Australien

Pionierinnen und Pyrrhussiege

Zum 22. Geburtstag der Zweiten Frauenbewegung*

  • (* Ich möchte mich bei dem McPhee Gribble Verlag dafür bedanken, daß er mir einen wichtigen Band zur australischen (feministischen) Geschichte Staining the Mittle zur Verfügung stellte, noch bevor er im Handel erhältlich war. Ludo McFerran, eine der wenigen, die zur australischen Frauenhausbewegung gearbeitet haben, half meinem Projekt, indem sie mir ihr Manuskript überließ, bevor es veröffentlicht wurde. Marilyn Lake, Historikerin an der La Trobe Universität in Melbourne, und Shirley Fitzgerald, Historikerin in Sydney, danke ich besonders für wertvolle Hinweise zu Materialien und zu australischen Sonderproblemen. Nicht zuletzt möchte ich Lesley Rogers, eine der namhaftesten Feministinnen Australiens, für ihr persönliches Engagement und Interesse an diesem Projekt danken.)

Gründungsgeschichte und Fortschrittlichkeit Australiens

Australien wurde knapp ein Jahr vor dem Ausbruch der Französischen Revolution von Europäern (neu) entdeckt. Im Sinne einer westlichen Abendlandtradition ist die weiße Besiedlung Australiens[1] daher ausschließlich ein nachrevolutionäres Ereignis. Diese Tatsache ist für die soziale Entwicklung des Staates sowie für die Stellung der Frau nicht ganz ohne Bedeutung. Ebenso wichtig ist es, daß der australische Staat seine Geschichte als Kolonie, ja als Strafkolonie Englands begann. Australien wurde am Anfang seiner Geschichte eben nicht als ein Land der ungeahnten Möglichkeiten gesehen, wie z.B. die USA, sondern als ein Kontinent »down under«, als ein Land am Ende der Welt, wohin man vielleicht flüchtete, wenn das Ende der Welt gerade das Richtige erschien oder wohin arme Teufel, Diebe, Hausierer und andere Ausgestoßene geschickt wurden, um sie loszuwerden. Diese englischen Vorstellungen von Australien hatten einige nachhaltige Konsequenzen. Sie bestimmten die Zusammensetzung der Bevölkerung und damit auch die diversen politischen und sozialen Entwicklungen des Landes, die wachsende Identität Australiens und den Kontext der ersten Frauenbewegung im 19. Jahrhundert.
Bis zum Zweiten Weltkrieg hätte man Australiens Gesellschaft noch fast als »Arbeiter- und Bauernstaat« bezeichnen können. In den ersten Jahrzehnten der weißen Besiedlung waren es hauptsächlich Sträflinge, die nach Australien deportiert wurden. Als die freie Einwanderung und europäische Anheuerung von Arbeitskräften im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begann, darunter bereits Deutsche, Italiener, Griechen und Chinesen, waren die meisten Außenseiter, Abenteurer, Bauern, Arbeiter und ein vorwiegend anglokeltisches Stadt- und Landproletariat — Menschen und Klassen also, die es gewohnt waren, hart arbeiten zu müssen und die in ihren Herkunftsländern kaum Rechte und Ansprüche erheben konnten. Sie kamen mit der Hoffnung auf ein besseres (sprich freieres und gerechteres) Leben und waren nicht nur mißtrauisch gegenüber jeglicher Autorität, sondern ausgesprochen antiautoritär und rebellisch. Der englische Adel hat in Australien nie Fuß gefaßt, obwohl sich unter den Landbesitzern eine »Großbesitzerschicht« entwickelte, die sogenannte »squattocracy«.[2] Die Schicht der Bürger war und blieb auf lange Zeit verschwindend klein. Auffällig war im 19. Jahrhundert auch der Männerüberschuß und die Konzentration der Frauen in hauswirtschaftlichen Berufen,  als Mägde, Dienstmädchen und andere »domestics«. In anderen Worten: ein erheblicher Teil der australischen Bevölkerung gehörte zu den Gesellschaftsschichten der Unterdrückten, der Macht- und Rechtlosen. Obwohl Australien die Hierarchien und gesellschaftlichen Herrschaftsformen der alten europäischen Länder importiert hatte, haben sie sich aufgrund der besonderen geschichtlichen und gesellschaftlichen Konstellation nie voll behaupten können [3]
Zu dem Konzept der Strafkolonie und der Zusammensetzung der australischen Bevölkerung in der Vergangenheit hat sich oft der Begriff der Traditionslosigkeit gesellt. Die Traditionslosigkeit Australiens, oder eher die Tatsache, daß die weiße Geschichte Australiens erst 200 Jahre alt ist, ist von Europäerinnen fast immer abschätzig beurteilt worden. Unlängst fragte mich eine deutsche Feministin, ob wir hier in Australien »schon so weit« wären wie die Frauenbewegung in Deutschland. Ich antwortete ihr, daß wir mit höchster Wahrscheinlichkeit sehr viel weiter sind als das historisch schwer belastete und traditionsverfilzte Deutschland. Ihre Frage verriet nicht nur die übliche europäische Arroganz und manchmal anmaßende Überheblichkeit oder Ignoranz, daß alles, was nicht westlich oder nicht traditionsbeladen ist, mangelhaft und deshalb rückständig sein muß (auch diese Einstellung hat eine lange Geschichte), sondern sie zeigt auch, daß die Sprecherin von den recht beachtlichen Vorteilen der Traditionslosigkeit keine Vorstellung hat. Es gibt selten eine Situation, in der Menschen ihre eigene Geschichte machen, ohne an unmittelbar vorgefundene, gegebene und überlieferte Umstände gebunden zu sein. Vor knapp 150 Jahren sagte Marx in der Einleitung zum Achtzehnten Brumaire den berühmten Satz: »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« (MEW 8) Es ist ein Befreiungsmoment, das viele Einwandernde erlebt haben, die gravierenden Fehler und gierigen Privilegien dieser »toten Geschlechter« andernorts mit ihnen zu Grabe zu tragen oder einfach zu vergessen. Das zwischen Französischer und Industrieller Revolution in West-Europa entstandene Bewußtsein der Unterdrückung der rechtlosen Massen und deren Ausbeutung durch eine neue Wirtschaftsordnung konnte bei einer neuen Staatengründung in Australien für diese Schichten nur bedeuten, daß sie versuchen würden, die alten Fesseln abzuschütteln. Die ersten freien Siedler kamen zu einer Zeit, als die Industrielle Revolution in Europa in vollem Gang war, der nächste große Einwanderungsschub kam nach dem Versagen der europäischen Revolution von 1848.
In einem kurzen Abriß zur australischen Situation ist die Versuchung groß, besonders wenn man hier länger gelebt hat, etwas von dem Pioniermythos unkritisch zu übernehmen und in eine Schreibweise zu verfallen, die in das Genre der literarischen Utopie gehört, aber mit der harschen Realität der europäischen Besiedlung des australischen Kontinents, der problematischen Entwicklung eines langsam entstehenden nationalen Bewußtseins im Schatten der englischen Kolonialmacht wenig zu tun hat. Auch sagt das alles nichts über die brutale Ermordung der einheimischen Bevölkerung und die Zerstörung ihrer Kulturen, deren sich die europäischen Siedlerinnen und bis heute die australischen Bürgerinnen schuldig gemacht haben. Es gibt aber in der australischen Geschichte Befreiungsmomente, die unmittelbar mit der Traditionslosigkeit zusammenhängen. Dazu gehört, daß alte Vorurteile nicht übernommen zu werden brauchen und daß das, was im alten Land als zu radikal erschien, in einem anderen Land ohne Rücksicht auf lang gehütete Privilegien verwirklicht werden kann. So war Australien das erste Land, das einen Acht-Stunden-Tag durchsetzte (im Jahre 1856). Fast zur gleichen Zeit begannen Mädchen, eine Oberschulerziehung zu genießen. Dreißig Jahre nach Gründung der ersten australischen Universität wurden Frauen zum Studium zugelassen (1881), und im Jahre 1886 schlössen die ersten beiden Frauen an der Sydney Universität ein Studium ab. Das Frauenwahlrecht trat 1901, mit der Gründung des australischen Bundes (Federation) in Kraft. Und im Jahre 1908 gab es bereits eine Altersversorgung, die den Rentenanspruch für Frauen auf das 60. und für Männer auf das 65. Lebensjahr festlegte (Kaplan 1989). Australien gehörte somit in seinem Arbeiter- und Frauenrecht zu den fortschrittlichsten Ländern der westlichen Welt.
Australien übertreibt heute noch gern seine Führungsrolle in sozialen Fragen (Davies und Encel 1970, 200ff.). Von Führung kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil bis vor etwa zwanzig Jahren kaum ein westliches Land auch nur die geringste Kenntnis von Australien hatte oder nahm. Australien war in seinen diversen Reformbewegungen — vielfach von den sehr starken Gewerkschaften initiiert — den meisten europäischen Ländern (Skandinavien ausgeschlossen) weit voraus und ist es in seiner Denkart und seinen Gesetzen bisher auch noch fast geblieben — nur fast, denn die west-europäischen Reformen haben den Abstand (besonders in Frauenfragen) sichtlich verringert und teilweise aufgehoben.

Häuslicher Feminismus und Stillstand

Zwischen 1901 und 1972 gab es keine einzige nennenswerte Reform zur Frauenfrage (Nelson 1989, 31). Noch viel schlimmer war, daß die bereits zugestandenen Rechte kaum genutzt wurden. Hier muß also die Behauptung der australischen Fortschrittlichkeit modifiziert und teilweise wieder zurückgenommen werden. Gesetze sind nicht notwendigerweise eine Reflexion der Praxis. Dies ist besonders auffällig bei den politischen Rechten. Sicher: Frauen haben von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht, aber sie haben sich bis 1972 kaum als Kandidatinnen einer Partei aufstellen lassen. In dem gesamten Zeitraum von 1901 bis 1972 gab es in ganz Australien insgesamt nur 420 Frauen, die in der Regierung oder den Oppositionsparteien Posten bekleideten. Noch im Jahre 1972 lag die Beteiligung der Frauen als aktive Politikerinnen bei nur 2,2% — in den Landesregierungen. In der Bundesregierung befand sich keine einzige Frau (Encel u.a. 1974, 251).
Ähnlich verblüffende Diskrepanzen bestanden in bezug auf das Arbeitsrecht der Frau. Schon in den dreißiger Jahren gab es lebhafte Kampagnen zur Angleichung der Löhne von Männern und Frauen, die auch teilweise erfolgreich waren (Thomas 1984, 88). Nur in der Praxis änderte sich kaum etwas. Erst durch die neuen Forderungen der Gewerkschaft in den siebziger Jahren kam es zu einem Durchbruch, bei dem nicht nur das Recht der Frau auf Arbeit neu bestätigt wurde, sondern auch die alte Forderung »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« in einem wesentlichen Punkt abgeändert wurde. Wie in anderen westlichen Ländern, wenn auch meist später, hatte es sich in Australien gezeigt, daß Unternehmer entweder die Forderung ignorierten oder aber uminterpretierten. Die Arbeit der Frau wurde fast immer umbenannt, so daß sie dem Namen nach nie Arbeit verrichtete, die mit der Arbeit der Männer identisch war. Die Klausel von 1972 »gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit« ist natürlich auch mißbrauchbar. Dennoch ist die Formulierung ein Fortschritt, denn nun müssen Unternehmer im Fall der geringeren Entlohnung der Frau beweisen, daß die von ihr verrichtete Arbeit nicht den gleichen Wert wie die von einem Mann verrichtete Arbeit hat (White 1984, 113).
In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht verging also für die australische Frau über ein halbes Jahrhundert, bevor die bereits zuerkannten Rechte allmählich in die Praxis umgesetzt wurden. Da das für fast alle Lebensbereiche zutrifft, drängt sich die Frage auf, wie diese enormen Verzögerungen zu erklären sind. Eine Analyse dieser Zeit steht noch aus, aber es gibt wertvolle Ansatzpunkte. Miriam Dixon, eine der führenden australischen Historikerinnen schrieb vor einigen Jahren, daß es in keiner westlichen Demokratie so lange gedauert habe wie in Australien, bis die zugestandenen Rechte in die Realität umgesetzt wurden. Sie vermutet, daß ein Grund der Verzögerung in der Struktur und den Grenzen der ersten australischen Frauenbewegung der 1890er Jahre zu suchen ist (1986, 21; vgl. auch Sawer und Simms 1984, 14).
Diese erste Frauenbewegung war städtischen, bürgerlichen Ursprungs. Die bürgerliche Mittel- und Oberschicht im Australien des 19. Jahrhunderts war verschwindend klein. Sie hatte ihre eigenen Identitätsprobleme, teilweise, weil sich die gesellschaftlichen (Klassen-)bedingungen von Europa angesichts einer anderen wirtschaftlichen Struktur nicht einfach nach Australien verpflanzen ließen und weil sie als Gruppe zu schwach war, europäische Bedingungen zu ertrotzen. Zudem war es äußerst unbequem, daß Australien zur Zeit der ersten Frauenbewegung eben doch schon eine hundertjährige und teilweise sehr unrühmliche Geschichte hatte, die sich nachdrücklich nicht für ein neues bürgerliches Selbstverständnis eignete. Die Frauenrechtlerinnen distanzierten sich von einer australischen Vergangenheit. Australiens Gründungsgeschichte als Strafkolonie, schreibt Dixon (1986, 18), blieb ein entscheidendes Problem in der Identitätsfindung als Nation, aber auch in Fragen der Beziehung der Geschlechter zueinander, bzw. in der Abgrenzung der Geschlechtsrollen. Anne Summers wichtiges Buch zur Entwicklung der Stellung der australischen Frau macht das Problem schon im Titel deutlich: Damned Hores and God's Police.[4] Die unteren Schichten, das Hausgesinde, die ehemaligen Sträflinge, das waren die Huren, gegen die sich bürgerliche Frauen durch Ultrarespektabilität und Ultrahäuslichkeit abzusetzen suchten. Diese erste Frauenbewegung ist deshalb auch »domestic feminism« genannt worden, weil jener »häusliche Feminismus« nur an solchen Reformen interessiert war, die sich im Rahmen der eigenen Häuslichkeit und Respektabilität vertreten ließen, wie z.B. Erb- und Eigentumsrecht im Zusammenhang mit Scheidungsgesetzen und Sorgerecht (Dixon 1986, 18). Der breiten Masse der Frauen, besonders der Arbeiterschicht, hatte diese erste Frauenbewegung wenig anzubieten. Der enggesteckte Rahmen und die mangelnde Repräsentativität der Führerinnen erschwerten eine Verbreiterung der Bewegung.
In den Jahren des Ersten und Zweiten Weltkriegs und selbst in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit war die in einen politischen Winterschlaf verfallene Frauenfrage nicht neu anzufachen. Die Gründe dafür sind nicht so leicht zu durchschauen. Australiens wirtschaftliche Stellung, die verheerenden Folgen der Wirtschaftskrise in den zwanziger Jahren, die schleppenden Kriegsverpflichtungen an England, die den australischen Alltag wirtschaftlich und gesellschaftlich drosselten und alle eigenen Belange in den Hintergrund drängten, ließen keine Reformstimmung aufkommen. Auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, in denen die Wirtschaft nur langsam angekurbelt wurde und gleichzeitig ein »Nachholbedarf« an Eheschließungen und Kindern bestand, blieb es still um die Frauenfrage (Cass und Radi 1981, 195).
In den sechziger Jahren erlebte Australien einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, der ohne die Nachkriegsmasseneinwanderung zu dem Zeitpunkt nicht denkbar gewesen wäre. In knapp zwei Jahrzehnten, von 1950 bis 1970, wanderten über zwei Millionen Menschen in Australien ein, ein Bevölkerungszuwachs von über 25%.[5] Die Dramatik dieses raschen Bevölkerungszuwachses von Menschen aus mehr als 100 verschiedenen Nationen und Sprachen läßt sich kaum übertreiben. Das heutige Gesicht Australiens, als eine der gemischtesten multikulturellen Nationen (nach Israel), wurde durch diese beiden Epochen bestimmt und wird auch durch die gegenwärtige Einwanderungspolitik aufrechterhalten. Es ist bisher nicht untersucht worden, inwieweit Einwanderer verzögernd oder beschleunigend auf Reformbewegungen eingewirkt haben. Das dürfte auch ein schweres Unterfangen sein, das zu Recht in den Verdacht geriete, daß rassistische und vorurteilsbeladene Kategorien mit im Spiel sind. Es steht aber fest, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen der ersten Nachkriegseinwanderungswelle in den fünfziger und sechziger Jahren keine, im Sinne einer westlichen Demokratie, fortschrittlichen Ideen und Gedanken mitbrachte. Kommunisten oder Linksradikale erhielten keine Einreisegenehmigung und die, die die australische Regierung zur Einwanderung ermutigte, kamen zum großen Teil aus kleinstädtischen und ländlichen Gebieten, ohne jegliche Qualifikationen, d.h. aus einem sozialen Milieu, in dem sich traditionelle Lebensweisen und Vorurteile besonders lange halten. Die australische Regierung verschaffte zu dieser Zeit also einer gefügigen, politisch hilflosen und stummen Masse Arbeit, die nicht rebellieren würde und konnte, denn dazu reichten weder die gesellschaftlichen noch die sprachlichen Kenntnisse aus. Frauen, besonders aus Süd- und Südosteuropa, waren nicht nur an stark traditionelle Rollen gebunden, sie arbeiteten auch oft unter den schwersten und menschenunwürdigsten Bedingungen, sprachen die Sprache nicht und hatten keinen Zugang zur australischen Gesellschaft.[6] Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich die Eingewanderten selbst politisch organisierten. Von einer aktiven Teilnahme der Einwandererfrauen an einer feministisch orientierten Veränderung der australischen Gesellschaft konnte bis vor zehn Jahren kaum die Rede sein. In Anbetracht dieser komplizierten Lage kann man nicht mehr als die Vermutung aussprechen, daß die Masseneinwanderung zunächst einmal jegliche Reformbewegungen verzögerte.[7]

Vorbedingung zur zweiten Welle der Frauenbewegung

Trotz der Verzögerungen in der Verwirklichung der Frauenrechte und des lange ausbleibenden Protests darüber, entwickelte sich auch in Australien schließlich eine neue Protestbewegung der Frauen, und zwar etwa zur gleichen Zeit wie in anderen westlichen Ländern (um 1968). Australien erlebte in den frühen sechziger Jahren eine Hochkonjunktur, die sich teilweise als ein akuter Mangel an Arbeitskräften bemerkbar machte. Die Arbeitslosigkeit sank unter 1%. Erstmalig seit Kriegsende bemühten sich Unternehmer darum, Frauen anzustellen. Zwischen 1961 und 1966 stieg der Prozentsatz an verheirateten Frauen im Arbeitsmarkt von 17,3% auf 26,6% und in den folgenden fünf Jahren auf 35,3%. 1966 wurden Frauen als Taxifahrerinnen zugelassen und von 1970 an durften sie auch Busfahrerinnen werden und eine Reihe von nicht-traditionellen Berufen ergreifen (Encel u.a. 1974, 307). Obwohl auch der australische Arbeitsmarkt nach Geschlechtern gespalten ist, haben einige Theoretikerinnen doch nicht ganz unrecht, wenn sie behaupten, daß Frauen eine Reservearmee an Arbeitskräften darstellten, die es galt, möglichst schnell zu mobilisieren. Mit einer empanzipatorischen Wirtschaftspolitik hat die steigende Zahl der weiblichen Arbeitskräfte nichts zu tun. Wie dem auch sei: die wachsende Zahl arbeitender Frauen bedeutete eine größere Präsenz der Frauen in der Öffentlichkeit und gab der berufstätigen Frau auch eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit.
Die Frage ist dennoch, warum die neue Welle der australischen Frauenbewegung gerade zu dieser Zeit begann. Es gab keine Studentenbewegung wie in Europa und keine Bürgerrechtsbewegung wie in den
Vereinigten Staaten. Wohl aber gab es eine Hippie-Bewegung, die in den frühen sechziger Jahren noch stark politischen Charakter trug und eine sehr starke Anti-Vietnam-Bewegung, die sich aus einer breiten Schicht von Kriegsgegnerinnen, von Studentinnen und Frauen aus verschiedenen Zusammenhängen bildete. Im Jahre 1968 war die Wehrpflicht in Australien wieder eingeführt worden [8] und die Eingezogenen wurden nach Vietnam geschickt. Als die Nachricht von Todesfällen von Australiern zunahm, wuchs die Bewegung zusehends. Zudem war der Vietnam-Krieg der erste Krieg, der durch dauernde Fernsehmitteilungen [9] und Kriegsreportagen die Greueltaten in fast jedes australische Wohnzimmer brachte. Die Sympathie für die Nord-Vietnamesen war sehr ausgeprägt, die Schlacht- und Folterszenen im Fernsehen sehr plastisch und es kam allein im Kreis meiner eigenen Freunde mehrmals vor, daß Familienmitglieder ihre Söhne, Väter, Brüder oder Freunde auf dem Bildschirm sterben sahen, bevor sie offiziell von den Behörden benachrichtigt worden waren. Die Bewegung schwoll zur größten Massenbewegung der Nachkriegszeit an, und Australierinnen waren sich einig: nicht nur wollten sie an einem unsinnigen Krieg keinen Anteil haben, sondern dieser Krieg mußte aufhören und die Wehrpflicht schleunigst wieder abgeschafft werden. Der Protest, der 1968/69 seinen Höhepunkt erreichte, war gleichzeitig ein Protest gegen eine Regierung, die die Wehrpflicht verordnet hatte, die weiterhin, wegen dem Bündnis mit den USA, Australien aus dem Zivilleben riß und in einen Krieg verwickelte, den die Australierinnen von vornherein verdammt hatten. An der Innenpolitik der politischen Rechten (den Liberais) wurde gleichzeitig bemängelt, daß sie schwach und einfallslos war und soziale Mißstände bestehen ließ (wie z.B.: wir haben Geld für Vietnam, aber kein Geld für die Erziehung unserer Kinder). Die Demonstrationen gegen den Staat fanden unter der Führung der linken Oppositionspartei (Australian Labor Party), der Sozialisten und anderer linksradikaler Splittergruppen und einer akademischen Linken statt. In dieser Zeit einer sich verschärfenden Opposition blieb eine Politisierung der Gesellschaft nicht aus. Meiner Meinung nach gehören die Jahre 1968-1975 zu den politisch interessantesten, wachsten, reformfähigsten und offensten Jahren der australischen Gesellschaft.
Ähnlich wie in den Studentenbewegungen in Europa gefährdete der Sexismus die Zusammenarbeit von Frauen und Männern. Auch hier war der Protest der Linken gegen den Staat gleichzeitig eine Infragestellung aller dominanten Werte der Gesellschaft, die bei den politisch sehr aktiven Frauen unweigerlich auch zu einer Beurteilung ihrer eigenen Lage und Stellung als Frauen führte. Zudem war die Kommunikation zwischen englischsprachigen Ländern (Australien, England, USA) immer sehr lebhaft, und die neuesten Entwicklungen in den Staaten und in England waren australischen Frauen nicht entgangen. 1963 erschien Betty Friedans Buch Der Weiblichkeitswahn (The Feminine Mystique), 1966 wurde in den Staaten die National Organisation for Women (NOW) gegründet, 1968 erschien in England das Buch Discrimination against Women. Im Jahre 1971 allein erschienen drei Bücher, wirkliche Meilensteine der zweiten Welle: Germaine Greers Der weibliche Eunuch (Female Eunuch), Kate Millets Sexus und Herrschaft (Sexual Politics) und Shulamith Firestones Frauenbefreiung und sexuelle Revolution (The Dialectic of Sex). All diese Veröffentlichungen und Nachrichten kamen in Australien ohne Verzögerung an und wurden mit großem Interesse aufgenommen. Sie kamen zur richtigen Zeit und konnten auch in Australien in politische Handlungen münden.

Die neue Welle

Die ersten Flugblätter zur Frauenbewegung erschienen 1969, zur Zeit der intensivsten Anti-Vietnam-Proteste. In allen größeren Städten entstanden plötzlich Frauengruppen und bis 1970 gab es überall Selbsterfahrungsgruppen (Grimshaw 1988, 66). 1969-1972 war die wichtigste Wachstumsphase dieser Bewegung, die sich schon seit 1969 als Women's Liberation Movement (WLM) bezeichnete. In diese Periode fällt auch der Beginn der Gay Liberation (1971), die in Australien konsequent und mit großem Nachdruck an die Öffentlichkeit getragen wurde. Frauengruppen der Gay Liberation waren zumeist auch Mitglieder der WLM.
In den ersten Jahren hatte die Bewegung eher anarchistischen Charakter (Grimshaw 1988, 67) und war von schwindelerregender und aufregender Vielfalt (Simms 1981, 227), obwohl in groben Zügen doch zwei Grundrichtungen schnell erkennbar wurden: die Reformistinnen und die Radikalen. Unter den Radikalen befanden sich die Anarchistinnen, die Marxistinnen und besonders die sozialistischen Feministinnen. In kaum einem anderen Land, so behauptet Miriam Dixon, hat der sozialistische Feminismus einen so großen Einfluß auf die Gesamtbewegung gehabt wie in Australien. Den Grund dafür sieht sie in der Legitimität der Arbeit und dem australischen Ethos von der Rechtmäßigkeit der Arbeit (1980, 23). Zu den Reformistinnen gehörte hauptsächlich die politische Lobby Gruppe W.E.L. (Women's Electorial Lobby), die erst 1972 gegründet wurde, als sich die Labor Party nach 23 Jahren in der Opposition anschickte, den Liberais das Ruder aus der Hand zu reißen. Die ideologischen Positionen von Reformistinnen und Radikalen unterscheiden sich kaum von denen in anderen feministischen Bewegungen. Die Reformistinnen formulierten keine eigenen Theorien. Ihre Handlungen zeigten jedoch, daß sie in ihrer ideologischen Position mit der dominanten in wesentlichen Punkten übereinstimmten — in den Grundzügen wenigstens, die Talcott Parsons unter dem Begriff des instrumentalen Aktivismus zusammengefaßt hatte, der besagt, daß in westlichen kapitalistischen Ländern der Glaube an die Handlungsfähigkeit des einzelnen, zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft, zu einem starken Individualismus geführt hat. Marian Simms betont zu Recht, daß die Akzeptanz des Individualismus bzw. instrumentalen Aktivismus einige andere Grundeinstellungen voraussetzt, wie z.B. einen unerschütterten Glauben an die individuelle Leistung, die Akzeptanz technischer Rationalität als Mittel zum Zweck und eine übermäßige Betonung wirtschaftlichen und beruflichen Gewinns als Belohnung für individuelle Leistung (1981, 228). In anderen Worten: die Reformistinnen wollten einen größeren Anteil an dem Kuchen, und in keinem Punkt zielten ihre Forderungen auf eine strukturelle oder ideologische Veränderung der Gesellschaft hin.
Die radikalen Gruppen, die oftmals schon in der Vietnam-Bewegung und in politischen Parteien der Linken aktiv gewesen waren (Grimshaw 1988, 83), strebten dagegen grundlegende Veränderungen an. Von diesen Gruppen stammten die Frontalangriffe auf die moderne Massengesellschaft, auf die allgemeine Zerstörungswut (militärischer und ökologischer Art), auf die Unterdrückung der Frau, die Unterdrückung von Minderheiten. Der Begriff des Patriarchats wurde zu einem Grundstein der marxistischen und sozialistischen Interpretation der australischen Gesellschaft. Sozialistische Feministinnen sahen schon sehr früh, daß das Ende der Unterdrückung der Frau nicht durch eine Zusammenarbeit mit dem Staat erreicht werden könnte. Sie bemängelten, daß die Programme der Reformistinnen von und für eine kleine gebildete Schicht, die längst in die dominante Gesellschaftsordnung assimiliert war, geschrieben waren, und die breite Masse der Frauen, besonders der Arbeiterschicht, vollständig unberücksichtigt ließen (Simms 1981, 230).
Zu den zentralen Forderungen der Reformistinnen gehörten gleiche Bezahlung, Chancengleichheit in Erziehung und Beruf, Mutterschaftsurlaub, Kinderfürsorge, die Abschaffung der Stereotypisierung der Geschlechtsrollen, besonders in der Erziehung (in Schulbüchern z.B.), straf- und kostenfreie Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmung (Simms 1988, 232). Obwohl die Radikalen nichts gegen diese Ziele
einzuwenden hatten und diese auch zusammen mit den Reformistinnen verfochten, gingen ihnen diese Forderungen nicht weit genug. Sie wollten grundlegende Bewußtseinsänderungen in den vorherrschenden Ideen zur Sexualität, zur Beziehung der Geschlechter und zur Familienbeziehung erzielen, um aus diesen neuen Bewußtseinslagen andere gesellschaftliche Verhältnisse herbeizuführen.
Der Stil der reformistischen und radikalen Gruppen reflektierte ihre jeweilige ideologische Position. W.E.L. war eine straff organisierte, professionelle und hierarchisch geordnete Organisation, während die meisten radikalen Gruppen des WLM form- und zwanglose Kollektive bildeten.

Die Whitlam-Jahre 1972-1975

Das Jahr 1972 stellte eine wichtige Zäsur dar. Erstmalig landen Bundeswahlen unter dem Einfluß eines neuen radikalen Feminismus statt (Encel u.a. 1974,251). Die vielen Demonstrationen von Frauen in allen Großstädten Australiens und die Kampagne der W.E.L. zwangen die Politiker, auf Frauenfragen einzugehen und Forderungen in ihre Wahlversprechen aufzunehmen. Der Slogan »Think W.E.L. before you vote« war der Beginn einer wirksamen Wahlkampagne, die der Labor Party zugute kam. Die Wahlen zeigten, daß die Australierinnen nach 23 Jahren der Liberal Regierung bereit waren, der Labor Party eine Chance zu geben und die grundsätzliche Zustimmung zu einer Reihe von Reformen in der Erziehung, der Sozialfürsorge und der Frauenfrage zu bestätigen. Auch nach dem dramatischen Wahlsieg unter der Führung von Gough Whitlam stellte sich die Labor Party auf die Seite der Frauen, bzw. der reformistischen Frauenrechtsbewegung. Eine der wichtigsten und ersten Amtspflichten der neuen Regierung war die sofortige Abschaffung der Wehrpflicht. Sofort nach seiner Amtsübernahme als Premierminister berief Gough Whitlam eine Beraterin für Frauenfragen ins Kabinett, die ihm ein Programm zur Verbesserung der Lage der Frau ausarbeiten sollte. Ebenso schnell setzte er im öffentlichen Dienst die gleiche Bezahlung für Frauen durch, führte eine Rente für alleinerziehende Mütter ein (single mothers benefit), erweiterte den bezahlten Schwangerschaftsurlaub auf zwölf Wochen (sechs Wochen vor und sechs Wochen nach der Geburt des Kindes) und den unbezahlten Mutterschaftsurlaub auf 52 Wochen und unterstützte die Frauen auch in politisch brisanten Forderungen, wie z.B. die nach Subventionierung der Pille.
Obwohl die Frauenbewegung in einigen Fraktionen noch ihre revolutionäre Haltung beibehielt, begannen die meisten WLM-Gruppen spätestens im Jahre 1974 an konkreten Programmen zu arbeiten, deren es so viele gab, daß sie hier nicht alle aufgezählt werden können. Ob es sich um Gesundheit, Rechtsreformen, Vergewaltigung, Schulbücher, lesbische Aktionsgruppen, Abtreibung, Erziehung, Radioprogramme oder auch nur um die Gestaltung einer neuen feministischen Kultur (Theater, Literatur, Musik, Feste etc.) handelte, überall gab es wohlkoordinierte Programme, Organisationen und eine Unzahl an Freiwilligen, die die Arbeit verrichteten. Viele Aktivitäten wurden von der Bundesregierung auch finanziell unterstützt. Eine der wichtigen neuen Bewegungen war die Frauenhausbewegung, die um 1973 begann. Im Jahre 1974 wurde das erste Frauenhaus in Sydney eröffnet und noch im gleichen Jahr auch eins in Melbourne. Ein Jahr später finanzierte die Labor Regierung weitere zwölf Frauenhäuser und den Aufbau eines konsolidierten nationalen Frauenhausprogramms. Nicht alle »grass-root« Feministinnen waren sehr glücklich über ihre Zusammenarbeit mit dem Staat, und sie haben sich bis heute ein großes Stück Mißtrauen und Skepsis bewahrt. Die Frauenhausbewegung wuchs relativ schnell, und heute hat New South Wales allein 49 Frauenhäuser. Die sogenannten »rape crisis centres« gegen die Vergewaltigung und für Opfer von Vergewaltigungen haben dagegen nie das gleiche Maß an Sympathie und Unterstützung erhalten wie das Frauenhausprogramm; und zu keiner Zeit hat sich das Thema der Vergewaltigung als ein wichtiges soziales und politisches Gesellschaftsproblem dargestellt. Ludo McFerran weist zu Recht auf eine merkwürdige Diskrepanz in der Denkweise hin. Immerhin ist das Problem der Gewalttätigkeit, gegen Frauen innerhalb der Familie verübt, der Grund für das Bestehen der Frauenhäuser. Seltsamerweise ist der Kampf gegen die sexuelle Gewalttätigkeit gegen Frauen, die auch außerhalb der Familie und von Fremden verübt werden kann, dagegen kaum von der Öffentlichkeit unterstützt worden und hat daher sehr wenig Zuschüsse sichern können, obwohl Australien angeblich die höchste Anzahl (per Kapita) an Gruppenvergewaltigungen in der Welt hat (McFerran 1989).
Obwohl es der Frauenbewegung sehr half, daß die Bundesregierung sie in vielfacher Weise unterstützte, hatte die Unterstützung auch ihre politischen Grenzen, denn viele rechtliche Fragen werden nicht von der Bundesregierung und dem Bundesgericht entschieden, sondern von den einzelnen Ländern, z.B. Gesetze zur Abtreibung, zur Prostitution oder zur Homosexualität. Jedes Land kann selbst entscheiden, welche Gesetze es annimmt oder ablehnt. Die Kampagnen zur Entkriminalisierung dieser drei benannten Bereiche mußten separat in den einzelnen Ländern geführt werden. In Süd-Australien, unter der Labor-Landesregierung von Dunstan und einer vorwiegend nicht-katholischen Regierung, war die Entkriminalisierung in allen Bereichen recht schnell und erfolgreich durchgeführt worden. Im konservativen Victoria dagegen gab es jahrelange Demonstrationen gegen die Abtreibungsverbote. Die Abtreibungsklinik, die ein Arzt namens Wainer dennoch in den frühen siebziger Jahren eröffnete, wurde immer wieder mit Verbot belegt, unterlag Razzien, sandte den Initiator ins Gefängnis und verursachte immer neue Demonstrationen. In Queensland und auch in West-Australien, den reaktionärsten Ländern Australiens, sind die Kämpfe bis heute nicht abgeschlossen. In Süd-Australien wurde Homosexualität bereits im Jahre 1972 entkriminalisiert, während Homosexualität in Queensland heute noch immer ein strafbarer Lebensstil ist. In New South Wales gibt es schon seit Mitte der siebziger Jahre Abtreibungskliniken.
Daß eine große Zahl an Reformen unter der Whitlam-Regierung erfolgreich verfochten und durchgesetzt werden konnte und in den Landesregierungen einen Widerhall fand, liegt wenigstens teilweise an den Bestimmungen der Legislative für den Bund und die Landesregierungen. Zum einen kann die Bundesregierung in vielen Legislaturfragen eigenmächtig handeln, zum anderen wird in moralischen Streitfragen um eine Gesetzesvorlage im Parlament die Stimme nicht als Parteistimme abgegeben, sondern als »conscience vote« (Gewissensstimme). Sie bindet ParlamentarierInnen nicht an die eigene Partei und beeinträchtigt ihre Karriere nicht, sollten sie sich gegen die Meinung der Partei äußern. Durch die »conscience vote« sind viele potentiell große Konflikte vermieden worden.
Die besondere Leistung der Whitiam Regierung bestand nicht nur in der schnellen Abschaffung von besonders diskriminierenden Praktiken und Gesetzen gegen Frauen oder in Initiativen, die zu neuen Reformen führen konnten, sondern auch in der Setzung neuer Maßstäbe und Denkmodelle. Labors lange Jahre in der Opposition und die damit verbundene Frustration verleitete sie aber auch zu sehr einschneidenen politischen Fehlern. Sie taten zu viel zu schnell — wenigstens für die breite Masse. Obwohl die Reformbedürftigkeit der australischen Gesellschaft im allgemeinen nicht angezweifelt wurde, war das schwindelerregende Tempo der Reformfreudigkeit für viele bedenklich oder gar beängstigend. In knapp drei Jahren hatte die Labor Regierung mehr als 500 Reformvorschläge unterbreitet und diese, wo immer möglich, auch hastig verwirklicht, ungeachtet der Regeln der politischen Vorsicht. Die Whitlam Regierung war so etwas wie eine australische moderne Version des Josephinismus: eine Regierung, die sich durch ihre eigene Fortschrittlichkeit und Aufklärung selbst zerstörte. Am 11.11.1975 wurde sie durch einen coup d'etat vom Governor General, dem offiziellen Vertreter der englischen Königin, abgesetzt, und eine provisorische Liberal Party Regierung unter Frazer benannt. Zur Erschütterung einer immerhin beachtlichen Minderheit, siegte bei den kurz darauf folgenden Wahlen die Liberal Party, die bis 1983 an der Regierung blieb. Somit endete die bisher interessanteste politische Phase in der australischen Nachkriegsgeschichte, und die wichtigste, demonstrativste Phase der australischen Frauenbewegung der Nachkriegszeit war damit abgeschlossen.

Untergrund- und Wühlmausarbeit 1976-1988

Nach der Neuwahl und dem Sieg der Liberal Party im Jahre 1976 wurde es schlagartig stiller in der Frauenbewegung. Es läßt sich hier auf den wenigen Seiten schwer vermitteln, wie groß der Schock und wie tiefgreifend die Erschütterung der Labor Wählerinnen nach der Wahlniederlage war. Es hieß im allgemeinen nicht: schade, daß die Regierung verloren hat, sondern: wir haben verloren. In den Wahlreden der Liberais wurde keine Zeit mit Frauenfragen verschwendet. Die Presse hatte die Labor Party in ein solches Netz von Skandalen verstrickt (z.B. die Kimlani-Affaire) und immer wieder angedeutet, daß die Labor Party viel mehr Geld ausgebe, als sich der Staat erlauben könnte, daß die Liberais sich auf eine sehr beschränkte Geldbeutel- und Beruhigungstaktik verlegen konnten. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als die »Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung« zu versprechen und treuherzig zu beteuern, daß sie verantwortungsbewußter als die Labor Regierung mit der Staatskasse umgehen würden. Solche »Versprechen« eigneten sich bestens dazu, alle möglichen Streichungen und Kürzungen von Geldern vorzunehmen — natürlich im Bereich der Sozialfürsorge, der Frauenprogramme, der Aboriginal-Förderung und der Pädagogik. Frazers klassisch gewordener Satz »Life wasn't meant to be easy« (das Leben war nicht dazu gedacht, einfach zu sein) war kaum ein Trost für die sozio-ökonomisch Benachteiligten der Gesellschaft. Nach dem Sieg der Liberal Party im Jahre 1976 zersplitterten die Frauengruppen immer mehr. Die Beratungsposition für Frauenfragen im Kabinett wurde stark abgewertet und in das Portefeuille eines marginalen Ministeriums abgeschoben (Summers 1986, 62). W.E.L. verlor seitdem an Bedeutung.
Die Presse in Australien hat sich selten des Feminismus in irgendeiner ernsthaften Art und Weise angenommen. Erschien schon mal hin und wieder ein Artikel, dann oft nur, um die Forderungen und Ansprüche der Bewegung lächerlich zu machen. Wie in der Bundesrepublik fehlte es an einer zentralen Organisation, die im Namen der Bewegung hätte öffentlich sprechen können. Von vielen wurde das Fehlen einer überregionalen Organisation nicht als Manko empfunden, sondern als Ergebnis einer bewußten Entscheidung, autonom, anti-hierarchisch und anti-autoritär zu bleiben. Zudem waren sich Feministinnen einig, daß auch das Bestehen einer nationalen Organisation nichts an der Haltung der Massenmedien geändert hätte. Die australischen Medien sind stärker vielleicht als in jedem anderen westlichen, industrialisierten Land zentralistisch und monopolistisch und im Besitz einiger weniger Magnaten. Die australische Frauenbewegung half sich, so gut sie konnte, mit eigenen Publikationen, Journalen und Zeitschriften, die aber nie die Größe oder das Format erhielten, wie z.B. MS in den Vereinigten Staaten.
Trotz der negativen politischen Wende war der Feminismus keineswegs erloschen, aber er erhielt ein anderes Gesicht. Mit der Massenbewegung war es vorbei, aber die Lawine an Reformen für Frauen ließ sich nicht so schnell aufhalten. Schon vorhandene Gesetze wollten die Liberais aus politischen Erwägungen nicht rückgängig machen. Die meisten Arbeits- und Projektgruppen und Programme (für und von Frauen) setzten ihre Arbeit fort, obwohl die Subventionen langsam gedrosselt wurden. Das Bewußtsein der Gewerkschaften war zu dem Zeitpunkt schon auf Frauenfragen eingestellt. Sie nahmen sich, wie immer in Opposition zur Liberal Party, der Frauenfrage unter ihren eigenen Mitgliedern an. Eine Folge davon war, daß nicht nur die Zahl der weiblichen Gewerkschaftsmitglieder in den siebziger und achtziger Jahren immer mehr anstieg, sondern daß auch eine ständig wachsende Zahl an Frauen in den Gewerkschaften aktiv wurden (White 1984, 115).
Die Vernetzung australischer Frauengruppen war immer weiter fortgeschritten. Man darf nicht vergessen, daß Australiens Bevölkerung (mit knapp 16 Mill.) im Vergleich zur Größe des Kontinents verschwindend klein ist. Zwischen einer Landeshauptstadt und der anderen liegen fast immer 1.000 km. Die Frauenbewegung war deshalb sehr stark regional orientiert. Sie entwickelte aber von Anfang an starke publizistische Aktivitäten und ein Verteilernetz, so daß Gruppen in New South Wales wußten, was in Victoria oder in Queensland vor sich ging. Organisationen wie W.E.L., aber auch traditionelle Körperschaften wie die Landfrauen-Organisation (Country Women's Association) haben oftmals dafür sorgen können, daß Informationen in die kleinsten Dörfer und Städte getragen wurden. Die organisatorischen Anstrengungen, Frauen aus allen Teilen Australiens zusammenzubringen, haben sich nach 1975 verstärkt. Abgesehen von den zahllosen Konferenzen, die alljährlich zu Frauenfragen stattfinden und den zahlreichen Interessenverbänden von Frauen im akademischen Betrieb, hat sich besonders die, hauptsächlich von sozialistischen Feministinnen geleitete, Konferenz »Women and Labour« (Frauen und Arbeit), die seit 1976 regelmäßig stattfindet und zirka alle zwei Jahre jeweils in einer anderen Stadt abgehalten wird, bewährt. Zu dieser Konferenz erschienen in den siebziger und achtziger Jahren regelmäßig über 4.000 Frauen aus allen Bereichen der Frauenarbeit und der Frauenbewegung — angesichts der kleinen australischen Bevölkerungszahl ein beachtliches Phänomen.
Ironischerweise litt die als besonders radikal verschriene Frauenhausbewegung vielleicht am wenigsten unter dem Regierungswechsel. Nach Ludo McFerrans (1989) Meinung lag das daran, daß das Modell der Frauenhausbewegung als einer Selbsthilfeaktion durchaus in den ideologischen Rahmen der Liberais paßte. Meiner Meinung nach war die Frauenhausbewegung den Liberais zunächst einmal ein zu heißes Eisen. Die Frauenhausbewegung war, und ist auch noch heute, eine der wenigen überregional organisierten Gruppen, sehr straff geführt, politisch wach und bereit, auf die geringste Provokation schlagfest zu reagieren. In der Frauenhausbewegung haben sich die kämpferischsten Feministinnen gefunden, sie bilden den Kern und die Antriebskraft für Proteste.
Vielleicht ist die Zeit von 1976 bis heute am besten als eine Reformzeit der kleinen Schritte beschreibbar. Schrittweise, wenn auch im Schneckentempo rekelte sich die Legislative von einer Reform zur anderen. Manche von ihnen sind zwar Meilensteine in der Gesetzgebung, wie das Anti-Diskriminierungsgesetz von 1977, aber selbst diese wurden recht still und ohne jegliche öffentliche Reaktion hingenommen. Bemerkenswert war aber die Entwicklungsgeschichte vieler politisch aktiver Feministinnen nach 1976. Viele von ihnen machten Karriere und wanderten in Organisationen, Institute und vor allem in die Bürokratie ab. Der Begriff der »Femocrats« wurde immer häufiger gebraucht, zu Beginn nicht unbedingt abwertend. Diese feministischen Bürokratinnen wollten innerhalb der Strukturen Änderungen herbeiführen, und sie wurden zunächst von vielen unterstützt. Die Devise: von der Straße in den Komiteesaal, von der Demonstration zum Gesetzesvorschlag, von den politischen Parolen zur Programmgestaltung, schien manchen (selbst manchen radikalen) Frauen als ein Schritt, den man versuchen sollte. Aber der Optimismus ist in den achtziger Jahren längst geschwunden. Seit 1983 ist wieder eine Labor-Regierung (unter Bob Hawke) am Ruder, eine Regierung, die allerdings in nichts mit der Whitlam-Regierung vergleichbar ist. Auch unter dieser Regierung geht der Kleinkrieg weiter, während die »Femocrats« innerhalb der Bürokratie und ebenso innerhalb der Frauenbewegung in Außenseiterstellungen abgedrängt immer ineffektiver werden. Innerhalb der Bürokratie glaubt man ihnen nicht, daß sie unparteiische und sachliche Entscheidungen treffen können, weil sie mit einer Mission behaftet sind, außerhalb der Bürokratie glaubt man ihnen nicht, weil sie die Bürokratie verteidigen, die den Frauen tatsächlich immer weniger zu bieten hat (Summers 1986b, 62).
Seit der Mitte der achtziger Jahre begannen Feministinnen Bilanz zu ziehen. Sicherlich: es gab eine Reihe von Veränderungen. Besonders in Schule und Universitäten hatte das weibliche Geschlecht aufgeholt und ist nun in den meisten Disziplinen gleich stark vertreten — wenigstens in den meisten Fakultäten. Chancengleichheit ist gesetzlich verankert und in mancher Weise hat sie die Berufsaussichten der Frau wirklich verbessert. Frauen haben mehr Auswahl in den Lebensweisen, verlassen unglückliche Ehen schneller und bereitwilliger, mehr Frauen als je haben sich im Berufsleben zu gehobenen Stellungen emporgearbeitet. Sie können legal abtreiben, ihren Ehemann wegen Vergewaltigung vor Gericht stellen, sich vor weiteren Angriffen gegen brutale Ehemänner, Freunde oder Brüder mit Hilfe des Gesetzes schützen. Sie können Pilotinnen, Bauarbeiterinnen und Kranführerinnen werden und ihren eigenen Besitz verwalten. Diese Freiheiten (und natürlich eine Reihe anderer Faktoren) haben auch zu Veränderungen in der Familienstruktur geführt. Frauen haben nicht mehr so viele Kinder wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Immer seltener sind sie »nur« Hausfrauen. Die typische Familie, bestehend aus Mann, Frau und zwei Kindern (die Mutter als Hausfrau) gibt es kaum mehr. 1987 waren es nur 11% und insgesamt lebten nur 25% aller Erwachsenen in Familien mit mehreren Kindern (und der Mutter als Hausfrau) (Nelson 1986, 25).
Aber die Bilanz hat bisher mehr negative Seiten zu Tage gebracht als positive. Die großen Reformen der siebziger Jahre, so schreibt Bettina Cass, haben viel weniger Schlagkraft gehabt, als Frauen hofften (1988, 116). Im Schnitt verdienen Frauen nur zwei Drittel des Einkommens der Männer (Sheen 1987, 19), fast 80% aller Teilzeitbeschäftigten sind Frauen. Sie bilden weiterhin die Masse der Kleinverdienerinnen. Die große Mehrheit derjenigen, die in Armut oder an der Grenze des Existenzminimums leben, sind Frauen (Cass 1988, 117). An der Machtstruktur hat sich wenig, wenn überhaupt etwas geändert. Frauen sind nach wie vor selten in leitenden Stellen zu sehen (die Zahlen sind hier identisch mit denen in der Bundesrepublik) und eine immer größer werdende Zahl von Frauen hängt von der Sozialfürsorge ab (Sheen 1987, 116). Feministinnen fragen sich, ob ihre Siege im letzten Jahrzehnt nicht Pyrrhus-Siege waren. Australien befindet sich in einer schleppenden Wirtschaftskrise. Die Stimmung ist abwartend. Aber unter der wartenden Pose werden, noch versteckt, der Ärger und die Enttäuschung größer. Der neue Mißmut hat sich unlängst in Sydney wieder Luft gemacht. Jede Woche gab es große Demonstrationen in New South Wales unter der neuen radikal rechten Landesregierung. Bei den Demonstrationen waren bedenklich wenig junge Frauen. Die Demonstrantinnen sind hauptsächlich die, die schon in den siebziger Jahren demonstrierten. Wir wissen noch nicht, was das heißt. Wir wissen aber, daß die Kampagnen der letzten zwanzig Jahre auf große Teile der Bevölkerung gewirkt haben. Feministinnen sind heutzutage gesellschaftsfähige »Dissenters«.
Seit August 1989 hat Australien eine Feministische Dachorganisation. Die NW (National Foundation for Australian Women) setzte sich zum Ziel, dafür zu sorgen, daß die Ideale der Frauenbewegung überleben und die feministischen Ziele auch in Zukunft in die Realität umgesetzt werden. Verhaltensweisen und Anschauungen in Fragen von Geschlechtsrollenidentität und -Verteilung haben sich grundsätzlich geändert, aber die ökonomische Realität ist eine Falltür geblieben, durch die Frauen nach wie vor mit großer Regelmäßigkeit rutschen. Die sozialistischen Feministinnen sagen nun: daß es so kommen würde, hätten wir Euch allen gleich sagen können: ohne Strukturveränderungen in einer Gesellschaft, die auf Ungleichheit und Hierarchien aufgebaut ist, läßt sich die Ungleichheit der Frau nicht beheben. Die zweite Welle hat eine Flut an Publikationen ausgelöst, Zeitschriften ins Leben gerufen, eine neue feministische Kultur geschaffen und eine ähnliche post mortem Flut an Analysen ausgelöst. Wohin sie in ihrem 21. Lebensjahr gehen wird, weiß niemand. Um Kant zu paraphrasieren: man wünscht sich den Ausgang aus einer nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit.

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