildungsveranstaltung ebenso wie in einer Versammlung oder einem Workshop. Die Aneignung theoretischer Kenntnisse meint das Nachdenken über die Ursache von Problemen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen. Diese Phase wird ergänzt durch eine vertiefende Betrachtung, während derer die Gruppe sich mit theoretischen Ansätzen beschäftigt, die für das weitere Vorgehen nützlich sein können. Zur Realität zurückkehren bedeutet, die Praxis neu zu hinterfragen. Das schließt eine Änderung auf aufklärerischer und organisatorischer Ebene ein. Die in der zweiten Phase gewonnenen theoretischen Einsichten werden nun dazu eingesetzt, das weitere Handeln im Hinblick auf das Ziel wirkungsvoller zu gestalten.
Gemeinschaftsschule Temoatzin:
»Die Frau kämpft, die Welt ändert sich«
Zum Tag des Kindes 1987 regte TAV in den Basisgemeinden Diskussionen darüber an, wie die Kinder in Barrio Norte leben, was sie brauchen, ob die Erwachsenen sich ausreichend um sie kümmern. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Es stellte sich heraus, daß die Kinder vernachlässigt und Verwahrlosung und Gewalt ausgesetzt sind. Der Alltag in Barrio Norte bietet ihnen keine Gegenwart und keine Zukunft. — Viele Frauen arbeiten außer Haus. Die noch nicht schulpflichtigen Kinder lassen sie eingesperrt im Haus oder den ganzen Tag auf der Straße zurück. Der Fall einer Frau wurde berichtet, die bei der Heimkehr von der Arbeit ihr Papphaus abgebrannt vorfand. Zwei ihrer Kinder waren ums Leben gekommen. Die Nachbarinnen hatten das Feuer erst bemerkt, als es schon zu spät war.
Bei den Diskussionen herrschte Übereinstimmung darüber, daß die Kinder das letzte Glied in einer Kette der Ungerechtigkeiten sind. An ihnen entladen sich die Spannungen der Eltern angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der Gewalt, die sie umgibt. Der betrunkene oder neurotische Vater schlägt die Mutter, die Mutter gibt die Schläge an die Kinder weiter, die sich nicht wehren können. Das Fehlen einer Vorschule in Barrio Norte kam zur Sprache. Die Eltern, die Geld und Interesse daran haben, daß ihre Kinder eine vorschulische Erziehung erhalten, müssen sie in andere Stadtviertel schicken, was neben den hohen Schulgebühren zusätzlich Geld für Busfahrten erfordert. In einem Stadtteil mit 40000 Einwohnerinnen gibt es keine schulische Einrichtung oder Betreuungsmöglichkeit für Kinder unter sechs Jahren.
Ausgehend von diesen Erkenntnissen arbeitete TAV weiter zu dem Thema. Eine Kommission von sechs Frauen wurde ernannt, die Vorschläge ausarbeiten sollte, wie die Lage der Kinder in Barrio Norte verbessert werden könnte. Im Rückblick ist es schon bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit die Verantwortung an Frauen delegiert wurde, sobald es um Kinder ging. Das traditionelle Bild der Frau als Mutter, die Auffassung, daß die Frau die Fürsorgepflicht für das Leben hat, das sie gebiert oder gebären könnte, war unhinterfragt übernommen worden. Die Kommission bestand aus vier Mitgliedern der TAV sowie zweien von »Cactus« (eine Unterstützungsorganisation für Basisgruppen). Drei der TAV-Frauen sind verheiratet und haben Kinder, die vierte ist ledig. Wir zwei Frauen von Cactus sind verheiratet und kinderlos. Wir alle verfügen über jahrelange Erfahrung in der Stadtteilarbeit und hatten eine gemeinsame religiöse und ideologische Grundlage. Der Vorschlag, den wir der Vereinigung schließlich unterbreiteten, war die Einrichtung einer Gemeinschaftsvorschule. Um erste Informationen zu sammeln, sahen wir uns ähnliche Projekte anderer Frauengruppen an: die Vorschule »Nezahualpilli« in Ciudad Nezahualcoyotl, einem Stadtteil von zwei Millionen Einwohnerinnen im Osten von Mexiko-Stadt, und das Centro de Educación Infantil Populär (CEIP). CEIP ist ein größeres Projekt, es besteht seit mehreren Jahren und betreibt Vorschulen in vier ländlichen Gemeinden und vier Siedlungen in Mexiko-Stadt.
Es war sehr anregend, die Erfahrungen mit diesen Projekten kennenzulernen und vor allem auch zu wissen, daß da Frauen waren, die uns mit Rat und Tat zur Seite stehen würden. Wir entschieden uns schließlich dafür, die Frauen von CEIP um Unterstützung zu bitten, ohne aber den Kontakt mit Nezahualpilli abzubrechen. Das Gefühl der Verbundenheit mit bestehenden Gruppen war sehr wichtig.
Die wesentlichen Merkmale der Gemeinschaftsvorschule, die wir dann aufbauten, sind folgende: Die Erzieherinnen oder Lehrerinnen sind Frauen aus dem Viertel, die selbst nicht zur Schule gegangen sind, aber speziell darauf vorbereitet wurden, Unterricht zu geben. Bei ihrer Schulung wurde neben der Vermittlung pädagogischer Kenntnisse Wert auf die persönliche Bildung der Frauen und das Eingehen auf gruppendynamische Prozesse unter ihnen gelegt. Der »Lehrplan« für die Kinder ist nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, sie auf die offizielle Schule vorzubereiten, sondern ist, gerade in bezug auf Normen und Wertvorstellungen, als Alternative gedacht. Die Lehrerinnen sollen möglichst aus dem Viertel selbst kommen, weil sie so die besten Voraussetzungen mitbringen, um die Situation der Kinder und ihrer Eltern zu verstehen und an einer Umgestaltung der Verhältnisse im Viertel mitzuwirken. Das didaktische Material ist sehr billig. Mütter und Lehrerinnen stellen es aus Blechdosen, Pappe, Stoffetzen und anderem Abfall selbst her.
Während die künftigen Lehrerinnen den vorbereitenden Schulungskurs besuchten, führten sie eine Untersuchung im Viertel durch. Sie besuchten alle Familien mit Kindern, um mehr über deren Alltagssituation zu erfahren. Es ging dabei um einfache Fragen: Mit was beschäftigen sich die Kinder zu Hause, was spielen sie, wer paßt auf sie auf, wo und wie werden sie gewaschen, an welchen Aktivitäten der Erwachsenen nehmen sie teil usw. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse gingen in die Unterrichtsgestaltung ein.
Dann konnte der erste Kurs beginnen. 42 Kinder waren eingeschrieben. Da wir über keinerlei praktische Erfahrung im Umgang mit einer solchen Menge von Kindern verfügten, kostete es uns am Anfang einige Mühe, die Aufmerksamkeit unserer Zöglinge wachzuhalten und den Unterricht so zu gestalten, wie wir es geplant hatten. Doch mit der Zeit kam auch die Übung. Es gelang uns immer besser, alle vier Elemente (Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Mahlzeiten und freies Spiel) jeden Tag unter einen Hut zu bekommen. Die »Fächer« waren Sachkunde, sprachliche Erziehung, künstlerischer Ausdruck, Spiele und manuelle Geschicklichkeit. Dazu gab es verschiedene »Arbeitsecken«, wie etwa das »Häuschen«, das ein gutes Beispiel dafür ist, wie wir unsere alternativen Vorstellungen in den Schulalltag einbrachten. Hier lernten und spielten Jungen wie Mädchen nämlich Dinge, die üblicherweise als weibliche Tätigkeiten angesehen werden: nähen, bügeln, kochen, Knöpfe annähen, waschen, mit Puppen spielen, sich verkleiden, sich im Spiegel betrachten.
Die Frauengruppe (der Lehrerinnen und der Kommission) begann, über ihre eigenen Beziehungen nachzudenken. Bei der Definition der Zielrichtung unseres Projekts hatten wir herausbekommen, daß uns daran lag, die Kinder, die Eltern wie auch die Lehrerinnen autonom zu machen. Das bedeutet die Überwindung der Bereitschaft, sich befehlen zu lassen, zu denken wie alle. Wir wollten Menschen, die fähig wären, Probleme zu bewältigen, die sich selbstbewußt, kreativ, unabhängig, kritisch, solidarisch und verantwortungsbewußt verhielten. Diese Idealvorstellungen stellten keine geringe Herausforderung für die Frauengruppe dar: Wie sollen wir den Kindern Unabhängigkeit vermitteln können, wenn wir unsere Männer fragen müssen, ob wir in der Vorschule arbeiten dürfen, bzw. wenn wir uns nach dem richten, was »die Leute« sagen? Wie wollen wir erreichen, daß die Kinder und Mütter Selbstbewußtsein entwickeln, wenn wir denken, wir als Frauen und Lehrerinnen seien weniger wert als unsere Männer und die Männer im allgemeinen? Wie sollen die Kinder verantwortungsbewußt und kritisch werden, wenn wir als Mütter ihnen nur beibringen zu gehorchen und auch selbst ergeben unseren Vätern, Ehemännern, Nachbarinnen und Traditionen gehorchen? Wie sollen die Kinder solidarisches Handeln lernen, wenn wir es ihnen in der Familie und im Viertel nicht vorleben?
In der Frauengruppe entstand der Wunsch, sich noch besser auf die Unterrichtssituation vorzubereiten und intensiver zu lernen. Wir starteten einen wöchentlichen Fortbildungskurs, in dem die Themen Autorität, Sexismus in der Erziehung, Sexualerziehung, die Entwicklung des Kindes u.a. behandelt wurden. Auch hier wandten wir die Methoden der Volkserziehung an, die vom Erfahrungshintergrund der Schülerinnen ausgeht und ihn in logisch-dialektischen Schritten theoretisch erweitert.
Schließlich begannen wir, uns regelmäßig mit den Müttern zu treffen. Die Väter waren auch eingeladen, doch für sie ist Kindererziehung Sache der Frauen. Diese unfreiwillige Eingeschlechtlichkeit ermöglichte es uns jedoch, einen wertvollen Raum für Frauen zu schaffen. In einem Zweiwochenrhythmus sprachen wir über unsere Probleme als Frauen, als Mütter, als Arbeiterinnen. Eine eigenständige Frauengruppe entstand. Gesprächsthemen hatten wir genug: Jungen- und Mädchenerziehung, die Beziehung zu unseren Männern, unsere eigene Kindheit, die Wirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf unseren Alltag u.a. Am Ende jeder Sitzung nahmen wir uns vor, eine Änderung in der Praxis herbeizuführen.
Daneben beteiligten wir uns weiterhin aktiv an der politischen Arbeit der Bürgervereinigung. Als Frauen organisierten wir uns in ihr, um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu verbessern, was zur Gründung eines gemeinschaftlichen Lebensmittelladens mit billigen Nahrungsmitteln führte. Wir veranstalteten mehrere Stadtteilversammlungen zum Thema Versorgung. Auch zu anderen Problembereichen haben wir Aktionen unternommen, z.B. Transportwesen, Abwässerbeseitigung, Straßenbepflasterung, Trinkwasserversorgung, Gesundheitswesen. Unser Interesse war ganz unmittelbar, denn es lag uns daran, die von uns traditionell verrichtete Hausarbeit zu erleichtern.
Wir wissen, daß wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Wir müssen mehr über die Zusammenhänge zwischen gesamtgesellschaftlichen Prozessen und unserer Lage als Frauen lernen, wir müssen ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, erfinderisch in der Umsetzung unserer Vorstellungen in Taten sein, wenn wir eine neue Gesellschaft schaffen wollen. Wir Frauen stehen vor der Aufgabe, Subjekte unseres eigenen Lebens und der Gesamtgesellschaft zu werden.
Die Müttergruppe wurde immer stärker in die Arbeit der Vorschule einbezogen. Die Frauen organisierten sich in Kommissionen, um Funktionieren und Weiterbestehen von Temoatzin sicherzustellen, beteiligten sich an der Finanzierung, der Wandzeitung, den Festen, dem Gesundheits- und Küchendienst. Die Lehrerinnengruppe knüpfte zunehmend Kontakte zu Gruppen außerhalb von Barrio Norte. So besuchten wir ein Regionaltreffen der Basisgemeinden, hatten die Gelegenheit zu einem Erfahrungsaustausch mit Frauen aus Nikaragua und sahen uns andere Vorschulprojekte an. Immer wieder konnten wir feststellen, wie viele den gleichen Kampf führen und wie bereichernd und ermutigend es ist, Erfahrungen auszutauschen. Für Frauengruppen, die ein ähnliches Projekt planen, haben wir drei Kurse organisiert und auf diese Weise die Unterstützung weitergegeben, die wir zu Beginn von anderen Projekten erhielten und immer noch erhalten.
Bei unserer Arbeit mit den Kindern lernten wir vor allem, daß wir die Männer nicht ändern können, wenn wir nicht schon jetzt anders auftreten, neue Frauen sind. Neue Frauen mit einem neuen Privatleben, einer neuen Sexualität und einer neuen Auffassung von Mutterschaft und Familienleben, aber auch einem stärkeren Engagement auf politischer und gesellschaftlicher Ebene.
Im Winter 1988 endete das erste Schuljahr in Temoatzin. Diese Zäsur veranlaßte eine Gruppe von sechs Müttern dazu, sich an eine neue Aufgabe zu wagen. Nach all den Diskussionen in der Frauengruppe wollten sie jetzt etwas Praktisches tun und gründeten eine Kooperative. Drei Ziele standen dabei im Vordergrund: als Gruppe weiterbestehen und weiter lernen, Erfahrungen in kollektiver, nichtausgebeuteter Arbeit sammeln sowie die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation. So entstand, mit einem Startkapital von gerade 12.000 Pesos, die Chili-Kooperative. Die Ware wurde an Nachbarn und Verwandte verkauft, die sehr angetan von Qualität und Geschmack waren und gern bei der Kooperative kauften. Nach und nach konnte vom Verkaufserlös Küchengerät angeschafft werden, die Kooperative wurde immer professioneller und braucht sich heute keine Sorgen um ihre Zukunft zu machen.
Die Mitarbeiterinnen der Kooperative werden im nächsten Schuljahr an den neuen Müttergruppen in Temoatzin teilnehmen, um den Frauen zu helfen, ihre Gruppe auch als Frauengruppe zu konsolidieren. Zur Zeit besteht die Müttergruppe aus 30 Frauen, diejenigen, die nur an Versammlungen und Mütterabenden teilnehmen nicht mitgerechnet. Wir hoffen, daß es gelingen wird, auch diese neue Müttergruppe für Stadtteilarbeit und Politik im allgemeinen zu interessieren. Zuerst einmal müssen wir einen Raum für Frauen schaffen, den sie nie hatten und den sie benötigen, um sich ihres Wertes und ihrer spezifischen Lage bewußt zu werden. Dann werden sie ihre eigenen Forderungen mit genügend Selbstbewußtsein in den allgemeinen Kampf um Demokratie und menschenwürdige Lebensbedingungen einbringen können.
Folgerungen
Wir haben eine Art Bilanz über unsere Erfahrungen in dem Vorschulprojekt Temoatzin geschrieben, von der wir denken, daß sie im Hinblick auf die stärkere Einbeziehung feministischer Forderungen und Standpunkte in die sozialen Bewegungen auch für andere Gruppen nützlich sein kann:
Erfolge: Sowohl theoretische Überlegungen als auch die konkrete Teilnahme von Frauen an Aktivitäten der Bürgervereinigung haben zur Entstehung der Frauengruppe beigetragen. Die Frauenbewegung in Barrio Norte ist Konsequenz des Kampfes der Frauen innerhalb des movimiento populär. Im Erfahrungsaustausch mit anderen Frauengruppen, die sich auch primär mit Kindererziehung beschäftigen, wurde uns die Bedeutung der Geschlechterproblematik und des Zusammenhalts unter Frauen bewußt.
Wir entdeckten, wieviel wir beim Kampf um die Befriedigung unserer Bedürfnisse gewinnen können. Die Planung und Durchführung einer gemeinschaftlichen alternativen Kindererziehung hat es Frauen, die vielleicht gerade ein paar Jahre auf der Volksschule gewesen waren, ermöglicht, sich auf vielen Gebieten weiterzubilden.
Die erzieherische Arbeit der Frauen hat innerhalb der Familien und im sozialen Gefüge der Siedlung einiges in Bewegung gebracht. Wir konnten feststellen, daß das Erkennen der spezifischen Frauenproblematik dazu führt, daß Partnerbeziehungen sich verändern, daß Frauen ein besseres Verständnis für gesellschaftliche Prozesse und Zusammenhänge im allgemeinen entwickeln und mit größerer Sicherheit für ihre (nicht nur feministischen) Forderungen eintreten.
Schwierigkeiten: Die Lebensbedingungen der Frauen von Barrio Norte erlauben die Teilnahme an Gruppen nur in besonderen Fällen. Daher sind die Frauengruppen klein und nicht unbedingt repräsentativ für die Gesamtheit der Frauen der Siedlung. Zu begreifen, was es heißt, Frau in einem patriarchalen System zu sein, bringt ungeahnte Probleme im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich mit sich. Nicht alle Frauen sind mit diesen Problemen fertiggeworden. Es erfordert schon einiges an Ausdauer und Erziehungsarbeit, dem Rest der Familie klarzumachen, daß auch sie sich an der Hausarbeit beteiligen müssen, damit die Frau sich Aufgaben außerhalb der Familie widmen kann. Insgesamt stehen wir noch ganz am Anfang. Wir sind so wenige, daß wir noch keinen nennenswerten Einfluß auf die Gesellschaft ausüben können. Aufgaben für die Zukunft: Im Bereich der Frauenbildung müßten neue methodologische Ansätze entwickelt werden. Feministische Positionen müssen zu einem integralen Bestandteil aller sozialer Bewegungen werden. Wir bieten keine Rezepte für Gruppen an, die etwas Ähnliches wie wir vorhaben. Doch die folgenden Prinzipien unserer Arbeit könnten auch für andere Projekte hilfreich sein:
- Die beratende Unterstützung der Frauengruppen liegt in der Hand von Frauen, die aus der selben Siedlung kommen oder bei »Lokalagentinnen«, die die spezifische Situation der Gruppe gut kennen.
- Am Anfang benötigen die Gruppen nicht mehr Ressourcen als die, über die sie schon verfügen: einen Ort, um sich zu treffen, und eine gemeinschaftliche Kasse. Zuschüsse von außerhalb sollten erst in einem späteren Stadium beantragt und angenommen werden.
- Die Arbeit der Frauen entsteht aus einem starken persönlichen und gesellschaftlichen Bedürfnis heraus.
- Auf regionaler und nationaler Ebene gibt es schon Koordinationsstellen von und für Frauen.
Diese müssen wir unterstützen.
Die Bildung kleiner Gruppen, die sowohl theoretisch als auch praktisch arbeiten, kann viel zur Entwicklung eines demokratischen Politikmodells beitragen. Unsere Hauptaufgabe für die Zukunft besteht darin, Netzwerke untereinander aufzubauen, die Arbeit der Koordinationsinstanzen zu unterstützen und unsere feministischen Forderungen mit größerem Nachdruck im movimiento populär einzubringen.
Aus dem Spanischen von Barbara Hauck
Die Beteiligung von Frauen an einem
selbstverwalteten bäuerlichen Projekt
Geschichtliches
Die landwirtschaftliche Kooperative, um die es im folgenden geht, befindet sich im Bergland von Tapalpa im Bundesstaat Jalisco. Das war nicht immer so: Zur Kolonialzeit war das Gebiet Teil der »Provincia de Avalos«, einer kleinen Kommende, die der spanische König einem Verwandten von Hernan Cortes geschenkt hatte. Die Indios hatten diese Gegend »Tiapalpan« (hochgelegener Ort) genannt. Sie gehörten der Volksgruppe der Otomi an, doch die wenigsten sprachen das klassische Otomi. Da sie in winzigen Gemeinschaften lebten, die kaum Kontakt untereinander hatten, war es zur Herausbildung vieler verschiedener Dialekte gekommen.
Zum Zweck der Ausbeutung von Boden und Wäldern wiesen die Kommandoinhaber den Indiofamilien Wohn- und Arbeitsplatz zu, wie es ihnen gerade paßte. Dies verstärkte noch die Isolierung der Indios untereinander und den Zerfall ihrer Sprache, ihrer Traditionen und ihrer Kultur. Die »Herren« besuchten die Siedlung hin und wieder, um die Ernten abzuholen, Gerät vorbeizubringen und die Mädchen zu entjungfern, sobald sie in die Pubertät kamen.
Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Herrschaftsausübung sind teilweise bis auf den heutigen Tag spürbar. Viele Siedlungen sind immer noch so isoliert, daß ihre Bewohnerinnen sich nur schwer mit Waren versorgen, ihre Ernten verkaufen oder ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können. Die Entwicklung der sprachlichen Kommunikation ist nach wie vor dürftig. Eine weitere Folge der Isolation ist, daß einzelne Gruppen sich noch enger zusammenschließen und allem mißtrauen, was von außerhalb ihrer kleinen Gemeinschaft kommt.
Die aktuelle Situation
In den Familien findet eine strikte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau statt. Die Aufgaben der Frauen erschöpfen sich darin, dem Mann zu dienen, den Haushalt zu besorgen und die Kinder aufzuziehen. Eine Frau darf das Haus nur mit ausdrücklicher Genehmigung ihres Mannes verlassen und ausschließlich zur Erledigung ihrer Pflichten, etwa um ihm Essen zu bringen, Holz zu sammeln oder am Fluß Wäsche zu waschen. Auf all diesen Wegen muß sie sich von jemandem begleiten lassen, wenn sie nicht von vornherein mit einer Gruppe geht. Der Mann ist der alleinige Versorger. Er ist es, der das Geld verwaltet und der in die umliegenden Ortschaften reist, um Lebensmittel, Kleider, Schuhe, ja sogar Schmuck (für den nach dem üblichen Klischee eigentlich die Frau zuständig ist) zu kaufen. »Wir haben nur den Mais«, sagen die Frauen und meinen damit, daß sie nie Geld in die Hand bekommen. Die Geburt einer Tochter ist für viele Bauern immer noch ein Unglück, denn Mädchen sind weniger wert, werden von manchen sogar als Last angesehen. Die Söhne übernehmen die Einstellung ihrer Väter von Kindesbeinen an, und ihre Schwestern und Mütter finden das ganz normal.
Aufgrund der Isolierung haben die Frauen keine Möglichkeit, selbst Geld zu verdienen und ein bißchen unabhängiger von ihren Männern zu werden. Die geben es am liebsten für Alkohol aus. Dazu werden Ernten oft schon im voraus verkauft. Es ist auch dem Alkohol zu verdanken, daß 80% der Frauen von ihren Männern geschlagen werden.
Die hygienischen Verhältnisse sind unzumutbar. Meist bestehen die Häuser nur aus einem oder zwei Zimmern, in denen die ganze Familie untergebracht ist, im Durchschnitt sieben Personen. Nach der Heirat bleiben Söhne oft mit ihren Frauen bei den Eltern wohnen. Außerdem wird der Wohnraum noch mit Tieren (Hühnern, Katzen, Hunden) geteilt. Da es keinerlei sanitäre Einrichtungen gibt, sind Wasser und Grundwasser verseucht. Das Wasser wird grundsätzlich nicht gekocht. Weil es von weit her geholt werden muß, waschen die Menschen sich selten.
Die Frauen haben kein Recht auf ihren Körper und ihre Sexualität. Empfängnisverhütung wird nicht praktiziert. Wenn eine Frau es doch einmal hinter dem Rücken ihres Mannes damit versucht, schlägt er sie, weil sie nicht schwanger wird, egal wie klein das jüngste Kind noch ist. Es gibt eine ganze Reihe von Mythen über die Mutterschaft, so darf die Frau sich etwa in den ersten vierzig Tagen nach der Geburt nicht baden, ja nicht einmal die Hände waschen. Wie hoch die Säuglingssterblichkeit unter diesen Umständen ist, läßt sich leicht denken.
Mais bzw. die aus ihm hergestellten Tortillas sind die einzige Ernährungsgrundlage. Üblicherweise gibt es Bohnen dazu, doch zur Zeit sind selbst Bohnen für die meisten Familien unerschwinglich, so daß sie Tortillas »pur« essen. Es ist auch schwierig, mit Programmen von außerhalb (z.B. Propagierung der Sojabohne oder kleiner Obst- und Gemüsegärten) auf eine Änderung der Eßgewohnheiten hinzuwirken. Solche Vorschläge stoßen auf Mißtrauen und werden abgelehnt.
In den Städten und größeren Ortschaften geht es den Frauen ein kleines bißchen besser. Dort können sie immerhin als Hausangestellte bei den Reichen oder als Verkäuferin in einem Laden arbeiten oder für andere Leute Wäsche waschen. Aber ihre Löhne liegen noch unter denen der Tagelöhner, und sie erhalten nicht die Leistungen, auf die sie von Rechts wegen Anspruch hätten. In den Städten gibt es auch kleine Gesundheitsstationen, in denen ein Minimum an Gesundheitsversorgung stattfindet: Erste Hilfe, Impfungen, medikamentöse Behandlung der häufigsten Krankheiten. Nach Angaben (Statistiken gibt es nicht) des Verantwortlichen für die Gesundheitsstationen der Region gehören heimliche Abtreibungen zu den häufigsten Ursachen der Einlieferung von Frauen, und zwar meist erst dann, wenn es den Frauen schon sehr schlecht geht. Erschwerend kommt hinzu, daß die Ursache der Blutungen verschwiegen wird, weil Abtreibungen illegal sind.
In einigen Gemeinden gibt es auch unter den Frauen Alkoholikerinnen. Allerdings trinken sie nicht in Gaststätten wie die Männer, sondern heimlich zu Hause. — Wenn eine unverheiratete Frau vergewaltigt wird, ist es üblich, daß die örtlichen Behörden den Vergewaltiger zwingen, sein Opfer zu heiraten. (Natürlich ist diese Praxis gegen das Gesetz.) Die meisten Vergewaltigungen finden während der Arbeit statt. Dabei kommt es manchmal sogar zu Gruppenvergewaltigungen. — Ledige Mütter sind in dieser ländlichen Gegend seltener als in größeren Städten. Sie sind ständigen Belästigungen durch Männer ausgesetzt, die denken, eine unverheiratete Frau mit Kind stehe auf der gleichen Stufe wie eine Prostituierte und sei folglich Freiwild.
Die Wohnverhältnisse bringen es mit sich, daß Inzest, vor allem zwischen Vätern und Töchtern, an der Tagesordnung ist. Da junge Ehepaare oft im Elternhaus des Mannes wohnen, kommt es auch oft vor, daß ein Bruder dem anderen die Frau ausspannt und mit ihr davonläuft.
Kulturell gesehen ist die Region eine Einöde. In den Kinos laufen nur Filme der billigsten Machart, die Gewalt und Sexismus verherrlichen und kein soziales Bewußtsein entstehen lassen. Der einzige Sport, der praktiziert wird, ist Fußball (natürlich nur für Männer) und dient hauptsächlich dem Zweck, sich nach dem Spiel in der Gruppe zu betrinken.
Die Kooperative
Die Kooperative »Ojo Zarco« besteht seit neun Jahren. Sie ist unabhängig von politischen Gruppierungen oder Parteien, insofern jedoch politisch, als sie zu Veränderungen der Lebensbedingungen in der Region beitragen soll. Marx hat gesagt, daß die Menschen sich nicht befreien können, solange die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse nicht einigermaßen sichergestellt ist. Es dürfte klargeworden sein, daß eine Verbesserung der Lage der Frauen unter den Bedingungen jahrhundertelanger Unterdrückung, gesellschaftlicher Marginalisierung und kultureller Atavismen nur ein langsamer Prozeß sein kann. Die Frauen sind nicht nur Opfer, sondern auch stillschweigende Komplizinnen ihrer eigenen Unterdrückung.
Man kann sagen, daß wir gerade den ersten Schritt tun, daß die Frauen gerade beginnen, sich ihrer Lage überhaupt bewußt zu werden. Doch innerhalb dieser Etappe sind immerhin schon einige Fortschritte erzielt worden. Rein feministische Forderungen werden nicht aufgestellt, da die soziale Gruppe, mit der wir arbeiten, dafür kein Verständnis hätte. Die Emanzipation der Frau soll nicht losgelöst vom Mann, sondern mit diesem zusammen erfolgen. Vor dem Hintergrund des Ziels, eine gerechtere und gleichberechtigte Gesellschaft ohne Ausbeutung zu schaffen, gewinnen aber auch frauenspezifische Forderungen innerhalb der Gruppe immer mehr an Gewicht.
Zu Beginn nahmen nur wenige Frauen an dem Projekt teil, je nach Laune oder Mentalität der Ehemänner und Väter. Heute sind die Frauen sogar in der Mehrzahl, sie arbeiten auch aktiver und engagierter mit. Innerhalb des Gesamtprojekts haben sie höchste Positionen in Leitung, Verwaltung und Erziehungswesen inne. Zum ersten Mal zählt ihr Wort, und das stärkt das Selbstbewußtsein der Frauen auch in anderen Bereichen und ihren Männern gegenüber. Im Gemeinschaftsleben und im Dienstleistungswesen des Projekts ist der Einfluß der Frauen sehr stark. Aber sie haben auch in der Produktion viele Aufgaben übernommen, die zum Teil großen körperlichen Einsatz erfordern oder ihnen traditionellerweise verschlossen blieben. In letzter Zeit haben sie ein eigenes Produktionsprojekt auf die Beine gestellt, aus dem sie, neben den unter allen gleich verteilten Überschüssen des Gesamtprojekts, direkte Einkünfte beziehen.
Die einzelnen Projekte
Als Produktionsprojekte sind vor allem die Schweinezucht und das Textilprojekt zu nennen. In der Schweinezucht werden ca. 750 Tiere gehalten. Es gibt ein eigenes Büro für Vermarktung, Produktionskontrolle sowie Buchführung. Dieses Projekt verfügt über landwirtschaftliche Maschinen zur gemeinschaftlichen Bestellung der Felder, die aber auch von einzelnen Mitgliedern oder Gruppen ausgeliehen werden können. Der wirtschaftliche Erfolg der Schweinezucht ist in hohem Maße von externen Faktoren abhängig. Es besteht immer das Risiko, daß die beteiligten Gruppen unversehens in Schulden versinken, ohne über ausreichende Reserven zu verfügen. So müssen hier immer wieder unternehmerische und soziale Gesichtspunkte gleichermaßen berücksichtigt werden. Auf der einen Seite darf der zentralen Farm oder dem Kreditfonds nicht zu viel Geld entnommen werden, auf der anderen Seite kann man die Kooperativemitglieder auch nicht auf Schulden von mehreren Millionen Pesos sitzen lassen, wodurch sie gezwungen wären, ihr Projekt aufzugeben. Zur ökonomischen Absicherung des Zentralprojekts ist für 1989 geplant, die Tierhaltung auf Rinder und Schafe auszuweiten, ein Silo anzuschaffen und die Nahrungskette besser auszunutzen. Auch das Textilprojekt (Spinnerei und Weberei) ist noch jung. Hier sollen Wolle und Stoffe hergestellt, handgefärbte und -gewebte Kleidungsstücke, Taschen, Rucksäcke usw. angefertigt und anschließend verkauft werden. Die wichtigsten Gerätschaften, eine Karde und vier Webstühle, sind angeschafft worden, 25 Frauen haben sich die nötigen Fachkenntnisse angeeignet. Es gibt auch schon einen Laden für den Verkauf. Die Zentralgruppe des Projekts befindet sich in Tapalpa und setzt sich aus Kooperativemitgliedern der umliegenden Gemeinden zusammen. Dann gibt es noch eine Gruppe in einem nahegelegenen Dorf und eine dritte in einer der schwerer zugänglichen Siedlungen der Region. Allerdings ist die Produktion ins Stocken geraten, da das Garn noch nicht richtig gezwirnt werden kann und es technische Probleme mit der Karde gab. Einige Mitglieder haben daraufhin den Mut verloren und sogar die Gruppe verlassen. Viele Jacken, Pullover, Mützen, Taschen und ähnliches aus Wolle haben die Werkstatt aber schon verlassen und sind im Laden verkauft worden, in dem die Mitglieder abwechselnd arbeiten. Im letzten Sommer ist das Touristinnengeschäft sehr gut gelaufen, was der Gruppe neuen Auftrieb gegeben hat. Die Ausbildung der Mitglieder oder derer, die noch Anleitung brauchen, liegt in den Händen der erfahreneren Mitglieder. Allmählich beginnen sie auch, professionellere Kriterien zur Qualitätsüberprüfung zu entwickeln. Dieses Projekt hat gute wirtschaftliche Aussichten. Es wird angestrebt, einen richtigen Betrieb daraus zu machen.
Es gibt drei Dienstleistungsprojekte: Genossenschaftsfonds, Sozialversicherung und Bildung. Der Genossenschaftsfonds entspricht in etwa einer Sparkasse. Die Leistungen der Sozialversicherung sind: volle Zahlung aller Kosten, die durch einen Arbeitsunfall innerhalb der Kooperative entstehen; Kredit bei schweren Unfällen oder Krankheiten, bis zu sechs Monaten zinslos; bis zu vier kostenlose Arztbesuche einschließlich Medikamente pro Mitglied und zinsloser Kredit bis zu drei Monaten bei längerwierigen Behandlungen; Gesundheitspflege in den Gruppen, ausgeführt von Gesundheitspromotorlnnen, die in der Kooperative ausgebildet werden; Kurse und Kampagnen zur Gesundheitserziehung mit Inhalten wie Ernährung, Umwelthygiene, Verhütung von Krankheiten, Sexualerziehung.
Für alle Mitglieder der Kooperative finden regelmäßig Aus- und Fortbildungskurse statt. Die Produktionsgruppen erhalten mindestens alle zwei Monate Unterricht, Promotorlnnen und Führungskräfte wöchentlich. Je nach den Bedürfnissen von Gruppen oder einzelnen Mitgliedern werden sie auch in Technik, Verwaltung und Buchführung weiterqualifiziert.
Reaktionen auf die Teilnahme von Frauen am Projekt
In einer machistischen Gesellschaft ist allein schon die Mitwirkung von Frauen und ihre Anerkennung als Individuen ein Ziel an sich. Innerhalb der Kooperative wird den Frauen diese Anerkennung auch mehr oder weniger entgegengebracht. In den Köpfen Außenstehender spukt oft noch die Vorstellung herum, daß eine Frau, die auf diese Weise arbeitet, nur ein Mannweib, wenn nicht gar eine Prostituierte sein kann. Eine Frau hat einfach nicht mit dem Lastwagen in der Gegend herumzufahren oder erst spät abends von der Fortbildung heimzukommen. Aufgrund des sozialen Drucks gehen Verlöbnisse zwischen Frauen, die in der Kooperative arbeiten, und Männern von außerhalb oft in die Brüche. Dennoch kann es nicht ausbleiben, daß die Teilnahme von Frauen an Versammlungen und Diskussionen, ihre Zusammenarbeit mit Männern und die Ausübung führender Funktionen Veränderungen im gesamten sozialen Umfeld zur Folge hat, mögen diese zu Beginn auch recht ambivalent sein. Die Frauen haben erreicht, mit ihrer Arbeit und der Mitwirkung am sozialen und politischen Leben der Gemeinschaft anerkannt zu werden. Diejenigen, die diese Entwicklung rückgängig machen wollen, sind entweder auch in ihrem übrigen Verhalten ausgesprochen reaktionär oder von vornherein gegen das Projekt eingestellt, da die Kooperative ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen zuwiderläuft.
Folgerungen
Die Situation der bäuerlichen Frau in den anderen Teilen Mexikos ist vergleichbar. Selbst bei politisch linksstehenden Männern stößt die Frauenbewegung auf Verachtung und Sabotage, wenn nicht gar auf Aggression. Dies führt dazu, daß Frauengruppen vor allem innerhalb einer intellektuellen Elite entstehen und Bäuerinnen, Indiofrauen und die Frauen der ärmeren Schichten in den Städten vom Feminismus praktisch unberührt bleiben.
Da der machismo in Mexiko wie in jedem lateinamerikanischen Land (einschließlich Kuba) fest verwurzelt ist, findet der Feminismus natürlich sowieso eher in der Theorie als in der Praxis statt. Ich habe bei meiner politischen und erzieherischen Arbeit mit Frauen immer wieder festgestellt, daß die Frauen sich erst einmal selbst vom machismo lossagen und ihr Verhalten als Mütter, Freundinnen, Ehefrauen, Arbeiterinnen, in allen sozialen Bereichen ändern müssen. Und es muß ihnen klar werden, daß die Befreiung der Frau unentbehrlicher Bestandteil des Kampfes für eine neue, insgesamt gleichberechtigte Gesellschaft ist.
Aus dem Spanischen von Barbara Hauck