Die psychiatrische Vernachlässigung*

  • * Dieser Aufsatz wurde zuerst in der italienischen Zeitschrift RINASCITA Nr. 20 vom 24. Mai 1986 mit dem Titel »L'abbandono psichiatrico«, S. 40-42 veröffentlicht. Er erscheint hier ungekürzt erstmals in deutscher Übersetzung.
    (Übersetzung von Hans Pfefferer-Wolf und Rosa Maria Piatti)

Die Krise der psychiatrischen Reform und die schweren Folgen ihrer mangelhaften Umsetzung — vor allem die Vernachlässigung der Kranken — verlangen eine Analyse der bedeutendsten Elemente der Reform, um die Schwierigkeiten ihrer Realisierung zu erfassen. Sieben Jahre nach ihrer Verabschiedung genügt es nicht, die mangelhafte Anwendung der Reformgesetze nur dem Unwillen der Regierungsmehrheit zuzuschreiben, diese Reform zu finanzieren, zu unterstützen und ihre Entwicklung zu verfolgen. Daß es an diesem Willen gefehlt hat, steht außer Frage und ist im übrigen durch die Tatsache bestätigt, daß die vor ihrer Verabschiedung bereits bestehenden Erfahrungen weder erforscht noch in ihrem weiteren Verlauf verfolgt bzw. unterstützt wurden. Gerade diese praktischen Erfahrungen hätten zu dem Zeitpunkt ihrer Verallgemeinerung auf nationaler Ebene im Zuge der Reform kostbare Informationen liefern können. Doch kommen andere Faktoren hinzu, die die Untätigkeit der Regierung begünstigt und bestätigt haben.
Es ist also nicht unangebracht, nochmals einige bedeutende Elemente herauszustellen, die in den alltäglichen Auseinandersetzungen dieser Jahre um Detailfragen — um so wenigstens einige minimale Aspekte der Reform durchsetzen zu können — verflacht sind, wodurch die wissenschaftliche und soziale Bedeutung der Reform begrenzt wurde.
Ein erstes Element war die Konzentration auf die praktische Umgestaltung der Irrenanstalt als eines Ortes, an dem die Bedürfnisse der Internierten — bisher unterdrückt und verdeckt durch die Kultur der Unverständlichkeit dieser Krankheit und der Unheilbarkeit des Kranken —. sichtbar werden müssen, eines Ortes, an dem eine neue Art und Weise des Umgangs mit der psychischen Störung entsteht, die sich unmittelbar aus dem Leiden und der Gesamtheit seiner Bestandteile entwickelt. Es handelte sich deshalb um einen Kampf gegen die Institution des Irrenhauses und ihre unbegründete Gewalt (violenza gratuita), aber auch gegen die wissenschaftliche Ideologie, die sich aus Hypothesen und Deutungsversuchen unter den Bedingungen der geschlossenen Anstalt entwickelt und in das Dogma von der Unverständlichkeit der Krankheit und damit der »Verschiedenheit« (diversità) verwandelt hatte. Durch diese doppelte Kritik der Institution und der Wissenschaft hat sich die italienische Bewegung im Bereich der Psychiatrie im Laufe der Jahre entwickelt. Sie war getragen von der Überzeugung, daß nur die Veränderungen der Praxis der Irrenanstalt, in deren Schoß sich die alte psychiatrische Nosographie entwickelt hatte, die Erkenntnis und das Verständnis der psychiatrischen Störungen erneuern kann.
Ein zweiter Aspekt ist in dem Nachweis zu sehen, daß die Irrenanstalt nicht nur die »Verrücktheit« (pazzia), sondern auch die Armut und das Elend umfaßte, da Armut und Elend in ihrer Schwäche, der Härte und dem Leiden zu widerstehen, sich in der Verrücktheit ausdrücken können. So wurde der Klassencharakter der Irrenanstalt offenkundig: die darin praktizierte Psychiatrie diente sehr oft dazu, soziale Probleme durch ein fachspezifisches Eingreifen (intervento specialistico) zu verschleiern und damit als solche auszulöschen. Es handelte sich darum, nicht nur eine überwundene und anachronistische Behandlungstechnik und Institution, sondern die Funktion der traditionellen Psychiatrie und der Irrenanstalt als Sammelbecken für die ausgegrenzten Gruppen, wobei die Krankheit oft nur eine Nebenrolle spielt, in Frage zu stellen. Durch die Aufdeckung dieser Beziehung zwischen der in unserer Kultur herrschenden Rationalität (der Produktionsrationalität) und dem materiellen und psychologischen Elend, das die Internierten der Irrenanstalt kennzeichnet, wurde ein wissenschaftliches und politisches Vorgehen möglich, das nicht nur die Rückständigkeit der Institution, sondern auch ihre durch das Alibi des Schutzes, der Fürsorge und der Pflege verhüllte diskriminierende Funktion im gesellschaftlichen Leben offenkundig machte. Das Bewußtsein dieser Verbindung zwischen einer Rationalität, die alles, was ihr nicht entspricht, ausgrenzt und ausschließt, und dem abgesonderten Elend führte zum Kern des Problems. So konnte es vermieden werden, einfach Zuflucht bei neuen Behandlungstechniken zu suchen, die auch in einer theoretischen und institutionellen Erneuerungsphase weiterhin die Rolle und die Funktion des Kranken, der Krankheit, der Psychiatrie und der Institution als Anlässe für soziale Diskriminierung aufrechterhalten hätten.

Die Themen der Ausgrenzung

Die Besonderheit der italienischen Situation besteht also darin, daß dieser versteckte Kern des Problems als politische Praxis begriffen und angegriffen wurde. In diesem Zusammenhang entwickelte sich die Verbindung zwischen Fachleuten und Politikern, die zu dem Reformgesetz führte.
Von seinen Anfängen in der Zeit der ersten Erfahrung in Gorizia hatte sich diese Verbindung nach jahrelangen Angriffen, Anzeigen, Auseinandersetzungen sowohl mit den Politikern als auch im sozialen Bereich und in der öffentlichen Meinung zwischen 1967 und 1972 verstärkt, als das Land von den Kämpfen der Studentenbewegung und der Gewerkschaften geprägt wurde, in denen neben den klassischen Themen der Ausbeutung die Probleme der Gesundheit innerhalb und außerhalb der Fabrik zur Sprache kamen. Dieses sehr kluge politische Vorgehen — die Verbindung gewöhnlich getrennter gesellschaftlicher Bereiche — führte zu der Einsicht in die Notwendigkeit, zwei verschiedenen Risiken aus dem Wege zu gehen: auf der einen Seite der Gefahr der schlichten Absorption der Bewegung durch die Logik der institutionellen Politik, die den spezifischen Charakter der verschiedenen Widersprüche (soziale, wissenschaftliche und institutionelle) beseitigt hätte, auf der anderen Seite der Gefahr eines isolierten Kampfes von aufgeklärten Fachleuten, die in ihrem Versuch, das Problem der psychischen Krankheit und ihrer veralteten Institutionen in anderer Weise anzugehen, nur eine neue Behandlungstechnik an Stelle der alten hätten vorschlagen können — ohne die Funktion der Irrenanstalt und damit die Logik der Ausgrenzung anzutasten. Dies eröffnete, verbunden mit der Anerkennung der politischen Legitimität der aus dem psychiatrischen Bereich entstandenen Bewegung, auch die Möglichkeit, den Diskurs der Ausgrenzung in Irrenhäusern auszuweiten auf die verschiedenen Formen der sozialen Ausgrenzung, damit von der Kritik der psychiatrischen Ideologie fortzuschreiten zu der Kritik der »Ideologie«, die sich in jedem Bereich verschiedener fachspezifischer Klassifizierungen bedient, um die zugrundeliegenden sozialen Konflikte zu kaschieren.
Die Reform, die man nun gerne als jakobinisch bezeichnet, ist also möglich gewesen, weil der Kampf der Fachleute, die ihre eigene Gewaltfunktion und die herkömmlichen Bezugsschemata in Frage gestellt hatten, alle politischen Kräfte zwang, sich an den vielfältigen praktischen Erfahrungen dieser Bewegung seit Anfang der 60er Jahre zu messen, Erfahrungen, die durch die radikale Veränderung der institutionellen Realität den ideologischen Charakter der Psychiatrie aufzeigen konnten. Der Bruch mit der Logik der Irrenanstalt und die allmähliche Rehabilitation der Internierten hatten sich nämlich nicht nur auf die Denunzierung der Rückständigkeit der Institution beschränkt. Sie hatten darüber hinaus die Zweideutigkeit einer wissenschaftlichen Anschauung enthüllt, die die Notwendigkeit der Ausgrenzung und ihre eigene Verwendung zur Verschleierung von sozialen Problemen, deren Inangriffnahme dagegen den Umfang der Krankheit eingeschränkt hätte, zum Inhalt hatte. Das neue Gesetz über die psychiatrische Betreuung wurde durch die Einbeziehung der Allgemeinheit bei der Diskussion dieser Themen und die sozialen Spannungen der 70er Jahre herbeigeführt. Es kann damit als Ergebnis einer kulturellen und politischen Auseinandersetzung angesehen werden, die die Kraft hatte, das ganze Land einzubeziehen und nicht einfach als schludriges und stümperhaftes Resultat des bedrohten Referendums der Radikalen Partei.
Wenn also die Reform die Endstation eines fast 20jährigen Kampfes war, so mußte sie zum Ausgangspunkt für die Realisierung dessen, was sich in den bisherigen Erfahrungen bereits als möglich erwiesen hatte, auf nationaler Ebene werden: für einen kulturellen Wandel der Anschauungen und Einstellungen gegenüber jeder Form sozialer Ausgrenzung.
Die durch das Gesetz Nr. 180 eröffnete Auseinandersetzung ist daher grundsätzlicher und radikaler als die einfache Überwindung der Rückständigkeit und der kulturellen und institutionellen Rohheit einer medizinischen Disziplin. In Frage gestellt wurde nicht nur die Praxis der Ausgrenzung, sondern jene der Ausbildung verschiedener Techniken zu einem Kontrollinstrument gesellschaftlicher Randgruppen. Dies ist jedoch mit dem politischen Willen verbunden, nicht nur den psychiatrischen Bereich zu reformieren, sondern gegen die Ungleichheit und die fortgesetzte Produktion von Randständigkeit anzugehen.
Dies ist der Kern der Sache, über den nun debattiert werden muß: auf der einen Seite die Radikalität der Reform, auf der anderen Seite die Veränderung der politischen Situation am Beginn der 80er Jahre, die deren Realisierung verhindert hat.

Die Rolle des Konflikts

Die Radikalität der Reform hatte Aussichten auf eine mögliche Durchsetzung in den Jahren, in denen eine größere soziale und kulturelle Aufgeschlossenheit in Bezug auf gesellschaftliche Widersprüche, verstanden als Element gesellschaftlicher Reife und sozialer Gerechtigkeit, vorhanden war. Die Erfahrungen, die die Reform inspirierten, verlangten in der Tat nicht nur den Wechsel in den sozialen Diensten, sondern auch eine Veränderung der sozialen Beziehungen durch Dienste als Versammlungsorte, Treffpunkte, die in dieser Form sonst nicht existierten. Sie verlangten weiter nicht nur eine Aktualisierung der Theorien und der Methoden der Behandlung und Rehabilitation, sondern die Infragestellung der wissenschaftlichen Modelle, die unter dem Vorwand einer formalen Neutralität immer zur Absicherung und Bestätigung sozialer Ungleichheit gedient haben. Es wurde daher davon ausgegangen, daß sich neue Erkenntnisformen aus dem Bewußtsein der Ungleichheit der Bedürfnisse entwickeln und sich mit dieser auseinandersetzen müssen. In dieser Perspektive war die bloße Einrichtung der ambulanten Dienste eine notwendige, jedoch nicht ausreichende Bedingung für den kulturellen Wandel, den die Reform bezweckte So würde in Strukturen mit wenig Raum für den Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche, sofern diese nur als negatives Element begriffen werden, nicht viel Spielraum für ihre Benutzer übrig bleiben, um sich mit ihnen zu identifizieren, um sie als ihren Interessen dienliche anzuerkennen und um sie zu benutzen, ohne sich neuen Formen der Abhängigkeit und der Enteignung zu unterwerfen. Auch wenn wir ein ganzes Netzwerk von Gesundheits- und Fürsorgediensten organisieren könnten, so würde dies nicht der Verbesserung des Gesundheitsstandes der Bevölkerung entsprechen.
Dies bedeutet: wenn die Dienste die alte Funktionslogik, die vorwiegend auf eine »zu heilende Krankheit« und die Annullierung der subjektiven und objektiven Bedürfnisse des Benutzers ausgerichtet ist, weiterhin aufrechterhalten, so können sie nur weiterhin Chronifizierung und Abhängigkeit produzieren und zur Verminderung von Selbständigkeit und Verantwortung, also zur Verminderung der Gesundheit beitragen. In diesen Jahren wird immer klarer, daß die Hervorhebung eines einzelnen Elements aus den verschiedenen Komponenten des in Frage stehenden Phänomens, d.h. der einseitig ausgerichtete technische Eingriff, als eine erste Quelle der Chronifizierung oder der fremdbestimmten Auseinandersetzung mit der Krankheit anzusehen ist. Als wirksamste Vorbeugemaßnehmen haben sich dagegen diejenigen erwiesen, die die Gesamtheit der wirksamen Elemente in Betracht ziehen und somit das Symptom, anstatt es zu betonen und zu verschärfen, zum Abklingen bringen und begreiflicher machen.

Die zwei Möglichkeiten der Therapeuten

Doch die uns zur Verfügung stehenden kulturellen Schemata dienen nur noch dazu, diese Gesamtheit der Bedürfnisse aufzuspalten. Außer dem medizinischen, organ-zentrierten Ausbildungsmodell, dessen Folgen uns noch immer belasten, steht uns bisher nur ein einziges Modell zur Verfügung, nämlich dasjenige der persönlichen Beziehung (rapporto privato), meistens auf psychoanalytischer, fast immer dualer Basis, die kaum eine Antwort auf die umfassenden Erfordernisse und Probleme, die sich einer öffentlichen Einrichtung stellen, zu geben vermag. Diese Art von Ausbildung kann nur einen Berufstypus hervorbringen, der die Notwendigkeit zur Selektion, nämlich Patienten auszuwählen und andere auszuschließen, theoretisiert. Dies kann sich eine öffentliche Einrichtung nicht erlauben. Außerdem sollten an den Basisdienst Probleme herangetragen werden, in denen die einzelnen biologischen, psychologischen und sozialen Elemente noch undifferenziert sind. Diese umfassende Inanspruchnahme des Dienstes verlangt nach der korrektesten und angemessensten Antwort. Die Psychotherapeuten, die mit dieser Realität konfrontiert sind, haben zwei Möglichkeiten: entweder »wälzen« sie die schwierigsten Fälle »ab«, diejenigen, die dem psychotherapeutischen Setting am wenigsten entsprechen (aber dann ist es unvermeidlich, daß erneut das Bedürfnis nach einer Internierung auftaucht, wie es in der Tat sehr oft geschieht, d.h. das Bedürfnis, anderen (den Fachleuten und den Institutionen) die Probleme, die über den eigenen kulturellen Bezugsrahmen hinausgehen, zu übertragen); oder sie geraten, wenn sie bereit sind, die Komplexität der Probleme auf sich zu nehmen — wie es ebenso oft geschieht — in Widerspruch zu ihrem eigenen Ausbildungssystem, das in der Auseinandersetzung mit einer Realität, die komplexer und reicher ist, als die von ihrem eigenen Bezugsschema ins Auge gefaßte, gesprengt wird.
Wir bewegen uns hier auf einem Gelände, wo uns die Kultur, mit der wir gegen unseren Willen durchdrungen sind, nicht viel nützt. Eine neue Kultur kann aber nur entstehen, indem die öffentlichen Einrichtungen die Gesamtheit aller Probleme übernehmen, d.h. Wohnungsprobleme, Schwierigkeiten familiären Zusammenlebens, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Einsamkeit, Alter, Mangel an Perspektiven und Lebenssinn, fehlende Gelegenheiten und Räume, um das eigene Leiden zum Ausdruck zu bringen, die sich alle in der Form der Krankheit und der Abweichung darstellen und durch deren Eindämmung Krankheit und Abweichung sich anders ausdrücken können.
Dies waren die wesentlichen Elemente des Vorschlags, der von der psychiatrischen Reform und von den vor ihrem Inkrafttreten schon bestehenden Erfahrungen gemacht wurde. Doch die allmähliche Schrumpfung der sozialen und kulturellen Räume, die im Klima der 70er Jahre entstanden waren, und die nachfolgende Tendenz zur Rationalisierung und zur Umdeutung der damals aufgetauchten Probleme — sie wurden als »demagogisch« und »wenig wissenschaftlich« bezeichnet — haben zu einer restriktiven Auslegung des Reformgesetzes geführt, die eines seiner Bestandselemente besonders hervorheben will: die Überwindung der Rückständigkeit der Irrenanstalt durch die schlichte nominelle Integration der Psychiatrie in die Medizin. Dabei wird alles, was darüber hinausgehend die Funktionen sozialer Diskriminierung in diesem Zusammenhang zur Diskussion stellt, als Einbildung und Anmaßung denunziert.
Bei denselben Kräften in der Regierung, die sie zunächst gewollt hatten, entwickelte sich so die Abneigung gegen eine Reform, die gerade wegen ihrer äußerst radikalen Aspekte sich selbst überlassen wurde. Diese Abneigung wuchs in dem Maße, in dem Arbeitsmöglichkeiten und -mittel zu ihrer Umsetzung fehlten und so eine Fülle von Problemen vor allem im Hinblick auf die Zustimmung der Bevölkerung hervorgerufen wurden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auf Regierungsebene eine abwartende Haltung eingenommen wurde, um so die Voraussetzungen für eine Abänderung (»Novellierung«) des Reformgesetzes zu schaffen. Das Fehlen eines nationalen Gesundheitsplanes und der erforderlichen Richtlinien zur Ausrichtung und Koordinierung der Reform von seiten des Gesundheitsministeriums, der Einstellungsstop, das Fehlen von spezifischen Finanzierungen bzw. von zwingenden Verpflichtungen zur Errichtung von alternativen Strukturen zur Internierung gleichzeitig mit dem Aufnahmestop in den Anstalten, die Untätigkeit der zuständigen Zentral- und Lokalbehörden, die Widerstände eines großen Teils des Betreuungspersonals gegen eine radikale Veränderung ihrer Arbeitsweise, die Schwierigkeiten im Zuge der Einleitung der Gesundheitsreform, bei der die Psychiatrie die Rolle des fünften Rades am Wagen spielte (bereits wenige Monate nach der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 180), die Einengung des Spielraums der Reform, bedingt zunächst durch den Terrorismus, später durch die Verschärfung der Wirtschaftskrise: all das hat zu einem uneinheitlichen Ergebnis geführt, wobei alles dem guten oder schlechten Willen des Betreuungs- und Verwaltungspersonals überlassen wurde. Unter diesen Bedingungen kann schon das als viel betrachtet werden, was dort zustande gebracht wurde, wo man im Geiste der Reform zu arbeiten versucht, während sie anderswo ungestraft umgangen werden konnte und die Kranken in den alten Irrenanstalten oder auf dem Rücken ihrer Angehörigen im Stich gelassen wurden.
Man muß allerdings zugestehen, daß auch von seiten der Verwaltung und des Betreuungspersonals im Bereich der Linken die Bedeutung dieser Reform oft überhaupt nicht erfaßt und damit verkannt wurde, was auf dem Spiel steht. Ebenso wie die Universität und ihre Fachausbildung haben sie im Laufe dieser Jahre keinen Zugang gefunden zu dem kulturellen und sozialen Umwandlungsprozeß, den die Reform voranbringen wollte. Dies bedeutet, daß außer den zentralen politischen Kräften die Verantwortung für die fehlende Durchführung der Reform auch der Verwaltung und dem Betreuungspersonal auf lokaler Ebene
ebenso wie dem Ausbildungssektor zuzusprechen ist. In allen diesen Bereichen bewegte man sich weiter in einem kulturellen Horizont, der die in dem Reformgesetz enthaltene wissenschaftliche Infragestellung nie ernsthaft in Betracht gezogen hat. Die Trägheit der Behörden und eines großen Teils des Betreuungspersonals auf der einen Seite sowie die korporative Verteidigung der Universität und der Unantastbarkeit der herkömmlichen wissenschaftlichen Grundsätze auf der anderen haben somit die Untätigkeit der Regierung zugelassen und bestätigt, deren ganzes Interesse darauf ausgerichtet war, die besten Voraussetzungen zu schaffen, um das Reformgesetz erneut zur Diskussion zu stellen und zurückzuschrauben.

Wie man über Abänderungen diskutiert

Aufgrund dieses Mangels an praktischen Reformschritten wurde bereits ein Jahr nach der Verabschiedung des Gesetzes die Meinung vertreten, daß das Gesetz »verfehlt« sei — derselbe Mangel, der sich trotz der ständigen Beschwerden über die unhaltbare Lage über sieben Jahre hingezogen hat, führte jetzt zur Diskussion über die »Abänderung« (modifica) des Reformgesetzes.
Man kann dazu sagen, daß auch andere Reformen der 70er Jahre aus den gleichen Gründen das gleiche Schicksal gehabt haben. Doch die schändliche Vernachlässigung (abbandono vergognoso) von Seiten der zuständigen Behörden und eines großen Teils der Verwaltung und des Betreuungspersonals sowie deren Weigerung, im Zuge der Reform eine neue berufliche und soziale Verantwortung auf sich zu nehmen, führten in diesem Bereich zu oft unerträglichen Belastungen für die Familien der Kranken — Belastungen, die das Gesetz Nr. 180 nicht vorsah und nicht implizierte. Die öffentliche Meinung wurde so gegen eine Reform mobilisiert, die in unverantwortlicher Weise nur negativ durchgeführt worden war: in der Form des Aufnahmestops in den alten Irrenanstalten. Aus all dem geht klar hervor, daß die Widerstände gegen den vom Gesetz Nr. 180 geförderten kulturellen Wandel aus einer Gesamtheit von Faktoren hervorgehen, die mit den Problemen der psychischen Krankheit wenig zu tun haben. Sie reichen von der vorherrschenden Sicherung körperschaftlicher und privater Interessen bis zur Trägheit und Unfähigkeit »etwas zu tun«; vom Wiederaufleben der nur schwer aussterbenden automatischen Verbindung zwischen Krankheit und öffentlicher Ordnung bis zu der Weigerung, auf der Straße nicht nur die Krankheit, sondern auch das Elend, das in unseren Fürsorgeeinrichtungen versteckt war, wiederzufinden sowie der Notwendigkeit, sich damit direkt auseinanderzusetzen; von der Schwierigkeit, die Kultur der Delegierung an Fachleute und Einrichtungen durch eine Kultur der Toleranz und der Solidarität, also durch die eigene Beteiligung wie die Einbeziehung der Gemeinschaft zu ersetzen. Darüber hinaus muß aber noch ein weiteres, für die negative Reaktion auf die Reform maßgebendes Element hervorgehoben werden: die Einrichtung von Diensten, die mehr sozial-gesundheitlichen als medizinisch-ärztlichen [1] Charakter haben, stieß auf eine medizinische und ärztliche Kultur, die weiterhin die Schwierigkeit hat — nicht nur in der Psychiatrie — ihre medizinisch-ärztliche und institutionelle Orientierung zu überwinden.
Vor dem Gesetz Nr. 180 und der Gesundheitsreform herrschte eine kulturelle Tradition, in der jedes abnorme Phänomen, dem mit den eigenen Kräften nicht beizukommen war (de facto jede Form einer sozialen Konfliktlage) in besonderen abgeschiedenen Einrichtungen zusammengefaßt und zum Schweigen gebracht wurde, definiert und kontrolliert von verschiedenen dafür vorgesehenen wissenschaftlichen Fachgebieten. Die Irrenanstalt, die Altersheime, die Kinderheime waren die Orte, wo diese Konflikte unter der Bedingung einer totalen Verdinglichung durch die systematische Annullierung der Bedürfnisse der Internierten unterdrückt wurden. Die Philosophie der Dezentralisierung der Befugnisse und der Funktionen, die den wichtigsten Reformen der 70er Jahre zugrunde lag, entstand dagegen aus dem Anspruch, die Dimensionen der Verwaltung und der Organisation weitestgehend an den Bedürfnissen der Bevölkerung auszurichten, damit diese sich als solche ausdrücken können, bevor sie von den verschiedenen wissenschaftlichen und institutionellen Branchen je nach Zuständigkeitsbereich zersplittert werden. Dies in dem Sinne, daß die Logik [2] der Institutionen und der wissenschaftlichen Ideologien nicht mehr den umfassenden Charakter des Bedürfnisses dominieren durfte.
Die Botschaft, die sich aus den zu der Reform führenden Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre ableitet, kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: das Schicksal der Menschen wird durch das bedingt, was aus den biologischen und psychologischen Elementen in sozialer und kultureller Hinsicht gemacht wird. Man muß also auf das kulturelle Vorurteil und auf die soziale Ungleichheit einwirken, bevor man die verschiedenen Techniken zu Rate zieht. Die Erkenntnis des Gewichtes solcher Konditionierungen auch im Hinblick auf die Natur hatte damals jeden Prozeß der Verdinglichung und Ausgrenzung des Menschen, der auf eine »natürliche Verschiedenheit« anspielte, in Frage gestellt. Die neuen Subjekte, die damals auftauchten (die Frauen, die Jugendlichen, die Alten, die psychisch Kranken, die Behinderten, die Homosexuellen, die Gefangenen) dokumentieren die Ablehnung dieser Verdinglichung und dieser Ausgrenzung. Sie haben sich als Quellen einer sozialen Konfliktlage erwiesen, die als solche angenommen und gelebt werden mußte. Das neue Familienrecht, die Ehescheidung, die neuen Gesetze über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf eine selbstbestimmte Mutterschaft, die Gesetze gegen die Jugendarbeitslosigkeit und für die Eingliederung der Behinderten, die Reform der Psychiatrie und des Gesundheitswesens, die Gefängnisreform sind — auch wenn sie nur teilweise oder gar nicht umgesetzt wurden — das Produkt dieses Konflikts, der aus einer unannehmbaren Ungleichheit entstand. Ein Konflikt, der alte kulturelle Gewißheiten in Frage stellte, die nur solange bestehen konnten, als die wissenschaftliche Gewißheit selbst sich auf die totale Verdinglichung des anderen, d.h. auf die Enteignung und die Annullierung seiner subjektiven Bedürfnisse gründete. Vor allem verlangte dieser Konflikt die Schaffung neuer Formen sozialen Zusammenlebens, die alle Subjekte, die vorher als solche nicht existierten und die die Gemeinschaft bilden, berücksichtigen.
Es ist sicherlich schwer, zusammen mit einer neuen Frau, mit einem Jugendlichen, mit einem Behinderten, mit einem psychisch Kranken, mit einem alten Menschen oder einem Drogenabhängigen zu leben. Die Anwesenheit dieser neuen Subjekte und dieser neuen Anforderungen, die berücksichtigt werden müssen, wirkt wie eine Gewalt, die uns auferlegt wird und die wir uns selbst auferlegen müssen, da die Lösung nicht mehr darin bestehen kann, die Probleme in alte Rollen und in alte abgesonderte Orte zurückzuverweisen — noch darin, sie total an die Fachleute und die Institutionen zu überantworten. Es gibt nicht eine »Lösung«, die beide in Frage stehenden Pole berücksichtigt. Die Lösung besteht darin, den Konflikt, d.h. die Probleme anzunehmen und zu versuchen, Formen der Unterstützung und Hilfestellung zu entwickeln, in denen Fachleute und therapeutische Strukturen, begleitet von allen Formen sozialer Solidarität, in den verschiedenen Umständen bereit und verfügbar sind. Jede Lösung, die den Konflikt zum Schweigen bringt, wird endgültig, indem sie wesentlich die Antwort auf das Bedürfnis desjenigen ist, der die entsprechende Last tragen muß (die Verwandten der psychisch Kranken, der Drogenabhängigen, der Alten, der Behinderten). Doch für denjenigen, der den Konflikt in eigener Person durch Krankheit, Abweichung oder Alter darstellt, handelt es sich immer um eine »Endlösung«. Die totalen Institutionen haben den Tod derjenigen, die darin eingeschlossen waren, überlebt; deswegen haben die verschiedenen wissenschaftlichen und institutionellen Disziplinen einen einzigen Verfechter der Menschlichkeit hervorgebracht, der immer das gleiche Gesicht hatte: in der Irrenanstalt, in den Gefängnissen, in den Besserungsanstalten, in den Altersheimen, in den Kinderheimen, in den Konzentrationslagern. In dieser Sicht der Annahme oder Zurückweisung des Konflikts und des Willens, in Richtung auf eine größere soziale Gerechtigkeit voranzuschreiten, muß die gegenwärtige Lage betrachtet werden.

Eine neue Kultur

Die letzten Regierungsmaßnahmen im Gesundheits- und Sozialbereich sind eine regressive Antwort auf diese Probleme und auf die radikale, in der Gesundheitsreform implizierte Infragestellung unserer Fürsorgekultur (cultura assistenziale), die noch immer an ihrer rigiden medizinisch-ärztlichen und klinischen Orientierung festhält. Trotz der Aufrufe zur »Modernität« und zum »Fortschritt« wird die gegenwärtige Wirtschaftskrise gemäß der alten Logik angepackt, die Hauptausgabequellen nicht anzurühren, sondern sich darauf zu beschränken, den kostenlosen Zugang zu den Diensten einzuschränken. Auf die gleiche Weise wird die kulturelle Krise, deren Ausdruck die Reform war, mit dem Rückgriff auf die alten Fürsorgemodelle und Berufskörperschaften beantwortet. Man geht also nicht davon aus, daß die Krise auf positive Weise genutzt werden kann, um sich von den alten ideologischen und institutionellen Fesseln zu befreien, wo doch die einzige »moderne« und »fortschrittliche« Möglichkeit für eine Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen (im Einklang mit dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung) nur in der Reduzierung der falschen Bedürfnisse in der Gesundheitsversorgung bestehen kann - Bedürfnisse, die die medizinisch-ärztliche Orientierung, die pharmazeutische Industrie und die Medizintechnologie (die beiden letzteren aufgrund ihrer eigenen inneren Logik aufs engste verbunden mit der Logik des freien Marktes) weiterhin ausdehnen wollen. Diese Möglichkeit kann nur durch die Anerkennung der sozialen Elemente, die in der Krankheit gegenwärtig sind und die angemessene soziale Antworten und nicht therapeutische Maßnahmen verlangen, realisiert werden.
Die Wiedereinsetzung des gesunden und des kranken Individuums in sein eigenes Recht, die Anerkennung seiner Subjektivität, die Änderung der kulturellen Anschauung der »Verschiedenheit«, der körperlichen und geistigen Behinderung und der Krankheit - alles Themen, die in den 70er Jahren aufs Tapet gebracht wurden; sie tragen per se zur Verringerung dieser künstlichen Bedürfnisse bei, fördern also die Gesundheit und dienen der Kostensenkung, wenn sie genügend Anregung und Unterstützung finden.
Doch die Realisierung dieser andersartigen Anschauung setzt den politischen Willen zu einer sozialen Gleichstellung voraus, die den verschiedenen wissenschaftlichen Techniken nicht mehr erlaubt, als Instrumente der Ausgrenzung und Diskriminierung zu fungieren. Wenn man nicht nach dieser noch unerreichten Gleichstellung strebt, auf die die Reformprojekte ausgerichtet sind, kann man die Wirtschaftskrise nur dazu benutzen, um jeden Anstoß zur Veränderung aus den vergangenen Jahren auf Null zu bringen und alle subjektiven schöpferischen Impulse zu vernichten, die zum Ausdruck und zur Darstellung gekommen waren und die zu einer kritischen Reife hinsichtlich der Abhängigkeit von den Institutionen, zu einer größeren Autonomie und Verantwortung der Bevölkerung, also zur Einsparung im Gesundheitswesen hätten führen können.
Die Schwerfälligkeit der Debatte über die »Reform« der psychiatrischen Reform (diese Debatte ist seit Juli 1984 im Gange) legt jedoch den, Gedanken nahe, daß auch innerhalb der Parteien, die wesentliche Abänderungen des Gesetzes vorgeschlagen haben, der Diskussionsprozeß noch nicht abgeschlossen ist. Die Zeit scheint also für uns zu arbeiten - wo nun mit großer Verspätung und trotz aller Schwierigkeiten fast überall im Land die territorialen Dienste eingerichtet werden, auch wenn ihr qualitatives Niveau noch nicht sehr hoch ist. So bestätigt der nun vorliegende erste Teil der vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Erhebung in vier Modellregionen mitnichten das angebliche Scheitern der Reform, die weiterhin denunziert wird.
Es wäre also ausreichend, zur weiteren Qualifizierung und Leistungssteigerung dieser Dienste die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, wie dies das Finanzierungsgesetz von 1985 vorgesehen hatte (und die bisher nur teilweise verbraucht wurden) - anstatt mit der Debatte über die Gesetzesänderungen Zeit zu verlieren (vielleicht noch einige Jahre?), da das Potential für eine Realisierung der Veränderung noch immer vorhanden ist.
Die in Aussicht gestellten Lösungen, die in Wirklichkeit eine Rückkehr zur Irrenanstalt unter anderem Etikett bedeuten, sind organischer Bestandteil eines sehr widersprüchlichen und paradoxen nationalen Klimas. Auf der einen Seite scheinen der allgemeine Spannungsabfall, der Einbruch der schöpferischen Kräfte, die Schwächung der sozialen Auseinandersetzungen und die nachfolgende Einengung der vorher eröffneten subjektiven Spielräume die Tatsache zu bestätigen, daß sich die angestrebte »Modernität« unvermeidlich durch die kulturelle und menschliche Verarmung und Verelendung unseres Lebens und unseres Wissens realisiert. Die Tendenz eines Teils der Bevölkerung, sich zunehmend selbständig zu organisieren und sich in Form von Vereinigungen und Kooperativen sowie auf der Basis freiwilligen Dienstes zusammenzuschließen, zeigt jedoch auf der anderen Seite, daß diese neue Kultur einen tiefgreifenden Wandel herbeigeführt hat, auf den Verlaß ist und der jedenfalls nicht leicht ausgelöscht werden kann.