Vorwort

Ich bin 1972 gewählt worden und mit einer kurzen Unterbrechung nach dem Regierungswechsel 1987 aus dem Parlament ausgeschieden. Am Beginn meiner parlamentarischen Arbeit herrschte mitreißende Aufbruchstimmung: Vorwärts zu neuen Ufern-wir wollen mehr Demokratie wagen. Am Ende hatte die Wende schon ihre Signale gesetzt: Die Reformschraube wurde rückwärts gedreht. Das galt auch und gerade für die Frauenpolitik. Mit Erschrecken erlebte ich, daß diese fruchtbare Ära einer frauenpolitischen Aufbruchstimmung abrupt und willkürlich durch den Regierungswechsel beendet wurde. Leistungen wurden gekürzt, und die Frauen zahlen die Zeche. Die Mutterschaftsideologie kam wieder zum Vorschein und wurde der sozialdemokratischen Überzeugung der »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« einfach übergeschminkt.
In der »Willy-Wahl« von 1972 hatten die Wählerinnen die SPD zur stärksten Bundestagsfraktion gemacht. Ihr Erwartungshorizont - an uns, die Parlamentarierinnen - war allzu hoch, so hoch, daß viele in ihrer Enttäuschung über das Nicht-Erreichte das Erreichte kaum noch sahen. Deshalb entschloß ich mich, in diesem Buch aufzuzeigen, was die Frauen der SPD-Fraktion - 1972 nur ein Fähnlein von dreizehn Aufrechten - angepackt und mühsam genug zustande gebracht haben. Denn die Verwirklichung hoher Ziele macht viele kleine, vor allem pragmatische Schritte notwendig. Die Erfolge in der Frauenpolitik der sozialliberalen Koalition sollen nicht vergessen, sie müssen bewahrt und verteidigt werden.
Auch die Parlamentarierinnen sollen nicht vergessen werden, nicht namenlos bleiben, wie fast alle ihre Vorgängerinnen im Reichstag der Weimarer Republik.[1] Sie hatten schon damals versucht, den § 218 zu reformieren, das Familien- und Ehescheidungsrecht zugunsten der Frauen zu verbessern, und wenn sie auch gescheitert sind, haben sie doch die Grundsteine für vieles von dem gelegt, was in den siebziger Jahren endlich gelang. Von der Politik hatten sich jedenfalls die Frauen in der Bundesrepublik wahre Wunder erhofft, natürlich auch eine Verhaltens- und Bewußtseinsänderung, die aber erst jetzt langsam in Gang gekommen ist.
Die dreizehn Frauen der SPD-Fraktion von 1972 haben trotz ihrer geringen Zahl die politische Willensbildung beeinflußt und die Reformpolitik stimuliert, auch verändert und durch eigene Gesetzesinitiativen bereichert. Noch nie haben so wenige Frauen in so kurzer Zeit so viele Gesetze auf den Weg gebracht und mitgestaltet.
Eine von uns, Katharina Focke, wurde, frischgewählt, von Willy Brandt als Parlamentarische Staatssekretärin 1969 ins Kanzleramt berufen. Der erste sozialdemokratische Kanzler bewies damit, daß Frauen nicht nur im Wahlkampf umworben, sondern auch in der Schaltstelle der Macht am Regierungsgeschäft beteiligt werden sollten. Die Männer der Fraktion - 1972 mit der stolzen Zahl von 229 SPD-Bundestagsmandaten bedacht - haben die kleine weibliche Minderheit sehr unterschiedlich behandelt. Herbert Wehner stand stets auf unserer Seite. Er erfüllte sein im Wahlkampf gegebenes Wort, eine Frau als Bundestagspräsidentin vorzuschlagen. Seine Wunschkandidatin war Marie Schlei. Aber Annemarie Renger wurde die erste Frau, die dem Hohen Haus präsidierte und nicht nur optisch dazu beitrug, die Frauen aus der Bonner Versenkung hervorzuholen.
Wie Herbert Wehner mir später (am 13.1. 1986 im Heiderhof, in seiner Wohnung) sagte, ging es ihm darum, »die Entwicklung der Frauen und ihre Möglichkeiten und Tätigkeiten zu fördern, die Frauen nicht nur irgendwo auch einmal dabeihaben zu wollen«. Er wollte nach außen sichtbar machen, daß Frauen gleichberechtigt sind. Auf seine Empfehlung wurde Marie Schlei Parlamentarische Staatssekretärin im Kanzleramt bei Helmut Schmidt und danach Entwicklungshilfe-Ministerin. Als sie aus diesem Amt ausschied, setzte Wehner durch, daß sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende und zugleich Vorsitzende des mächtigen außenpolitischen Arbeitskreises wurde. Längst nicht alle männlichen Kollegen betrachteten uns mit Wehners Augen. Oft befanden wir uns in einer eigentümlichen Situation: Einerseits erwartete man von uns, daß wir uns um »Frauenfragen« kümmerten - neben der eigentlichen Ressortzuständigkeit -, andererseits wurden wir, wenn wir dies taten, als »Emanzen« oder »Frauenlobby« abgekanzelt oder als »Gleichstellungsdamen« karikiert.
Unterstützung von außen, von Verbänden und Organisationen, gab es kaum. Wenn wir bei praktischen Vorhaben mit Gewerkschaftskolleginnen übereinstimmten, bedeutete das noch lange nicht, daß wir die Gewerkschaften auf unserer Seite hatten, denn auch in der Gewerkschaftsführung stellen Frauen bloß eine kleine Minderheit dar.
Auch im Parlament sitzen Männer, denen es immer wieder gegen den Strich geht, wenn Gleichberechtigung verwirklicht wird und damit männliche Privilegien beschnitten werden müssen. Als ich Anfang der achtziger Jahre für das Amt einer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden kandidierte und im Vorstand prompt durchfiel, schrieb ein Journalist:
»Das ist die kalte Rache der Männer für den Versorgungsausgleich, bei dem sie draufzahlen müssen.«
Und dennoch haben wir, gemeinsam mit den Männern in der Fraktion viel erreicht, in der Gesetzesarbeit mehr Chancen entdeckt und genutzt als ich jemals vor der Wahl in den Bundestag für möglich gehalten hätte. Wir haben bei unserer Werkstattarbeit an den Reformgesetzen viel gelernt: Politik für Frauen läuft ja nicht auf einer besonderen Schiene neben anderen Bereichen her, sondern mitten durch das komplizierte Netzwerk aus Familien-, Rechts-, Sozial-, Finanz- und Bildungspolitik.
Den Sozialpolitikern, die in der Reichsversicherungsordnung (RVO) geschult und mit ihr großgeworden sind, sträubten sich erst einmal die Haare als sie in diese altgewohnte RVO neue Leistungen aufnehmen sollten, die kranke Kinder von gesunden Versicherten betreffen, oder als sie Empfängnisverhütung, Schwangeren-Beratung und auch den Schwangerschaftsabbruch - erst für die Fristen-, dann für die Indikationsregelung- in der RVO abzusichern hatten. Andere Experten hielten es für schlechterdings abenteuerlich, im Versorgungsausgleich nach einer Scheidung Rentenansprüche zwischen Mann und Frau aufzuteilen wie Hausrat oder wirtschaftlichen Zugewinn. Ich glaube, daß viele dieser Gesetzesbestimmungen zugunsten von Frauen nur von Parlamentarierinnen gemacht und durchgesetzt werden konnten, die eben zunächst keine Experten oder »professionalisiert« im engeren Sinne waren, sondern aus eigener Erfahrung genau wußten, welche gesellschaftspolitischen Defizite der Frauen abgebaut werden mußten. Ursprünglich wollte ich die Interviews mit meinen Kolleginnen als Quellenmaterial für ein reines Sachbuch über »die Frauenpolitik sozialdemokratischer Parlamentarierinnen« in der sozialliberalen Ära auswerten. Mit jedem Gespräch aber wurde mir klarer, wie unauflöslich Lebenslauf und Lebenswerk, persönliche Erfahrung und politische Leistung zusammengehören und daß die Gesprächsform die Leistung dieser Frauen anschaulicher macht als eine zusammenfassende Sachdarstellung es könnte. Es ist kein Protokoll Es sind individuell gefärbte Berichte der Akteurinnen, die daher persönlicher, offener, verletzlicher und aufrichtiger sind als jede Berichterstattung. In vielen stundenlangen Gesprächen mit meinen Fraktionskolleginnen wurde mir sehr schnell auch die Bedeutung der Generationen-Abfolge klar, und ich suchte auch diejenigen auf, die, vor dem Ersten Weltkrieg geboren, schon 1949 oder 1953 in den Bundestag gewählt wurden und längst wieder ausgeschieden waren. Diese Frauen stammten meist aus Arbeiterfamilien. Sie waren selbst unterprivilegiert und verschafften sich ohne familiäre oder staatliche Hilfe eine berufliche Ausbildung, meist in sozialen Berufen, um anderen zu helfen. Politisch haben sie nie geschwankt, haben unter dem Naziregime gelitten, ohne auch nur in Versuchung zu geraten, sich anzupassen und der SPD abzuschwören. Ein eindrucksvolles Beispiel ist Hilde Schimschok, Jahrgang 1913, die einer Widerstandsgruppe angehörte, ihre Überzeugung und ihre Würde auch im Gefängnis nicht verlor und nach dem Krieg an die praktische und politische Aufräumungsarbeit ging. Die Töchter und Enkelinnen dieser Politikerinnen werden nicht mehr in gleicher Weise gefordert. Vieles von dem, wofür ihre Mütter und Großmütter gekämpft und gelitten haben, ist erreicht: Weiterführende Schulen und Universitäten standen den jüngeren Frauen weit offen; sie waren auch nicht mehr von Menschen umgeben, die für Hungerlöhne und ohne soziale Sicherheit arbeiten mußten. Nun traten besser geschulte, auch intellektuelle Frauen in die SPD-Fraktion ein. Akademikerinnen wurden von der Ausnahme fast zur Regel. Eine Gewerkschafterin wie Waltraud Steinhauer konnte schon stolz sein, sich als einzige Volksschülerin im Bundestag zu behaupten.
Nicht immer hat sich der Generationswechsel ohne Konflikte vollzogen. Aber meist wurde wie beim Staffettenlauf einer auf gemeinsamen Erfolg abgestimmten Mannschaft der Stab von den Älteren an die Jüngeren übergeben. Die Reform des § 218, im Weimarer Reichstag gescheitert, wurde in den sechziger Jahren - zunächst vergeblich - von Frauen wie Marta Schanzenbach und Annemarie Renger innerhalb der SPD-Fraktion immer wieder thematisiert. Käte Strobel, die erste sozialdemokratische Bundesministerin, brach auch ein für viele Sozialdemokraten geltendes Tabu, als sie die Pille und den Sexualkunde-Atlas zum Thema offizieller Regierungspolitik machte und ein Klima schuf, in dem die Reform des §218 durchgesetzt werden konnte. Frauen der jüngeren Generation wie Helga Timm, Marie Schlei und später Herta Däubler-Gmelin konnten dann die Strafrechtsreform im Sinne der Fristenregelung durchsetzen.
Politikerinnen kleben nur selten so fest an ihren Sesseln wie ihre männlichen Kollegen. Marta Schanzenbach trat als Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses der SPD zurück, als sie Mitte der sechziger Jahre nach ihren eigenen Worten bemerkte, daß

»diese jungen Frauen neue Ideen hatten, die mit meinen alten Vorstellungen nicht mehr konform waren. Sie stellten an die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau ganz andere Forderungen und entwickelten Gedanken, die zu denken ich nicht gewagt hätte«.

Politische Differenzen mit dem Kanzler veranlaßten auch Antje Huber zu ihrem Rücktritt.
Natürlich bedeutet die Begrenzung auf vierzehn Politikerinnen nicht, daß allein sie Wesentliches geleistet haben. Ich habe mich auf die Parlamentarierinnen beschränkt - mit Ausnahme von Anke Fuchs -, die bis 1972 ins Parlament kamen und auf ihre parlamentarische Arbeit, die vor allem den Frauen dienen sollte und gedient hat. Im Mittelpunkt steht also die Frauen- und Familienpolitik mit ihren komplizierten Verflechtungen. Deshalb bleiben die Fraktionskolleginnen unerwähnt, die Erfolge auf anderen Gebieten, etwa der Außen- und Verteidigungs- oder der Wohnungs- und Umweltschutzpolitik, aufweisen können. Und auch dies muß ich nachtragen: Im Selbstverständnis fast aller Parlamentarierinnen rangiert die Frauenpolitik zumeist nicht an erster Stelle, zu Recht verstehen sie sich als Experten in anderen Politikbereichen oder als Europäerinnen, aber gemeinsam ist allen: Sie haben Politik für Frauen durchgesetzt.
Als Historikerin habe ich mich bei meinen Gesprächen auch davon leiten lassen, was ich beim Studium dreißig Jahre zuvor gelernt habe: neugierig zu sein auf Ereignisse, die aus der Vergangenheit herausgeholt werden sollten, und sorgfältige Akteneinsicht vor jedem Gespräch, um zu vermeiden, daß bloße Erinnerung manches Ereignis verfälscht. Jahreszahlen und parlamentarische Arbeitsabläufe, Reden und die Einbringung von Gesetzesinitiativen wurden gegengecheckt und überprüft, biographische Hinweise im Anhang (s. S. 301 ff.) berücksichtigt. Denn niemand von meinen Gesprächspartnerinnen konnte auf politische Protokolle oder auf Tagebuchaufzeichnungen zurückgreifen. Hier galt verstärkt die Allgemeinformel: Wer vollbeschäftigt ist und mitten in täglich wechselnden Ereignissen steht, hat keine Zeit für derartige Notizen.
Wichtiger noch für meine Rolle als Interviewerin war ohne Zweifel die Tatsache, daß ich meine Gesprächspartnerinnen sehr gut kannte, manche aus gemeinsamer Arbeit, andere zumindest in der Gewißheit, gleichen politischen Zielen verpflichtet zu sein. Ich stellte meine Fragen nicht als Außenseiter, sondern als Kollegin, nicht als Beobachterin aus der Ferne, sondern als Mittäterin, als handelnde Person in der Politik für Frauen wie jede Gesprächspartnerin. Und obwohl ich eine von ihnen bin, habe ich in diesen Gesprächen viel Neues erfahren, von Hintergrundgeschichten über Anekdoten bis zu persönlichen Beziehungsgeflechten, von »psychologischer Kriegsführung«, mit der sich Marie Schlei bei Walter Arendt durchsetzte oder Katharina Focke im Kabinett herumschlagen mußte, bis zum »Hofgartenkränzchen«, in dem personelle Beziehungen hergestellt wurden, die eine wichtige Vorstufe für den Stuttgarter SPD-Parteitag 1958 und das Godesberger Reformprogramm bildeten.
Dieses Buch soll helfen zu verhindern, daß die Reformpolitik für Frauen aus der Mitte der siebziger Jahre in Vergessenheit gerät. Meinen Fraktionskolleginnen, die  mir lange und ausdauernd zu Gesprächen zur Verfügung standen, bin ich zutiefst dankbar. Sie haben mir dabei geholfen, meinen Plan zu diesem Buch zu realisieren, und haben zu ihrem Wort gestanden. Anmerken möchte ich noch: Insgesamt habe ich 18 Interviews gemacht und mit einer Reihe von Politikern - Kollegen und Kolleginnen - zahlreiche Gespräche geführt. Leider konnten, was ich sehr bedaure, die Gespräche mit Lisa Korspeter, Irma Keilhack, Lucie Kurlbaum-Beyer und Hedi Meermann - also Politikerinnen der ersten parlamentarischen Generation - aus Platzgründen nicht mehr berücksichtigt werden.
Ich danke auch besonders Dorothea Brück, deren Erinnerungsvermögen eine wichtige Quelle war. Mit ihr habe ich lange und intensive Gespräche geführt, aus denen das Interview mit mir und unser Gespräch über Marie Schlei entstanden sind: Marie Schlei starb 1983, sie durfte gleichwohl in diesem Buch nicht fehlen. Ohne die Mitarbeit von Susanne Hein und die Unterstützung bei der Herstellung des Manuskripts durch Janet Neidt, Christa Melloh und Heidi Brückner hätte das Buch nicht erscheinen können.

Frühjahr 1987
Renate Lepsius

Autor(en)

Texttyp

Prolog