Nähe und Distanz Eine prekäre Balancearbeit

Lieber Erich,

ich muß mit einem Geständnis beginnen, daß mir die leichten Herzens gemachte Zusage, an einer Festschrift zu Deinem 60. Geburtstag mitzuwirken, um so größere Verlegenheit bereitete, je intensiver ich in Deinen Schriften herumsuchte, um einen Ansatzpunkt und einen Anfang zu finden. Ich hatte nicht das Problem, über einige Aspekte Deines Denkens, die mein Interesse erregten, weiterführende oder kritische Erörterungen zu machen; sobald ich mich daransetzte, etwas niederzuschreiben und in die Gestalt eines Aufsatzes zu bringen, schoben sich jedoch regelmäßig Erfahrungen mit der lebendigen Person dazwischen, über die ich hier objektive Aussagen zu machen versuchte. Derartige Hemmungen hätte ich sicherlich nicht gehabt, wären wir uns in den letzten Jahren nicht freundschaftlich nahe gekommen und wäre nicht vieles von dem, was ich in den mehrsemestrigen gemeinsamen Veranstaltungen über Persönlichkeitstheorien aufgenommen hatte, auch in bezug auf Deine Person haften geblieben. Erst als ich mich ganz von der akademischen Konvention freigemacht hatte, Dich als Untersuchungsobjekt zu betrachten, als Träger und Produzent von Gedanken und Erkenntnissen, die jetzt in toten Textzusammenhängen vorliegen, war ich imstande, die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz in der lebendigen Erfahrung mit Dir auf Probleme zu beziehen, die ich in Deinen Schriften wiederentdeckte.
Indem ich das so ausdrücke, opfere ich gerne den Standpunkt des objektiven Analytikers. Ich begebe mich in ein freundschaftliches Handgemenge, das meine subjektiven Erfahrungen mit Deinen Texten und Deiner Person ausdrückt. Ich kannte Dich flüchtig, bevor wir uns persönlich begegneten; das Persönlichkeitsbild, das ich mir zurecht gemacht hatte, war durch Merkmale des geronnenen Geistes geprägt. Ich wußte von Deinem Engagement in der Vietnam-Kampagne, kannte den ersten Vietnam-Bericht Alsheimers, einige Untersuchungen zur Sozialpsychiatrie, über die Institutionen der Ausgliederung der Krankheit in der Gesellschaft und den politischen Gehalt verschiedener Formen der Heilung. Alles erweckte den Eindruck, als sei hier ein Wissenschaftler am Werk, der mit klar definierten Kategorien der materialistischen Geschichtsauffassung und der Klassenanalyse vorgeht und in diesem unverrückbaren Rahmen die Spezialprobleme seines Fachgebiets unzweideutig zu benennen versteht. Zwar konnte man hier und da unschwer erkennen, wogegen sich der Autor abgrenzt und was für ihn eher Nebentraditionen des Denkens sind, die ihm für die konkrete Arbeit wenig bedeuten: die Freudsche Psychoanalyse in der Ursprungsgestalt und in den verschiedenen hermeneutischen Varianten; die Frankfurter Schule in ihrem philosophischen Erbe aus Kant und Hegel; jene neu auftretenden politischen Bewegungen, die den proletarischen Klassenstandpunkt verleugnen und der durch Lenins Linksradikalismus-Kritik entschiedenen Organisationsfrage mit Mißtrauen begegnen. Das alles fand keine emotionale Zustimmung bei mir, aber ich sah keinen Grund, dem Psychologen und politischen Schriftsteller Erich Wulff alias Georg W. Alsheimer meinen Respekt für ein geordnetes, ziemlich selbstsicheres Denken zu verweigern. Ein Motiv, die Nähe eines Menschen zu suchen, der so denkt und so schreibt, bildete sich dabei nicht; als distanziertes Interesse würde ich heute die Form beschreiben, die mein anonym bleibendes Verhältnis zu Dir über Jahre hinweg bestimmte.
Zu einer der großen Überraschungen meines Lebens wurde es, als ich Dich zum ersten Mal zu Gesicht bekam; im Gewühle einer hannoverschen Party endeckte ich einen Mann mit einem schmalen Gesicht und langen Haaren, der mit den Umstehenden intensiv diskutierte und in einer Sprache redete, deren Tonfall mir vertraut war. In einer Zeit, als die älter gewordenen Repräsentanten der Studentenbewegung sich bereits von ihren Bärten getrennt hatten, erschien er mir wie ein Fossil aus der bewegten Protestperiode, dem die Anpassung an den veränderten Zeitgeist mißglückt war. Wir begrüßten uns kurz, und als ich den Namen Erich Wulff hörte, war ich darüber so verblüfft, daß ich mich umwandte und leise fragte: das soll Erich Wulff sein?! Erwartet hatte ich einen glatt Rasierten im Maßanzug; einen, der Geradlinigkeit ausstrahlt und sich nicht etwas linkisch unter den Gästen bewegt.
Ich weiß, solche subjektiven Intimwahrnehmungen gehören eigentlich nicht in die Öffentlichkeit; aber ich bin sicher, Du wirst das mit schmunzelndem Verständnis aufnehmen. Denn tatsächlich begründete diese flüchtige Begegnung eine Beziehung, die ich als Freundschaft auf den ersten Blick bezeichnen möchte. Je näher ich Dich und Deine Familie kennenlernte, sah, wie liebevoll und geduldig Du mit Deinen Kindern umgehst; genußvolles Kochen, Essen und Trinken, gemeinsam mit Edith, überhaupt die völlig entspannte und gastfreundliche Atmosphäre des Hauses erlebte, desto nachdrücklicher entstand in mir das Bild von einem Menschen, der in seinem Erwachsenendasein Kindheitsträume aufbewahrt hat. Nimmt man den Sprachgebrauch politischer Zuordnungen: ein Anarchist unter den Marxisten, in seiner Lebensform näher Kropotkin als Marx.
Bei kaum einem Menschen, den ich näher kennenlernte, habe ich eine solche Spannung, ja einen Widerspruch zwischen der theoretischen Produktionsform des Intellektuellen und der alltäglichen Lebensweise gefunden. Daß Du auf Deine Weise diese Spannung auszutragen und diesen Widerspruch zu bewältigen verstehst, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß Du Dich jetzt mit ungebrochener geistiger und körperlicher Kraft auf den Weg ins Weisheitsalter begibst.
Erst wenn man einem Menschen wirklich nahe steht, ist man, glaube ich, imstande, eine von Verletzungen freie Distanz zu gewinnen, die eine persönliche Urteilsbildung erlaubt. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie sich der von mir gekennzeichnete Widerspruch in der Produktion niederschlägt, die ja für jeden von uns, der im akademischen Zusammenhang tätig ist, entscheidende Bedeutung für gesellschaftliche Anerkennung und für narzistische Kränkungen hat. Ich weiß, daß die Person nie in ihrer Produktion aufgeht. C.F. Meyer hat in »Huttens letzte Tage« für diese prekäre Situation das tröstende Wort formuliert »Ich bin kein ausgeklügeltes Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.« Die Art und Weise, wie sich dieser Widerspruch in den vielfältigen Lebensäußerungen durchhält, bestimmt weitgehend das Unwiederholbare, Einzigartige, meinetwegen: die Identität eines Menschen.
Als ich am Leitfaden meiner eigenen Erfahrungen, die ich in Beziehung zu Dir gemacht hatte, Deine Schriften noch einmal durchging, war ich aufs äußerste überrascht, das Problem von Nähe und Distanz in sehr vielen thematischen Zusammenhängen und auf unterschiedlichen Ebenen anzutreffen. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß es eine sehr subjektive, persönlich gefärbte Zugangsweise zu Deinem Denken ist und nicht der kritische Blick eines Analytikers, der Objektivität beansprucht. Ich meine damit auch nicht, daß Du Dir das Thema »Distanz und Nähe« vorgenommen hättest, um es in kunstvollen Variationen zu entfalten. Wenn Du mich aber fragen würdest, auf welchen konzentrischen Punkt man Dein Denken bringen könnte, so würde ich sofort antworten: auf das prekäre Verhältnis von Nähe und Distanz.
An einigen Beispielen möchte ich das erläutern. Zunächst ist auffällig, daß sich die Vorreden grundlegend von den systematischen Texten unterscheiden. In gewisser Hinsicht wird das immer der Fall sein, deshalb sind es ja Vor-Reden, Vor-Worte, also Versuche der Einstimmung des Lesers auf Begründungszusammenhänge, die sich von den Motiven des produzierenden Subjekts abstoßen. Diese Vorreden bezeichnen übrigens, wie ich meine, eine bestimmte Struktur Deines Denkens, eine charakteristische Schicht Deines subjektiven Ausdrucks. Sie stehen deshalb nicht immer am Anfang der Analyse, manchmal sind es Fußnoten oder einzelne Textpassagen. Was sie vor normalen Vor-Worten auszeichnet, ist, daß sie nicht nur die Textkonstellation erläutern, Umstände und Motive des Erkenntnisprozesses, sondern daß Du darin in einer Weise Deine Person öffnest, intime Konflikte und Neigungen öffentlich machst, wie es eher für einen auf Selbstausdruck bedachten Schriftsteller üblich ist als für einen Wissenschaftler.
Du drückst unbefangen Deinen Autoren-Narzismus aus: »Was gibt es Erregenderes, als die eigenen Belegexemplare auszupacken?« Beim Durchsehen Deiner Schubladen- und Aktenhefte war, wie Du 1981 schreibst, die Ausbeute der letzten zehn Jahre erheblich magerer ausgefallen als diejenige der Jahre 1965-71 — ein Bekenntnis, das nicht nötig gewesen wäre, denn der folgende Sammelband führt den Gegenbeweis. Daß ein Marxist sich als Bauhilfsarbeiter am eigenen Haus darstellt und mit der Eigenheimbastelei viel Zeit verbringt, die er eigentlich anders und besser nutzen sollte, ist zumindest ungewöhnlich. In den »Vietnamesischen Lehrjahren« begründest Du die Flucht aus Europa mit dem Versiegen Deiner wissenschaftlichen Produktivität, mit sexuellen Problemen und mit der Unfähigkeit, Bindungen einzugehen. Du schämst Dich auch nicht, den Neid auf dickere Bücher schreibende Kollegen einzugestehen (denen Du Gott sei Dank nicht nachgeeifert hast). Du brichst mit vielen Tabus, mit denen die Produktionsweise des Intellektuellen hierzulande umstellt ist. Du probierst Grenzerfahrungen auch im Verhältnis zu Deiner eigenen Person, und vielleicht macht Dir dieses Risiko manchmal auch Angst. Es scheint so, als habe mit diesen ungeschützten Intimitätsäußerungen die Subjektivität im Denkprozeß ihre Schuldigkeit getan. Sie wird minutenlang sehr weit geöffnet und kann so als Näheversprechen oder Herausforderung der Annäherung des anderen verstanden werden. Aber Du schiebst, sobald Du das Terrain des Wissenschaftler betreten hast, sofort einen Riegel vor.
Selbst die Sprache ändert sich, wenn Du als Psychiater zu reden beginnst. Das Tastende, Vorläufige, Unklare und vor allem das Gebrochen-Widersprüchliche löst sich durch weitgehend eindeutige, ja überdeutliche Zurechnungen und Abgrenzungen auf. Ich will genauer bezeichnen, was ich damit meine. Du schreibst: »Gesellschaftliche Umwälzungen, wie zum Beispiel die Automation von Produktions-, Bürooder Buchhaltungstätigkeiten können hier massive Funktions- und Rollenentzüge zur Folge haben (durch Arbeitsplatz- und Kompetenzverlust z.B.), und so zu krankhaften Dekompensationen von psychischen Strukturen führen, die vorher lediglich als Normvarianten von Charakteren in Erscheinung traten. Auch hier wird man das Verhältnis von psychischer Struktur und sie auffangender bzw. zur Dekompensation treibender Rollenerwartung als Ergänzungsreihe ansehen müssen, wobei das Ergebnis einmal mehr von dem einen, ein andermal mehr von dem anderen Pol beeinflußt wird.« Es ist nicht der Sachverhalt, der meine Kritik herausfordert; es ist sicherlich die Aufgabe des Arztes und des Psychiaters, die Härte und Gnadenlosigkeit der objektiven Verhälltnisse nicht aus dem Auge zu verlieren, das heißt: von den ungünstigsten Möglichkeiten auszugehen. Der Materialist in Dir beharrt mit Recht darauf, in erster Linie sichtbar zu machen, was das Leiden der Menschen verursacht: institutionelle Zwänge, Ökonomie, Klassenverhältnisse, die objektiven Herkunftsbedingungen. Aber das, was die Subjekte an Protest und Widerstand in diesem Gehäuse der Hörigkeit entwickeln, was das Utopische ihrer Wunschvorstellungen, ihre Interessen und Bedürfnisse ausmacht, ist, glaube ich, für die Konstitution, die innere Zusammensetzung der Wirklichkeit genauso wichtig wie das sogenannte Objektive. In allen Deinen sozialpsychiatrischen Analysen spüre ich Deine Neigung, das überschüssige Bewußtsein des Menschen, gleichsam den utopischen Lebensentwurf — nicht zu vergessen, aber als theorieunfähig zu betrachten. Was daran wert ist, aufbewahrt zu werden, wird auf die Veränderung der objektiven Verhältnisse vertagt, auf Klassenkampf und politischen Eingriff. Du findest Dich damit sicherlich in guter Gesellschaft; auch Marx hat auf die Logik des Kapitals ein Differenzierungsvermögen verwandt, das unvergleichlich viel größer ist als alles, was er über die lebendige Arbeitskraft und das Individuum gesagt hat. Den Vorwurf des Objektivismus, der gegen Marx erhoben wurde, teile ich nicht; das Kapital als alles beherrschende Macht der Gesellschaft lagerte sich gleichsam äußerlich auf die Subjekte. Das zu sehen, aber am Objektüberhang festzuhalten, war zu seiner Zeit ein wesentlicher Schritt zur Zerstörung der Selbstbefreiungsillusionen des Subjekts. Was er in den Feuerbach-Thesen formulierte, war in seiner polemischen Spitze gegen den Idealismus gerichtet, nicht gegen irgendeine Form des Subjektivismus. Ganz im Gegenteil: Indem er das Individuum als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse definierte, grenzte er diese Position gerade zum Materialismus ab, der nur leidende, passive Subjekte sehe und nicht seine spontane, aktive, produzierende Seite, die gerade der Idealismus entwickelt habe.
Lieber Erich, ich weiß, daß ich hier an einem Gedanken bohre, den ich nicht richtig auf den Begriff bringen kann; das hat auch mit dem Mangel an theoretischer und praktischer Fachkompetenz zu tun. Ich muß deshalb vorsichtig sein, um nicht auf Glatteis zu geraten. Laß uns einen Augenblick noch einmal auf unseren gemeinsamen Urvater zurückgehen. Als Marx das sehr mißverständliche Wort vom Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse niederschrieb, formulierte er etwa zur gleichen Zeit eine ganz andere Idee vom Individuum; er nannte es das »innere Gemeinwesen«. Es ist nicht anzunehmen, daß er es sich einfacher und widerspruchsloser vorgestellt hat als das äußere Gemeinwesen, aber mit ziemlicher Sicherheit kann man sagen, daß es über eine Ökonomie verfügt. Geht man von diesem Begriff des Individuums aus, so wird man jeden Tatbestand, den es außen gibt, auch im Innern wiederfinden, aber in der dem Subjekt eigentümlichen Form der Verarbeitung, der Verschiebung, der Unterdrückung usw. Die Produktionsweise, also die Form, in der das Außen zum Inneren wird, ist auch in diesem Zusammenhang entscheidender als der Tatbestand. Nun könnte man daraus noch entnehmen, und das wäre meines Erachtens guter Materialismus, daß frühkindliche Muster den Bedingungsrahmen entscheidend mit prägen, in dem Verarbeitungen der Realität stattfinden. Sicherlich, das bestreitest Du nicht, aber das Gewicht, das Du auf die Erwachsenenrealität legst, auf die Struktur der Persönlichkeit, wie sie sich als Ergebnis komplizierter psychodynamischer Prozesse darstellt, erscheint mir nicht ganz plausibel. Du sagst mit Recht, daß die Zwänge der kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesse die Struktur der Persönlichkeit auch direkt bestimmen können. Das gilt für bestimmte Krankheiten ebenso wie für Verdrängungen, Fragmentierungen des Bewußtseins und Verzerrungen der Kommunikationszusammenhänge. So ausgedrückt, wäre Dein Ansatz mit dem der psychoanalytischen Rekonstruktion des frühkindlichen Sozialisationsgeschehens durchaus vereinbar. Ich kenne zu wenig Deine therapeutische Arbeit; ist aber deren Erfolg nicht wesentlich davon abhängig, daß die Dialektik von Nähe und Distanz, in diesem Falle also: die Wiederherstellung der Nähebedürfnisse frühkindlicher Grundausstattungen der Person in der realitätsprüfenden Distanz des Erwachsenen-Ich durchgehalten und ausgetragen werden muß? Manchmal habe ich den Eindruck, daß Du die Patienten, über die Du schreibst, bewußt in Distanz zu Dir hältst, nicht in dem Sinne, daß Dir ihre Schicksale gleichgültig wären, im Gegenteil: Du opferst ihnen vielleicht mehr Zeit als viele Deiner Berufskollegen, aber weniger wohl in einer konkreten Subjektauseinandersetzung als auf der Ebene politisch-institutioneller Regelungen, die auf der Überwindung der gesellschaftlichen Ausgrenzungen gerichtet sind, denen psychisch Kranke unterworfen sind. Du bist politisch mit Deiner Person anwesend, nicht als heilender Arzt. Für Dich ist Krankheit wesentlich ein gesellschaftliches und politisches Problem, keines der individuellen Therapie; Du mißtraust der subjektiven Heilung, wenn dabei die objektiven Lebensbedingungen nicht auf Dauer verändert werden.
Das sind lose Eindrücke und Gedanken, bei denen Leseerfahrungen und der lebendige Umgang mit Dir gemischt sind. Wenn meine Überlegungen nicht ganz falsch sein sollten, dann könnte ich gut verstehen, daß Dir die deutsche Psychiatrie ein Greuel ist, während Du italienischen Projekten der gesellschaftlichen Integration der Kranken viel Sympathie entgegenbringst. Daß Du Dir dabei wenig Illusionen machst, hast Du häufig genug öffentlich ausgesprochen. Ich glaube, als Psychiater in Deutschland zu arbeiten, macht Dir keinen großen Spaß, und die selbstgewählte Distanz, die Du zu den betroffenen Subjekten aufgebaut hast, hat wohl auch den Grund, mit diesem Beruf erträglich leben und etwas Sinnvolles darin tun zu können.
Es ist sicherlich äußerst problematisch, von Schichten einer Persönlichkeit zu sprechen. Ich gehe dieses Risiko ein und möchte Dir sagen, daß mir, neben den zwei genannten, eine dritte Schicht Deiner Persönlichkeit entgegentritt, in der das Verhältnis von Nähe und Distanz geradezu umgedreht ist. Würde ich sie nicht gleichzeitig in Dir vermuten, müßte ich eher von biographischen Entwicklungsstadien sprechen. Ich kenne Dich in Deinem Alltagsverhalten aus früherer Zeit nicht, nehme aber an, es ist nicht viel anders gewesen als heute. In dieser dritten Schicht, die man vielleicht als Deine vietnamesischen Lehr- und Wanderjahre bezeichnen könnte, bist nicht nur Du als lebendige Person anwesend, sondern Deine Sprache vergegenwärtigt die handelnden, leidenden, hoffenden und getöteten Subjekte in einer für jedermann nachvollziehbaren Anschaulichkeit. Die Vietnam-Bücher gehören für mich zu den eindrucksvollsten literarischen Zeugnissen eines europäischen Intellektuellen, der sich vorbehaltlos auf kulturelle Fremdheit einläßt, ohne das Bewußtsein der Distanz, des unaufhebbaren Widerspruchs zwischen der eigenen Lebenswelt und der einer anderen Kultur zu verlieren. In doppelter Hinsicht entfaltest Du hier, was ich unter Dialektik von Nähe und Distanz verstehe. Du nimmst die Utopien und Wunschverdrehungen der Menschen, ihre ganze Innendimension mit äußerster Genauigkeit auf und suchst sie deutend zu verstehen, ohne die objektiven gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, denen die einzelnen unterworfen sind, aus dem Blick zu verlieren. Es sind in jedem Augenblick subjektiv-objektive Verhältnisse, weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin reduzierbar. Ohne Marx auch nur zu erwähnen, praktizierst Du einen Grundsatz der materialistischen Geschichtsauffassung, daß nämlich die Menschen ihre Geschichte selber machen — aber nicht unter selbst gewählten Bedingungen. Überhaupt zeichnen sich Deine Vietnam-Berichte dadurch aus, daß sie die Kategorien der materialistischen Geschichtsauffassung und der Kritik der politischen Ökonomie nicht als Programmpunkte enthalten, denen Tatsachen zugeordnet sind; im besten Sinne materialistisch sind diese Erfahrungsberichte dadurch, daß nichts an objektivem Material ausgebreitet wird, ohne daß die erkennenden und handelnden Subjekte zugegen wären.
Es ist kaum zufällig, daß diese im Erkenntnisobjekt begründete, im Prozeß der Untersuchung konkret entwickelte Balance zwischen Nähe und Distanz Dir die Kraft verschafft hat, einem Land die Treue zu halten, dessen objektive Entwicklung nach der Befreiung Deinen Erwartungen nicht entsprach. Wollte man von mir wissen, was politische Identität eines europäischen Intellektuellen im Verhältnis zu einem Land mit ganz anderen Traditionen und einer anderen Kultur bedeutet, so würde mir nichts besseres einfallen, als Dich zum Beispiel zu nehmen, Dein Verhalten zu Vietnam in einem mehr als ein Vierteljahrhundert umfassenden Zeitraum. Ich drücke mich etwas zu pathetisch aus; aber in einer Zeit, in der politische Überzeugungen ausgewechselt werden wie abgetragene Schuhe, ist es schon von öffentlichem Interesse, wie jemand einer Sache treu bleibt, gegen die sich Einwände der Realität anhäufen.
Erlaube mir in diesem Zusammenhang einen kurzen Hinweis auf das, woran ich selber arbeite. Ich habe ein Buch über China abgeschlossen, in dem ich mich auch mit dem Mechanismus der Fremdidentifikation auseinandersetze, der die Politik großer Teile der Linken der vergangenen 20 Jahre so oft bestimmte. Sie lebte wesentlich von der geborgten Realität der sozialen Revolutionen der Dritten Welt. Als die Wirklichkeit die utopischen Hoffnungen nicht einholte und erfüllte, wandte man sich von diesen Ländern und Bewegungen schnell ab. Was politische Identität im Umgang mit fremden Kulturen bedeuten kann, die der Solidarität nicht nur bedürfen, wenn es um den Befreiungskampf geht, sondern vor allem auch, wenn der prosaische und komplizierte Weg aus dem Zustand der Unterentwicklung beschritten wird, habe ich vor allem von Dir gelernt. Ich möchte deshalb wörtlich die Passage wiedergeben, die sich auf Vietnam bezieht und die Deinen Anteil an meinen Überlegungen betrifft.
»Was mit kritikloser Identifikation begonnen hatte, endete mit moralischer Distanzierung. Die auf moralischen Idealismus gegründete Solidarität, die den anderen aber nicht wirklich meint und ihn in seiner Fremdheit anerkennt, sondern am aktuellen eigenen Interesse kleben bleibt, hat die Tendenz, an den kleinsten Enttäuschungserfahrungen zu zerbrechen. Was mit dem Befreiungssymbol Vietnam geschehen ist, hat sich unter je spezifischen Bedingungen der in den einzelnen Ländern ablaufenden revolutionären Prozesse mehrfach wiederholt. Einschränkend muß ich hervorheben, daß Enttäuschungen dieser Art nicht zwangsläufig ein Konvertiten-Verhalten zur Folge haben müssen, das sich darin zeigt, daß positive Wertbesetzungen einer Sache einfach ins Negative gekehrt werden. In mancher Hinsicht ist auch der Vietnam-Bericht Erich Wulffs, den er nach einer Reise in das befreite Vietnam geschrieben hat, ein Buch der Enttäuschungen. Er, der als Arzt und Hochschullehrer Vietnam bereits in der Zeit von 1961-67 kennengelernt und den beginnenden Befreiungskampf aus nächster Nähe erlebt hatte, beginnt seinen zweiten Reisebericht mit einer »Gebrauchsanweissung für verschreckte Leser«, die zunächst seine eigenen Gefühle klarstellt: »Dies Buch ist eine Liebeserklärung: an das Vietnam der Befreiung, an das befreite Vietnam.  Eine etwas ungewöhnlich Liebeserklärung, gewiß. Ich mache sie, indem ich alles, was ich dabei empfand, hier sage, nichts verleugne, nichts zu beschönigen suche. Die rosa-roten Schleier der Verliebtheit mußten dazu fallen, wie stets, wenn Verliebtheit in ein engeres Zusammenleben münden soll. Das war schmerzlich, führte mich in eine Krise. Übrig geblieben ist eine unerschütterliche Zuneigung, die nun auch Schwächen und Gefahren sehen kann, ohne daran zu zerbrechen. So ist es wenigstens bei mir. Ich hoffe aber, das beruht auf Gegenseitigkeit.« Beide Bücher Erich Wullfs, die er unter dem Pseudonym Alsheimer veröffentlicht hat, das genannte und die 1968 erschienen Vietnamesischen Lehrjahre dokumentieren beispielhaft ein Verhalten, das Kontinuität in der Einstellung zu einer fremden Kultur nicht über sentimentale Zuneigung, sondern über die Aufrichtigkeit solidarischer Kritik gewinnt.« Soweit das, was Du später auch im Kontext des Buches lesen kannst.
Politische Identität bildet sich im Medium von Solidarität und Kritik. Daß Du sie in Deinem Verhältnis zu Vietnam bewahren konntest, obwohl es Gründe genug gibt, die subjektiven Enttäuschungen in distanzierte Gleichgültigkeit umzuwandeln, ist, glaube ich, keine Frage des Charakters, sondern eine der Erkenntnis, vor allem der Dir selbst erteilten Erlaubnis, Dich frei im Binnenraum des Subjekts zu bewegen. Dein methodischer Lehrmeister Merleau-Ponty mag Dir den Weg gewiesen haben, wie stark Sinnlichkeit und Verstand, Hören, Sehen, körperliche Bewegung, Wahrnehmen, Tasten gerade im Begreifen von Gegenständen zusammengehören, die sich einem als fremde entgegenstellen, also Objekte im buchstäblichen Sinne sind. Es ist offenbar ein entscheidendes Motiv in Deiner Denk- und Lebensweise, die Schwerkraft des Alltags und des Gewohnten zu durchbrechen. Du sprichst vom Reiz, den das ganz Andere des Gewohnten annimmt, als sei es die eigentliche Wirklichkeit. Dieser Reiz des ganz Anderen, das Operieren an den Grenzen, hat Dich nicht dazu verführt, sentimentale Fluchtwege zu suchen, die das Umgehen der erratischen Blöcke der Wirklichkeit ermöglichen. In der Balancearbeit, die sich auf Distanz und Nähe richtet, gibt
es viele Bruchstellen, und manche sind für Dein Leben auch bedrohlich. Der Selbstüberforderung Widerstand entgegenzusetzen, um Dir Deiner selbst bewußt zu werden, wäre die Rückkehr von den Grenzwanderungen, dem Wahnsinn und der kulturellen Fremdheit, ins Zentrum.
Ich wünsche Dir noch viele Jahre der erfolgreichen, d.h. pfleglichen Beackerung Deines eigenen Bodens.   
Dein Oskar

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