Antwort auf Oskar Negt

Lieber Oskar,

Dein Brief zu meinem 60. Geburtstag und Dorothee Sölles Gedicht »Lob der Freundschaft« waren die schönsten Geschenke, die ich zu diesem beunruhigenden Anlaß bekommen habe. Manches, was ich schon seit einiger Zeit weiß, ist davon in Schwingung versetzt worden — aber wohl auch manches, was ich an mir selber bisher noch nicht gesehen hatte.
Daß das Verhältnis von Nähe und Distanz für mich ein noch ungelöster Knoten ist — in dem, was ich beruflich, als Arzt und als Klinikleiter tue, in dem, was ich schreibe, in den Entscheidungen darüber, wo und mit wem ich lebe — war mir immer schon, wenngleich unterschwellig, bewußt. Aber niemand hat das bisher so klar auf einen Nenner gebracht wie Du in Deinem Brief. Ich habe seither viel darüber nachgedacht und — fast wie an einer Deutung, die einem sein Analytiker vorschlägt — wohl auch daran gearbeitet. Natürlich ist es so: Großgeworden in einem Land, wo, schon durch seine Dreisprachigkeit, das Fremde zur Nähe gehörte und Nähe immer etwas Fremdes enthielt; als Sohn des deutschen Vaters und einer lettischen Mutter in Estland aufgewachsen; mit dreizehn Jahren in ein Land verschlagen, wo alle zwar deutsch sprachen, ich aber Empfindungen, Beweggründe und Gedanken der Menschen nicht mehr verstand; nach dem Studium ein mißglückter Fluchtversuch nach Paris, wo ich mehr von meiner Kindheit wiederfand als in Deutschland; dann die Jahre in Vietnam und danach wieder Paris, die Bindung an Edith, die als Kind jüdischer Eltern in Algerien geboren und in Frankreich erwachsen geworden ist. Damit aber noch nicht genug: im Beruf die Faszination durch den Wahnsinn, der nicht nur das Ferne, sondern Alienation, entfremdetes Leben ist, das ganz Andere, der psychiatrischen Klassik zufolge prinzipiell unerreichbar, »durch einen Abgrund«, sagt Jaspers, geschieden von jeder Möglichkeit des Verstehens. Die Herausforderung, diesen Abgrund zu durchtauchen, in der Erfahrung der wahnhaften Akte der Verfremdung auch diejenigen zu verstehen, die Nähe und Näherung hervorbringen, vor allem diejenigen ersten der Beziehungssetzung, durch die Subjekte und Identitäten, Nähe und Ferne, aus unbezogener Fremdheit überhaupt erst zustande kommen. Du siehst: In dieser Schicht meiner therapeutischen Arbeit mit Schizophrenen und meiner wissenschaftlichen Arbeit am Wahnsinn bin ich der Subjektseite näher als den objektiven Verhältnissen und bewege mich enger an Kant, Hegel, Husserl, Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty als an Marx, Holzkamp und Sève. Es ist richtig, daß ich 20 Jahre lang wenig Thematisches dazu geschrieben habe — (obwohl in einigen Aufsätzen — so in Droge, Sprache, Arbeit — einiges davon anklingt.) Dies lag eher daran, daß ich über lange Zeit nicht wußte, wie ich die subjektive Ebene der Erkenntnis mit der objektiven, deren Macht mir durch die Lehrjahre in Vietnam erst bewußt geworden war, verknüpfen sollte. Genau daran arbeite ich aber jetzt — seit vielleicht zwei oder drei Jahren.
Warum hat das so lange gedauert? Vielleicht sollte ich Dir einmal darzustellen versuchen, in welchem Zustand sich die deutsche Psychiatrie befand, als ich, in Vietnam und nach meiner Rückkehr von dort, meine objektivierende Wende vollzog. Die phänomenologische Sichtweise, die ich vorhin skizziert habe: den Wahnsinn als eine menschliche Daseinsmöglichkeit in der Begrifflichkeit Heideggers und Husserls zu fassen und damit einen gemeinsamen Grund für »Normalität« und »Verrücktheit« freizulegen, hatte sich festgefahren. Der zutage geförderte gemeinsame Grund war nämlich ausschließlich begrifflicher Natur: er wurde lediglich als Abwandlung der existentialen bzw. phänomenologischen Daseinsbestimmungen gefaßt, die von Heidegger und Husserl entwickelt worden waren. Wie ein glitschiger Gegenstand war der Wahnsinn damit aber, wo er begrifflich gefaßt werden sollte, dem Verstehen schon entglitten. Zurück blieb so etwas wie ein existentiales Diagramm. Dies liegt wohl daran, daß die Radikalität des Wahnsinns damals von niemand gesehen wurde: dieser Prozeß entgesellschaftender, entsubjektivierender, entidentifizierender Verfremdung, der auch die existentialen Daseinsstrukturen zunichte macht. Die phänomenologischen und daseinsanalytischen Versuche fanden im übrigen an Universitäten oder häufiger in luxuriösen Privatsanatorien statt, z.B. in Binswangers Kreuzungen. Sie wurden an Menschen praktiziert, die durch ihr Geld und durch den Einfluß ihrer Familie ziemlich unabhängig waren von der Macht der Verhältnisse. Dies machte es leichter, ihre »Daseinsverfassung« als lediglich inneren Sachverhalt, als existentiales Persönlichkeitsdiagramm zu fassen.
Diese Form des Versuches, auch in den Irren »Subjekte« wiederzufinden, hatte praktisch keinerlei therapeutische Konsequenz. Im übrigen ließ diese Spielart der Psychiatrie alle anderen seelischen Nöte: Suchtkrankheiten, Neurosen, psychosomatische Störungen, in welchen die Verhältnisse unmittelbarer wirksam werden als im Wahnsinn, praktisch außer Betracht. Und die Psychoanalyse ihrerseits hatte sich — damals wenigstens — eine privilegierte Klientel gesucht, deren soziale Attribute zu Recht als YARVIS-Syndrom (young attractive, rich, verbal, intellectual, sophisticated) karikiert wurden. Die übrigen wurden einer ebenso kustosial wie biologisch-pharmakologisch orientierten Psychiatrie überlassen. Daß äußere Verhältnisse überhaupt seelisches Kranksein bewirken, in Gang setzen, seine Erscheinungsform und seinen Verlauf prägen können, wurde weitgehend geleugnet. Es ging lediglich darum, durch somatische Interventionen oder psychotherapeutische Verfahren in einen von gesellschaftlichen Einflüssen praktisch unbetroffen gedachten psychischen Apparat einzugreifen — wobei die psychotherapeutische Spielart wenigstens einräumte, daß irgendwann, in frühkindlicher Vorzeit, dieser Apparat einmal falsch programmiert worden sein mochte. Der Psychiater bekam seinen Patienten praktisch nur im Irrenhaus, d.h. gelöst von allen realen Beziehungsverflechtungen, Familie, Beruf und Nachbarschaft, zu Gesicht: eben als isolierten psychischen Apparat. Dabei verzichteten die Psychiater, trotz ihres somatisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes, auch nicht auf Appelle an die Moral, an den eigenen Heilungswillen, an die noch gesunden Seelenkräfte des Kranken; die andere Seite der Medikalisierung in der Psychiatrie war immer schon eine moralische Erbauungspädagogik.
In dieser Situation mußte es mir — und denjenigen, die etwas Ähnliches wollten — darum gehen, den durch die Asylierung isolierten, freipräparierten psychischen Apparat der Patienten wieder mit der Welt zu verknüpfen, diese wieder an ihn heranzuführen und dabei zu begreifen, wie sie mit diesem »Apparat« in Beziehung steht, wie sie auf ihn wirkt. Dies war zu allererst die Welt des Asyls selber — sie mußte einer kritischen Analyse unterworfen werden. Dies war zunächst entscheidend — und noch nicht so sehr, wie der Irre trotz dieser Verhältnisse noch ein Stück widerständiger Menschlichkeit, einen Rest von subjektiver Handlungsfähigkeit bewahren konnte. Denn gerade die Daseinsanalyse hatte dieses letztere ja immer wieder behauptet, dabei aber gleichzeitig auch als Alibi für ihre therapeutische und sozialpolitische Untätigkeit genutzt. Wie Du es den Marxschen Zeiten zugestanden hast, gab es auch in der Psychiatrie der 60er Jahre einen gewaltigen »Objektüberhang« — und, in geringerem Ausmaß, auch Selbstbefreiungsillusionen — diese letzteren sind heute, in den 80er Jahren, eher noch deutlicher am Werke. Der Objektüberhang war zu benennen, in seiner Struktur deutlich zu machen; dies versucht zu haben ist der Sinn meiner ethno- und sozialpsychiatrischen Arbeiten, ebenso derjenigen der wenigen anderen — vor allem italienischen — sozialpsychiatrischen Autoren, die von einem materialistischen Boden her Ähnliches wollten. Gezeigt werden mußte, wie sich die allgemeinen objektiven Verhältnisse auf das Leben der einzelnen Menschen (und insbesondere solcher, die, aus welchen Gründen auch immer, besonders verwundbar waren) auswirkten: als Zwänge, aber manchmal auch als Stützen und Hilfen. In meiner kleinen Arbeit zur Problematik des Rehabilitationskonfliktes bei Schizophrenen habe ich dies darzustellen versucht — und in vielen Krankengeschichten, aber auch in vielen Gutachten für Sozialgerichte, bin ich mit solchen Fragen immer noch konfrontiert.
Aber ich räume ein: den Prozeß, in welchem der kranke Mensch die Macht der objektiven Verhältnisse wenn auch nicht bricht, gleichwohl sich als Problem und auch als Aufgabe aneignen kann, darunter auch die Schleichwege, die ihm erlauben, weiterhin als Subjekt zu handeln, habe ich in meinen Arbeiten seltener thematisiert. Insofern sind diese auch eher eine Darstellung der Pathologie des Wahnsinns als eine Darstellung des Heilungsprozesses gewesen. Vielleicht hat mich da auch eine gewisse Scheu oder gar Scham zurückgehalten, das Geheimnis zu entschleiern, wie ein Mensch das bislang Auseinanderstrebende, Widersprüchliche, Spaltende in sich nicht zu vereinen, aber doch zu verbinden lernte. So viel ist mir aber dabei klar geworden: es war nie allein ein Weg in entfernte Vergangenheit, in die Nöte und in das Glück der Kindheit, sondern immer ein analytisch-synthetischer Prozeß, der einer Gegenwart — und einer Zukunft — bedurfte, eines Angebotes, das nicht aus der Therapiestunde und vom Therapeuten allein, sondern immer auch von außerhalb, aus der Lebenswirklichkeit selbst, kam. Therapie ist selten mehr als ein Katalysator für derartige Prozesse und sie hat schon viel erreicht, wenn sie diese nicht stört oder behindert, sondern nur den Raum eröffnet, in welchem sie stattfinden können.
Um auf Deine Ausgangsfrage zurückzukommen: Ich meine immer noch, daß es auch heute die erste Aufgabe der Psychiatrie sein muß, den Betroffenen Lebensverhältnisse wiederzugeben, in welchen Therapie überhaupt eine Chance hat — wenn sie dann überhaupt nötig ist —, und theoretisch eine Sicht zu entwickeln, die nicht einen abstrakten psychischen Apparat durch ein ebenso abstraktes Subjekt ersetzt und dieses in seinen normalen oder pathologischen Funktionen anzielt, sondern die objektiven Verhältnisse, den Lebensraum, als vorgegebene (wenngleich nicht unveränderliche) Bedingungen allererst sichtbar macht, wie sie, als allgemeine, vielfach gebrochen, in dieses besondere Leben hineinwirken. Ist dies geschehen, dann kann man sich wieder der Subjektivität des Kranken zuwenden. Genau an diesem Punkt bin ich jetzt.
Natürlich haben auch andere Dinge mitgespielt, die über das bisher Gesagte hinaus den Stil meiner psychiatrischen Arbeit mitgeprägt haben. Ich habe schon früh angefangen, psychiatrische Aufsätze zu schreiben. Thematisch waren sie wohl schon von Anfang an ziemlich aufmüpfig. Lange Zeit habe ich mich an die in der Medizin und Psychiatrie übliche Form wissenschaftlicher Arbeiten (und das heißt: mich selber draußen-) gehalten. So war ich eben schließlich nur in Vorworten und Fußnoten aufzufinden. Erst in letzter Zeit — angeregt auch von Dir und Deinen Büchern — habe ich versucht, manchmal in meinen wissenschaftlichen Arbeiten so zu schreiben, wie ich es in den Vietnam-Büchern begonnen hatte. Und auch da war es so, daß diese Gegenbewegung dazu geführt hat, daß ich zunächst — wie in meinen Vorträgen — manchmal zuviel von mir selber hinein und hinzu getan habe. Auch in der wissenschaftlichen Produktion muß ich das rechte Gleichgewicht von Nähe und Distanz also noch finden — wobei das Pendel im Augenblick nicht auf die von Dir gesehene objektivistische, sondern eher zu stark auf die andere, die subjektive Seite, ausschlägt. Lernen muß ich erst, mich in den Arbeiten sowohl selbst zu artikulieren, als auch, was den subjektiven Überhang angeht, mich wieder selbst unsichtbar zu machen, d.h. in der beschriebenen Sache aufzugehen. Vielleicht kann ich da noch mehr von Dir lernen.

Sehr herzlich
Dein Erich

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