Gespräch am 23.7. und 24. 8. 1984 in Gengenbach
Marta Schanzenbach: Ich bin in Gengenbach geboren. Mein Vater war dort Arbeiter, erst in der Fabrik, dann im Wald, so wie mein Großvater. Mein Vater war ein intelligenter Mann, obwohl er nur sieben Jahre die Volksschule besucht hat. Er kannte alle Klassiker. Heute noch habe ich Bücher von ihm in einer Reclam-Ausgabe. Er hat sich zum Vorarbeiter hochgearbeitet. Sehr früh ist er in die Politik gegangen. In Gengenbach ist die SPD Ende des letzten Jahrhunderts gegründet worden, und er war eines der Gründungsmitglieder, später auch eine Zeitlang Stadtrat. Bei einem Streik hat er 1911 Streikposten gestanden. Darum wurde er entlassen und hat in Gengenbach keine Arbeit mehr bekommen, mußte sich also außerhalb seine Arbeit suchen. Er ging nach Straßburg. So haben wir einige Jahre von 1911 bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Straßburg gewohnt.
Ich komme aus einer sehr bewußten sozialdemokratischen Familie. Meine Mutter war von Beruf Modistin - für die damalige Zeit etwas Außergewöhnliches, wenn ein Mädchen einen Beruf erlernte. Sie hat eine Lehre gemacht als Hutmacherin. Zwei oder drei Jahre war sie als Erzieherin in Frankreich in einer vornehmen Familie. Dort hat sie die französische Lebensart angenommen und viel von Frankreich gesehen, weil diese Familie viele Schlösser hatte. Auch wenn meine Mutter nur Kinder betreute, bekam sie so einen weiteren Horizont als andere Gengenbacherinnen, so daß ich in eine Familie mit nicht alltäglichen Eltern hineingeboren wurde. Für damalige Verhältnisse waren beide in bezug auf Bildung etwas Besonderes.
Renate Lepsius: Bildung hat also besonders viel für eure Familie bedeutet?
M. S.: Ja, der Vater hat gelesen, Großvater hat erzählt, meine Mutter hat viel mit uns gesungen: Kulturell waren wir wohl nicht alltäglich.
R. L: Du hast ja sechs Geschwister. Gab es eigentlich Unterschiede in der Ausbildung?
M. S.: Wir sind alle zur Volksschule gegangen. Von uns Geschwistern hatte ich die beste Schulbildung, weil ich vier Jahre Volksschule und vier Jahre Mittelschule besuchen konnte. Ich bekam einen Freiplatz in der Gengenbacher Bürgerschule, für die sonst Schulgeld bezahlt werden mußte.
Von meinen Eltern her wäre ich nie zur Bürgerschule gekommen, weil wir einfach das Geld nicht hatten. Aber ich hatte eine Lehrerin, die mich sehr gefördert hat, und die dafür gesorgt hat, daß ich einen Freiplatz bekommen habe. Ich war eine gute Schülerin, und ich wollte im Grunde genommen Lehrerin werden. Ich wollte aus der Armut heraus. Ich bin in einer sehr armen Familie aufgewachsen. Mein Vater hatte oft keine Arbeit, und wir waren sieben Kinder, zuerst vier Kinder vor dem Ersten Weltkrieg, nach dem Ersten Weltkrieg kamen noch einmal drei. Die ganz große Armut lag in meiner frühen Kindheit und dann auch in der ersten Zeit nach 1919. Meine Mutter hatte oft kein Geld, um Brot zu kaufen. Also: Ich weiß, was Hunger heißt, was Not heißt und was Armut heißt. Aber wir waren trotzdem von der gesellschaftlichen Schicht her etwas anderes als die sonstigen Armen in Gengenbach. Wir waren wirtschaftlich arm, aber kulturell führten wir ein anderes Leben. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind besser geworden, als wir Kinder größer wurden und selbst ins Erwerbsleben kamen. Mein ältester Bruder ist Schriftsetzer geworden, mein anderer Bruder war Bankangestellter. Die beiden haben eine qualifizierte Ausbildung, dafür hat meine Mutter sehr gesorgt. Meine Schwestern gingen in die Fabrik oder in Stellung. Später hatte mein Vater eine gehobene Stellung in einer Freiburger Firma, so daß das Einkommen der Familie völlig anders war als in meiner Kindheit. Meine Geschwister hatten nicht diesen Willen, die Welt zu ändern, wie ich ihn hatte - ich bin wohl die Tochter meines Vaters. Meine Ausgangsposition für meine politische Tätigkeit war: Ich will aus dieser Armut herauskommen, und ich will, daß die armen Leute nicht schlechter behandelt werden als die anderen. Dieses Sichaufbäumen gegen Not und gegen Unfreiheit und gegen Diskriminierung steckte ganz tief in mir. Bei meinem Vater habe ich einen Weg gesehen, wie man da herauskommen könnte. Während der Revolte 1918/19 gab es 1919 Schülerräte, auch hier in Gengenbach. Ich bin in eine Klasse gegangen, in der überwiegend Jungs waren, und doch hat mich die Klasse zur Sprecherin gewählt, so daß ich ungefähr ein Jahr Schülerrätin war. Als meine Schulzeit zu Ende ging, im Jahr 1921, und wieder einmal bei uns ein Kind geboren wurde, das sechste, da mußte ich die Familie, während meine Mutter im Krankenhaus lag, versorgen. Danach mußte ich noch länger zu Hause bleiben, habe die Schule geschwänzt und dadurch Schwierigkeiten bekommen. Daraufhin habe ich die Vorstellung aufgegeben, jemals Lehrerin zu werden, weil für mich alles aussichtslos war. Ich war in einer schwierigen Phase: Ich sah alles ziemlich hoffnungslos, weil ich nur zu Hause die ganzen Hausarbeiten machen mußte und für mich keine Zukunft sah. Da war ich sechzehn.
Zu der Zeit bin ich noch zur Kirche gegangen. Eines Sonntags vormittags, als ich aus der Kirche kam, hat mich die Mutter einer früheren Mitschülerin vor der Kirche angehalten und mir böse Dinge gesagt mit dem Schlußsatz: »Das ist wohl der Dank dafür, daß man dich nie hat spüren lassen, daß du armer Leute Kind bist.« Das hat mich sehr getroffen. Aber dieses Erlebnis hat mich nicht schwach, sondern stark gemacht. In jener Zeit sind die Jugendverbände gegründet worden. In Gengenbach gab es von der katholischen Seite einen Quickborn und einen Jungborn. Ich habe meinen Vater gefragt, ob denn die SPD nicht auch so etwas wie eine Jugendbewegung hätte ? Der wußte nichts davon. Aber ich bin dem Gedanken nachgegangen und habe festgestellt, es gab eine sozialistische Arbeiterjugend. Dann habe ich die Dinge in die Hand genommen und 1923 in Gengenbach die sozialistische Arbeiterjugend mitgegründet. Es war eine schöne Zeit für ein paar Monate. Wir sind an jedem Wochenende wandern gegangen und haben wöchentlich Versammlungen abgehalten. An einem Wochenende bekamen wir Krach über einen Wanderweg. Am folgenden Montag bei der Versammlung hat dann unser Vorsitzender vorgeschlagen, den Verein aufzulösen. Darauf habe ich gesagt: »Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Seine Antwort: »Dann mach' du es.« Gut, dann habe ich es angepackt. Das war für mich der Einstieg in die »große Politik«.
Wir haben uns zugehörig gefühlt zur SPD. Wir waren ganz bewußt die »Junge Garde des Proletariats«. Wir waren nicht nur Wandervögel, sondern es war absolut politisch. Ich bin als Vorsitzende unserer Gruppe bekannt geworden, dann sehr schnell die Kreisvorsitzende des Schwarzwaldkreises geworden und bin 1926 auch Mitglied des Landesvorstandes gewesen. Da war ich neunzehn Jahre. Zuvor, mit achtzehn Jahren, wurde ich Verkäuferin beim Konsum in Gengenbach. Dort war ich drei Jahre lang. Dadurch habe ich auch Kontakt zu anderen Genossen gehabt. Das war ja damals ein reiner SPD-Laden, dieser Konsum-Verein. Dadurch bekam ich Kontakt zu den Gengenbacher Frauen. Die sind oft gekommen und haben mir ihr Leid geklagt. Ich bin die Abladestation für viele Kümmernisse gewesen. Schließlich habe ich über die sozialistische Arbeiterjugend erfahren, daß es die Arbeiterwohlfahrt gibt, die in Berlin eine Schule für Fürsorgerinnen eingerichtet hatte. Vorher hatte ich weder von der Existenz der Arbeiterwohlfahrt noch von der Existenz sozialer Berufe gehört. Die sozialen Berufe gibt es ja auch erst seit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Ich dachte, das war' etwas für mich. Dann hab' ich meiner Mutter gesagt - ich weiß heut' noch die Stelle, an der ich ihr es beibrachte -, daß ich die Absicht hätte, mich über den Beruf der Fürsorgerin zu erkundigen. Sie hat dann gesagt: »Mach's!« Das muß 1927 gewesen sein. Ich habe dann an die Reichstagsabgeordnete Marie Juchacz geschrieben und gefragt, ob sie mir ein Studiendarlehen geben würden. Meine Eltern hätten mir nichts zahlen können. Die Antwort kam schnell. Mir wurde mitgeteilt, sie wären bereit, mir ein Darlehen zu geben und mich in die Schule aufzunehmen. Aber ich müßte noch verschiedene Praktika machen, damit ich auf der Schule aufgenommen werden könnte. Ich habe mich dann sehr bemüht, bin dann auch gleich am Kinderkrankenhaus in Karlsruhe in einen einjährigen Kursus aufgenommen worden, habe 1928 das Examen als Kinderpflegerin abgelegt und mußte anschließend noch ein halbes Jahr auf.eine Wochenpflegestation in einem Krankenhaus in Mannheim. Von da aus bin ich dann nach Berlin gegangen. Das war eine interessante Zeit für mich. Ich hatte die Voraussetzungen erfüllt, um Gesundheitsfürsorgerin zu werden. Meine Lehrerin dort, Susi Hirschberg, empfahl mir, mich umzuorientieren und Jugendwohlfahrtspflegerin zu werden. Das würde mir mehr entsprechen. Während der Ausbildungszeit habe ich dann gewisse Dinge nachholen müssen, um zum Jugendwohlfahrtspflegerinnen-Examen zugelassen zu werden.
R.L.: Mit welcher Vorstellung bist du 1929 nach Berlin gekommen? Hat dich Marie Juchacz gefördert, und hast du Kontakt mit ihr gehabt?
M.S.: Ich hatte ja Marie Juchacz geschrieben und schnell Antwort bekommen. Später fragte ich mich, wie war es nur möglich, daß sie so schnell reagierte. Es gab folgende Erklärung: Die Leiterin der Schule, Hedwig Wachenheim, war eine Mannheimerin. Sie war sicher daran interessiert, daß eine Landsmännin von ihr, ein Mädchen aus dem Schwarzwald, sich bewirbt. Die Schule bestand ja erst seit einem Jahr, und es waren nur Norddeutsche auf der Schule. Deshalb hatte sie auch mit den Mannheimer Genossen Rücksprache genommen. Die Sekretärin hat mir mal gezeigt, daß sie nach Mannheim geschrieben hatte. Hedwig Wachenheim war meine Lehrerin in Staatsbürgerkunde, einem meiner Lieblingsfächer. Da war ich wahrscheinlich die engagierteste Schülerin. Damals wußte ich nicht, daß sie mit Ludwig Frank verlobt gewesen war. Sie war eine wunderschöne Frau. Sie muß Anfang der Vierziger gewesen sein, gewelltes schwarzes Haar, stahlblaue Augen. Wenn sie dasaß, war sie das Bild einer wunderschönen und gescheiten Frau. Wir beide verstanden einander. Ich habe zwar nie private Gespräche mit ihr geführt, aber ich wußte, die Frau will dir wohl. Für mich bedeutete der Umzug nach Berlin ja eine Reise zum Mond. Von Gengenbach nach Preußen war Berlin doch so weit und so fremd und so fern. Was wird diese Stadt mir bringen, dachte ich. Auf der einen Seite hatte ich großen Bammel und andererseits unbändige Freude in mir, daß ich diese Schule besuchen durfte, von der ich mir überhaupt keine Vorstellungen machen konnte. Ich habe in diesen zwei Jahren am intensivsten in meinem Leben gelebt. Das war eine großartige Zeit für mich! Erst einmal diese Menschen, die ich da kennenlernte. Ungefähr dreißig waren wir in dem Kurs. Solche jungen Menschen gibt es heute einfach nicht mehr. Das waren alles Funktionäre aus der sozialistischen Arbeiterjugend oder junge Leute, die irgendwo in den Büros der Arbeiterwohlfahrt schon mitgearbeitet hatten, alles junge Leute, die verspätet in den Beruf hineinkamen und vorher nichts werden konnten und die jetzt eine große Chance erhielten.
R. L: Wie war eure Ausbildung?
M.S.: Wir hatten zwei Kurse, einen Tageskurs und einen Abendkurs. Ich bin in den Tageskurs gegangen, aber es gab auch einen Kurs für Berufstätige, und die kein Studiendarlehen bekamen, die waren in einem Abendkurs. Das war eine ungeheure Strapaze für sie.
R. L: Hast du dort auch in der SAJ oder in der SPD gearbeitet?
M. S.: Wir waren zwar Mitglied in der SPD, sind aber nur selten hingegangen, weil wir einfach zu sehr beschäftigt waren mit dem vielen Stoff, den wir zu erarbeiten hatten. Wir sind dann an manchem Abend in die Hochschule für Politik gegangen, wenn da interessante Vorlesungen waren. Unsere Schule war zuerst im »Vorwärts«-Gebäude untergebracht, wo sich auch der Parteivorstand befand. Vom Sehen her kannten wir also fast alle Leute vom Parteivorstand. Manche kamen zu uns als Referenten und sprachen über bestimmte Sachgebiete. Louise Schröder war zum Beispiel eine unserer Lehrerinnen, ebenso Hedwig Wachenheim, die damals preußische Landtagsabgeordnete war, auch Paul Lobe, der Reichstagspräsident, war häufig Gastdozent bei uns, aber auch mal die Zentrums-Abgeordnete Helene Weber. Aus den preußischen Ministerien waren qualifizierte Leute bei uns als Lehrer tätig. Wir hatten fast nur Lehrer, die im politischen Leben eine Rolle gespielt haben.
Ich selbst bin dann sehr aktiv in die Kinderfreunde-Bewegung gegangen. Kurt Löwenstein und Hans Weinberger[1] waren dort die wichtigsten Personen. Zusammen mit Erwin Beck, in der Nachkriegszeit Bürgermeister von Kreuzberg, und Meta Faustmann habe ich in Kreuzberg eine Gruppe geleitet. Da war ich sehr aktiv. Ich bin jede Woche ein- oder zweimal hingegangen und habe auch die Ferienmaßnahmen mitgemacht. Das war also ein Geben und Nehmen zwischen der Kinderfreunde-Bewegung und der Schule.
Bis ich auf diese Schule kam, habe ich vom Sozialismus nur geschwärmt. Wer hat mir denn mal vorher gesagt, was Sozialismus ist? Vorher dachte ich, na ja, dann ist die Welt gut, und alle Menschen sind friedlich, und es wird keinen Krieg geben. Auf der Schule bin ich dann mit Politik konfrontiert worden. Da ist über Verfassung und über die Geschichte der Parteien gesprochen worden, und so ist in mir ein ganz anderes politisches Weltbild entstanden. Da es an dieser Schule keine Radikalinskis gab, sondern nur solide gestandene Sozialdemokraten, bin ich ganz auf die Linie der Reformer, der Mehrheitssozialdemokraten, gekommen. Alles andere habe ich abgelehnt. Wäre diese Schule radikal gewesen, war' ich sicher bei der Linken gelandet. In der Arbeiterwohlfahrt-Schule hat Siegfried Bernfeld Psychologie unterrichtet, ein Schüler von Sigmund Freud. Das war der große Mann damals in der Psychoanalyse in Berlin. Zwar hab' ich das meiste nicht verstanden, was er sagte, fand es aber aufregend, eine andere Welt. Ich, aus der katholischen Welt mit diesen Tausenden von Tabus, höre plötzlich, daß es etwas anderes im Leben gibt.
R. L: 1931 hast du dein Staatsexamen abgelegt und im Jugendamt Prenzlauer Berg als Jugend- und Familienfürsorgerin angefangen. Wie sah die Arbeit aus?
M.S.: Im Prenzlauer Bezirk gab es wenig sozialdemokratische Familien. Zudem war es unüblich, mit den Leuten politische Dinge zu besprechen. Die meisten waren Kommunisten. Ich habe unter anderem die Dunckerstraße und die Chodowieckistraße gehabt. Die Familienverhältnisse waren sehr elend mit den Hinterhöfen und den Quergebäuden und der hohen Arbeitslosigkeit.
R.L.: Hast du darüber nachgedacht, das zu verändern?
M. S.: Das war ja immer meine politische Vorstellung. Nur war ich in diesen zwei Jahren, in denen ich als Fürsorgerin arbeitete, nicht politisch tätig. Das hing übrigens auch mit privaten Dingen zusammen.
R.L.: Hast du deinen Mann auf der Schule kennengelernt? Wie seid ihr euch begegnet, und wann habt ihr geheiratet?
M.S.: Da muß ich ein bißchen weiter ausholen. Das berührt mein Verhältnis zu den Männern. Ich hatte mit sechzehn Jahren in Gengenbach eine Jugendliebschaft. Der war auch in der Jugendbewegung und hat eine Musikgruppe geleitet, ein hübscher junger Mann mit schwarzem lockigem Haar, ein richtiger Zigeunertyp und sehr intelligent. Er ging auch auf die Bürgerschule, ist dann Mechaniker geworden in der hiesigen Fabrik und wollte studieren, um Ingenieur zu werden. In dieser Zeit hat er zu mir gesagt: »Nun ist die Liebschaft aus.« Da wäre ich nicht mehr fein genug, um seine Freundin zu bleiben. Er hat mich sitzenlassen. Das sollte mir nie wieder passieren. Den Männern habe ich Rache geschworen. Ich will etwas lernen und nicht von ihnen abhängig sein. Ich hab' das durchgehalten und bis zu meinem 25. Lebensjahr keine Männerfreundschaften gepflegt. Meinen späteren Mann habe ich 1929 auf der Wohlfahrtsschule kennengelernt, als wir zusammen in einen Kurs gingen. Er sah nicht besonders gut aus, aber er war intelligent, sehr liebenswürdig, konnte fantastisch Witze erzählen, war sehr belesen und sehr eigenwillig. Bildungsmäßig war er mir überlegen. Politisch war ich ihm überlegen. Ich war ein sehr selbstbewußtes, junges Mädchen. Wir waren in unseren Anschauungen meistens auseinander. Wenn er etwas behauptete im Unterricht, dann hab' ich dagegengesprochen. Wenn ich was behauptet habe, hat er dagegengesprochen. So war unser Verhältnis. Mich in diesen Mann zu verlieben - daran hätte ich nie gedacht. Er war der Liebling vieler Mädchen. Eines Tages lag ich mit verletztem Bein im Bett und hörte zufällig, wie er zu einem Kollegen sagte: »Dieses Leben kann ich nicht mehr weiterführen, dabei geh' ich kaputt, ich muß mir was Solides suchen.« Das Opfer war ich.
R.L.: Als wir früher einmal über das Verhältnis Mann-Frau-Politik-Beruf-Familie sprachen, hast du gemeint, wenn dein Mann nicht gefallen wäre, hättest du es beruflich und politisch nicht soweit gebracht.
M. S.: Ich habe ihn als Kameraden geschätzt, als Diskussionspartner, aber er war nicht mein Typ, hat mich vom Lernen abgehalten, und das hat mich gestört. Auf der anderen Seite fand ich es reizvoll, einen Freund zu haben, wußte aber nicht, was ich eigentlich wollte, zum Beispiel war ich eine Abstinenzlerin, noch aus den Zeiten der Jugendbewegung. Auf einer Wanderung hat er mich dazu überredet, Wein mit ihm zu trinken. Das war also mein erster Sturz! So habe ich mich in seine Gewalt begeben. Er war der Stärkere, während ich vorher die Stärkere gewesen war. Ich war es gewohnt, wenn ich etwas wollte, es auch durchzusetzen. Hinzu kam meine katholische Vorstellung, wenn man mit einem Mann zusammenlebt, muß man ihn auch heiraten. Trotz Siegfried Bernfeld und all den modernen Dingen kam ich aus diesem alten Rollenklischee noch nicht heraus. Wir sind dann zusammengezogen. Nur, ich merkte immer wieder, er versuchte, mich kleinzukriegen. Er wollte unbedingt der Stärkere von uns beiden sein. Er konnte es nicht ertragen, wenn ich mehr Ansehen hatte oder mehr konnte als er. Es war das alte Rollenverhalten.
Dann kam 1933. Das Miteinanderleben ohne Trauschein wurde strafbar, und wir mußten uns entscheiden. Nach langem Hin und Her haben wir gesagt, wir überstehen das Dritte Reich wahrscheinlich besser, wenn wir zueinanderhalten, und haben im Oktober 1933 geheiratet. Ich konnte diese Ehe nur durchhalten, weil ich mir klarmachte, jetzt bist du verheiratet und mußt eben parieren. Ich habe mich völlig zurückgenommen und die Rolle der Hausfrau gespielt. Mein eigener Bekanntenkreis ist völlig zusammengeschrumpft. Als Persönlichkeit habe ich völlig abgebaut. Dabei ging es uns wirtschaftlich ganz schlecht. Ich hatte Berufsverbot und bin zum 30. 9.1933 entlassen worden, habe auch keine Arbeit mehr bekommen, auch wenn ich mich beim Arbeitsamt beworben habe. Das ging so weiter bis 1939. 1936 und 1939 sind unsere beiden Kinder geboren. Mein Mann war genau wie ich Jugendfürsorger. Dann kam die Zeit, wo er mal Arbeit hatte, mal keine Arbeit hatte.
R. L: Aber in der NSDAP oder in eine andere Organisation ist er nie eingetreten?
M. S.: Nein, weder ich noch mein Mann gehörten einer Nazi-Organisation an. Außerdem waren wir politisch gefährdet. Freunde von uns sind verhaftet worden. Ich mußte zum Be.spiel zur Gestapo, weil sie mich mit dem Bernhard Taurer gesehen haben, den sie suchten. Es gab Hausdurchsuchungen, aber sie konnten mir nichts nachweisen, außer daß sie mich mit dem Mann gesehen hatten. Sie sagten mir aber: »Sie stehen unter Kontrolle « Mein Mann wurde i939 wieder arbeitslos, so daß wir kein Einkommen hatten und Schulden machten. Damals wurden Fürsorgerinnen gesucht Männer vor Beginn des Krieges eingezogen. Ich habe mich um eine Stelle beworben. Aber mein Mann hat mir eine Bewerbung verboten. Ich habe trotzdem eine Stelle als Fürsorgerin in Berlin angenommen, das war im Juli I9,g Nach sechsjähriger Arbeitslosigkeit bekam ich endlich wieder eine Arbeitsstelle! So hatten wir wieder Geld. Ich habe eine meiner Schwestern aus Gengenbach kommen lassen, die beide Kinder versorgt hat. Geldverdienen ist doch hir Frauen ein enorm wichtiger Punkt. Ich war glücklich Wenn mein Mann aus dem Krieg zurückgekommen wäre, hätte ich mit ihm nicht mehr in der abhängigen Weise leben können. Ich war nicht mehr bereit, die Rolle des kleinen Mädchens zu spielen und meine eigene Meinung für meinen Mann zu ändern. Die ganze Frauenarbeit, in die ich hineinee Potosche ' "St m Gmnde 8en°mmen dle Umsetz«ng «genen Erlebens ins RA, Kein Mann will gerne begreifen, daß eigenes Einkommen für die Selbständigkeit und ökonomische Unabhängigkeit von Frauen wichtig ist.
MS.: Er gilt heute noch als vermißt. Die letzte Nachricht habe ich aus Rußland erhalten im Juni 1944. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört Ich wollte ihn nicht für tot erklären lassen, weil ich ja nicht mehr heiraten wollte. Vielleicht kommt er mal, dann soll er jederzeit wissen, wo sein zu Hause ist. Natürlich ist es eine Illusion, aber ich habe sie gepflegt
R. L.: Das ist eigentlich seltsam, weil es im Widerspruch zu deiner beruflichen Entscheidung steht und den seelischen Belastungen dieser Ehe
M. S.: Aber das ist so. Ich hatte ihm gegenüber immer das Gefühl der Treue das alte bürgerlich-katholische Bewußtsein, wenn du verheiratet bist mußt du Treue bewahren. Damit habe ich gelebt.
Im Januar 1940 ist mein Mann eingezogen worden. In der folgenden Zeit gab es immer häufiger Luftangriffe auf Berlin. Schon 1941 mußte ich mit den Kindern in vielen Nächten von der Wohnung runter in den Keller. Mein Mann hat sich Urlaub geben lassen und hat uns 1941 gegen meinen Willen nach Gengenbach zu meinen Eltern verfrachtet. Ich wollte aus Berlin nicht weg, weil mich die Arbeit fesselte und ich einfach nicht nach Gengenbach wollte. Das war nicht mehr meine Welt. Dennoch gingen wir dorthin. Zwar hatte ich die Absicht, nur meine Kinder in den Ort zu bringen und wieder nach Berlin zurückzukehren, aber das war dann nicht mehr möglich. Ich habe also meine Arbeit in Berlin aufgegeben, was schwierig war, weil ich ja dienstverpflichtet war. Im nachhinein gesehen war die Entscheidung absolut richtig. Dadurch haben die Kinder eine schöne Jugendzeit erlebt, während sie in Berlin Schreckliches hätten durchmachen müssen. 1943 habe ich in Gengenbach eine Stelle als Fürsorgerin bekommen, obwohl aus meinen Zeugnissen deutlich hervorging, daß ich eine Gegnerin des Nationalsozialismus war. Man kannte mich in Gengenbach und hat mich akzeptiert. Auch der Bürgermeister machte mir keine Schwierigkeiten. Durch diese Stellung als Fürsorgerin bin ich begannt geworden, nicht nur als alte Gengenbacherin, sondern auch durch meine Arbeit, weil ich für alle Hilfsbedürftigen da war, also für die Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, die Evakuierten und Flüchtlinge und für die Heimatvertriebenen. Mit allen hatte ich zu tun. Diese Arbeit hat mich innerlich befriedigt und überaus glücklich gemacht, wenn ich in schwierigen Lebenssituationen hilfreich zupacken konnte.
R. L: Hast du wieder Zugang zu dem alten sozialdemokratischen Bekanntenkreis gefunden, den du vor deinem Weggang aus Gengenbach verlassen hattest?
M. S.: Das Milieu war ja durch die Kriegsverhältnisse verändert. Die Männer aus der SAJ und aus der SPD, die warm alle im Krieg. Selbst wenn man früher gut bekannt war, hat sich niemand mehr getraut, etwas zu sagen. Es war ein Zustand, in dem man sich Tag und Nacht von Spitzeln umgeben sah. Damit hat man gelebt. Und das hat auch alle Freundschaften oder Bekanntschaften eingeengt.
R. L: Mußtest du als Sozialarbeiterin in der NS-Frauenschaft tätig werden oder dort Rückendeckung für deine Arbeitsuchen?
M.S.: Nein, es hat mich nie jemand aufgefordert, in die NS-Frauenschaft oder in die NS-Volkswohlfahrt zu gehen. Man hat mich respektiert, weil ich gute Arbeit geleistet habe. Die alten Gengenbacher wußten, woher ich komm'. Sie haben nicht gewagt, mich in irgend etwas hineinzudrängen. Es ging auch nicht mehr darum, in die NSDAP einzutreten, sondern um das Überleben und Menschen für ihr Leben Hilfen zu offerieren. Da war ich die richtige Frau — eine, die das konnte.
R.L.: Wie hast du das Ende des Krieges erlebt?
M.S.: Ich habe ja in den ganzen Jahren nur auf den Augenblick gewartet, daß der Nationalsozialismus verschwindet. Es ist ja schlimm, wenn man den Feind herbeiwünscht, aber alle Menschen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, die wußten, welch' Unheil der Nationalsozialismus nicht allein über Deutschland, auch über große Teile der Welt gebracht hat, können verstehen, daß man sich damals danach sehnte, daß der Feind kommt.
Als der Krieg dann zu Ende ging, in der Zeit von Januar '45 bis Mai '45, mußten wir Frauen übers Wochenende Schützengräben ausheben. Als die Franzosen kamen, waren wir gerade im Luftschutzkeller. Wir sind aus dem Luftschutzkeller herausgegangen, die Franzosen kamen uns entgegen, und meine Mutter, die Französisch sprechen konnte, ging auf sie zu und sagte: »Voulez-vous des pommes de terre? - Wollen sie Kartoffeln?« Und damit war der Bann gebrochen.
Aber nach wenigen Tagen kamen Marokkaner, und das war ganz übel. Die haben geplündert und Frauen vergewaltigt, niemand war seines Lebens sicher. Immer hatte ich damit gerechnet, wenn die Franzosen oder Engländer kommen, das sind zivilisierte Leute. Und nun kamen die Marokkaner und haben es so getrieben, wie ich mir das nie hätte vorstellen können. Die Mädchen sind nachts ins Kloster gegangen, um sicher zu sein. Sie haben aus den Häusern herausgenommen, was ihnen gerade gefiel. Da war ich so tief enttäuscht, daß ich im Grunde nicht mehr leben wollte. Ich werde nie vergessen, wie ich meine beiden Kinder an die Hand genommen und gedacht habe, wenn ich jetzt nur mit meinen Kindern sterben könnte. Dieses Leben war sinnlos. Wenn sie sich genauso verhalten wie die Nazis, hat es keinen Sinn mehr zu leben, eine schlimme psychische Situation. Aber der Mensch rappelt sich ja immer wieder auf. Die Marokkaner waren nur einige Monate lang da, und nach einiger Zeit begann wieder ein einigermaßen normales Leben.
Bald gab es auch die ersten Kontakte zu Leuten, die keine Nazis waren. Es handelte sich nicht einmal um meine alten Freunde, sondern um den Lehrer Maier, der aus Mannheim in der Nazi-Zeit nach Gengenbach strafversetzt worden war. Mit ihm habe ich mich zuerst getroffen. Wir haben begonnen, in einem Kreis von Sozialdemokraten beim Aufbau mitzuhelfen. Die französische Militärregierung hat dann auch Kontakt zu ehemaligen Sozialdemokraten aufgenommen, die nach dem Waffenstillstand aus dem Krieg zurückkamen. Da war ein Offizier namens Robert, französischer Sozialist, der auch Beziehungen zu uns aufgenommen hat und Kurse auf dem Höllhof, einem Schulungsheim für Forstleute in Gengenbach, durchführen ließ. Zu diesen Kursen wurden Leute geladen, die beim staatlichen Aufbau Funktionen übernehmen sollten. Es kam auch ein ehemaliger Gengenbacher Sozialdemokrat, der emigrieren mußte, ein Herr Leiser, der nun in Freiburg bei der Militärregierung beschäftigt war und mit uns Verbindung knüpfte. In den ersten Monaten nach dem Waffenstillstand war es ja verboten, sich politisch zusammenzuschließen. Schon in diesen Monaten sind wir aber abends oft zusammengekommen. Die zentralen Figuren waren Maier und ich. Unsere Gespräche führten zur Wiedergründung der sozialdemokratischen Partei in Gengenbach. Ich hatte ein Gefühl: Jetzt fangen wir wieder an, und wir werden es schaffen. Als die Männer aus dem Krieg zurückkamen und wir Erfahrungen austauschen konnten, ist sehr bald eine überschaubare Organisation der SPD und der Arbeiterwohlfahrt entstanden. Am 13.12.1945 wurde dann in der französischen Besatzungszone die Gründung politischer Parteien zugelassen.[2]
R. L: Warst du weiterhin als Sozialarbeiterin tätig, oder gab es eine Unterbrechung durch die französische Besatzung?
M. S.: Nein, in meinem Arbeitsgebiet hat sich überhaupt nichts verändert. Bei uns auf dem Rathaus wurde niemand entlassen wegen seiner Parteizugehörigkeit. Wir haben in Gengenbach die Partei gegründet, und ich wurde sofort im Vorstand Beisitzer, der Vorsitzende war der Lehrer Maier. Wir haben zu Leiser in Freiburg, der bei der Militärregierung war, guten Kontakt gehabt. Er hat uns beraten, wie wir die Organisation aufbauen sollten. Aber nun gab es damals einen großen Krach zwischen Norddeutschland und Süd-Baden über das Verständnis der SPD. Die Situation der SPD in der französisch besetzten Zone war anders als in der englisch und amerikanisch besetzten Zone. Die Franzosen wollten ihre Besatzungszone nach französischen Prinzipien ordnen und unsere Partei als sozialistische Partei benennen. Mein erstes Mitgliedsbuch nach 1945 ist auf diese sozialistische Partei Süd-Badens ausgestellt. Wir waren auf die französische Linie eingeschworen, während Schumacher in Hannover was ganz anderes wollte. Die Genossen aus dem oberbadischen Raum hatten Kontakt zur sozialdemokratischen Partei in Hannover, und es kam auf dem ersten Parteitag im November 1946 zu einer Auseinandersetzung zwischen den Oberbadenern und den Nordbadenern, zu denen wir gehörten. Für die Schumachersche Version waren nur die Oberbadener: Schopf heim und Lörrach. Da ich ja einen Feil der Streithähne aus Oberbaden und auch aus meinem Bezirk kannte, wollte ich vermitteln. Es war eine Redezeit vorgegeben, und ich habe zu Richard Jäckle, der damals Bezirksvorsitzender war, gesagt: »Laß' mich etwas länger reden.« Er hat mich dann auch nicht gestoppt. Ich habe es fertiggebracht, daß die Kampfhähne nicht mehr so scharf aufeinander losgegangen sind. Schumacher war für mich damals noch kein Begriff. Carlo Schmid, der drei Stunden lang das Hauptreferat hielt, hat nach meiner Rede zu den Genossen gesagt: »Die Frau müßt ihr in den Parteivorstand wählen.« Ich wurde dann tatsächlich als Beisitzer in den Landesvorstand der SPD Südbaden gewählt. Das war mein erster Aufstieg.
Ich hatte wieder Boden unter den Füßen und war begeistert. Ich war glücklich, daß man wieder frei reden und arbeiten, Freundschaften schließen konnte und keine Angst mehr haben mußte. Die Männer kamen aus dem Krieg zurück, und ich war besessen von dem, was mir an Arbeit vor den Füßen lag.
R. L: Für mich verbindet sich mit deiner Tätigkeit immer zugleich auch deine enorme Arbeit für die Arbeiterwohlfahrt. Wie sah es im Bereich der Arbeiterwohlfahrt aus? Wann hast du Funktionen übernommen, die dich ja später bis an die Spitze des badischen Landesverbandes der Arbeiterwohlfahrt geführt haben?
M. S.: Ich war in meinem fürsorgerischen Beruf hauptamtlich in Gengenbach von 1943 bis 1949 tätig. Als wir uns wieder versammeln durften, habe ich sofort die Initiative ergriffen und noch im Herbst 1945 in Gengenbach die Arbeiterwohlfahrt gegründet. Ich bin Vorsitzende geworden, und wir haben eine Geschäftsstelle eingerichtet: Viele Leute sind dann nicht mehr zu mir aufs Rathaus gekommen, sondern in die Geschäftsstelle der Arbeiterwohlfahrt.
Eines Tages kamen zwei Persönlichkeiten aus Freiburg zu mir, die ich bisher nicht kannte, und sagten mir, sie hätten in Freiburg eine Arbeiterwohlfahrt gegründet und wollten die Arbeiterwohlfahrt in ganz Süd-Baden organisieren, ob ich nicht mitmachen wolle. Ich habe sofort zugesagt, bin dann nach Freiburg gefahren, und miteinander haben wir überlegt, wie man eine Arbeiterwohlfahrt auf Landesebene organisieren könnte. Sehr bald zwischen 1945 und 1946 haben wir den südbadischen Landesverband der Arbeiterwohlfahrt gegründet, und ich habe mich bereit erklärt, das Amt der stellvertretenden Vorsitzenden zu übernehmen. Ich war die einzige, die Fachkenntnisse mitbrachte. So habe ich von Anfang an eine große Rolle gespielt und den Ton angegeben.
Wenn ich nach Freiburg gefahren bin, und das habe ich in jener Zeit, während ich die »Vize« war, sehr oft getan, mußte ich von Gengenbach nach Offenburg zu Fuß laufen. In Offenburg mußte ich warten, bis irgendein Zug kam - mal ein Personenzug, mal ein Güterzug. Abends habe ich bei einer Familie übernachtet, bin dann meistens morgens um 4.00 Uhr aufgestanden, um einen Zug zu bekommen, und abends wieder zurück von Offenburg nach Gengenbach gelaufen. Ich fragte mich oft, wie ist es möglich, daß man so etwas überhaupt durchstehen kann? Aber das kann man eben nur, wenn man eine große Hoffnung in sich hat und weiß, daß man zum Besseren beitragen wird. So bin ich sehr bald erste Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt des Landesverbandes Südbaden geworden und bis zum Jahr 1976 geblieben, dreißig Jahre lang.
R.L: In welcher wirtschaftlichen Situation hat sich die Arbeiterwohlfahrt überhaupt befunden? Sind die alten Einrichtungen aus der Weimarer Republik sofort wieder auf die Arbeiterwohlfahrt übertragen worden? Wie war die Gründerzeit?
M. S.: Wir standen wirtschaftlich gesehen einfach vor dem Nichts. Wir haben unsere Ortsvereine gegründet. Wir haben von Mitgliedsbeiträgen gelebt. Mit staatlichen Zuschüssen war ja noch gar nichts geregelt, das kam erst Jahre später durch die Sozialgesetzgebung. Wir haben im Grunde genommen unsere ersten Aufgaben mit Hilfe von Care-Paketen erledigt, die wir aus der Schweiz bekamen. Damit haben wir in unseren Ferienlagern den Hunger der Kinder gestillt. Aus der Weimarer Zeit besaßen wir nur ein Heim, das Ludwig-Frank-Heim in Lahr.
R.L: Wie kam es, daß du 1949 als Bundestagskandidatin der SPD im süd-badischen Bereich aufgestellt wurdest?
M.S.: Wie bin ich eigentlich in den Bundestag gekommen? Ich hatte ja genügend zu tun mit meiner Familie, die Kinder sind ja immer nebenher gelaufen, mußten versorgt sein und brachten ja auch ihre Schwierigkeiten mit. Nur dadurch, daß meine Mutter die Kinder aufgenommen hat, während ich arbeitete, war mir dies alles möglich. Ohne mein Elternhaus war' das gar nicht gegangen.
Ich bin also in den SPD-Landesvorstand gekommen und habe viele Vorträge gehalten in der Partei. Ich war auf allen Konferenzen der Partei. Man kannte mich in der Partei, man wußte, wer die Marta Schanzenbach ist. Ich bin mit den Männern gut ausgekommen.
R.L.:Gab es Frauen, die dich als Konkurrentin gesehen haben, oder warst du politisch unumstritten die Frau für Bonn?
M. S.: So würde ich das heute sehen. Ich war in Baden unter den Frauen die bekannteste und habe mit den Männern immer politisch diskutiert. Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich da minderwertiger oder vollwertiger bin, sondern ich war ihresgleichen.
Im Frühjahr 1949 kam die Konferenz in Freiburg, auf der die Landesliste für die Bundestagswahl aufgestellt wurde. Ich habe, ehrlich gesagt, nie damit gerechnet, daß ich in den Bundestag komme, hatte auch nicht die Absicht, mich als Bundestagskandidatin aufstellen zu lassen. Das stand außerhalb meines Denkens, da die Kinder damals zehn und dreizehn Jahre alt waren.
Auf der Konferenz hieß es dann, als erster kommt Fritz Maier auf die Landesliste, und als zweite brauchen wir eine Frau. Das kann nur Marta Schanzenbach sein.
R.L.: Aber das empfiehlt doch vorher der Vorstand. Du mußt doch gesagt haben, ich bin dazu bereit. Wer hat denn mit dir gesprochen ?
M.S.: Ich erinnere nicht, daß jemand mit mir gesprochen hätte, weiß nur, daß ich erschüttert war und ratlos und gesagt habe: »Das kann ich doch nicht, ich habe zwei kleine Kinder, wer soll die erziehen?« Dann haben einige gesagt: »Wir helfen dir bei der Erziehung deiner Kinder.« Dann kam für mich die große Gewissensfrage: Kannst du das, kannst du es nicht? Die Zeit für die Entscheidung wurde so knapp, daß ich die Dinge einfach über mich hab' ergehen lassen und angefangen hab' zu heulen, nachdem sie mich gewählt hatten. Mit überwältigender Mehrheit wurde ich auf den zweiten Listenplatz gesetzt. Außerdem hatte ich ja auch keine Ahnung, was ich als Bundestagsabgeordnete machen mußte.
R.L.: Das hat man ja noch nicht. Man hat zunächst das Gefühl, da werden von einem Dinge gefordert, die man innerlich gar nicht leisten kann.
M. S.: Weißt du, bei mir war es immer so, daß mir alle Funktionen zugefallen sind. Ich habe nie nein gesagt, weil mich die Funktionen interessierten. Bei der Partei kam dann noch hinzu, daß ich mich in die Pflicht genommen fühlte. Wenn die Partei etwas von mir verlangte, hab' ich es getan. In späteren Jahren ist es mir immer so gegangen wie bei dieser Aufstellung zur Bundestagskandidatin. Ich war zunächst ratlos, habe aber gedacht, probier's halt mal.
R. L: Willst du damit ausdrücken, daß du niemals Ehrgeiz hattest, wenn du meinst, dir seien alle Ämter zugefallen?
M.S.: Man kann solche Funktionen nicht ohne Ehrgeiz ausüben, ohne etwas gestalten und Verantwortung tragen zu wollen. Was ich machte, wollte ich gut machen, ein bißchen besser als die anderen. Das war in der Schule so, das war auf der Wohlfahrtsschule so, das war wohl auch in der Arbeiterjugend so. Wenn ich Erfolge hatte, habe ich mich darüber gefreut. Aber glücklich, wenn man überhaupt Glück definieren kann, also die angenehmsten Gefühle hatte ich immer, wenn ich jemandem helfen konnte. Das bedeutete mir mehr, als in eine Funktion hineinzuwachsen. Wenn die Leute verängstigt zu mir kamen, ich dann mit ihnen gesprochen hatte und sie gelöst weggingen, Hoffnungen hatten, dann war ich nachher noch mehr beglückt als die Leute selbst. Dieses Glücksgefühl, das aus dem Helfenkönnen resultiert, ist für mich eine Art Urgefühl.
R. L: Das war die Wurzel. Dein Werdegang war nicht von Jugend an strategisch geplant, sondern ein kontinuierliches Hineinwachsen in neue Aufgaben; das war also anders als bei der jungen Generation heute. Du gehörst zu den Parlamentarierinnen der ersten Stunde, die bald an die Spitze gekommen sind. Wie kam es, daß du als Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg auch in den Parteivorstand und zudem auch in das Parteipräsidium gewählt worden bist? Wer hat dich mit dem Bundesfrauenausschuß betraut?
M.S.: Ich kam 1949 in den Bundestag. Meine Arbeiterjugendzeit im Badischen und die kurze Berufszeit in Berlin haben mir 1949 außergewöhnliche Startchancen gegeben. Erstens einmal, weil Genossen, die mit mir damals im Vorstand der SAJ in Mannheim waren, in den Bundestag gekommen sind, zum Beispiel kannte mich Ernst Roth von der Jugendbewegung her. Zweitens, weil Personen, die ich aus meiner Berliner Zeit kannte, wie Louise Schröder, Fritz Erler, Franz Neumann und Paul Lobe, auch in den Bundestag gekommen sind. Von ihnen wurde ich für Funktionen vorgeschlagen, die ich, wenn ich nicht diese Bekannten gehabt hätte, niemals übertragen bekommen hätte. Das sind wirklich Glücksfälle.
R. L: Der Kreis, der dich parlamentarisch einführte, war dir bereits seit den Berliner Zeiten vertraut.
M.S.: Ja, aber da besteht ein Unterschied. Louise Schröder und Paul Lobe waren meine Lehrer. Zu Louise Schröder hatte ich ein gutes Verhältnis, obwohl sie die Süddeutschen gar nicht so sehr mochte. Sie hatte immer ihre Lieblinge in Schleswig-Holstein. Das Verhältnis zu Neumann und Fritz Erler war anders! Wir waren ehemalige Kollegen in meiner ersten Arbeitsstelle in Berlin. Im Prenzlauer Berg war Fritz Erler als Verwaltungsangestellter tätig gewesen und Franz Neumann als Heimleiter für arbeitslose Jugendliche. Obwohl wir verschiedene Aufgabengebiete hatten, wußten wir durch diese Zeit, wer ist wer. Dann kam aus der Nachkriegszeit Carlo Schmid hinzu. In dem großen Kreis der neuen Parlamentariergeneration von 1949 war ich also keine Fremde, sondern hatte Freunde aus der Vergangenheit. Als es darum ging, die Ausschüsse mit Vorsitzenden und Stellvertretern zu bestimmen, wurde ich stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Jugendfürsorge. Ich brachte Kenntnisse mit wie kaum ein anderer Abgeordneter in diesem Ausschuß.
R. L: Kannst du dich noch an politische Fragen, die ihr zunächst behandelt habt, erinnern?
M.S.: Es ging ausschließlich um die Beschaffung von Wohnungen für heimatlose Jugendliche, um deren Berufsausbildung und um Maßnahmen für die große Zahl der arbeitslosen Jugendlichen. Das war praktische Jugendpolitik. Da ich aus der Arbeiterwohlfahrt große Kenntnisse mitbrachte, konnte ich die Arbeit im Ausschuß mitgestalten, was auch in der Fraktion wahrgenommen wurde. So bin ich 1956 Mitglied des Fraktionsvorstands geworden und blieb es etwa zehn Jahre lang, bis ich abgewählt wurde. Ich war auch im Ausschuß für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen, als stellvertretendes Mitglied im Sozialpolitischen Ausschuß, im Verteidigungsausschuß und im Ständigen Ausschuß. In den Verteidigungsausschuß bin ich gegangen, weil ich wissen wollte, was in der Bundeswehr mit den jungen Leuten geschieht. Es war nicht so sehr eine Frage der Verteidigung, sondern der Jugendfürsorge, die mich veranlaßte, dort mitzuarbeiten.
R. L: Das war dann nach der Gründung der Bundeswehr, 1957.
M. S.: Ja. In der Partei lief es folgendermaßen: Ich war Delegierte zum Parteitag 1958 in Stuttgart. Da gab es in der Partei diese große Veränderung, die dann zum Godesberger Programm hinführte. Ich hatte keineswegs die Absicht, irgendeine Funktion auf diesem Parteitag zu übernehmen. Als es dann auf die Vorstandswahlen zuging, kam Karl Mommer zu mir und meinte, ich solle doch für den Parteivorstand kandidieren. Da habe ich gesagt: »Nein, ich bin erschrocken über dieses Angebot, das mach' ich nicht, ich wüßte nicht, warum.« Da sagte er: »So seid ihr immer, schimpft nur immer, daß Frauen nicht genügend Funktionen bekommen, und macht man euch ein Angebot, dann sagt ihr nein.« Das hat mich getroffen, und so habe ich geantwortet: »Gut, ich nehme mein Nein zurück, aber nur, wenn auch Irma Keilhack gefragt wird, ob sie mit kandidiert. Wenn sie mit kandidiert, dann sage ich ja.«
R. L: War das deine Freundin ?
M. S.: Ja, wir haben uns sehr gut verstanden und zusammengearbeitet. Karl Mommer hat dann Irma Keilhack gefragt, und sie hat mit ja geantwortet. Damit war meine Entscheidung gefallen. Auch Kate Strobel hat kandidiert. Wir sind alle drei in den Parteivorstand gewählt worden, ebenfalls Luise Herklotz. Vorher waren im Parteivorstand Herta Gotthelf, die als Parteisekretärin dazu gehörte, Luise Albertz, Lisa Albrecht, Ella Kay und Marianne Gründer. Luise Albertz und Ella Kay sind im Vorstand geblieben, aber Herta Gotthelf, Marianne Gründer und Lisa Albrecht sind rausgewählt worden.
R.L: Du sagtest vorhin, du hättest dich an der Parteidiskussion über die Schumacher-Linie nicht beteiligt. Aber auf dem Stuttgarter Bundesparteitag stand auch die Frage im Mittelpunkt, ein neues Programm und die Öffnung der SPD zur Volkspartei in Angriff zu nehmen.
M.S.: Das hatte ich mit gefordert. Das entsprach meiner Gefühlslage und meiner Vorstellung von Politik. Nach den Vorstandswahlen kam die Frage des Präsidiums auf mich zu. Der Vorstand hatte getagt und zehn Männer ins Präsidium gewählt. Dann hieß es »eine Frau muß rein«. Vorher hatte Herta Gotthelf diese Position als Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes inne. Erst auf dem Stuttgarter Parteitag wurde das Präsidium gebildet. Vorher war es ein geschäftsführender Vorstand, dem der Vorsitzende, der stellvertretende Vorsitzende und die Sekretäre angehörten. Das war bis 1958 so. Es gab den Vorschlag: Irma Keilhack. Sie wollte es nicht machen, weil ihr Kind noch zu klein war. Erich Ollenhauer hat als Parteivorsitzender dann gesagt: »Wir denken an Marta Schanzenbach.« Damit war ich im Präsidium und bin einstimmig gewählt worden. Und dann hab' ich ja gesagt, weil ich nicht den Mut hatte, nein zu sagen.
R.L.: Damit warst du in der Spitzenfunktion, die noch heute die höchste Parteifunktion für eine Frau innerhalb der SPD ist. Bei diesem Abschnitt möchte ich an deine Zeit in der Wohlfahrtsschule der Arbeiterwohlfahrt in Berlin erinnern. Ihr wart ja im selben Gebäude wie der Parteivorstand untergebracht. Du hattest dort viele Leute vom Vorstand von Angesicht kennengelernt. War der Parteivorstand in deinen Augen so nah, daß du in Gedanken damit gespielt hast? Immerhin ist es ja erstaunlich, wie reibungslos du in das Parteipräsidium gewählt worden bist.
M. S.: Durch die vielen hohen Persönlichkeiten, die ich in Berlin kennengelernt hatte, waren sie für mich keine hohen Tiere mehr. Diese Gremien waren für mich nie ganz »dort oben«, sondern ich sah in ihnen Menschen wie dich und mich.
R.L.: Dies ist ein großer Sprung für ein Arbeiterkind. Der Schlüssel lag in deinen Berliner Erfahrungen und Freundschaften.
M.S.: Weißt du, ich habe diese Ziele ursprünglich nie gehabt! Seinerzeit hatte man mir auf der Wohlfahrtsschule schon prophezeit, »du landest noch einmal im Reichstag«, weil ich eine der politisch Engagiertesten war.
R. L: Nun aber zurück zu deiner Wahl in den Parteivorstand und in das Präsidium. Plötzlich kamen auf dich ganz neue politische Aufgaben zu. Ich erinnere mich, daß du dich seit i960 dafür engagiert hast, junge Frauen für die Politik zu gewinnen oder politisch zu fördern und in den Bundesfrauenausschuß aufzunehmen. Wann ist eigentlich der Bundesfrauenausschuß gegründet worden? Wann hat man dich mit dieser Aufgabe betraut?
M. S.: Die Frauenarbeit ist ja in der Nachkriegszeit von Herta Gotthelf aufgebaut worden. Nachdem sie aus der Emigration kam, hat sie in der Partei die Arbeit übernommen, die Marie Juchacz in den zwanziger Jahren getan hatte. Sie war nun als Frauensekretärin tätig, hat aber in vielen Dingen eine andere Auffassung vertreten als Frauen, die nicht in der Emigration waren.
R. L: Wie würdest du sie beschreiben? Würdest du sie als klassenkämpferische Sozialistin bezeichnen?
M. S.: Ja, Rosa Luxemburg, das war ihre Linie. Daher kam sie in Konfliktsituationen mit den Genossen, die eine Öffnung zur Volkspartei anstrebten.
Ich habe während jener Auseinandersetzungen immer zu dem Kreis gehört, der eine Volkspartei wollte, war also auf der Linie von Wehner, Erler und Deist.
Als ich dann die Arbeit übernahm, wurden mir die Ausschüsse für Frauenfragen, der Ausschuß für Kriegsopfer und Kriegsbeschädigte und der sozialpolitische Ausschuß im Parteivorstand übertragen. Für diese drei Ausschüsse war ich zuständig. Mein Hauptaugenmerk richtete ich natürlich auf den Frauenausschuß. Mitglieder waren die in den Bezirken für die Frauenarbeit Verantwortlichen, aber es konnten auch andere Genossen und Genossinnen vom Vorstand berufen werden.
Ich habe versucht, vom Bundesvorstand aus eine Frauenarbeit aufzubauen, die auch mit den Vorstellungen von Herbert Wehner in Einklang zu bringen war. Er war im Parteipräsidium verantwortlich für das Gesamtgebiet der Organisation. Ich wollte also keinen Streit mit ihm haben, sondern ein Programm entwickeln, das von ihm mitgetragen wurde. Ich kannte mich in der Frauenarbeit aus, denn seit der Gründung des Bundesfrauenausschusses war ich Mitglied dieses Gremiums. Die Gründung muß 1947/48 erfolgt sein, weil ich mich noch an die beiden ersten Sitzungen in Hannover und Dortmund erinnere, wo es nichts zu essen gab und wir ganz schlecht untergebracht waren.
R. L: Wie unterschied sich deine Konzeption von der Herta Gotthelfs ?
M.S.: Meine Konzeption war nach vorn gerichtet. Ich wollte moderne Gesichtspunkte für die Gleichberechtigung der Frau und die Partnerschaft in der Familie, auch unter Berücksichtigung pädagogischer und soziologischer Erfahrungen für die junge Generation in mein Programm einbauen, während Herta im Klassenkampf befangen blieb und jede Öffnung zu den bürgerlichen Frauen ablehnte. Meine Politik für Frauen war einfach anders, war auf die Zukunft der jungen Generation gerichtet wie auch in Richtung der modernen Pädagogik, Psychologie und Soziologie.
R. L: Kannst du dich an Konfliktfelder mit Herta Gotthelf erinnern ?
M.S.: Nein, ich hatte überhaupt keine Konflikte mit Herta. Ich bin ihr überall aus dem Weg gegangen. Solange sie die erste Frau der SPD war, habe ich sie respektiert, mich nie auf einen Streit mit ihr eingelassen. Wir sind gut aneinander vorbeigekommen. Sie hat die Entwicklung der SPD zu Stuttgart und Godesberg nicht mitgemacht, während ich sie gefördert habe. Später, als sie nicht mehr gewählt wurde, war sie mir böse, weil sie glaubte, ich hätte sie abgeschossen. Das trifft aber nicht zu. Ich habe gegen Herta Gotthelf nie etwas Negatives unternommen.
Ich habe dann den Bundesfrauenausschuß erweitert. Ein Schlüsselerlebnis für mich war dabei eine Veranstaltung in München, wo ich mit jungen Genossinnen zusammenkam. Da hab' ich einen neuen Frauentyp in der SPD kennengelernt. Das warst du, Renate, das waren Helga Timm und Luise Haselmayr. Da ist mir plötzlich bewußt geworden, daß eine junge, intellektuell aufgeschlossene Generation herangewachsen ist, die ich dann in den Bundesfrauenausschuß einbezogen habe. Und da ja die Frauen damals in den Bundesfrauenausschuß nicht gewählt wurden, war es mir ein leichtes, dich, Luise Haselmayr und Helga Timm zu berufen. Ältere Genossinnen sind aufgrund ihres Alters ausgeschieden. Wir haben dann ganz aktiv gearbeitet, viele Konferenzen abgehalten und zu Frauenproblemen und sozialpolitischen Fragen Stellung genommen.
R.L.: Erinnerst du dich noch, daß im Bundesfrauenausschuß ab 1963 die Vorarbeiten für die »Frauen-Enquete« geleistet worden sind? Ich hatte den Gedanken vorgetragen, die soziale Lage der Frauen in der Bundesrepublik soziologisch zu erforschen, und du hast diese Idee aufgegriffen. Die »Frauen-Enquete« wurde eine parlamentarische Initiative der SPD-Abgeordnetinnen.
M.S.: Richtig, das hatte ich vergessen, aber nicht unseren gemeinsamen Auftritt auf dem Karlsruher Bundesparteitag der SPD Ende November 1964, wo wir zu »Frau und Politik« gesprochen haben.[3] Seither hat sich die unterprivilegierte Lage der Frauen fundamental verändert.
Mitte der sechziger Jahre habe ich gemerkt, daß ich in eine schwierige Situation hineingeriet, weil diese jungen Frauen neue Ideen hatten, die mit meinen alten Vorstellungen nicht mehr konform waren. Sie stellten an die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau ganz andere Forderungen und entwickelten Gedanken, die zu denken ich nicht gewagt hätte. Mir wurde klar, daß ich die Arbeit in andere Hände geben mußte. Ganz deutlich wurde es mir 1965/66 bewußt, als die familienpolitischen Richtlinien, die der Parteivorstand 1961 herausgegeben hatte, von den Berlinern nicht mehr akzeptiert wurden. Wir hatten im Frauenausschuß den Auftrag bekommen, diese Richtlinien zu verändern.
Dann kam auch die Forderung, daß der Bundesfrauenausschuß nicht mehr aus Berufenen, sondern aus Gewählten bestehen sollte. Das kann ich nicht mehr mitmachen, habe ich mir gesagt, das sind völlig andere Ideen, da muß ich gehen. So habe ich 1966 mein Parteivorstandsmandat und damit auch die Frauenarbeit abgegeben und nicht mehr kandidiert.
R.L.: Hast du bei den Kanalarbeitern mitgemacht, oder warst du sehr einsam in Bonn?
M. S.: Ich war sehr einsam, aber zu den Kanalarbeitern bin ich nicht gegangen. Ich habe das nie als Unglück empfunden. Es entsprach auch nicht meiner Mentalität, so in Kameraderie zu machen. Aber fest stand, daß sie mich gestürzt haben, weil ich nicht zu ihnen gehört habe. Ich war einfach auch ausgelaugt hatte so viel arbeiten müssen, daß ich mich nach mehr Ruhe gesehnt habe. Dies war für mich also ein ganz normaler Abgang
R. L.: Ich habe dich kennengelernt als politisch mutige Frau, die auch Nicht opportunes vertreten hat.
M. S.: Ich wi,ß gar nicht, ob das Mut war. Ich habe unsere Politik einfach als richtig angesehen. Meine politischen Leitbilder, an denen ich mich in schwierigen Situationen orientiert habe, das waren Wehner, Erler und soäter Helmut Schmidt.