Helga Timm

Ohne uns keine Reform des §218

Gespräch vom 30. 12. 1984 in Darmstadt und am 1. 7.1986 in Bonn

Helga Timm: Ich bin 1924 geboren und in einem Hamburger Arbeiterviertel im Scheideweg, der zwischen Eimsbüttel und Hoheluft lag, groß geworden. Zusammen mit unserem Großvater mütterlicherseits wohnten wir in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung. Meine Schwester und ich haben als Kinder in einem Bett geschlafen. Ich habe ihr immer die Füße gewärmt und ihr abends Geschichten erzählt. In unserer Straße wohnten hauptsächlich Arbeiter, kleine Beamte und Angestellte. Wenn wir Kinder Anfang der dreißiger Jahre auf der Straße spielten, wußten wir von den Eltern, wer Nazi, wer Kommunist und wer Sozi war. Es wurde über die Umzüge geredet und geprahlt: »Ihr seid ja nur in Dreierreihen, wir sind aber in Fünferreihen gegangen. Unserer war der längere Zug!« Ich bin zwar nicht mitmarschiert, aber an Vaters Hand, es muß 1931 oder 1932 gewesen sein, bin ich mit den Sozialdemokraten am Rande der Umzüge mitgegangen. Vater war beim Reichsbanner.[1] An der Ecke unserer Straße war ein Vereinslokal der Sozialdemokraten, dort gab es viele Schlägereien. Später wurde es ein Nazi-Lokal. Vater und Mutter waren Sozialdemokraten, ebenso mein Großvater, der bei uns wohnte. Er hatte Tischler gelernt. Vater war ebenfalls Handwerker und hatte auch Tischler und Zimmermann gelernt. Nach dem Krieg war er in einer kleinen Tischlerwerkstatt angestellt und wurde nach der Inflation 1924 für kurze Zeit arbeitslos. Er ist dann aber wieder bei der Firma Dudler eingestellt worden, die hohe Stücke auf Vater gehalten hat, weil er ein so tüchtiger Arbeiter war. Mein Vater wurde Werkführer und hat 1932, als Dudler starb, den Betrieb in Pacht übernommen.
Renate Lepsius: Also war auch er Meister?
H. T.: Nein, er hat nie den Meister gemacht, deshalb durfte er zum Beispiel keine Lehrlinge ausbilden. Aber er hat im Grunde dort die Meisterfunktion übernommen. Als Vater als Werkführer den Betrieb übernahm und auch mehr Einkommen bezog, sind wir umgezogen. Meine Mutter war die treibende Kraft. Mein Vater war sehr fleißig, umsichtig und intelligent. Meine Mutter hielt unsere Wohnverhältnisse für unerträglich und litt sehr darunter, daß wir Kinder keinen Raum für uns hatten. 1932 sind wir also fünf Minuten weiter in den Eppendorfer Weg, der in einem bürgerlichen Viertel liegt, gezogen, in eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung mit Zentralheizung und mit einem Badezimmer! Wir kamen in ein Haus, in dem fast nur Nazis wohnten. Das spürte man sofort. In diesem Haus waren wir immer isoliert, obgleich wir die Wohnung sehr geliebt und uns dort wohl gefühlt haben.
R.L.:Haben deine Eltern auch Bücher gelesen?
H.T.: Ja, beide. Da muß ich ein bißchen weiter ausholen: Mutter hat schon vor dem Ersten Weltkrieg über die Sozialistische Jugend ungeheuer viel Bildung aufgenommen. Ihre Mutter war gestorben, als sie dreizehn Jahre alt war. Sie mußte dann als Dreizehn-, Vierzehnjährige für ihren Vater und ihre drei Brüder sorgen und wurde sogar deshalb ein Jahr eher aus der Volksschule genommen. Sie hat eine lebhafte Intelligenz. Über die Brüder und Freunde ist sie einfach hineingezogen worden in die Jugendbewegung.
R. L: Da gab es wohl den Wunsch, mehr zu wissen, als man gemeinhin als Arbeiter wissen konnte?
H. T.: Es war eigentlich ihre Interpretation vom Arbeitersein. Sich zu bilden gehörte für meine Eltern zum Sozialismus. Sie haben auch die Angebote, die damals die sozialistischen Gewerkschaften, die Genossenschaften und die Partei offerierten, wahrgenommen. Vieles war ja im Grunde der bürgerlichen Schicht nachempfunden, aber es wurde aus sich selber heraus entwickelt. Vater kam direkt vom Land aus einer Bauernfamilie als jüngster Sohn von zehn Kindern. Als er heil aus dem Krieg kam, ist er, geprägt durch die Kriegserfahrung, in die Gewerkschaft eingetreten. Ich weiß aber nicht genau, wann meine Eltern Mitglieder in der Partei wurden. Ich habe an einer ganz anderen Entscheidung versucht nachzuvollziehen, wie meine Eltern eigentlich gelebt haben. Es stellte sich mir immer die Frage, was sie bewogen hat, ihre beiden Töchter auf eine Reformschule zu schicken. 1926 ist meine Schwester und 1931 bin ich in die Telemannstraße in Eimsbüttel eingeschult worden. Das war eine besondere Schule, eine »rote« Volksschule: mit Koedukation, mit einem gewählten Lehrerkollegium, viel Sport und ganz moderner Pädagogik. Die Lehrer waren politisch, waren Sozis und Kommunisten. Es gab auch ein paar ausgesprochene Reformpädagogen darunter. In ganz Hamburg existierten damals nur zwei koedukative Volksschulen.
Unsere Schule war für meine Eltern und für uns Kinder ein ganz ausschlaggebendes Entwicklungs- und Einflußinstrument, denn die Schule Telemannstraße war eine »Schulgemeinde«: Eltern, Schüler und Lehrer arbeiteten zusammen. Mein Vater hat zum Beispiel, wie andere Eltern auch, als Handwerker mitgeholfen, ein Schullandheim in Neugraben bei Harburg in der Heide aufzubauen. Meine Mutter, die auch im Elternchor war, fuhr als Kochmutter mit, wenn meine Schwester mit der Klasse im Schullandheim war. Ich durfte dann schon als kleine Vier- bis Fünfjährige mit. Neugraben war für uns ein Natur- und Wandererlebnis; es erinnerte alles auch ein bißchen an den Wandervogel. Auch dies war Arbeiterbewegung. Es gehört für mich zu dieser sozialistischen Kultur oder Arbeiterkultur. Das Konzept haben die Eltern und Lehrer gemeinsam entwickelt.
R.L.: Was hat die sozialistische Programmschule für dich bedeutet, nachdem 1933 die Nazis an die Macht gekommen sind?
H.T.: Ich hatte Lehrer, die intensiv musisch mit uns gearbeitet haben. Ich habe lange gemalt, habe dann malend schreiben gelernt. Wir haben gesungen, gespielt, Musik gemacht und Gedichte aufgesagt. Sechs Lehrer wurden 1933 sofort versetzt. Die Schule wurde kaputtgemacht. Wir bekamen einen Schulleiter, der in Uniform erschien. Wir Kinder wußten alle ganz genau, was da passierte. Es herrschte ein innerer Widerstand. Wir haben über die gelacht und natürlich unseren Lehrern nachgetrauert.
R. L: Habt ihr denn mit »Heil Hitler« gegrüßt?
H.T.: Ja, später! 1933 war es auch mit der Koedukation vorbei. Wir blieben zwar in einer Schule, aber Jungen und Mädchen kamen in getrennte Klassen. Wir haben den Lehrern im ersten und zweiten Jahr wahnsinnige Schwierigkeiten gemacht, bis wir herausbekamen, daß diese neuen jungen Lehrer auch Antifaschisten waren, wenngleich es nicht so ausgeprägte Sozialdemokraten waren wie die vorhergehende Gruppe. Aber das Kollegium hat tatsächlich den ganzen Krieg über zusammengehalten.
R. L: War die Schule für dich eine Art Insel während der Nazizeit?
H.T.: Ja, Schule und Elternhaus zusammen. Wichtig war vor allem dieses Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Eltern, in das die Kinder mit eingebunden waren. Wir erlebten ein Stückchen heile Welt, über die ich immer noch staune und die ungeheuer viel für mich bedeutet hat, weil es von daher ein ungebrochenes Vertrauen gibt. Aus dieser zweiten Generation der Lehrer sind nach dem Kriege führende Reformpädagogen geworden.
R. L: Wo lagen deine Interessen?
H. T.: Hauptsächlich beim Thema Geschichte, aber eigentlich habe ich lange Zeit keine spezifischen Interessen gehabt. Ich ging überhaupt gern in die Schule. Ich mochte alle Fächer. Es war nicht selbstverständlich, daß mich meine Eltern nach den ersten vier Schuljahren unbedingt auf die Höhere Schule schicken wollten. Ich war ein ziemlicher Spätzünder. Aber als meine Schwester auf die Aufbauschule überwechselte, wollte ich das auch. Gerechtigkeitssinn wurde großgeschrieben. Daß ich eine ältere Schwester hatte, war also schon sehr wichtig. Ich habe das Abitur 1943 gemacht. In den BDM bin ich 1937 eingetreten.
R. L: Welche Ziele hattest du denn nach dem Abitur?
H.T.: Es war mitten im Krieg. Meine Schwester studierte inzwischen Mathematik in München, und ich besuchte sie für zwei Wochen. In München bekam ich Scharlach, denn es herrschte gerade eine Scharlachepidemie. So war ich sechs Wochen im Krankenhaus. Ein reizender Arzt verschrieb mir noch drei Wochen Urlaubszeit obendrauf. Ich hatte meinen Einberufungsbefehl zum Arbeitsdienst. Aber da ich krank war, konnte ich ihn nicht antreten. Scharlach war eine fabelhafte Krankheit.
Ich kam also im Juni 1943 zurück und habe mich dann nicht mehr zum Arbeitsdienst gemeldet, habe mich also davor gedrückt. Es war mir schon klar, daß ich dann Geschichte studieren wollte.
R. L: Wolltest du Lehrerin werden?
H.T.: Ja, was sollte man anderes werden? Und das Pädagogische lag mir nie fern. Ich hatte nie ein akademisches Ziel, sondern mehr die praktische Umsetzung im Auge.
Dann kamen vom 24. Juli bis zum 3. August die schweren Angriffe auf Hamburg. Wir wurden total ausgebombt. Wohnung und Betrieb waren kaputt. Die ganze Familie ging zusammen zu unseren Verwandten aufs Land. Der Betrieb meines Vaters wurde wiederaufgebaut. Zuerst wurde eine kleine Baracke aufgestellt, und dann wurden langsam die durch das Feuer beschädigten Maschinen wieder so hergerichtet, daß man sie benutzen konnte. Im Herbst 1943 sind wir schon wieder nach Hamburg zurück in eine kleine Wohnung gezogen. In der Zeit habe ich dann für Vater die Kontorarbeit gemacht, die meine Mutter übrigens eine Zeitlang vor mir erledigt hatte. Ich habe damals viel Zeit für mich gehabt und Latein und Griechisch gelernt, auch habe ich ein bißchen in die Universität hineingehorcht.
R. L: Wie habt ihr eigentlich den 8. Mai erlebt ?
H.T.: Als Befreiung von Krieg und Nazi-Terror. Ich habe gedacht: Zum ersten Mal kann ich zu einer Mehrheit gehören. Es war etwas ganz Neues, wirklich ein Stück Freiheit. Ach, dieser wunderbare Mai, ich habe ihn als neuen Lebensanfang in Erinnerung. Als die Engländer kamen, war vom 3. bis 8. Mai Ausgangssperre. Man durfte nicht auf die Straße. Die Engländer gingen halbbetrunken durch die Gassen und feuerten herum. Aber die Besatzung war uns allen lieb.
R. L: Bist du dann 1945 sofort an die Universität gegangen?
H. T.: Ich habe mich gleich nach den Studienmöglichkeiten erkundigt. Das Hauptgebäude der Universität war relativ unbeschädigt. Ich hatte ja als Gasthörer mit meinem Not-Abitur keinen Zutritt. Aber im Wintersemester 1945/46 bin ich einmal schlau gewesen in meinem Leben und habe versucht, im Johanneum, der Gelehrtenschule Hamburgs, anzukommen. Ich wurde
auch aufgenommen und habe dann im Frühjahr 1946 das Abitur nachgemacht. Das war das erste und einzige Mal in meinem Leben, glaube ich, daß ich bei einer wichtigen Sache mit vollkommen reinem Gewissen geschummelt habe. Im Griechischen wäre ich nie durchgekommen, wenn mir da nicht andere geholfen hätten. Dann habe ich Altphilologie und Geschichte studiert. An der Uni erlebte ich die ersten harten politischen Diskussionen. Ich hatte dann davon gehört, daß sich Sozialdemokraten wieder trafen und eine Gruppe gebildet hatten.
Heinz Joachim Heydorn und Irmgard Hose, seine spätere Frau, waren eigentliche Kristallisationspunkte. Sie kam aus dem ISK.[2]
R. L: In die SPD bist du mit deinem Vater 1946 eingetreten. An der Universität habt ihr den SDS gegründet. Gehörst du nicht zu den Gründungsmitgliedern ?
H.T.: Ja, ich habe mich eigentlich immer zu den Gründungsmitgliedern gezählt. Wir waren an der Universität als politische Hochschulgruppe anerkannt, durften Anschläge aushängen und Räume benutzen. Das haben wir, glaube ich, alles im Verlauf des Jahres 1946 erreicht. Wir haben auch Wanderungen gemacht. Ich meine mich zu erinnern, daß Helmut Schmidt im Winter 1946 zu uns gestoßen ist.
R. L: Die Hamburger SDS-Gruppe war in der damaligen Zeit für ihre fortschrittlichen Ideen bekannt.
H.T.: Ja, wir haben uns stark mit den Kommunisten auseinandergesetzt und uns von ihnen abgegrenzt. Wir waren, glaube ich, ziemlich modern. Wir haben dafür gekämpft, auch Leute mit aufzunehmen, denen gegenüber man als Sozialdemokraten Vorurteile hatte, beispielsweise Berufssoldaten.
R. L: Das heißt, ihr habt versucht, in bürgerliche Kreise hereinzukommen und nicht nur im engen sozialistischen Zirkel im Sinne der Arbeiterbewegung zu bleiben, sondern diese zu öffnen.
H.T.: Ich hab' mich ganz bewußt dafür eingesetzt, daß andere Leute den Weg zu uns finden konnten.
Wir Mädchen hatten von Beginn an einen ziemlich großen Einfluß. Der Anteil der Frauen in der Gruppe betrug fast 25 Prozent, im Unterschied zu vielen anderen Gruppen, wie zum Beispiel den Göttingern und Marburgern, mit denen wir ziemlich bald Kontakt aufnahmen. Helmut Schmidt wurde dann ja auch bald der »Zonenfürst« und 1947 Bundesvorsitzender des SDS.
R. L: Wie war das, als Helmut zu euch gestoßen ist?
H.T.: Er kam, glaube ich, im Winter 1946 und war ziemlich schnell der Mittelpunkt. Er war der Erfahrene, der Ältere, auch sehr schnell Zentrum für Stabilität, auch für Schwung und Vorangehen. Ich wurde seine Stellvertreterin.
Wir sind auch gewandert, in die Heide gefahren, haben Lagerfeuer gemacht, und wir haben gesungen. Wir haben alles so genossen! Damals habe ich angefangen zu rauchen, weil es ja nichts zu essen gab. Wir hatten in der Theaterstraße, im Parteibüro, einen Riesentisch, an dem wir uns trafen. Dann ging eine halbe Zigarette um den Tisch. Wer eine hatte, der sozialisierte sie. Wir haben auch Plakate und Rundschreiben gemacht. In dieser Zeit haben wir auch den Förderkreis aufgebaut, um denen zu helfen, die finanziell schlecht dran waren. Wir haben frühere sozialistische Studenten aus der Weimarer Zeit angesprochen, die was bei den Genossenschaften geworden waren. Professor Ortlieb und ich hatten gemeinsam den Vorsitz, ich von der Studentenseite, er von der Fördererseite. Daß man so etwas in Selbsthilfe organisieren muß, das war eine typische Helmut-Schmidt-Idee.
R. L: Du hast sehr schnell auch internationale Kontakte aufgenommen und bist ins Ausland gereist - damals durchaus ein Privileg.
H.T.: Die Sozialistische Jugendinternationale machte im Winter 1947 in Haarlem in Holland eine Winterschule und lud einen von uns ein. Vermutlich weil mein Englisch schon ganz gut war, wurde ich ausgewählt. Es war wunderbar für mich. Es war das erste Mal, daß ich aus Deutschland rauskam. Bis an die Grenze hatten wir noch ein Ticket, ab dann mußten die Holländer bezahlen. Ich traf im Zug eine Berlinerin, die von den Jungsozialisten kam. Wir waren beide ohne Geld und mußten dem Schaffner erklären, daß wir unsere Tickets in Amsterdam erhalten würden. Wir haben ihm die Einladung gezeigt. Er hat uns alles geglaubt und uns weiterfahren lassen, es war rührend! Er hat uns sogar noch einen Gulden gegeben, wir sollten uns einen Kaffee kaufen. Den Gulden haben wir aber für den Fall gespart, daß wir verspätet ankämen. Es war auch tatsächlich am Bahnhof niemand da. So haben wir uns zumindest mit einem Gulden die Straßenbahn leisten können. Da war Licht, da waren beleuchtete Geschäfte und volle Blumenläden. Diese Blumenläden und das Licht werde ich nie vergessen. Das war 1947. Es war für mich die erste Erfahrung internationaler Versöhnung mit Holland. Wir haben dann im Mai 1948 bereits ein internationales Treffen in Barsbüttel bei Hamburg durchgeführt.
R.L: Du hast 1952 bei Fritz Fischer deine Promotion abgeschlossen. Wie bist du auf die Frage der Weimarer Republik und den Rücktritt von Müller gekommen ?
H.T.: Das Thema lautete genau: »Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der Großen Koalition im März 1930.« Ich bin nicht mehr ganz sicher, wie der Hergang gewesen ist. Auf jeden Fall bin ich nicht über mein Studium, sondern über meine politische Erfahrung auf dieses Thema gekommen. Über die Zeit vor 1933 herrschte das absolute Nichtwissen. Es gab keine wissenschaftliche Forschung. Was mitteilbar war, wäre ja bloß subjektive Meinung gewesen. Alles waren einfach offene Fragen. Ich hatte aus meiner Schulzeit zwei Ereignisse mitbekommen: 1923 und 1933, die beiden großen »Hitlerdaten«. Von meinen Eltern wußte ich natürlich, daß alles ganz anders war auch aus meinen eigenen Kindheitseindrücken. Aber wie konnte es passieren? Diese zeitgeschichtliche Neugier war sicher unmittelbar aus der Erfahrung in der Gruppe entstanden, und daraus entwickelte sich mein sozialpolitisches Interesse.
Mein großes Glück war, daß die »Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien« mein Buch als erste Veröffentlichung in der Reihe der Beiträge gebracht hat. Es ist der Anfang in einer langen Reihe von Publikationen.
R.L.: Wie kam es dann eigentlich zu deiner beruflichen Entscheidung für das UNESCO-Institut in Gauting, und wer hat dich dabei gefördert?
H.T.: Während meiner Studentenzeit habe ich mich in der Partei und auch in Studentengruppen immer mit Jugendarbeit beschäftigt. Mir stellte sich nun die Frage, was ich beruflich mit meiner Dissertation machen sollte. Ich wollte in die Jugendarbeit, also praktisch tätig sein. Ich strebte nie eine akademische Laufbahn an. Das habe ich mir nicht zugetraut. Außerdem mußte ich meinen Unterhalt verdienen und für meine Mutter sorgen. Über das Jugendamt traf ich mit der Jugendsenatorin Paula Karpinski, der Vorgängerin von Irma Keilhack, zusammen. Durch eine Volontärstelle in einem Jugenderziehungsheim für gestörte und gefährdete Kinder erhielt ich die Möglichkeit, in den verschiedenen Sparten als Lehrerin zu praktizieren. Ein Jahr lang war ich auf der niedrigsten Stufe der Angestellten tätig und habe dort 280 DM verdient. Aber alle haben gesagt: »Helga, wir horchen uns für dich um.«
R. L: Es war die Zeit mit der höchsten Arbeitslosigkeit von über 8 Prozent. Mir ist es 1953 praktisch genauso ergangen.
H.T.: Dann hörte die Jugendbehörde aus dem Kuratorium des Unesco-Instituts, daß eine Deutsche als Mitarbeiterin gesucht wurde. Geholfen hat mir auch, daß mein Buch veröffentlicht war: ein Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation. So kam ich nach Gauting. Ich mußte meine Mutter allein lassen, für mich war es eine weitere wichtige Ablösung, die ich vollzog - in Wahrheit eine wirklich große Krise.
R. L: Du hast dich von deiner Mutter abgenabelt, aber gleichzeitig lebenslang Verantwortung für sie getragen ?
H.T.: Meine Mutter hatte, wie es bei Handwerkern üblich war, keine vernünftige Rente. Ab dem Rentenalter habe ich sie versorgt. Es war eine große Sache, daß mir bei der Unesco 750 DM gezahlt wurden. Das war sehr viel Geld. Im Grunde traf ich dort auf eine Kombination von Aufgaben, die mir wie auf den Leib geschrieben war. Wir haben auf der einen Seite internationale Jugendbegegnungen organisiert, also mit Praktikern in Seminaren zusammengearbeitet, auf der anderen Seite haben wir Forschung betrieben mit Forschern aus aller Welt, aus Ost und West. Sogar Russen waren dabei. Im UNESCO-Institut war ich für die internationalen Gäste zuständig, auch für die Juden aus Amerika, darunter bekannte Sozialwissenschaftler. Ich habe auch Freundschaften geschlossen. Diese Brückenschlagfunktion habe ich bewußt wahrgenommen. So habe ich eine große Nähe zu Israel entwickelt, war aber erst 1978 zum ersten Mal dort.
R. L: Es ist schon interessant, daß du mit internationaler Arbeit beginnst und diese im Grunde als Parlamentarische Geschäftsführerin wieder aufgenommen hast. Deine Mitarbeit in der Interparlamentarischen Union ist ja wohl eine Fortsetzung dieser Tätigkeit, wenngleich auf parlamentarischer Ebene.
Es interessiert mich nun, ab wann du politisch tätig geworden bist. Ende der fünfziger Jahre sind wir beide uns in München begegnet im Kreise der »sozialdemokratischen Akademiker« um Hans-Jochen Vogel.
H.T.: Als ich nach Gauting kam, haben wir das Institut auch für Tagungen deutscher Gruppen geöffnet, um die ich mich sehr gekümmert habe. Dadurch habe ich auch meine politischen Kontakte nicht aufgegeben. Zwar war ich nie als Funktionärin in der Partei tätig, aber durch meine Referenten-und Gruppentätigkeit habe ich beinahe kein Wochenende in Gauting verbracht. Helga Grebing lernte ich 1953 über Thomas Ellwein kennen, der bei uns auch eine Gruppe betreute und sagte: »Wir haben eine junge Lektorin in unserem Oldenbourg-Verlag, sie hat auch über Parteien gearbeitet wie Sie. Sie müssen sich unbedingt kennenlernen.« Seitdem sind wir gut befreundet. Vor der Wahl von Hans-Jochen Vogel 1959 lernten wir uns kennen. Du kamst mal in eine Gruppenversammlung, der Jochen vorsaß. Ich sehe ihn noch vorne sitzen, und du kamst hereingeschritten. Jochen wurde dann 1960 zum Oberbürgermeister von München gewählt.
R.L.: Waren das deine ersten praktischen Erfahrungen mit der politischen Arbeit?
H.T.: Ich habe heute zufällig einen Vortrag gefunden, den ich 1959 bei den SPD-Frauen über »Vorurteile der Frauen gegen Politik« gehalten habe. Damals hatte Annemarie Renger ihre Finger im Spiel. Es gab eine Einrichtung - leider ist sie eingeschlafen und nie wieder erwacht -, die man aber wiederbeleben sollte: ein Treffen der Frauen aus den Landtagen und dem Bundestag. Die Frauen waren begeistert von meinem Vortrag. Das hat mir sehr geholfen. Seitdem wurde ich von denen akzeptiert, 1960 bin ich mit dir in den Bundesfrauenausschuß gekommen. Marta Schanzenbach muß mich auch benannt haben.
R.L.: Kannst du dich denn erinnern, wann du zum ersten Mal Parteitagsdelegierte geworden bist, also die Beschlüsse der Partei mitbestimmen konntest ?
H.T.: Auf einem Bundesparteitag bin ich nie gewesen.
R.L: Du meinst, bevor du in den Bundestag gekommen bist?
H.T.: Nein, ich war noch nie ordentliche Delegierte. Jetzt komme ich nur über die Fraktion hin. Mein erster Bundesparteitag war 1970 in Saarbrücken.
R.L.: Das ist ja erstaunlich! Ich bin sehr früh, ab 1961, zum ersten Mal als Delegierte für den Bundesparteitag gewählt worden und immer durchgekommen.
Du bist dann 1965, als das UNESCO-Institut geschlossen wurde, nach Frankfurt an die »Akademie der Arbeit« gewechselt.
H.T.: Ich wußte überhaupt nicht, was werden sollte. Mutter hing an mir. Ins Ausland zu gehen war zu unsicher. Und die Voraussetzung für den Schuldienst erfüllte ich nicht, weil ich kein Staatsexamen hatte. Ende 1964 ist schließlich Ludwig Preller auf mich zugekommen, der durch meine Arbeit auf mich aufmerksam geworden war. Er suchte jemanden für die »Akademie« in Frankfurt,[3] weil er pensioniert wurde. Mich plagten große Zweifel, ob ich dem gewachsen sein würde.
R. L: Es war ja ein entscheidender Schritt - von der Praxis in die wissenschaftliche Lehre.
H.T.: Ich hatte ja mein sozialwissenschaftliches Zusatzstudium an sich aus zweiter Hand gemacht: durch meine UNESCO-Tätigkeiten und die vielen Seminare, die ich durchgeführt hatte. Preller meinte: »Das reicht völlig aus.« Das Wichtigste sei, daß ich die jungen Leute lehren würde zu lernen. Dabei hat er sehr unterschätzt, daß man auch inhaltlich was können und wissen muß, um an der Sache das Lernen zu lehren.
R. L.: Also du hast schon gespürt, daß du für diese Arbeit nicht ausgebildet warst, sondern daß du dir alles erst erarbeiten mußtest?
H.T.: Ja, vor allem bei der Sozialpolitik. In meiner Dissertation hatte ich mich nur im Sinne historischer Forschung mit dem Thema beschäftigt, aber nicht im Sinne politischer Gestaltung. Was wußte ich 1959 schon davon, was die Rentenformel und was die Rentenreform bedeuteten ? Mein schwerstes Jahr in meiner ganzen beruflichen Tätigkeit war das erste Jahr in der »Akademie der Arbeit«. Da habe ich mir abends was eingepaukt und es am nächsten Tag weitergegeben. Das war im Grunde verrückt. Es war noch besonders schwer, weil die Jahre 1966 bis 1968 durch die Studentenbewegung geprägt wurden. Die Studenten und die Akademiehörer wurden davon natürlich ergriffen, und meine Leute wußten auch etwas vom Streik!
R. L: Waren denn deine Hörer agitiert im Sinne der Studentenrevolte?
H.T.: Und wie! Auch die Akademiehörer haben ihre Reformbewegungen gemacht. Es war eine sehr lebhafte, harte Zeit.
R.L.: Wie kam es zu deiner Kandidatur zum Deutschen Bundestag 1969, die ja wohl im Zusammenhang mit deiner Lehrtätigkeit stand? Seit wann hast du deine politischen Kontakte in Frankfurt stabilisiert und bist ins Gespräch gekommen?
H.T.: Während ich an der Akademie arbeitete und in Frankfurt heimisch wurde, hatte ich schon Kontakte zum Ortsverein, aber auch zum Oberbürgermeister Möller, der gleichzeitig Unterbezirksvorsitzender war. Er leitete den Frankfurter Kreis, starb aber sehr früh. Die Frankfurter haben ihre hervorragenden Bürgermeister immer verschlissen! Es gab stets solche Gesprächskreise, übrigens auch mit Max Horkheimer. Komischerweise war ich auch dabei. Horkheimer hat mich sehr beeindruckt. Ich mochte seine Art des Philosophierens. Er gehörte zu den wenigen Menschen, denen ich ihre Eitelkeit immer verziehen habe. Er hat mich auch gefördert.
R. L: Er war eindrucksvoll als Persönlichkeit.
H.T.: Ich war also in der Frankfurter Partei einigermaßen bekannt, besonders auch bei den Frauen, zu denen ich Kontakt gehalten hatte, insbesondere zu Frolinde Baiser. Wir machten beide im Juni 1968 bei der Bundesfrauenkonferenz in Saarbrücken mit, auf der ich mein vielbeachtetes Referat hielt. Damals galt ich als links, weil ich viel Verständnis für die Jungen aufbrachte und die Frauen ein bißchen rumgedreht habe, hin zur Offenheit gegenüber den Studenten und ihren Fragestellungen.
Ich erinnere mich noch, Käte Strobel kam auf mich zu und sagte: »Helga, es war ein gutes Referat. Ganz so weit wäre ich allerdings nicht gegangen.« Sie war Ministerin und Abgeordnete. Ich bin auch nicht sicher, ob ich mich später als Abgeordnete auch so frei gab. Das war ich ja noch nicht. Ich war ein freier Mensch. Ich war Sozialdemokratin und durfte meine Meinung sagen.
Frolinde Baiser wollte wohl gerne in den Bundestag, aber sie war schon als »die Rechte« abgestempelt. Sie wußte, daß sie keine Chance hatte. Aber Frolinde ist ja immer fabelhaft gewesen. Sie hat gesagt: »Für eine Frau, und wenn es jemand anders ist, für die kämpfe ich!« Sie rief mich an und sagte: »Helga, du hast eine Chance. Würdest du kandidieren?« Das muß im Herbst 1968 oder auch schon Anfang 1969 gewesen sein. Ich habe damals nur gesagt: »Ich bin gern bereit, mit auf die Liste zu gehen. Nur, es muß dann ein Platz sein, der ein wenig aussichtsreich ist. Einen Platz unter >ferner liefen< kann ich mir nicht mehr leisten.« Geholfen hat mir natürlich auch der Kontakt zu Möller und anderen. Ich hatte die Akademie im Hintergrund und für die Offenbacher war ich die Gewerkschaftlerin. Ich wurde damals vom Frankfurter Unterbezirk für die Liste vorgeschlagen, auf Platz 20, bei der Delegiertenversammlung bin ich auf Platz 24 gerutscht.
R.L. Erst 1980 hast du mit Darmstadt einen Wahlkreis bekommen?
H. T. So ist es. Brigitte Freyh war Nummer zwei auf der Liste. Dann wollten sie noch eine Frau mehr haben, damit es optisch besser aussah. Ich habe kaum geglaubt, daß ich rein käme. Es war ein Plus-Minus-Platz.
R.L. Mit den Frankfurtern oder, mit Hessen-Süd ist es ja schon komisch. So progressiv sie sich in der politischen Auseinandersetzung der Gesamt-SPD gaben, so konservativ sind sie noch heute mit der Vertretung von Frauen auf ihrer Liste.
H.T.: Das kann man wohl sagen. Ich bin, bis Frolinde Baiser und Christa Czempiel 1979 nachrückten, seit 1972 die einzige Frau im Bundestag für Hessen gewesen. Nun muß ich auch gestehen, daß es Anfang der siebziger Jahre mit der AsF sehr schwierig war. Es gab große Kämpfe. Ich saß immer zwischen zwei Stühlen. 
R.L.:Als der Bundesfrauenausschuß 1973 auf die AsF umgestellt und dann gewählt wurde, hast du eine Funktion im Bundesvorstand als Beisitzerin übernommen.
H.T.: Das habe ich vier Jahre gemacht. Hier in Hessen war ich neben Dorothee Vorbeck Stellvertreterin und bin ihr immer unterlegen. Ich bin immer den Linken unterlegen. Aber ich habe jedes Mal Farbe bekannt. Ich habe immer das Gefühl, bei allen muß ich Verständnis erreichen. Ich kann nicht in Konfrontation leben.
R.L.: Du hast ein tiefes Gefühl für Harmonie, für Ausgleich für Verständigung unter den Abgeordneten.
H.T.: Wenn mir, wie neulich bei dieser kleinen Feier für die Geschäftsführer jemand wie Jenmnger sagt: »Sie haben immer    eine Brückenfunktion wahrgenommen!«, dann tut mir das wohl, weil ich mich auch so verstehe. Toleranz und Aufeinanderzugehen, gemeinsam etwas bewirken und auch Solidarität - all diese Begriffe sind mir wichtig.
R. L: Laß uns noch einmal auf die Wahl 1969 zurückkommen, als du doch gewählt worden bist. Wie hast du dich gefühlt?
H.T.: Ich bin als Schlußlicht gewählt worden Keiner hatte damit gerechnet. Wir hatten 22 Wahlkreise in Hessen, und 20 davon  wurden direkt gewonnnen. Mit dem Tag der Wahl, am Montag, als ich mir meine Passfotos holte, war ich Abgeordnete! Ich hatte das Gefühl, als ob ich endlich das Wirkliche gefunden hatte.
R. L: Das ist doch sehr erstaunlich. Du hast bis jetzt im Gespräch gar nicht zum Ausdruck gebracht, daß du unbedingt Abgeordnete im Deutschen Bundestag werden wolltest.
H. T.: Es hatte einmal eine Diskussion mit Helga Grebing Ende der fünfziger Jahre gegeben, wo wir uns überlegt haben, was wir beruflich machen. Helga Grebing und ich haben uns dann mal mit Helmut Schmidt getroffen. Ich sehe uns da noch im Münchener Bundesbahnrestaurant sitzen, Helmut Schmidt war auf der Durchreise zu einem Kongreß. Wir reden darüber, und er putzt uns runter! Der putzt uns richtig runter: »Was ihr euch einbildet. So einfach wird man nicht Bundestagsabgeordnete. Da muß man auch ein bißchen was in der Partei tun.«
1968 nahm ich für die Akademie an einem ÖTV-Kongreß in München teil, und Helmut war als Fraktionsvorsitzender da. Wir trafen uns, und wir redeten und redeten. Dann sagte er: »Du mußt in den Bundestag kommen.« Darauf habe ich geantwortet: »Dafür habe ich nicht die Ellbogen.« »Du mußt da hin! Das kann ich besser beurteilen als du! Du weißt ja überhaupt nicht, wovon du redest. In zwei Jahren bist du im ersten Drittel der Abgeordneten. Da müssen jetzt mal andere Leute rein. Du mußt in den Bundestag!« Ich bekam plötzlich Angst.
R. L: Das ist doch eine normale Reaktion.
H. T.: Das hängt aber bei mir auch mit dem Harmoniebedürfnis zusammen.
R. L: Nein, das muß nicht damit zusammenhängen. Es kann auch mit der eigenen Bewertung und der Angst davor, eine von so wenigen Frauen zu werden, zu tun haben. Das ist doch auch schwierig.
H.T.: Das hat für mich überhaupt keine Rolle gespielt. Ich hatte die Angst, ich kann das nicht, weil ich mich nicht durchsetzen kann in dem Sinne, wie man es meiner Vorstellung nach in der Politik tun müßte.
R.L.: An wen hast du dich in Bonn gehalten, als du nun als Abgeordnete anmarschiert bist?
H.T.: Ich habe gedacht, da sind furchtbar viele Leute, wie Schmidt, Berkhan und Jahn, an die ich mich halten kann. Du, es war kein Mensch da. Es war ganz merkwürdig.
R. L: Hast du keine Gespräche mit Frauen geführt? Du kanntest doch beispielsweise Marta Schanzenbach, Annemarie Renger und Käte Strobel.
H. T.: Nein, gar nicht. Die haben alle gedacht, die Helga schafft das. Ich habe mich dann für die Rechtspolitik entschieden, denn ich wußte, mit den Liberalen können wir rechtspolitische Reformen machen. Jahn wollte mich zwar in den Rechtsausschuß haben, aber ich habe gesagt: »Nein, ich gehe in den Strafrechtssonderausschuß.« Das war eine ganz politische, bewußte Entscheidung: Wo kann ich was in dieser Art von Koalition bewirken.
Bei der Strafrechtsreform ging es zunächst um das Demonstrationsstrafrecht und dann um die Amnestie. Zum Thema Amnestie habe ich sogar meine erste Rede im Bundestag gehalten. Das war im März 1970. Mit der Unbefangenheit des Neulings bin ich zu Martin Hirsch gegangen, der AK-Vorsitzender war, und habe gesagt: »Du, Martin, dazu würde ich gerne reden.« Der hat zweimal geschluckt und hat gesagt: »Ja, aber der Horst Krockert auch.« Ich habe mich da richtig reingedrängelt. Ich habe dann natürlich Angst vor meiner eigenen Courage bekommen und die ganze Nacht nicht geschlafen.
R. L: 1966 greift Käte Strobel als Gesundheitsministerin medizinische Probleme bei der Geburtenplanung auf und macht die Anti-Baby-Pille zum Thema und fördert durch Unterstützung der Aufklärungsfilme und durch den Sexualkundeatlas die Enttabuisierung der Sexualität.
H.T.: Tabu waren damals alle Bereiche der Sexualität und besonders natürlich der Schwangerschaftsabbruch und die Familienplanung. Ich erinnere mich, daß es, schon bevor ich in den Bundestag kam, eine öffentliche Diskussion gab.
Ich meine mich zu erinnern, daß der »stern« 1968 in einer Umfrage nach verschiedenen Modellen gefragt hat. Ich habe mir das angesehen und gedacht, die Fristenregelung ist das Vernünftigste. Ich habe damals noch nicht gewußt, welche ungeheure Brisanz diese Thematik hatte.
R.L.: Du kommst 1969 in den Bundestag und wirst auf eigenen Wunsch Mitglied des Strafrechtssonderausschusses. Im Januar 1970 haben sechzehn Strafrechtler den sogenannten Mehrheitsentwurf der Alternativprofessoren mit einer Fristenregelung vorgeschlagen. Dieser Vorgang hat sicherlich die Parlamentarier, die im Strafrechtssonderausschuß saßen, beeinflußt und auch die Öffentlichkeit umgestimmt.
H.T.: Die Diskussion wurde ab 1970 intensiver. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Helga Grebing und Lucinde Sternberg Anfang 1970, das mir erst die Augen über die historische Dimension des §218 geöffnet hat. Damals war ich noch erfüllt von der Eherechtsreform und erzählte von unseren Kämpfen. Lucinde Sternberg sagte kühl: »Das ist ja alles ganz interessant, aber die eigentliche Reform, die uns in Zukunft zu schaffen machen wird, die auch die Partei herausfordert, das ist die Reform des §218!« Diese Reform sei die eigentliche Aufgabe der Sozialdemokraten. An dem Abend ist mir erst die Dramatik, besser noch, die historische Bedeutung für die Arbeiterbewegung durch die Diskussion mit dieser älteren Genossin bewußt gemacht worden. Erst dann habe ich mich in die Sache hineingekniet. Mir wurde klar: Das müssen wir in Angriff nehmen. Der Anstoß kam also aus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.
R. L: Es ist sehr spannend zu beobachten, wie über einzelne ein historisches Bewußtsein für die in Weimar leider ergebnislos gebliebenen Anläufe zur Reform des §218 vermittelt wurde und dadurch alte Ideen aus dem Geschichtsdunkel zum Vorschein kommen. Wie wirkte sich das auf deine Arbeit aus?
H. T.: Innerhalb der »Arbeitsgruppe Strafrechtsreform«[4] - de With war unser Obmann - folgte dann eine intensivere Beschäftigung mit den Grundlagen. Insbesondere Hans de With, Horst Krockert, Hugo Brandt und ich haben daran gearbeitet. Dieser Kreis hat sich im Strafrechtssonderausschuß für die Fristenregelung stark gemacht. Müller-Emmert hat sich an dieser Diskussion nie beteiligt, weil er von Anfang an die Indikationsregelung befürwortet hat. Unsere kleine Gruppe hat oben im 16. Stock in Hans' Zimmer gesessen, ich glaube, es war im Winter 1970/71, und wir haben uns gegenseitig Schularbeiten aufgegeben. Hans machte die juristische Formulierung der Paragraphen, wir anderen lieferten unsere Ideen zur Begründung. Ich wollte unbedingt meine Begründungsmotivation mit einbringen, nämlich die existentielle Entscheidungssituation der Frauen. Es stand für mich fest, daß die Entscheidung von Frauen für sich und ihr Kind ihr ganzes Leben lang gilt. Diese Entscheidung kann ihnen niemand abnehmen.
R. L: Der Bundesfrauenausschuß hat sich ja erstmals am 1. Juli 1971 für die Fristenregelung ausgesprochen.
H.T.: Bereits im Herbst 1970 und Anfang 1971 hat sich diese kleine Gruppe intensiv bemüht, eine Fristenregelung als Gesetzesantrag zu formulieren. Parallel lief aber auch eine Diskussion in der juristischen Kommission des Parteivorstandes, der Juristen aus der Partei und der Fraktion angehörten. In einer kleinen Sondergruppe haben wir uns unter meiner Leitung mit Böckenförde auseinandergesetzt. Hans de With und ich waren fest davon überzeugt, daß eine Indikationsregelung nicht juristisch faßbar sein würde, weil Indikationen die Konfliktfülle der Motive von Frauen nicht erfassen würden. Böckenförde bekam den Auftrag, eine Indikationsregelung zu entwerfen.
R. L: Ich hatte die Aufgabe, für die Auseinandersetzung mit dem Indikationsmodell ein Papier zu machen. Es war für die Diskussion mit Böckenförde und Claus Arndt gedacht, der wegen der Erinnerung an die Schrecken der Euthanasie in der NS-Zeit nicht bereit war, eine Änderung des Strafgesetzbuches auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen.
H.T.: Das war die eigentliche Hürde. Unsere größte Schwierigkeit bei der Diskussion in der Fraktion und unter den sozialdemokratischen Juristen, die ja alle noch von Adolf Arndt geschult waren, war, daß alle unter einem unwägbaren Trauma litten. Diese traumatische Befangenheit stammte aus der Diskussion unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis hinein in die sechziger Jahre, wo man versucht hat, die Folgen des Nationalsozialismus zu verarbeiten, und Todesstrafe und Euthanasie verboten wurden. Ein rationales Herangehen an diese Frage war nach 1945 zunächst unmöglich. Wir haben uns vorsichtig herangepirscht, um überhaupt eine Öffnung zu finden für diese Diskussion. Es ging nur unter dem Motto »Schutz des werdenden Lebens«, das auch meiner Auffassung entspricht.
R.L.: Also die Rechtspolitiker in der SPD-Bundestagsfraktion, die hier ja meinungsbildend hätten vorangehen müssen, haben sich gewehrt. Für sie war Abtreibung »nicht zu rechtfertigender« Mord. Es mußten im Sinne juristischer Terminologie erst Frauen ohne juristische Professionalität, dafür mit eigener Lebenserfahrung ausgestattet, auf der Bildfläche erscheinen, um die Leiden der Frauen wahrzunehmen.
H.T.: Ja, es wurde abgebremst. Ich erinnere mich genau an die lebhafte Diskussion in der Fraktion, als wir als Gruppe zum ersten Mal unsere Gedanken für eine Fristenregelung darlegten. Claus Arndt stand als erster auf und bedauerte zunächst, mir widersprechen zu müssen, aber dieses könnte er nicht mittragen. Dann kamen alle Vorbehalte, daß gerade wir als Deutsche nicht an dieses Thema herangehen könnten. Es war ein ausgesprochenes Trauma, das auch in dieser Generation von Männern nicht mehr aufgearbeitet werden kann. Es ist doch nicht ganz zufällig, daß in unserer kleinen Gruppe im Strafrechtssonderausschuß nur Angehörige einer etwas jüngeren Generation mitgearbeitet haben.
R.L.: Im November 1971 wird auf dem außerordentlichen SPD-Parteitag mit großer Mehrheit eine Stellungnahme beschlossen, die die Fristenregelung fordert. Eppler hat damals gegen diesen Antrag gestimmt, Brandt und Wehner haben sich enthalten. Der Parteitag beschloß gleichzeitig flankierende Maßnahmen zur Sexualerziehung und Schwangerschaftsverhütung.
H.T.: Am 9. Februar 1972 brachte unsere Gruppe, angewachsen auf fünfzig Abgeordnete aus SPD und F.D.P., einen Gruppenantrag zur Reform des §218 für die Fristenregelung ein. Zum gleichen Termin beschloß die Bundesregierung den »Indikationsentwurf Gerhard Jahn«, der 1971 schon als Referentenentwurf bekannt und verrissen worden war. Die größte Schwierigkeit war für mich und Hans de With, daß wir einen Loyalitätsfimmel hatten und daß wir unserer Regierung keinen Schaden zufügen und dennoch in der Sache vorankommen wollten. Deshalb habe ich Willy Brandt im April 1972 einen langen Brief geschrieben, um ihm deutlich zu machen, daß die Einbringung unseres Gruppenentwurfs aus der eigenen Fraktion neben dem Kabinettsentwurf keine Aufkündigung der Unterstützung der Bundesregierung bedeuten würde. Ich habe mir furchtbar viel Mühe gegeben. Ich sehe mich
noch da sitzen und mit zwei Fingern rumtippen. Willy hat wie immer zögerlich reagiert. Das war schon in dem Moment, als Abgeordnete aus unserem Lager abbröckelten.
R.L.: Es gab ja die berühmten Überläufer und das Konstruktive Mißtrauensvotum.
H.T.: Die Behutsamkeit in der parlamentarischen Behandlung unseren Regierungsmitgliedern gegenüber war ein Gebot - auch Herbert Wehner gegenüber, der inhaltlich wohl mehr der Fristenregelung zugeneigt war, während Willy Brandt sich damit weniger befreunden konnte. Er hatte große innere persönliche Schwierigkeiten damit. Wir haben es so behutsam hinbekommen, daß im Grunde keine Beschädigungen in dieser Frage unter uns aufgetreten sind. Wir haben es auch nach außen deutlich machen können, daß diese Initiative nicht gegen die Regierung gerichtet war, sondern daß es um eine Gewissensentscheidung ging.
R. L.: Der Grundsatz war: In der Fraktion gibt es keine Mehrheitsmeinung, sondern jeder Abgeordnete der SPD kann nach eigener Gewissensprüfung entscheiden. Dann wurde der Bundestag vorzeitig aufgelöst.
H.T.: Wir haben also gleich nach der Regierungsbildung 1973 unseren Fristenregelungsentwurf als Gruppe erneut eingebracht. Schon am 17. Mai war dann die erste Lesung. Wir hatten vier Gesetzentwürfe zu beraten: unsere Fristenregelung und einen weiteren SPD-Gruppenentwurf mit der Indikationsregelung. Der Mehrheitsentwurf der CDU/CSU-Fraktion sah die Indikationsregelung ohne allgemeine Notlagenindikation vor, ein CDU-Gruppenentwurf ließ nur die medizinische Indikation zu. Zu dieser letzten Gruppe hat Blüm gehört.
R. L: Hast du in dieser Zeit persönliche Diffamierungen erlebt? Ist dir mal ein Embryo im Weckglas - wie anderen von uns - zugeschickt worden?
H.T.: Nein, ich habe nur Bilder von Embryonen bekommen. Aber ich erinnere mich an einen Ausruf vom CDU-Abgeordneten Rommerskirchen, als ich im Bundestag in etwa gesagt habe: »Ihr Männer, das ist etwas, was nur Frauen erleben können.« Da schrie er los: »Das ist nicht so, ich habe doch immer dabeigesessen, als meine Frau die Kinder bekam; ich weiß das doch.« Der massivste Widerstand bei uns kam ja von den Juristen und aus der evangelischen Ecke. Erhard Eppler zum Beispiel war rationalen Argumenten überhaupt nicht zugänglich. Ich sehe uns vier Verschworene noch zusammensitzen, wie wir uns überlegten, wer von uns wen in der Fraktion übernimmt, um ihn auf unsere Seite zu bringen. Ich habe damals gesagt, Eppler kann ich übernehmen, das ist kein Problem. Ich habe mit ihm zwei Stunden in seinem Büro geredet und bin wie ein begossener Pudel herausgekommen.
R. L: Was hat er dir erzählt?
H.T. Er hat alle die oberflächlichen Argumente gebracht, die wir dauernd in den Podiumsgesprächen von Ärzten, Juristen und auch von Frauen hörten, bis hin zu dem Ausspruch: »Unser Viertes war ja eigentlich auch nicht gewollt und ist jetzt unser Liebstes!« Das hat mich wirklich umgehauen. Aber immerhin: In der 3. Lesung stimmte Eppler der Fristenregelung zu.
Günther Metzger, der neben mir in der Fraktion saß, sagte einmal verzweifelt zu mir: »Ich bin in dieser Frage wirklich hin und hergerissen zwischen zwei Frauen. Ich schätze dich als meine Kollegin  Du hast gute Argumente und sagst: >Wir Frauen!< Auf der anderen Seite ist meine Frau und sagt:»Wir Frauen.« Wer seid ihr Frauen eigentlich.« Aber er hat offen diskutiert.
R. L. Trotz allem haben wir die Fnstenregelung durchgebracht. Das Bundesverfassungsgericht hat aber am 25. Februar 1975 diese Regelung für verfassungswidrig erklärt.
H.T. Es war ein Schock für uns im Parlament und für die Frauen draußen die jahrelang gekämpft hatten. Es war niederschmetternd. Besonders für die Frauen innerhalb der SPD. Sie neigten teilweise dazu zu sagen »Laßt uns lieber gar nichts mehr machen. Wir aber sagten: Nein, wir müssen nach dem Urteil herausholen, was herauszuholen ist. So haben wir uns aufgerafft die mühevolle Neuformulierung von Indikationen gemacht. Wir waren zwar alle der Überzeugung, daß man das eigentlich nicht kann, aber uns ist dann doch die Notlagenindikation eingefallen, die von konservativen Kreisen bis heute bekämpft wird.
R. L. Du warst 1974 Vorsitzende der Enquete-Kommission »Frau und Gesellschaft.«
H.T. Die CDU-Frauen haben 1973 aus der Opposition - so wie wir 1962 eine Initiative für eine »Frauen-Enquete« ergriffen. Das ist ein Minderheitenrecht. Natürlich war uns in der sozialliberalen Koalition daran gelegen, unsere Reformarbeit über den normalen parlamentarischen Gang mit unseren Mehrheiten durchzusetzen. Es war die erste Enquete-Kommission, die in dieser Legislaturpenode beantragt wurde. Dadurch fiel uns der Vorstand zu. Daraufhin hat Frau Wex alles Interesse daran verloren. Ich wurde von der Fraktion als Vorsitzende beauftragt und habe das 1974 übernommen. So haben wir Helge Pross und H. J. Krupp von unserer Seite berufe  Der Zwischenbericht wurde 1976 vorgelegt. Es war uns klar, daß in der neuen Legislaturperiode  die Enquete-Kommission wieder einberufen werden mußte, weil die Arbeit nicht abgeschlossen war. Leider war unser Wahlergebnis so schlecht, daß die CDU/CSU stärkste Fraktion wurde und den Vorsitz erhielt. Zu unserem Leidwesen wurde Ursula Schleicher von der CSU Vorsitzende. Aber als Koalitionsfraktionen haben wir uns in mühsamer Arbeit, vor allem mit Hilfe einer öffentlichen Anhörung, die Grundlagen für einen Schlußbericht geschaffen.
R.L: Das ist ein inhaltsschwerer Bericht, von dem wir seit 1980 alle gelebt haben.
Laß mich abschließend noch auf deine Tätigkeit als Parlamentarische Geschäftsführerin zu sprechen kommen. Wie kam es zu deiner Entscheidung, als Nachfolgerin von Annemarie Renger zu kandidieren?
H.T.:Das war meine persönliche Entscheidung nach Annemaries Nominierung zur Bundestagspräsidentin. Ich habe mich niemandem anvertraut, was mir die Kanaler zunächst übelgenommen haben. Es gab einen Konflikt, den ich zu Anfang nicht bemerkt habe. Ich bin zu Herbert Wehner gegangen und habe gesagt: »Herbert, ich möchte kandidieren und damit in Annemaries Fußstapfen treten.« »Ja, o.k.«, hat er gesagt, »ich notiere es, es gibt aber mehrere Kandidaten.« Auch wir Frauen haben zusammen gesessen, und ich habe mich dann gemeldet: »Ich kandidiere.« Es entstand wieder ein Konflikt, weil Antje Huber auch kandidieren wollte. Wir Frauen haben dann entschieden, daß es unklug sei, sich zu zersplittern. Antje hat also dann nicht kandidiert. Ich bin nach Karl Wienand und Manfred Schulte als dritte gewählt worden.
R. L: Helga, was würdest du rückblickend als deine bedeutendste politische Leistung ansehen?
H.T.: Die Arbeit am §218! Wenn wir die Reform nicht gemacht hätten, wäre sie nie gekommen.