Elfriede Eilers

Im Brennpunkt: Frauenpolitik

Gespräch am 10. 1. 1985 in Bielefeld

Elfriede Eilers: Eine Anekdote über meine Eltern vielleicht vorweg: Sie haben sich 1909 mit siebzehn Jahren kennengelernt und durch die Kriegsereignisse erst 1918 geheiratet. Nachdem sie wenige Monate miteinander befreundet waren, das erzählen sie übereinstimmend, hat es ein ernstes Gespräch gegeben. Damals wurde alles ja immer gleich sicher gemacht, und mein Vater sagte: »Eins müssen wir klarmachen, wenn das mit uns was Ernstes werden sollte, dann habe ich zwei Bedingungen: Die eine, du mußt in die SPD eintreten, die andere, aus der Kirche mußt du austreten!« So ernst nahmen Sozialdemokraten das damals. Aus der unseligen Verflechtung von Altar und Thron ergaben sich berechtigte Gegenreaktionen von Sozialdemokraten. Als ich zur Welt kam, wurde ich nicht getauft.
Renate Lepsius: Kam deine Mutter aus einem christlichen Elternhaus?
E. E.: Sie kamen beide aus religiös nicht sehr gebundenen Elternhäusern. Es war aber im Bielefelder Raum üblich, daß man der evangelischen Kirche angehörte. Ich habe mein Elternhaus und auch das der Großeltern von Anfang an als sehr politisch kennengelernt. Meine Großeltern lebten in einer Wohnung im Haus der damaligen sozialdemokratischen Zeitung »Volks-wacht«, in der auch die Parteibüros untergebracht waren. Mein Großvater war einer der Lizenzträger oder Gesellschafter, wie es damals hieß.
R.L.: Ist das dieselbe Zeitung, bei der Lisa Korspeters Mann Chefredakteur war?
E. E.: Ja. Dadurch hatten wir also laufenden Kontakt zu Korspeter, Karl Schreck und auch zu Carl Severing. Die sah man als Kind, mit denen hat man sich gegrüßt. Das hat mir als Umfeld schon etwas bedeutet. Mein Großvater ist 1897 als erster Sozialdemokrat in den Rat der Stadt Bielefeld gewählt worden. In der Kaiserzeit und auch noch in der Weimarer Zeit war es gar nicht so einfach, Ratsmandat und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren. Deshalb wurden unsere Leute im genossenschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Bereich untergebracht. Mein Großvater war Expedient im Konsum, das heißt, er hatte die Verladung zu leiten. Ich habe ihn auch manches Mal dort besucht, bis er dann 1930 in den Ruhestand gegangen ist.
R.L.: Wie viele Kinder hatten deine Großeltern?
E. E.: Meine Großeltern auf beiden Seiten hatten je fünf Kinder. Bei meiner Mutter waren drei Töchter und zwei Söhne, und bei meinem Großvater väterlicherseits waren fünf Söhne. Der eine ist im Ersten Weltkrieg gefallen. Alle waren sie Sozialdemokraten, wobei das nicht immer so gewesen ist. In meiner Vaterfamilie ist der Zweitjüngste im Ersten Weltkrieg desertiert, in Berlin untergetaucht und zum Spartakus gestoßen. Später ging er dann auch wieder zur SPD. Ein anderer Bruder meines Vaters, der drittjüngste, ging in der Spaltungsdiskussion zur USPD, aber Mitte der zwanziger Jahre haben sich dann alle wieder in der SPD zusammengefunden.
R.L.: Haben diese Brüder auch politische Funktionen übernommen ?
E.E.: Ja, der seinerzeit bei der USPD gewesen war, ist nach 1945 Mitglied des ersten Berufenenrates in Bielefeld geworden, ist dann auch in den ersten Rat gewählt worden und war auch Lizenzträger unserer Zeitung, der wiedererstandenen »Freien Presse«, deren Chefredakteur von 1946 bis 1948 Carl Severing war. Alle haben sie 1933 ihre Arbeit verloren. Das war die Atmosphäre, in der ich lebte. Mein Vater war als Schriftsetzer im Hause tätig, so daß ich auch dazwischen herumlaufen und ihn mal besuchen konnte am Arbeitsplatz.
R.L.: Hast du Geschwister?
E.E.: Ich bin ein Einzelkind. Aber ich hatte immer das Gefühl, daß ich die angeblich typische Einzelkindsituation, Kontaktschwäche und Egozentrik, nicht erlebt habe. Dadurch, daß noch Verwandtschaft in größerem Rahmen da war, daß ich vor allen Dingen dann mit sieben, acht Jahren zur Kinderfreundebewegung stieß, wurden die Dinge aufgefangen. Auch als Schulmädchen habe ich mich in eine Gemeinschaft ganz gut einpassen können.
R.L.: Hattest du aufgrund dieser Einzelkindsituation das Gefühl, etwas Besonderes leisten zu wollen? Denn es ist ja eine erstaunliche Karriere, die du aus diesem Elternhaus heraus gemacht hast.
E. E.: Leistungsdruck oder besonderen Ehrgeiz habe ich nicht gehabt.
R.L.: Nein, ich meine eine Motivation.
E. E.: Ja, das könnte sein - im politischen Bereich. Denn ich erinnere mich, als ich acht Jahre alt war, wurde ich gefragt: »Was willst du denn einmal werden?« Und eine meiner Tanten sagte dann: »Ach Gott, ich bin Näherin, die wird dann auch Näherin.« Dagegen hab' ich mich immer gewehrt: »Nein, das will ich nicht.« Und dann kam mein Vater und sagte: »Dann geht sie mal ins Büro.« Das war mir genausowenig lieb. »Ja, was willst du denn ?« Und dann habe ich es an einer Person festgemacht und gesagt: »Ich will so eine werden wie Erna Schlingmann.« Das war damals die Sekretärin von Karl Schreck, dem Reichstagsabgeordneten. Zugleich hat sie im ostwestfälischen Raum eine große Rolle in der Arbeiterjugend gespielt. Sie ging auch nachher in den Reichsausschuß der Arbeiterjugend nach Berlin und hat dort mit Leuten wie Alfred Nau und Erich Ollenhauer zusammengearbeitet.
R.L.: Eine aktive Frau wolltest du werden, das war dein Ziel.
E.E.: Ich habe den 30. Januar 1933, den Tag der sogenannten Machtübernahme, in dem Haus unserer Partei sehr bewußt miterlebt. Mein Großvater war im Rathaus, meine Großmutter mit meinem Vetter und mir in der Wohnung. Dann kam der Fackelzug der Nazis vorbei, und es brandeten Sprechchöre gegen das Haus. Man hatte nicht persönliche Ängste, daß die uns was tun könnten, aber doch diese Angst, was kommt jetzt auf uns zu? Im Elternhaus gab es ein gängiges Wort: »Wenn die Nazis kommen - die Nazis bedeuten Krieg!« Wir haben es nie als eine Episode angesehen, sondern wir wußten, da kommt etwas Schreckliches auf uns zu!
R. L.: Ja, die berühmte Zäsur!
E. E.: Alle vier Söhne meines Großvaters wurden auf die Straße gesetzt. Mein Vater, eigentlich Schriftsetzer von Beruf, der aber 1928 wegen einer Bleivergiftung den Beruf wechseln mußte, wurde bei der AOK nach dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« rausgesetzt und ist bis 1939 arbeitslos gewesen, bis er in die Wehrwirtschaft eingezogen wurde. Er hatte immer mal sechs oder acht Wochen arbeiten können, mußte sich aber laufend bei der Gestapo melden. Wenn die Gestapo feststellte, daß er wieder einen Job in einem kleinen Betrieb als Schriftsetzer hatte, wurde er entlassen. Er hat dann auch eine Zeitlang mit einem jüdischen Freund zusammen eine Wäschevertretung gemacht. Dieser Freund hatte noch Zugriff auf Materialien, während mein Vater den Bekanntenkreis hatte, in dem sie dann getingelt sind und Aussteuerpakete für die Töchter verkauft haben.
R.L.: Deine Mutter war ja auch berufstätig. Ist sie nach 1933 weiterhin tätig geblieben?
E.E.: Nein, meine Mutter arbeitete bis zu meiner Geburt als Weberin. Im Ersten Weltkrieg war sie Betriebsrätin. Als ich fünf Jahre alt war, also 1926, ist sie wieder berufstätig geworden und hat gearbeitet bis Ende der zwanziger Jahre. Aber sie hat vor 1933 aufgehört zu arbeiten, stand also nicht unter dem Druck des Vorwurfs des sogenannten Doppelverdienertums, als die Frauen rausgesetzt wurden.
R.L.: Wovon habt ihr gelebt seit 1933 ?
E. E.: Ja, fast muß ich sagen, von unserem Garten - einem Stückchen Land -und den Karnickeln, die mein Vater gezüchtet hat. Außerdem gab es eine Arbeitslosenunterstützung, aber im reduziertesten Maße, die 1933/1934 bei 6,50 Mark in der Woche gelegen hat. Da ich an einer Knochenmarkvereiterung am Bein erkrankt war, an der ich bis 1938 ständig laborierte, mußte Verbandszeug und dergleichen gekauft werden. Mein Vater wurde im damaligen Wohlfahrtsamt dumm angeguckt. »Dann können Sie ja eine Hypothek aufs Haus aufnehmen!« Also selbst solche kleinen Hilfen wollte man nicht gewähren.
Ich ging zur Realschule, die 10 Mark im Monat kostete, und meine Eltern wollten mich dann herunter nehmen, als sie kein Geld mehr hatten. Unser Rektor war ein Deutsch-Nationaler, aber ein ganz gradlinig denkender Mann, der später von den Nazis auch nichts wissen wollte. Der hat mit einem Stipendium dafür gesorgt, daß ich nicht nur die Schule bis zur mittleren Reife besucht habe, sondern noch auf eine Frauenfachschule gehen konnte.
R. L.: Kannst du dich erinnern, ob dein Vater Bücher gelesen hat?
E.E.: Also die meisten Bücher, die wir zu Hause hatten, waren von der Büchergilde Gutenberg, auch der »Simplicissimus«. Mein Vater hat Zweig gelesen, aber auch Tucholsky und vor allen Dingen Jack London und Traven. Die habe ich dann mit Leidenschaft gelesen, obwohl ich einige Dinge noch nicht so ganz verstanden habe.
Wir haben unsere Bücher nach 1933 nicht zu Hause behalten. Verwandte, die politisch zwar nicht so stark geprägt waren wie wir, aber durch die Jugendbewegung doch sozialdemokratisch empfanden, haben sie für uns aufbewahrt.
R. L.: Was hast du nach der Frauenfachschule gemacht ? Wie ging dein Ausbildungsweg weiter?
E.E.: Ich habe Kaufmann gelernt in einem jüdischen Kaufhaus. Am 1. April X938 habe ich angefangen.
R.L.: Dann mußt du die Reichskristallnacht in diesem jüdischen Betrieb ja miterlebt haben?
E. E.: Ja, ich kann mich ganz deutlich erinnern. Es war das größte Kaufhaus hier in Bielefeld. Bei diesem Kaufhaus wurden natürlich die Schaufenster zerschlagen. Wir konnten von der oberen Etage aus auf die brennende Synagoge sehen. Es war uns allen ganz schrecklich. Der überwiegende Teil der Leute dort war, weiß Gott, so eingestellt, daß man sich in diesem Umfeld wohl fühlen konnte. Es waren ganz wenige Nazis im Betrieb, mit Ausnahme des eingesetzten Betriebsrates. Im Februar 1939 wurde dann dieses Kaufhaus umbenannt in Opitz, so heißt es heute noch, eine Kommanditgesellschaft, die es dann getragen hat.
R.L.: Kannst du dich erinnern, daß ihr zu Hause über den Antisemitismus und die Maßnahmen der Nazis gegen die Juden gesprochen habt? .
E. E.: Ja. Mein Vater hatte viele jüdische Freunde. Mein Großvater hatte in den jüdischen Kaufhäusern ein hohes Ansehen. Er bekam dort einen gewissen Rabatt und wurde auch bevorzugt bedient. Wenn wir Besuch von jüdischen Freunden hatten, habe ich schon als junges Mädchen gewußt, daß man darüber nicht sprach, wer das war.
R.L.: Also die Haltung, Öffentliches und Privates absolut zu trennen.
E.E.: Mein Vater hat mich sehr bewußt schon mit zwölf Jahren zu seinem Gesprächspartner gemacht. Zu den politischen Dingen, die ich in der Schule hörte, bekam ich von ihm immer die Gegeninformation. Bis 1933 mußte ich um 9.00 Uhr abends ins Bett. Aber ab 1933 kurbelte er dann rum, zuerst haben wir den Luxemburger Sender gehört, dann Radio Moskau und später regelmäßig die BBC.
R.L.: Hat denn dein Vater die Kontakte mit seinen polirischen Freunden aus der SPD nach 1933 weitergepflegt, oder ist das zum Erliegen gekommen?
E. E.: Nein, das ist voll durchgezogen worden. Aber der Kreis wurde mit der Zeit kleiner. Er hat sich auch nicht auf Bielefeld allein erstreckt. Wir hatten viele Freunde auch in der Arbeitersängerbewegung, in der meine Eltern beide aktiv waren.
R.L.: Deine Eltern waren also vielfach an die Arbeiterbewegung gebunden Sie gehörten zu den Konsumgenossenschaften, zur Büchergilde und also auch zu einem Arbeitergesangverein und zur Volksbühne. Das ist ein kulturell geschlossenes Milieu.
E.E.: Das war das ganze Umfeld der Arbeiterbewegung. Mein Vater fuhr mit dem Fahrrad zu den Treffen, die zum Teil als Sonntagsausflug getarnt wurden. Wir haben viele Kontakte gepflegt, entweder über den gewerkschaftlichen Rahmen im Schriftsetzerbereich, in dem ja viele geistig sehr rege waren, oder aber über Freundschaften, die über diese Karnickelzuchtvereine liefen. Der Gesangverein wurde auch nicht aufgelöst, sondern hat sich nach 1933 mehr auf Oratorien konzentriert und hat viele wertvolle Konzerte gegeben. Es war also nur ein anderes Liedgut geworden. Auf diese Weise haben wir die ganze Nazi-Zeit hindurch singen können.
R.L.: Es ist schon fast kurios, daß der Gesangverein in den Bereich der ernsten Musik umgestiegen ist und nicht mehr das Arbeiterlied, sondern das Kunstlied gepflegt hat.
Wie ging denn deine berufliche Entwicklung nach der kaufmännischen Ausbildung weiter?
E.E.: Da muß ich einen Zwischenfall beichten: Ich hatte also in dem jüdischen Kaufhaus meine Lehre gemacht. Aber im Einzelhandel verdient man ja sehr schlecht. Überwechseln in andere Bereiche war damals jedoch nur in die Wehrwirtschaft oder die Versorgungswirtschaft möglich. Da ich in der Nähe der Stadtwerke wohnte und es natürlich finanziell und auch von der Arbeitszeit her viel attraktiver war, dort zu arbeiten, als im Einzelhandel, habe ich mich bei den Stadtwerken beworben. Bei der Vorstellung kam dann die Frage: »Sind Sie im BDM?« »Nein!« »Sind Sie in der Frauenschaft?« »Nein!« »Sind Sie in der Partei?« »Nein!« »Sind Sie in der Arbeitsfront?« »Aber selbstverständlich bin ich in der Arbeitsfront!« Das war ja obligatorisch. »Dann würde ich Ihnen raten, treten Sie in irgendeine Organisation ein, dann werden Sie hier auch anfangen können.«
Jetzt kam ich nach Hause. Da habe ich gesagt: »Hört mal, ich gehe in die NS-Frauenschaft. Das kostet am wenigsten, und man muß nichts tun.« Da sagte mein Vater: »Das mußt du dir selbst überlegen. Aber wenn es mal anders kommt, denke nicht, daß ich dich reinwasche.« Aber ich bin dann doch in die Frauenschaft eingetreten. Das ist der einzige Verbieger in meiner Karriere.
R.L.: Wie alt warst du da?
E. E.: Ich war zwanzig Jahre alt. Ich habe meine 50 Pfennig Beitrag gezahlt, sonst nichts. Ich hatte dann das Glück, daß mein Chef, Abteilungsleiter in der Hauptbuchhaltung, zwar in der Partei, aber ein Neffe von Carl Severing war. Dort habe ich bis 1949 gearbeitet.
R.L.: Du hattest zu deinem Vater ja eine sehr enge Beziehung und hast jetzt einen Konflikt, deinen Eintritt in die NS-Frauenschaft, beschrieben. Gab es weitere Auseinandersetzungen zwischen euch, die dir wichtig erscheinen?
E. E.: Ja, es gab nach 1945 politische Konflikte, überwiegend aus der politischen Arbeit heraus. Nachdem er 1945 wieder in die AOK geholt wurde, dort auch Betriebsratsvorsitzender war, ist ihm bei der Entnazifizierung nicht scharf genug durchgegriffen worden. An und für sich war er immer ein gemäßigter Sozialdemokrat. Aber er hat sich da stärker radikalisiert. Hätte er länger gelebt, ich glaube, wir hätten stärkere Konflikte bekommen.
R.L.: Vertrat er denn das Konzept, SPD und KPD müßten zusammengehen ?
E. E.: Nein, auf gar keinen Fall! Das war kein Punkt für ihn. Nein, als Sozialdemokrat wollte er eine etwas schärfere Gangart haben. Aus meinem Praktikum habe ich ihm folgendes geschrieben: »Wenn Du jetzt so unzufrieden bist, muß ich Dir sagen, ich habe immer von Dir gelernt, daß man eine Mauer, in der man Risse entdeckt, die man aber sonst für gut hält, stützen, aber nicht einreißen sollte.« Das waren also die ersten aufkommenden Konflikte, die durch seinen Tod 1950 nicht weiter aufgebrochen sind.
R.L.: In deinem Selbstverständnis bist du wohl stark die Tochter deines Vaters gewesen. Erfolgte nach 1945 dein Ablösungsprozeß vom Vater?
E.E.: Ja, die eine oder andere Aufgabe habe ich sogar aufgegriffen, um es dem Alten zu beweisen. Motto: Jetzt zeig' ich's ihm! Er hatte mich bei der Ehre gepackt. Ein Beispiel: Als wir im Herbst 1945 Besuch von unserem Parteisekretär bekamen, der erste Fühler für den Wiederaufbau der Partei ausstreckte, habe ich gesagt: »Das stelle ich mir toll vor, wenn es jetzt los geht! Da möchte ich auch mitmachen!« Da sagte mein Vater: »Du, das überleg' dir sehr genau: Mitmachen gibt's für Eilers nicht. Entweder ganz machen oder gar nicht! Nur mitmachen und mitlaufen wie die anderen, das gibt's nicht, dann mußt du auch aktiv sein!«
R.L.: Eine gute Devise!
E.E.: Dann erinnere ich mich an eine zweite Episode: Im Frühjahr 1947 wollten wir unser erstes Zeltlager bei den Falken machen. Als wir nun dieses Lager planten, hieß es: Elfriede soll das Lager leiten. Ich habe gesagt: »Das kann ich nicht: fünfhundert Kinder, die Ernährungsschwierigkeiten, die pädagogischen Probleme, die Dörfer aufbauen. Nein, das mach' ich nicht.« Später fragte mein Vater: »Na, hast du dir's denn überlegt?« Ich sagte: »Ja, das mach' ich nicht. Das schaff ich nicht.« Darauf mein Vater: »Aha, das finde ich schon gut! Groß reden und immer dabeisein, aber wenn es dann heißt, Verantwortung übernehmen, dann sagen, das kann ich nicht, und kneifen. Da hatt' ich mir von meiner Tochter was anderes erwartet.« Dann bin ich mit Wut im Bauch zu unserer Besprechung gefahren und dachte: »So, jetzt willst du es dem Alten aber beweisen!« Er war nicht anstachelnd nach dem Motto: Du mußt was werden! sondern: Wenn du was übernimmst, tu es ganz.
R.L.: Wie bist du neben deinem Engagement für die Falken beruflich weitergekommen?
E. E.: Da die Organisationen der Falken und der Arbeiterwohlfahrt in einem jämmerlich kleinen Dachgeschoß miteinander saßen, war jetzt die Verbindung zu Frieda Nadig, der Bezirksgeschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt und späteren Bundestagsabgeordneten, hergestellt.
R.L.: Hat sie dich mit herangezogen für die Arbeit der Partei und der Arbeiterwohlfahrt?
E. E.: Ja. Sehr prägend war auch der damalige Bezirksgeschäftsführer der Falken, Willi Meinke. Er und Frieda Nadig arbeiteten beide eng zusammen. Durch Frieda Nadig habe ich Kontakte zur AW bekommen. Wenn ich auch keine Funktion hatte, bin ich aber oft als Referentin unterwegs gewesen oder habe Wochenendkurse geleitet. Das ist alles vor meinem beruflichen Wechsel gewesen.
R.L.: Heißt das, daß die ehrenamtliche Arbeit in der Partei dich zu dem neuen Berufswunsch - Sozialarbeiterin zu werden - animiert hat?
E. E.: Praktisch habe ich meinen Beruf nur als Broterwerb angesehen. Mein Leben fing abends um halb sechs an, wenn die Bürotür zu war. Das war der Grund, warum ich nochmals was anderes tun wollte. Emma Schulze, AW-Referentin im Bundesvorstand, sagte dazu: »Machen Sie Nägel mit Köpfen!
Wenn Sie etwas anderes tun wollen, dann brechen Sie ab und gehen Sie zu unserer Wohlfahrtsschule!« Das gleiche hatte Frieda Nadig auch schon gesagt. Ich bin also erst ins Praktikum gegangen und dann zur Wohlfahrtsschule. Ohne diese Ausbildung zur Sozialarbeiterin hätte ich in Bielefeld nicht das Fundament gefunden, um später ein politisches Mandat zu übernehmen.
R.L.: Durch die Partei und die Arbeit in den Jugendorganisationen werden berufliche Weichen gestellt. Wie ist das nun weitergegangen?
E. E.: Die Ausbildung hat damals zwei Jahre gedauert. Ich habe von 1950 bis 1952 die Wohlfahrtsschule der Arbeiterwohlfahrt in Karlsruhe, dann in Mannheim besucht. Im Oktober 1952 habe ich bei der Arbeiterwohlfahrt angefangen, praktisch als Feuerwehr an verschiedenen Stellen. Als in Bielefeld ein Flüchtlingslager eingerichtet wurde, hieß es: »Elfriede, komm' mal vierzehn Tage rüber und richte dieses Lager ein!« Es war das Flüchtlingslager Stukenbrock.
1954 habe ich dann beim Jugendamt der Stadt Bielefeld als Jugendfürsorgerin angefangen. Frieda Nadig hat es ein bißchen als Fahnenflucht angesehen, weil sie mich für ihre Nachfolge im Auge hatte.
R.L.: Also hat sie darauf geachtet, dich zu qualifizieren und auch politisch zu fördern?
E. E.: Ja, Frieda Nadig hat mich stark gefördert. Sie war es auch, die mich im Frühjahr 1957 anläßlich eines Parteitages beiseite nahm - der Bezirksgeschäftsführer Erich Deppermann und der Bezirksvorsitzende Emil Groß, eine Art Ziehsohn von Carl Severing, waren ebenfalls dabei. Wir haben miteinander einen »Waldspaziergang« gemacht. Alle drei haben mich gefragt, ob ich bereit sei, für den Bundestag zu kandidieren.
R.L.: Also kurz vor der Bundestagswahl 1957. Hattest du denn vorher intensiver politisch gearbeitet?
E. E.: Ich habe immer politisch gearbeitet. Ich war Delegierte im Ortsverein und Funktionärin, freilich nicht im Ortsverein meines Vaters, vor dem ich in den Nachbarortsverein ausgewichen bin. Da habe ich die Jungsozialisten, Falken und die Frauengruppe mit gegründet und habe mich auch wohl gefühlt. Auch den Wahlkampf habe ich im Ortsverein mitgemacht.
R.L: Auch für Frieda Nadig?
E. E.: Ja, natürlich. Was mir nun angeboten wurde, war eine Kandidatur für die Landesliste. Erst mal war ich ganz perplex.
R.L.: Fragten sie dich aus heiterem Himmel, oder hattest du so etwas schon erwartet?
E.E.: Nein, nein, das konnte ich nicht erwarten. Die fragten: »Sag' mal, würdest du bereit sein, für den Bundestag zu kandidieren?« Ich hab' die angeguckt und gesagt: »Hört mal, meint ihr denn, daß ich das kann? Da gibt es noch ganz andere, die das können.« »Warum sollst du das nicht können?« Dann habe ich gesagt: »Ja, wenn ihr meint, die auf der Landesliste kommen ja sowieso nicht zum Zuge, meinen Namen gebe ich dafür her.«
Dann kam das große Erschrecken. 1957 war ja diese schreckliche Wahl, in der so viele Direktwahlkreise verloren gingen und dadurch Listenplätze zum Zuge kamen.
R.L.: Das war die schwerste Niederlage, die die SPD erlebt hatte. Die CDU bekam die absolute Mehrheit im Bundestag. Dieses einschneidende Erlebnis hat die innere Wandlung der Partei beschleunigt und zu den Parteitagen von Stuttgart und Bad Godesberg geführt.
E. E.: Es war für mich ein schreckliches Erlebnis, aufgrund einer Wahlniederlage die Chance zu erhalten, in den Bundestag zu kommen. Es hat ein Vierteljahr gedauert, bis ich innerlich damit fertig wurde. Sonst zog man über die Landesliste bis Platz 38 oder 39 ein; ich hatte die 42. Stelle, und Fritz Büttner war der letzte, der dann auf Platz 45 reingekommen ist. So bin ich im Bundestag gelandet. Der Wahlkreisabgeordnete war so taktvoll zu sagen, »die ist in den Bundestag gekommen wie die Jungfrau zum Kinde«.
R.L.: Sehr charmant, wirklich. Ein Großteil der Frauen, die verheiratet sind und Familie haben, können Entscheidungen nicht so kurzfristig fallen und ohne Bereitschaft des Mannes nach Bonn gehen. Hast du deine Entscheidung bewußt gefällt, dich nicht zu verheiraten und nur beruflich tätig zu sein? Bist du mal verliebt gewesen?
E. E.: Aber ja, nicht nur einmal. Eine Beziehung, die wir beide ernst genommen haben, wurde durch den Tod beendet: Er ist gefallen. Ich war auch mal verlobt, habe aber meinerseits diese Verlobung 1944 gelöst, weil ich nicht bereit war, so viel aufzugeben und mich voll dem Mann anzupassen. Das hatte ich in den eineinhalb Jahren meiner Verlobungszeit getan und mich selbst hintangestellt. Das war eine starke Krise, aber ich war später froh, daß ich diesen Schritt getan habe.
R.L.: Zurück zum Bundestag. Wen hast du denn an Freunden im Bundestag wiedergefunden?
E. E.: Walter Menzel und Holger Börner, Frieda Nadig war auch noch da, in den sechziger Jahren kamen Rudi Hauck, Alwin Brück, Karl Ravens und Heinz Westphal hinzu, alles Leute, mit denen man sich in der Jugendbewegung vorher schon getroffen hatte oder die man vorher kannte.
R.L.: Und wie hat sich die Situation in der Fraktion dargestellt? An welche Arbeiten hat man dich herangelassen?
E.E.: Ich bin in meine »typischen« Bereiche gekommen: in den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und den sozialpolitischen Ausschuß. Ich hatte auch noch mit dem Wiedergutmachungsausschuß zu tun, habe mich aber gleich auf Irma Keilhack und Marta Schanzenbach gestützt und dann im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit meinen Arbeitsbereich gefunden.
R.L.: Hast du gleich am Jugendhilferecht mitgearbeitet?
E. E.: Im Sozialausschuß und im Ausschuß für Familien- und Jugendfragen haben wir das Sozialhilfegesetz und die erste Novelle beraten. Das war mein Fach- und Arbeitsgebiet. Sprecherinnen waren Irma Keilhack und Marta Schanzenbach. Ich war mit Franziska Bennemann und Willy Konen Sprecher in Fragen des Sozialhilferechtes. Zusammen haben wir die Hauptarbeit geleistet. Zwischen Ostern und Juni 1961, also am Ende meiner 1. Legislaturperiode, durfte ich im Plenum reden. Vorher war es nicht drin. Beide Reden waren auch nur kurze Antragsbegründungen.
R.L.: So waren damals die Zeiten, hart und streng.
E. E.: Dann sind wir wirklich über die Dörfer getingelt mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz. Mit meinem CDU-Kollegen aus Iserlohn haben wir in ganz Nordrhein-Westfalen immer wieder vor Jugendringen und vor Wohlfahrtsorganisationen Diskussionen um das Subsidiaritätsprinzip geführt Es war manchmal so langweilig, daß wir uns am liebsten nur noch »Argument drei« zugerufen hätten, weil wir die Argumente runterspulten. Meine These: Je mehr öffentliche Gelder die Verbände und Organisationen vom Staat annehmen, um so stärker wird die Abhängigkeit und die Uniformität der Arbeit aller Verbände. Mache ich Jugendarbeit, zum Beispiel bei den Falken und wird vom Ministerium die Mädchenbildungsarbeit gefördert, werde ich automatisch meine Grundsatzhaltung auf das Thema Mädchenbildungsarbeit verlagern. Damit wird die Arbeit des Caritas-Verbandes und der evangelischen Seite austauschbar oder auch die des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, des Roten Kreuzes, der Arbeiterwohlfahrt, wie wir es jetzt zur Zeit auch haben. Die Arbeiterwohlfahrt hat ja dieses Primat der öffentlichen Hand nicht nur anerkannt, sondern auch gern akzeptiert.
R.L.: Das war in deiner 1. Legislaturperiode, da warst du Ende Dreißig.
E.E.: Dann kam für mich 1961 innerparteilich im ostwestfälischen Raum eine sehr bittere menschliche Erfahrung: 1957 zogen Frieda Nadig als Wahlkreisabgeordnete, ich über die Landesliste und Liesel Kipp-Kaule mit einem Sonderstatus als Gewerkschafterin in den Bundestag. In einer Kampfkandidatur auf dem Parteitag 1961 hatte Heinz Junker den Wahlkreis von Frieda Nadig bekommen. Frieda sollte dann auf der Landesliste abgesichert werden wurde aber im ersten und im zweiten Wahlgang nicht akzeptiert. Dann sollte sie in den dreißiger Plätzen ein Mandat haben, aber man sagte: »Wir haben ja die Elfriede Eilers.« So wurden wir beide gegeneinander gestellt. Wer soll nach vorne - Elfriede oder Frieda? Es war ein Schlachtfest auf offener Bühne! Es kamen zwei Genossinnen zu mir und sagten : »Jetzt mußt du zurückziehen.« Ich hatte an und für sich damit gerechnet, daß mein Mandat auf vier Jahre begrenzt war. Aber die Stimmung im Saal brodelte derart, daß ich gesagt habe: »Hört mal, es ist jetzt die Frage, ob wir keine Frau kriegen oder eine!« Man wußte vorher schon, Frieda wird nicht gewählt. So habe ich mich gestellt und bin vom 42. auf den 22. Listenplatz gekommen. Frieda Nadig hat den dritten Wahlgang durchgestanden, hat aber den 42. Platz nicht bekommen. Dafür ist Else Zimmermann auf die 49. Stelle gekommen. Wie es der Zufall will, hat dieser Platz 1961 auf der Landesliste gereicht, und Else Zimmermann kam in den Bundestag. Ostwestfalen war wieder mit drei Frauen vertreten.
R.L.: War das eine moralisch schwierige Situation für dich ?
E.E.: Nachem wir fünfzehn Jahre intensiv zusammengearbeitet hatten war das für mich menschlich ganz schwer. Frieda hat auch in der ersten Phase geglaubt, daß ich mit dran gedreht hätte. Sie hat mir das hinterher abgebeten und gemeint: »Eigentlich hätte ich dich kennen müssen, daß das nicht der Fall war.« Aber das geht mir heute noch nach.
R.L.: Diese Erfahrung will ich auch nicht werten. Jeder Politiker steht manchmal in solchen Konfliktsituationen. Sie war aber immerhin deine Förderin.
Welches waren denn die Leute, mit denen du im Bundestag geselligen Kontakt gepflegt hast? Gab es schon Kanalarbeiter?
E. E.: Also, die Kanaler gab es noch nicht. Es hat einen Kreis von Kolleginnen gegeben: Marta Schanzenbach, Irma Keilhack - Käte Strobel weniger, die durch die Europapolitik ihren eigenen Kreis hatte-, dann Helene Wessel, von der ich sehr profitiert habe, Franziska Bennemann. Von den Männern hatte ich Kontakte zu Helmut Rohde, Willi Berkhan und Hans-Jürgen Junghans. Wir gehörten der gleichen Generation an. Es gab die Kanaler noch nicht im engeren Sinne, aber viele, die schon in die »Rheinlust«-Kneipe gingen, Skat spielten und mit Journalisten Gespräche führten. Erst Anfang der sechziger Jahre sind die Kanaler »gegründet« worden. Der Kreis ist viel weniger ideologisch bestimmt gewesen, als ihm immer unterstellt wurde. Die Kanaler waren ein Auffangbecken. Da wußte man, du triffst Leute, mit denen du eine Sprache sprichst. So stand dieser gesellige Zusammenhalt zuerst stärker im Vordergrund. Später hat der Kreis bei Wahlen eine bestimmte Weichenstellung überlegt. Erst waren es nur Männer. Eine der ersten Frauen, die dort mit hinging, war Hedi Meermann, als sie 1961 kam.
Egon Franke war immer der Kristallisationspunkt. Als Adlatus kam Karl Herold dazu, Hermann Haage, ein Fuhrunternehmer aus München, der auch 1957 in den Bundestag gekommen ist. Dann habe ich angefangen zu pieksen und gesagt: »Frauen sind bei euch wohl nicht gefragt? Ihr seid wohl Frauenfeinde?«
R.L.: War nicht Annemarie Renger von Anfang an mit dabei ?
E.E.: Annemarie kam durch Egon mit. Daß regelmäßig Frauen dabei waren, war erst um 1963 der Fall. Von da an bin ich dazugestoßen. In die »Rheinlust« bin ich seltener gegangen, da gab es regelmäßige und außerordentliche Begegnungen, bei denen ich mehr dabei war.
R.L.: Es ist unbestritten, daß die Kanalarbeiter Einfluß auf personelle Entscheidungen genommen haben.
E.E.: Es gab da natürlich diese Kandidatenvorschläge auf Zettelchen zu Wahlen. Von Anfang an habe ich gesagt: »Also haltet mich doch nicht für so dumm.« Ich habe mal verglichen, ob meine Meinung mit der ihrigen übereinstimmt. Da, wo sie übereinstimmte, habe ich das akzeptiert. Aber ich hätte mich nie nach einer Strichliste der Kanaler einordnen lassen, obwohl ich mehr Gemeinsamkeiten mit denen hatte als mit einigen anderen.
R.L.: Du bist 1966 in den Parteivorstand gewählt worden. Zu dieser Zeit warst du ja bereits Mitglied des Bundesfrauenausschusses. Marta Schanzenbach ist ja eine langfristig planende Frau und hat sich wohl überlegt, wen sie fördert und in die Seilschaft aufnimmt. Hat sie dich gefragt, oder wer hat dich sonst vorgeschlagen? Wie ist es zur Kandidatur gekommen?
E.E.: Marta hatte sich 1965 über eine Erklärung von Alex Möller, daß er annehme, sie werde sich aus dem Parteivorstand zurückziehen, geärgert. Sie hat dann gesagt, sie werde sich nicht noch mal der Partei zur Verfügung stellen. Im Vorfeld zum Parteitag in Dortmund hat sie dann mich gefragt und meinen Namen im Parteivorstand genannt. »Ich trete zurück, aber ich schlage dafür Elfriede Eilers vor«, aber ich wurde nicht als Vorschlag des Parteivorstandes übernommen. Marta ist dann für mich Unterschriften sammeln gegangen, während unser Bezirk Heinz Junker vorgeschlagen hatte. Auf dem Parteitag hat man allerdings versucht, mich unter Druck zu setzen. Aber ich habe meine Kandidatur aufrechterhalten und bin gewählt worden. Rausgefallen ist Heinrich Hemsath. In der Presse hieß es dann natürlich nicht »Junker ersetzt Hemsath«, sondern »Frau schlägt Hemsath«.
R.L.: 1966 stand auch die Entscheidung über die Große Koalition an. Warst du dafür?
E. E.: Wenn es nach den Bielefelder Verhältnissen gegangen wäre, dann hätte ich auf Drängen der Mitgliedschaft nein sagen müssen. Ich habe mal die Stunden gezählt, die wir in einer Woche allein in Gremien von Parteivorstand über Fraktion und dann Landesausschuß Nordrhein-Westfalen getagt haben: An die fünfzig Stunden sind es gewesen. Die längste Diskussion lief von freitags nachmittag um 14.00 Uhr bis sonnabends früh um drei Uhr. Es gab keine Brote mehr, keine Zigaretten im Automaten. Wir sind mit dem ersten Zug morgens um fünf nach Hause gefahren. Aber ich habe mich zu einem Ja durchgerungen mit der Überlegung, wenn wir regierungsfähig werden wollen, müssen wir uns in einer solchen Koalition beweisen, um die CDU an die Wand zu drücken.
R.L.: Aber der Wille zur Großen Koalition war ja seit der großen Wenderede von Herbert Wehner 1960 klar.
E. E.: Diese Wenderede wurde von uns allen atemlos zur Kenntnis genommen. Er hatte drei, vier Sätze zur Skizzierung seiner Rede in der Fraktion gesagt, aber keiner hat geahnt, daß diese Rede eine absolute Wende außenpolitischer und innenpolitischer Art für die SPD bedeutete. Erst in den Tagen danach ist mir aufgegangen, welche Bedeutung sie hatte.
R.L.: Jetzt zu deiner parlamentarischen Arbeit: Als Käte Strobel 1966 Gesundheitsministerin wird, beginnt sie sofort mit einer Aufklärungskampagne über Geburtenplanung. Ihre Stichworte sind die Pille, später ihr berühmter Sexualkundeatlas und der Aufklärungsfilm »Helga«. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine öffentlichen Diskussionen über eine Strafrechtsreform des §218. Aber das eigentlich Entscheidende ist, daß Käte Strobel nun mit dieser Aufklärung das Klima schafft, in dem die Reformdiskussion beim § 218 einsetzen kann.
E.E.: Marta Schanzenbach hatte schon Anfang der sechziger Jahre versucht, den § 218 zu thematisieren. Ich erinnere mich, daß wir Anfang dieses Jahrzehnts in Berlin im Cafe Kranzler zusammengesessen haben, als Marta ganz enttäuscht aus einer Präsidiums- oder Vorstandssitzung kam, wo sie versucht hatte, die Reform des § 218 auf die Tagesordnung zu bringen. Sie war aber energisch vom Parteivorstand zurückgepfiffen worden.
R. L.: Da gab es eine Diskussion über die ethische Indikation.
E. E.: Sie hatte versucht, dieses Thema anzusprechen, nachdem ein Arzt in Niedersachsen, der Sterilisationen vorgenommen hatte, verurteilt worden war. Damit wurde das Thema halböffentlich. Man mußte etwas tun. Da ist Marta aber abgeschmettert worden und sagte so ungefähr: »Mit unseren Männern kann man doch nichts machen!«
R.L.: Als Vorsitzende der Arbeitsgruppe Frauenpolitik bist du ab 1972 in der Frauenpolitik der Fraktion in den Vordergrund gerückt. Kannst du einmal die Situation schildern, in der du die Arbeit übernommen hast ?
E.E.: Die Arbeitsgruppe ist zu Annemarie Rengers Zeiten Anfang 1970 entstanden, als wir schon politisch etwas bewirken und bewegen konnten. Sie hatte von der Fraktionsführung ihr Plazet bekommen, die Gesetzesvorhaben auf frauenrelevante Fragen zu überprüfen. Als Annemarie zur Präsidentin des Bundestages gewählt wurde, habe ich die Arbeitsgruppe 1972 übernommen.
R.L.: Die Situation war ja viel klarer auf frauenpolitische Reformen ausgerichtet- mehr, als dies 1969 der Fall war. Zwei große frauenpolitische Reformen standen an: der § 218 und die Eherechtsreform. Jetzt warst du Koordinatorin der Parlamentarierinnen, die in verschiedenen Sachgebieten tätig waren: also im Arbeits- und Sozialausschuß, im Rechtsausschuß, im Unterausschuß Eherechtsreform, im Strafrechtssonderausschuß und in den Arbeitsgruppen »Sozialbegleitende Maßnahmen zur Strafrechtsreform« und »Versorgungsausgleich«. Gleichzeitig aber wurde die Frauengruppe auch gesetzgeberisch initiativ.
E. E.: In den Jahren von 1972 bis 1976 hat es sich ja fast überschlagen. Im Sommer 1972 haben wir zum ersten Mal eine Auflistung gemacht. In den Sommerferien haben wir ein paar Mal zusammengesessen: Reinhart Bartholomäi von der Fraktion, Holler vom Arbeitsministerium, Annemarie Renger, Marie Schlei, Dorothea Brück und ich. Beim ersten Mal war ich als einzige Frau aus dem Parlament dabei. Da haben wir einen ganzen Katalog ausgehandelt, was praktisch notwendig wäre und was nach Holler machbar sei. Seitdem hatten wir einen Spitznamen für Holler erfunden: der Teppichhändler. So kamen wir uns vor - wie beim persischen Teppichhandel, Wir sagten: »Alles geht!« Er sagte: »Nichts geht!« Bis wir uns dann in der Mitte getroffen haben. Wir haben einen Stufenplan erstellt. Maßgeblich als Bollwerksbrecher war vor allem der Kontakt zu Herbert Wehner, der über Marie Schlei eng geknüpft war. Mit Fairneß und Zähigkeit haben Marie und ich die ersten Dinge durchgezogen. Wir haben uns intensiv zugearbeitet, sind sogar oft miteinander verwechselt worden im Parlament, obwohl es meines Erach-tens nicht viel äußerliche Ähnlichkeit gab. Keiner hat versucht, ein Erstgeburtsrecht aus einer Initiative zu machen. Das war spannungsfrei und schön. Auch später im Kanzleramt blieb Marie immer als Ansprechpartner hilfreich. Marie hatte immer einen Draht »zu den Oberen hin« und hat dabei auch manches bewirken können, speziell im sozialpolitischen Bereich. Aber wenn ich mir vorstelle, was Käte Strobel und Marta Schanzenbach alles durchgesetzt haben in ihrem langen politischen Leben, dann glaube ich, daß die AsF ihre Arbeit historisch überbewertet.
R.L.: Du hast am 25. Januar 1973 bei der Aussprache über die Regierungserklärung eine Rede über Eherecht, Familienpolitik, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Sozialpolitik und §218 gehalten. Die Konzeption, die vor der  Bundestagswahl 1972 erarbeitet wurde, spielte jetzt eine Rolle. Hat dieses Konzept in der Regierungserklärung von Willy Brandt Widerhall gefunden?
E. E.: Ja, wir haben Willy Brandt geschrieben - das hatte es vorher noch nie gegeben -, was wir Frauen in seiner Regierungserklärung erwarten. Wir haben es ihm nicht nur als Bitte nahegelegt, sondern als Forderung. Daran hat er sich auch gehalten. Das war die erste Regierungserklärung mit einer klaren Aussage zu frauenpolitischen Problemen.
R.L.: Also nicht mehr Politik gnädigst für die Frauen, sondern durch Frauen selbst.
E. E.: Mit den Frauen, ja . . .
R.L.: Durch die Frauen, das war ja das eigentliche Thema. Also nicht mehr hinnehmen, was uns die Herren am grünen Tisch verordneten. Als Betroffene forderten wir unsere Rechte!
E.E.: Das haben wir dann auch 1976 fortgeführt. Wir haben Helmut Schmidt als Kanzler einen ähnlichen Brief geschrieben, aber heute haben wir keinen Kanzler, dem wir schreiben können . . .
R.L.: Nach der tollen Wahl von 1972 kommt unsere Chance mit dem Kanzler Willy Brandt, Frauenpolitik im Sinne der Frauen selbst einzubringen. Da spielt der § 218 gewiß eine dominierende Rolle. Relativ schnell folgt die Frage der Staatsangehörigkeit. Du hast im Oktober 1973 eine kleine Anfrage im Bundestag vertreten zur Staatsangehörigkeit ehelicher Kinder einer deutschen Mutter und eines ausländischen Vaters und der Lage deutscher Frauen, die mit Ausländern verheiratet sind. Ab 1975 wurde dies ja dann gesetzlich so geregelt, daß solche Kinder automatisch bei ihrer Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen. Wie bist du darauf gekommen ?
E.E.: Durch die 1AF, mit der wir in persönlichen Kontakt getreten waren.[1] Aber ich möchte einmal grundsätzlich relativierend sagen: Man kann nicht alles machen. Die Eherechtsfrage hat ja weitgehend bei dir gelegen, die Reform des § 218 weitgehend bei Marie Schlei, und ich habe koordiniert. Ich habe den anderen Part, die gemischt-nationalen Ehen und das Unterhaltsvorschußgesetz, behandelt und deine Initiative zur besseren Unterhaltsregelung der Scheidungswaisen unterstützt.
Aber jetzt muß ich auch mal sagen, wie ich es in frauenpolitischen Fragen empfunden habe, wenn ich uns beide vergleiche. Was es mir in der Fraktion manchmal leichter gemacht hat, ist vielleicht mein etwas »rundlicher Typ« gewesen, der den Männern dabei entgegengekommen ist, Forderungen von mir zu akzeptieren. Bei mir haben sie immer das Gefühl gehabt, wenn die Elfriede das sagt, die will uns ja nichts Böses. Die haben mich nie als eine »Emanzipierte« angesehen - die ich nach eigenem Empfinden durchaus war. Du hast es sehr viel schwerer gehabt.
R.L.: Willst du damit sagen, mich haben sie als eine Emanzipierte angesehen?
E.E.: Ja. Bei mir haben sie gesagt, an und für sich ist die Elfriede ja eine »Mutti«, eine Frau, die uns Männern nicht ans Leder will. Bei dir haben sie durch den Versorgungsausgleich und auch durch die Anpassung der Unterhaltsrenten immer das Gefühl gehabt, die nimmt uns Männern was weg. Die Themen, die ich behandelte, waren ja auch zwischen Männern und Frauen kaum kontrovers. Die Männer haben bei dir gemerkt, sie will uns was. Bei mir hatten sie nicht so sehr das Empfinden, obwohl ich ihnen genauso »was gewollt habe«.
R.L.: Wie war das nun in der »Arbeitsgruppe Frauen« bei der wichtigen Frage: Krankenurlaub für berufstätige Eltern, wenn ein Kind erkrankt ist? Das war ja auch eines der Projekte, die ihr im Sommer 1972 begonnen hattet.
E.E.: Das hat eine große Rolle gespielt. Die Fraktion hat das später gern mitgetragen. Für den Arbeitsminister Walter Arendt, der sehr viel vorhatte und ja auch viel durchbrachte, hatte das keine Priorität. Walter ist ja von seiner Grundhaltung her ein Bergarbeiter und Patriarch. Marie Schlei und ich, wir haben uns Walters wegen manchmal die Figur verbogen. Wir haben dann gesagt, notfalls müssen wir mit ihm wieder eine Haxe oder Kuchen essen. Beim Essen haben wir ihm das so verklickert, daß er mit einem halben Ja rauskam oder einem vollen Ja. Bei jeder Besprechung mit uns war sein erstes Wort: »Ihr könnt mit mir über alles sprechen, aber nicht über die Pille auf Krankenschein.«
Walter wäre nie der Mann gewesen, der vorwärts stürmend frauenpolitische Fragen von sich aus auf die Tagesordnung gesetzt hätte. Aber wenn es seine Leute akzeptiert hatten, war er kein Bremser. Außerdem mußten wir ihm die Kosten in Mark und Pfennig vorrechnen. Wir haben uns ja nie so verschätzt, wie zum Beispiel bei den Unterhaltsvorschußkassen, die ja erheblich teurer geworden sind. Sie haben einen langwierigen und zähen Anlauf gehabt, bis sie 1979 gesetzlich verankert wurden. Es hat damals am Familienminister gelegen. Antje Huber sah es im Kabinett als nicht durchsetzbar an. Wir haben es ihr klargemacht in einigen langen Gesprächen in der Parlamentarischen Gesellschaft. »Wir möchten dir ja nichts reinschießen, was du nicht finanzieren kannst. Aber schreib es auf deine Fahnen, denn wir wollen dich ja nur in deinen Vorhaben unterstützen.«
R.L.: Kommen wir auf die § 218-Reform zu sprechen. Die SPD-Frauen im Parlament hatten - zu einem Teil jedenfalls - seit 1972 die Fristenlösung entwickelt, gegen die offiziell von der Regierung favorisierte Indikationslösung. Welche Haltung hast du eingenommen?
E. E.: Für mich war es von Anfang an klar, daß ich die Fristenregelung haben wollte und nicht die Indikationsregelung. Sie erschien uns allen als die für Frauen erträglichere Regelung.
R.L.: Im Gesamtprozeß hat auch eine Rolle gespielt, daß wir einzelne Abgeordnete zu überzeugen suchten, daß eigentlich nur die Fristenregelung akzeptabel sei. Kannst du dich erinnern, daß du bei der Meinungsbildung Einfluß genommen hast auf Politiker, die anders dachten?
E.E.: Ja, in sehr deataillierten Einzelgesprächen. Ich erinnere mich, daß ich mit Günther Metzger, mit dem ich ein sehr gutes, vertrauensvolles Verhältnis unter Kollegen hatte, oft und lange diskutiert habe. Die Wurzel für seine Haltung lag wahrscheinlich auch in seiner betont evangelischen Bindung und in dem sehr glücklichen Familienleben seiner Großfamilie.
R.L.: Für uns war entscheidend, wen bringen wir rüber in der Abstimmung, weil es ja um jede Stimme ging.
E.E.: Wenn ich ganz ehrlich bin, Erhard Eppler habe ich ausgespart und auch Heinz Rapp. Ich wußte, daß sie festgezurrte Meinungen hatten, die ich auch in einem Überzeugungsgespräch nicht ändern kann. Ich habe mit Müller-Emmert manches Mal diskutiert. Für mich war maßgebend: Leben, das ungewollt und ungewünscht in diese Welt hineinkommt, wird kein menschliches Wesen sein, das liebevoll umsorgt wird. Obwohl sich auch das manchmal hinterher ändert, wenn ein Kind erst einmal auf der Welt ist. Wir wissen, wie Kinder gequält und herumgestoßen werden, weil sie nicht erwünscht waren.
R.L.: Du hast in der dritten Beratung für die Fraktion die abschließende Rede gehalten. Welche Erinnerungen hast du an den Prozeß, der einsetzte, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 1975 die Fristenregelung verworfen hatte?
E. E.: Wir waren natürlich alle sehr bestürzt, weil wir es nicht für möglich gehalten hatten. Es gab Demonstrationen auf allen Ebenen, von parlamentarischen oder feministischen Gruppen bis zur AsF. Wir haben überlegt, wie können wir den Unmut auffangen und kanalisieren?
R.L.: Das eigentliche Wunder war ja, daß trotz der Ablehnung der Fristenregelung eine Reform noch in derselben Legislaturperiode gelungen ist. Es war ungeheuer hektisch. Müller-Emmert und der damalige Justizminister Jahn hatten 1972 einen eigenen Gesetzentwurf für eine Indikationsregelung vorgelegt, der dann bestimmend wurde für den zweiten Anlauf zur Reform 1975. Auch die Schwangerschaftsberatung wurde rechtlich verstärkt.
E.E.: Ja, wir haben eine neue Arbeitsgruppe von Männern und Frauen einberufen. Vor Augen ist mir noch, daß Heinz Rapp sehr bemüht war, den Vorsitz dieser Arbeitsgruppe zu übernehmen. In einem geschickten Schachzug habe ich mich dann aber als Vorsitzende der »Arbeitsgruppe Frauenpolitik« selbst zur Vorsitzenden erklärt, ohne es zur Abstimmung kommen zu lassen. Die anderen haben hinterher gesagt, das hast du aber raffiniert gemacht. Für mich war klar, daß eine Frau, die die unterlegene Meinung vertrat, versuchen sollte, das Bestmögliche herauszuholen.
R.L.: Für uns war die »soziale Indikation« am wichtigsten. Eigentlich wollten wir sie als »Konflikt-Indikation« ausgestalten und sie möglichst im Sinne des WHO-Gesundheitsbegriffes erweitern. Es ging uns darum, durch die Notlagenindikation zu einer indirekten Fristenregelung zu kommen.
E. E.: Daran erinnere ich mich noch sehr genau. Ich wehre mich auch seit dieser Zeit vehement, daß man die Indikation »Sozialindikation« nennt, sie aber eng als »Notlage« im materiellen Sinne auslegt und damit die Motive von Frauen nicht ernst nimmt.
R.L.: Neben deiner Arbeit als Vorsitzende der »Arbeitsgruppe Frauenpolitik« hast du gleichzeitig aber auch die Frauenarbeit der Partei geleitet. Laß uns beginnen mit dem Bundesfrauenausschuß, der völlig in Vergessenheit geraten ist. Die AsF wurde ja erst 1973 gegründet.
E. E.: Man kann sich heute nach nur zwanzig Jahren nicht mehr vorstellen, daß die SPD-Frauen die Vorsitzende ihrer Organisation nicht selbst gewählt haben, sondern daß sie vom Parteivorstand benannt wurde! Die Vorsitzende berief dann die Mitglieder des Bundesfrauenausschusses. Als Nachfolgerin von Marta Schanzenbach wurde 1966 Annemarie Renger benannt und ich als Stellvertreterin berufen.
R.L.: Bei den SPD-Frauen spielte die Unabhängigkeit der Organisation eine herausragende Rolle. Jetzt wurde die Wahl für alle Organe gefordert.
E.E.: In der Rückschau ist es kaum verständlich, daß SPD-Frauen so lange eine berufene Vorsitzende akzeptiert haben. Die ersten Anträge dazu kamen schon 1968 in Saarbrücken auf der Frauenkonferenz. Auf Beschluß der Bundesfrauenkonferenz 1970 in Nürnberg haben wir dann einen Arbeitskreis für gesellschaftspolitische Frauenfragen gebildet, den ich dann geleitet habe. Er hat Vorarbeiten für eine Arbeitsgemeinschaft, zum Beispiel für die Satzung und Richtlinien, geleistet. Wir haben uns auch mit der Fortentwicklung der Programmatik stärker beschäftigt. Es waren die großen und aktiven Bezirke drin, ein Gremium von maximal zehn bis fünfzehn Leuten. Diese Vorarbeiten wurden dann 1972 im Parteivorstand abgesegnet.
R.L.: Bei der Bundesfrauenkonferenz in Ludwigshafen 1973 ist die Vorsitzende der SPD-Frauen zum ersten Mal gewählt worden. Davor lag die Bundestagswahl 1972, und wir hatten uns alle im Wahlkampf für die Emanzipation von Frauen, den § 218 und auch das »Babyjahr« engagiert.
E.E.: Die gesetzgeberische Arbeit spielte im Wahlkampf eine große Rolle, weil wir sie erstmals aus der Position der Regierung vertreten konnten. Durch den Druck von außen waren unsere SPD-Männer eher geneigt, Frauenfragen nachzugehen. Es gab auch die Nachhol-Euphorie nach zwanzigjähriger CDU-Politik, so daß wir uns in einer zwiespältigen Lage befanden. Wir wollten die unruhige Generation junger Frauen einbinden, aber andererseits auch Normen setzen, um für Frauen, die politisch nicht unbedingt auf unserer Seite standen, wählbar zu werden. Wir durften also nicht zu radikale Forderungen erheben, die man ja immer auch in der Öffentlichkeit hörte.
R.L.: Es herrschte eine geistige Aufbruchstimmung. Mehr Frauen wollten an der politischen Willensbildung teilnehmen. Nun kam im Frühjahr 1973 die Frauenkonferenz in Ludwigshafen, auf der der Generationskonflikt ausgetragen wurde. Es gab die Empfehlung des Bundesfrauenausschusses, dich als bisherige Stellvertreterin zur Vorsitzenden zu wählen und den Gegenvorschlag: Herta Däubler-Gmelin als junge Kandidatin aus Baden-Württemberg. Es soll zu harten Auseinandersetzungen gekommen sein. Es entstand eine erste Kluft zwischen den jungen linken Frauen und den sogenannten »Establishment-Frauen«. Seitdem gibt es Brüche in der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, die auch ideologischer Natur und Folge der Protestbewegung Ende der sechziger Jahre waren.
E. E.: Es war für uns schon im Vorfeld der Konferenz erkennbar, daß Gegenvorschläge kommen würden. Erstmals waren viele junge Frauen da, die diese neue Szene stark bestimmt haben. Wir waren die mittlere Generation und das »Establishment«. Ämterhäufung als Vorwurf kam auf. Man müsse jungen, unverbrauchten Kräften eine Chance geben. Der Vorwurf an die mittlere und ältere Generation lautete: »Man hat euch, überspitzt gesagt, korrumpiert, die Politik von Männern mitzumachen und nicht ausdrücklich emanzipatorische Frauenarbeit. Damit habt ihr eure Ämter erkauft.« Das stand im Hintergrund.
R.L.: Obwohl viele der Vorwürfe von Politikerinnen kamen, die bereits als Bundestagsabgeordnete oder Landtagsabgeordnete in Amt und Würden waren, gleich welcher Generation sie angehörten. Jetzt gab es eine besser ausgebildete, eloquentere Frauengeneration. Die Frauenarbeit wurde intellektualisiert; man orientierte sich nicht mehr nur an den Problemen der Arbeiterinnen, sondern suchte nach individualistischen Lösungen. Darunter haben wir gelitten.
E. E.: Daß wir pragmatische Politik machten, war eigentlich der größte Vorwurf, und daß wir nicht die reine Lehre durchzuziehen bereit waren. Ein Großteil der Frauen, die politische Verantwortung trugen, hatte Gesetze, wie zum Beispiel die Notstandsgesetzgebung, akzeptiert und mitgetragen. Das ging bis zum Vorwurf: »Ihr repräsentiert nicht den Aufbruch, sondern das Establishment oder die Restauration.«
R.L.: Hast du da noch persönliche Erinnerungen an das Klima, das in Ludwigshafen herrschte ? Wer waren die Wortführerinnen gegen die Vorschläge des Bundesfrauenausschusses? Wie ist da Bewegung reingekommen?
E. E.: Ich erinnere mich, daß Inge Wettig-Danielmeier, damals hochschwanger mit ihrem ersten Kind, eine aktive Rolle gespielt hat. Anke Martiny gehörte in diesen Kreis, aus dem Kölner Raum einige Frauen, Anke Brunn in gemäßigter Form, dann vor allem Hessen-Süd mit Dorothee Vorbeck und Anita Breithaupt, auch Ute Canaris, die eine maßgebliche Rolle spielte. Vorbeck und Canaris kamen in den Bundesvorstand hinein. Mein Wahlergebnis war ungefähr drei Fünftel der Stimmen. Mein aufwühlendstes Erlebnis war die Pressekonferenz danach. Der ganze neugewählte Bundesvorstand saß mir im Nacken und registrierte jede Äußerung. Es war ein so erkältendes Klima, daß man ahnen konnte, welche Schwierigkeiten in Zukunft auf uns zukommen würden. Dorothee Vorbeck wurde eine meiner Stellvertreterinnen, die sich dann als fair und in der Form gemäßigt erwiesen hat.
R.L.: Der Gruppendruck war wohl erheblich. Die meisten dieser Frauen, die damals radikal auftraten, haben sich ja im Laufe der Jahre pragmatisch entwickelt und als Mandatsträgerinnen sozialdemokratische Politik vertreten. Aber wo lagen eigentlich die inhaltlichen Konflikte?
E.E.: Wir wollten ein neues familienpolitisches Programm. Der Saarbrücker Parteitag hatte 1970 dem Parteivorstand den Auftrag erteilt, dafür eine Kommission einzusetzen.
R.L.: Es ist ja schwierig, die unterschiedlichen Vorarbeiten zum familienpolitischen Kongreß der AsF Ende November 1974 in Bremen bis hin zu den Bundesparteitagen auseinanderzuhalten. Viele Fäden wurden zwischen Partei und AsF hin und her geknüpft. Beim Familienkongreß in Bremen hat es neben der offiziellen Vorlage eine Reihe von Anträgen gegeben, die teilweise pseudo-marxistische Positionen enthielten und über die kaum kontrollierbare Arbeit der Antragskommission in das familienpolitische Programm der SPD eingebracht werden sollten. Dies war ein geistiger Ansatz, der unsere Reformpolitik in der Öffentlichkeit diskreditiert hätte. Ich habe die Papiere vorher Herbert Wehner gezeigt, der mir gesagt hat: »Renate, verhindere diese Papiere, das würde unsere ganze Politik, die wir hier auf Bundesebene machen, zerstören!« Das war der Punkt: unsere Glaubwürdigkeit!
E.E.:Nun muß ich sagen, die Partei, besser: die Vorsitzenden, hat mich als AsF-Vorsitzende damals sehr allein gelassen. Vielleicht habe ich mir auch zu viel auf den eigenen Buckel genommen.
R.L.: Ich will nur an den Antrag des Bezirks Hessen-Süd an die familienpolitische Bundeskonferenz der AsF erinnern. Darin ging man bei der Arbeitsteilung nicht mehr von der prinzipiell gleichen Würde von Mann, Frau und Kind in Ehe und Familie aus. Die Familie wurde zum Spiegelbild der Klassenauseinandersetzungen in der beruflichen und hierarchischen Struktur der Gesellschaft umgedeutet. Dagegen haben wir uns mit aller Schärfe gewandt.
E. E.: Dieses Papier ist nicht verabschiedet worden, sondern es wurde verändert und abgeschmettert. Aber dieser Antrag ist nicht parteiintern geblieben, sondern über irgendwelche Kanäle an die CDU gelangt. Seit dieser Zeit hat Frau Dr. Wex in ihren Reden immer wieder versucht, mir und der SPD die Forderung nach der absoluten Berufstätigkeit der Frauen und die Zerstörung der Familie anzuhängen. Das sind die Folgewirkungen solcher Papiere. Die Anträge unterstellten, daß alle Frauen ihre Selbstverwirklichung nur im Beruf finden, auch Frauen, die aus materiellen Gründen und nicht aus emanzipatorischen Motiven arbeiten und darin keine Befreiung sehen können. Es war ein elitäres Dokument und knüpfte in seiner klassenkämpferischen Art an Clara Zetkin an. Es belebte ihre Ideen noch einmal gegen alles, was sozialdemokratische Frauenpolitik schon seit der Weimarer Republik, aber erst recht in den Nachkriegsjahren inhaltlich nicht mehr vertrat.
R. L.: Die Bremer Familienkonferenz hat im Endergebnis freilich zu einer vernünftigen Vorlage für ein familienpolitisches Programm beim Mannheimer Parteitag geführt, weil der Großteil der Delegierten diesen ideologischen Ansatz verwarf.
E.E.: Das Programm hat in Mannheim 1975 vorgelegen, wurde aber erst 1977 in Hamburg verabschiedet. Es beginnt dem Sinn nach mit dem Satz: Kinder zu haben bedeutet Freude. Unsere Definition der Familie bedeutete eine Revolution für die Gesellschaft. »Familien sind auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften eines oder mehrerer Erwachsener mit einem oder mehreren Kindern.« In der Öffentlichkeit hat es uns erst Gegenwind gebracht. Wir haben lange Diskussionen mit der katholischen Kirche gehabt. Es ging uns um die Verbesserung des Ansehens der alleinerziehenden Mütter. Langsam haben es alle akzeptiert, von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften.
R.L.: Laß uns noch auf die Bundesfrauenkonferenz kommen, die im Mai 1975 in Braunschweig gelaufen ist. Sie sollte eine gesellschaftliche Analyse für das Selbstverständnis der AsF erarbeiten. Da wiederholten sich die ideologischen Auseinandersetzungen. Wie hast du als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen reagiert?
E.E.: Wir wollten von dieser theoretischen Diskussion auf pragmatische Positionen kommen. Die erste Eskalation fand in Bremen statt; aber die Abrechnung für Bremen sollte in Braunschweig folgen. Wegen der bevorstehenden Wahl neuer Personen und der damit verbundenen Inhalte haben wir eine Zusammenkunft in der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Ei fei gehabt, etwa 14 Tage vor der Konferenz, an der rund 25 Genossinnen aus dem Bundesgebiet teilgenommen haben.
Bei der Zusammenkunft in Münstereifel haben wir uns auf den Orientierungsrahmen '85 verständigt. Wir haben uns vorgenommen, von der theoretischen Diskussion weg zu praktischer Politik zu kommen. Susi Miller hat damals referiert.
R.L.: Damals war es dann so, daß die »Grundsätze für die Arbeit der sozialdemokratischen Frauen« nicht angenommen wurden, sondern statt dessen die Vorstellungen für den Orientierungsrahmen.
E.E.: Das war die entscheidende Wende bei dieser Konferenz. Wenn man den Satz, das Sein bestimmt das Bewußtsein, auf diese Situation anwendet, dann war bei den AsF-Frauen mehr vom möglichen veränderten Bewußtsein die Rede als vom faktischen Sein.
R.L.: Im Parlament hatten wir ja damals gerade familienpolitische Reformvorhaben über die Hürden gebracht, oder wir standen mittendrin. Diese Frauenkonferenzen haben sich fast nur mit der Reform des §218 befaßt. Aber mit dem Ehe- und Familienrecht, dem Versorgungsausgleich oder dem Kindschaftsrecht, der Adoptionsreform oder der Elterlichen Sorge hat sich die AsF so gut wie nie befaßt. Das war schizophren! Wir Parlamentarierinnen hatten ein Bewußtsein für das Notwendige und wie man sozialen Wandel einleitet. Aber die AsF-Frauen haben das erst sehr viel später nach der Wende 1982 begriffen.
E.E.: Es hat keine Bundesfrauenausschußsitzung zu meiner Zeit gegeben, in der nicht mindestens ein Sachthema, das in der Gesetzgebungsarbeit stand, mit einbezogen wurde. Ich habe mir zugute gehalten, daß bei der theoretischen Arbeit im Vorstand, die oft zermürbend war, sich der Bundesfrauenausschuß mit praxisnaher Politik befaßte. Wir haben viel vorangebracht !
R.L.: Wer ist denn 197s in Braunschweig in den Bundesvorstand gewählt worden ?
E. E.: Da ergab sich eine besondere Situation.[2] Die jungen linken Frauen kamen in Braunschweig und wollten eine konkrete Verabredung treffen, nämlich den Vorstand im Verhältnis von 5 :6, dem politischen Spektrum entsprechend, wie sie meinten, zu besetzen. Nach unserer Meinung war dieser Anspruch überzogen. Zudem entsprach es meiner Grundhaltung, keine Absprachen zu treffen, sondern die Delegierten entscheiden zu lassen, was an Vorschlägen kommt und wer dann den Vorstand bildet. Es gab am ersten Abend der Konferenz, im sogenannten gemütlichen Teil, eine Diskussion mit der Forderung von Herta Däubler-Gmelin, dieses 5 : 6-Ticket auszuarbeiten. Das spielte sich interessanterweise in einem vollen Saal ab. Wir gingen wie Herolde aufeinander zu und haben in der Mitte des Saales miteinander debattiert. Antje Huber kam noch dazu, wir waren also zu dritt, als ich dieses Ansinnen abgelehnt habe. Ich habe gesagt, die Konferenz ist offen, ist souverän, und wenn gewählt wird, werden die Vorschläge gemacht. Die Wahl war vollzogen, aber die Auszählung noch nicht beendet. Ich war schon dabei, das Schlußwort zu sprechen. Mitten im Schlußwort kam das Ergebnis: 7: 4. Von Seiten der jungen Linken wurden die schon gewählten Vorstandsmitglieder zum Rücktritt gezwungen. Ich erinnere mich heute noch, daß Anke Riedel-Martiny mit tränenerstickter Stimme ihren Rücktritt erklärte. Wir haben kurz unterbrochen. Pit Weber, aus dem Parteihaus kommend, und ein, zwei Sekretäre, die da waren, wollten uns veranlassen, die Sitzung zu unterbrechen, um dann im Spätherbst noch einmal zusammenzukommen und zu wählen. Das hätte einen großen öffentlichen Eklat bedeutet. Wir haben aber daraufhin noch einmal den Wahlgang eröffnet. Es wurden neue Vorschläge gemacht, und dadurch kamen - wie man ironisierte - »die Muttis aus dem Ruhrgebiet« in den Bundesvorstand, handfeste, pragmatisch denkende Frauen. Damit wurden zwar keine Glanzlichter für die Weiterentwicklung der Arbeit gesetzt, aber es war in den darauffolgenden zwei Jahren eine sich beruhigende Tätigkeit gewährleistet. Die enormen Spannungen waren raus. Elfriede Hoffmann, vorher meine Stellvertreterin, wurde dann 1977 in Siegen zur AsF-Vorsitzenden gewählt.
R.L.: Schließen wir den Punkt deiner frauenpolitischen Arbeit hier ab. Ich möchte zum Schluß auf deine weitere »Karriere« innerhalb der Fraktion als Parlamentarische Geschäftsführerin ab 1977 zu sprechen kommen. Es ist damals ja ein fünfter Geschäftsführerposten eingerichtet worden. Wie ist das gelaufen?
E. E.: Für mich war es nicht ganz leicht, das Amt anzunehmen, weil es tatsächlich so aussah, wie für mich eingerichtet. Ich war ja 1977 aus dem Parteivorstand rausgefallen. Der »Arbeitskreis Sozialpolitik« hatte mich beauftragt, mit Herbert Wehner zu sprechen und Rudi Hauck für einen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden in Vorschlag zu bringen. Das habe ich dann auf dem Hamburger Parteitag getan. Herbert sieht mich an. »Der Name ist gut«, sagt er, »es gefällt mir. Aber warum bringst du mir keine Frau als Vorschlag?« Ich war im ersten Moment perplex, wir hatten ja noch nie eine weibliche stellvertretende Fraktionsvorsitzende gehabt. Bei den Parteivorstandswahlen bin ich im zweiten Wahlgang gegen von Oertzen unterlegen. Eine halbe Stunde später »bellt« mich Herbert von der Seite an und sagt: »Habe vorgestern gesagt, du sollst mir eine Frau als stellvertretende Vorsitzende nennen, habe dich gemeint. Bist du bereit?« Ich habe ihn erst angeguckt und dann gesagt: »Also weißt du, Herbert, ich hatte nicht daran gedacht, daß du mich gemeint hast. Aber ich glaube, es wäre schäbig, wenn ich aus dieser Situation heraus auf den nächsten Ast hüpfen würde. Wenn ich Bedenkzeit bekomme, gebe ich dir Bescheid.« Ich erklärte mich schließlich zur Kandidatur bereit; als ich dann aber erfuhr, daß Walter Arendt auch kandidieren wollte, rief ich Wehner an, um zurückzuziehen. Wehner: »Ich habe mir schon etwas anderes überlegt. Wenn du bereit wärst, würde ich gerne sehen, wenn du Geschäftsführer würdest.« »Ja, aber die Geschäftsführer sind doch benannt.« »Das macht nichts, wir haben Platz für mehrere.« Ich habe mir überlegt, daß der Bereich »gesellschaftliche Kontakte« für mich infrage käme. Ich habe mit Becker und Porzner gesprochen, dann war das klar. Es wurde ein fünfter Parlamentarischer Geschäftsführer »installiert«. In der ersten Phase hatte ich das dumme Gefühl, daß die Fraktion denkt: »Aha, eine Wiedergutmachungsaktion!« - Bald aber entstand Vertrauen nach innen und außen.
R. L: Du hast in deinem politischen Leben sehr viele Funktionen wahrgenommen, ob nun in der Arbeiterwohlfahrt oder im Parteivorstand der SPD. Du warst Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, bist in Konflikten standhaft geblieben und hast durch Gelassenheit und Ruhe überzeugt. Du hast auch schwierige Situationen meistern müssen. Politische Verantwortung bereitet nicht nur Freude, sondern bringt auch Konflikte und Anfeindungen mit sich, in denen man sich treu bleiben muß.
E.E.: Die schwerste Arbeit war die Frauenarbeit, als ich Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen war. Frauenarbeit war mir immer eine Pflicht. Frauenarbeit haben wir alle zusätzlich wahrgenommen. Wir haben erst in der politischen Arbeit gemerkt: Wenn wir es nicht selber tun, sehen es die anderen nicht.