Die Ärzte sagen, auf ihren Tischen kämen ihnen
die Menschen alle gleich vor. Die Ärzte bekommen den
Kranken so in ihre Häuser geliefert, wie er sonst nicht ist:
als einen nackten, beschäfligungslosen Korper
ohne bestimmte Vergangenheit und Zukunfl.
Bertolt Brecht, Interesse der Kopfarbeiter an der Umwälzung
(Me-ti/Buch der Wendungen)
Knapp und präzise zeigt uns Me-ti alias Brecht die klinische Wirklichkeit. Unter ihren Bedingungen wird aus dem kranken Menschen der klinische Patient. Dieser Verwandlung zu einem Menschen ohne Eigenschaften (außer dieser einen, nämlich krank zu sein) entspricht in umgekehrter Weise der unwandelbar anmutende Standpunkt der Ärzte, ihre starre Perspektive »von oben« auf den Kranken. Gleichheit wird hier von oben nach unten hergestellt, genauer: sie wird durch den klinischen Blick der Ärzte verordnet, zugewiesen. Damit stellt sie im klinischen Raum keine soziale Errungenschaft dar, ist also nicht Produkt der Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse und deren praktischer Veränderung, sondern bedeutet hier als negative Größe einen Mangel, einen Makel: wer solchermaßen »gleich« ist, bezahlt dies mit einer Einbuße an individueller wie sozialer Kenntlichkeit.
Angesprochen wird in Brechts Bild zweierlei: der Zusammenhang zwischen Standpunkt und Perspektive der Ärzte und der Verwandlungsprozeß der ihnen Zugewiesenen, der Kranken, unter den traditionellen klinischen Bedingungen. Und ein Drittes wird bezeichnet: die bestimmende und benennende Macht dieser ärztlichen Wahrnehmung. Durch die Umstände und Bedingungen dieser Wahrnehmung — was für wen wo und wie in den Blick gerät — sind die Formen des Umgangs mit dem solcherart Wahrgenommenen schon vorgezeichnet, sozusagen schon mitgesehen. Im klinischen Kontext wird so der Kranke zum Körper und dieser zum Objekt klinischer Praxis.
Die Ursprünge der modernen Medizin sind historisch am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa zu lokalisieren.[1] Durch die räumliche Konzentration des Infragestehenden — die Kranken, ihre Symptome, Befunde, Zeichen im Krankheitsverlauf — im Raum der Klinik wurde eine rationale Ordnung der Krankheiten durch deren kontinuierliche Beobachtung und erschöpfende Beschreibung angestrebt. In bewußter Anspielung auf das botanische Modell eines Linne ging es zunächst um deren Typisierung und Einteilung in Arten. Der kranke Mensch erschien in dieser Sicht als eine bloße äußere Tatsache seiner Krankheit, sozusagen als ihr negatives Element. Mit der Entwicklung der pathologischen Anatomie (zunächst mittels Sektion, später durch das Mikroskop) suchte sich der ärztlich-klinische Blick der Krankheit als Subjekt zu versichern, in dem er ihren »Sitz« aufspürte. Die Krankheit erhielt den Status einer Läsion des Gewebes unter Ausgrenzung ihrer lebensgeschichtlichen, psychischen und sozialen Aspekte.
Hatte sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das medizinische Interesse vorwiegend auf die Gesundheit und ihre Bedingungen konzentriert, so richtete sich die Aufmerksamkeit der Medizin im 19. Jahrhundert im Zuge ihrer rapiden technisch-wissenschaftlichen Entwicklung immer mehr auf die Normalität der anatomischen und physiologischen Verhältnisse. Diese Polarisierung zwischen dem Normalen und dem Abnormalen ist für Theorie wie Praxis der modernen Medizin konstitutiv. In der allgemeinen medizinisch-klinischen Entwicklung ist die fortschreitende fachliche Spezialisierung und Entsozialisierung des Krankheitsgeschehens bis heute ungebrochen. Von besonderer Virulenz erwies sich diese polarisierende Perspektive im Bereich der Psychiatrie. Im Zuge der Entmischung des alten Asyls (Arme in Armenhäuser, De-linquente in Gefängnisse, Kranke in Kliniken) entwickelten sich im 19. Jahrhundert verschiedene Formen der Anstaltspsychiatrie. Nach einer knapp 200-jährigen klinisch ausgerichteten Geschichte, die auch nichtklinische Orientierungsversuche aufweist, wurde in den letzten 20 Jahren in fast allen industrialisierten Ländern Europas und Nordamerikas eine Öffnung der zurückgezogenen und geschlossenen Räume psychiatrischer Praxis hin zu sozial sich verstehenden neuen, vorwiegend ambulant operierenden Praxisformen versucht. Die Landkarte dieser Reforminitiativen ist sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene äußerst uneinheitlich.
Auf dem Hintergrund eigener Praxiserfahrung möchte ich im folgenden den klinisch-psychiatrischen Raum kurz skizzieren, dann nach den Veränderungen von Wahrnehmung und Praxis im psychosozialen Kontext fragen und abschließend die Grenzen und Perspektiven des psychosozialen Projekts erörtern.
1. Psychiatrische Wahrnehmung im klinischen Raum
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Tradition der bestimmenden Elemente des klinisch-psychiatrischen Raumes. In seiner traditionellen Gestalt, der Anstalt, ist er der sozialen Welt weitgehend entrückt, konzentriert sich ganz auf sein Innenleben. Die neuen Räume, in denen dieses unruhige, störende, chaotische Leben eingegrenzt wird, sind übersichtlich gegliedert, abgeteilt, meist geschlossen. Sie sind strikt nach Funktionen gegliedert (s. Abb. 1).
Während die Orientierung in der Zeit dem Insassen dieser dem sozialen Leben entrückten Räume nur schwer möglich ist, kann der kundige Besucher bei einem Durchgang durch das weitläufige Areal einen guten Überblick über dessen verschiedene Zeitgestalten gewinnen. Von der Eingangspforte über das Haupt- und Verwaltungsgebäude zu den Aufnahme- und Therapiestationen und schließlich zur Rehabilitationsabteilung und, last and least, den Langzeit-Stationen, evtl. auch der forensisch-psychiatrischen Station (dem »festen Haus«), werden mit der räumlichen Wegstrecke auch die hier stationierten Lebenszeiten der Insassen erfahrbar. So werden sie allerdings im klinischen Kontext nicht wahrgenommen, nämlich als Lebenszeiten, sondern als notwendige Aufenthaltsdauer, bedingt durch die anhaltende psychische Störung, die klinische Symptomatik, die Krankheit. Lebenszeit wird durch die Begrenzung auf diesen Raum zur Krankheits- und damit Anstaltszeit. Wie im Großen so findet sich diese übersichtliche, vorwiegend lineare zeitliche und räumliche Anordnung auch im Kleinen: auf der Station, der Zelle des klinischen »Organismus«. Ihr Stundenplan wie ihre Raumaufteilung sind strikt reguliert zur Erfüllung ihres Zweckes: die störenden, absonderlichen Verhaltensweisen ihrer Insassen zu sehen, zu beobachten, im Blick zu behalten, bei Bedarf zu trennen, zu unterbinden und so den stationären Funktionsablauf mit seinem Primat der »Sicherheit« und der »Ordnung« (Fengler/Fengler, 1980) sicherzustellen.
Verbracht an den sicheren, weil abseitigen Ort der Anstalt, die seinesgleichen versammelt, unterliegt der »abwegige« Mensch (»wie er sonst nicht ist«) notwendig einer ihn als solchen absolut setzenden, also totali-sierenden Betrachtung und Erfassung im Rahmen der klinisch-psychiatrischen Wahrnehmung. Der lebensweltliche Kontext dessen, der er sonst ist, kann in diesem Raum nicht sichtbar werden. Notwendig sind so die psychiatrische Wahrnehmung und die von ihr geleitete Praxis angewiesen auf das in diesem Raum Sichtbare, eben die Krankheit, das Abnorme, das pathologische Faktum. Diese eindimensionale psychiatrische Perspektive spiegelt in ihren Psychopathologien und Nosologien die räumliche Geschlossenheit ihres sozialen Ortes, der Klinik, wieder und fixiert so die klinische Entrückung. Die soziale Ausgrenzung resultiert aus dieser Konstellation. Sie meint den Ausschluß der Patienten (wie ihrer Betreuer) aus ihrer gewohnten sozialen Umgebung ebenso wie das Fernhalten dieser sozialen Welt (etwa die Beziehung zu Verwandten, Gefährten, Freunden, Nachbarn, Kollegen) vom klinischen Raum. Durch besuchsweise Kontakte kann dieser Mangel, diese der klinischen Raum- und Zeitsouveränität innewohnende Asymmetrie zwischen lebensweltlicher Kompetenz und pathologischer Potenz nicht ausgeglichen werden. Bei dieser doppelten sozialen Ausgrenzung handelt es sich offenbar um einen wechselseitigen Prozeß: die Ausgrenzung des einen impliziert die Ausgrenzung des anderen.
Auch in der zeitlichen Perspektive verkürzt die klinische Wahrnehmung die wirklichen Verhältnisse. In ihrem pathologisch-nosogra-phisch (pathognostisch) ausgerichteten Gesichtsfeld nimmt sie Lebensgeschichte primär als Krankheits- und damit Institutionsgeschichte (bisherige Untersuchungen, Diagnosen, Therapien, Fürsorge- oder Rehabilitationsmaßnahmen, Berentungen etc.) wahr. Den roten Faden der einzelnen Lebensgeschichte bilden in dieser Sicht der Prozeß des Symptomverlaufs und seine institutionellen Antworten. Wo die Bewegung im Raum, damit soziale Praxis so beschränkt, bzw. unterbunden ist wie im klinisch-psychiatrischen Raum, steht dem so Stationierten aber nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Gegenwart nicht zur Verfügung. Letztere wird unvermittelt zur Krankheitsgeschichte, da sie vom sozialen Leben nicht in Gebrauch genommen werden kann.
2. Psychosoziale Praxis
Wie steht es nun um diese Kategorien im psychosozialen Feld? Sowohl Zeit als auch Raum sind hier nicht übersichtlich und sicher angeordnet, ihre soziale Architektur ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen und zu verstehen. »Vor Ort«, die Losung der sozialen Psychiatrie, formuliert einen Anspruch und ein Versprechen. Sie bezeichnet in diesem Zusammenhang eine prinzipielle Differenz zu dem anatomisch-klinischen »in situ«. So stellt dieses soziale »in situ« keine Domäne autonomer professioneller Praxis dar, sondern eine in ständiger Produktion und Umarbeitung begriffene soziale Praxis. In diesem kontinuierlichen sozialen Feld (campo sociale continuo, PIRO 1986) ist die Zeit nicht vorwiegend linear determiniert wie unter klinischen Bedingungen, sondern in vielfältiger Weise entsprechend den oft widersprüchlichen Interessen, Erwartungen, Zwängen, Notwendigkeiten der hier sich auseinandersetzenden Personen und Institutionen. Aber auch der Raum zeigt sich hier nicht als übersichtliche, sozusagen vorgegebene Substanz. Der soziale Raum ist mit Bourdieu (1985) primär als »Kräftefeld« zu verstehen, das aber im Unterschied zum klinischen Feld sehr verschiedenen, auch gegensätzlich wirksamen Kräften ausgesetzt ist. Bourdieu sieht den sozialen Raum
»als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld Eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegen und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückführbar sind« (1985, 10).
Weder seine räumlichen noch seine zeitlichen Koordinaten sind strikt vorgegeben. Sie sind Ausgangspunkt wie Ergebnis sozialer Praxis. Die ses unübersichtliche, offene soziale Multiversum (Haug) kann von daher nicht auf einzelne »Faktoren« (ökonomische, politische, institutionelle, familiäre oder psychologische) reduziert werden. Der klinische Raum stellt dagegen nur eine regressive Form dieses öffentlichen sozialen Raumes dar. Im Gegensatz dazu erscheint psychosoziale Praxis nicht mehr sozial ausgegrenzt, sondern vielmehr sozial ausgesetzt au ßerhalb geschlossener und gesicherter Räume, konfrontiert mit Bezie hungen in der Öffentlichkeit, diese selbst darstellend und herstellend. Die klinisch Dyade Arzt-Patient bzw. Pfleger-Patient wird nun nicht durch ein neues, sondern durch vielfältige neue Beziehungsverhältnisse auf verschiedenen Ebenen ersetzt. Das multi-professionelle Team »vor Ort« sieht sich vielen Akteuren des sozialen Raumes gegenüber, die mit den sozialen Bedingungen und Auswirkungen psychischer Störungen und psychischen wie sozialen Leidens konfrontiert sind: der »Patient« selbst, seine Familie, seine Nachbarn, Freunde, Kollegen, die verschiedenen öffentlichen Instanzen vom Gesundheitsaufseher über die Feuerwehr bis zum Amtsrichter. Ein Hauptunterschied psychiatrischer Praxis unter klinischen und psychosozialen Bedingungen betrifft ihre Haupt person: der Patient ist nicht derselbe, im psychosozialen Kontext ist er in gewissem (klinischen) Sinne keiner mehr. Außerhalb des Geltungs bereiches klinisch-pathologischer Zuschreibungen und ihres isolieren den Zugriffs wird seine vielfache soziale Bestimmtheit kenntlich — er wird sozusagen »überkomplex«. Im sozialen Raum verschwindet so der Patient — aber auch der Arzt, die Krankenschwester — in seiner traditionellen klinischen Erscheinungsform.
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Wandlungen dieser klinischen Erscheinungsformen in den letzten Jahren. Spiegelte in einer ersten Phase die Raumaufteilung der Anstalt des 19. Jahrhunderts teil weise noch die sozialen Verhältnisse der Insassen wider (s.o. Abb. 1, ( Anstalt Illenau), so ist sie heute an den klinisch-psychiatrischen Absich ten (wie Krisenintervention, Sucht-Spezialbehandlung, spezifische Ver sorgung nach Krankheitsbild und Lebensalter) orientiert. Diese Anord nung ist als eine klinisch-medizinische aufzufassen, wenn sie auch nicht organ-zentriert wie die sonstige moderne klinische Medizin auftritt.
Mitte der 70er Jahre war diese medizinisch-funktional istische Raumanordnung in der Psychiatrischen Klinik der MHH (Medizinische Hochschule Hannover) noch kaum entwickelt. Nach der Auflösung der zunächst eingerichteten traditionellen Akut- und Rehabilitationsmaßnahmen wurden sog. Regelstationen eingerichtet, deren Aufgabe darin bestand, den Patienten von Anfang bis Ende eines klinischen Aufenthalts zu betreuen ohne die Möglichkeit der Verlegung innerhalb der eigenen Klinik oder in eine andere psychiatrische Klinik (idealtypisch nach dem sog. Rockstroh- Modell). Akutbehandlung, Diagnostik, Abklärung der weiteren ambulanten Therapie und evtl. rehabilitativer Perspektiven, Kontakte zu Angehörigen, Nachbarn, evtl. auch zum Arbeitsplatz — all dies sollte auf ein und derselben Station vom dortigen Betreuerteam geleistet und bedacht werden. Von der absichtlichen und produktiven Unübersichtlichkeit dieser frühen Jahre ist heute (nach Herausbildung verschiedener spezialisierter Stationen etwa im Suchtoder Gerontopsychiatrischen Bereich) auf den meisten Stationen nur noch ein Element geblieben: die Unkenntlichkeit der Betreuer. Die fehlende (eindeutige) Dienstkleidung (etwa der weiße Arztkittel) — außer bei körperlicher Betreuung und Untersuchung — provoziert immer noch erstaunte Fragen und entsprechende Verunsicherungen bei neuen Patienten wie Besuchern. Diese für klinisch-medizinische und sonstige klinisch-psychiatrische Verhältnisse auch heute noch ungewöhnliche, ja irritierende Unübersichtlichkeit markiert bereits den Beginn, zumindest einen Übergang zur weitgehenden Aufhebung der Unterscheidbarkeit der Betreuer und der Betreuten unter den Bedingungen psychosozialer Praxis.
Zu fragen ist nun, aufweiche Verhältnisse, Situationen, Personen die neue psychosoziale Praxis sich ausrichtet — und was mit welcher Folge in ihren Gesichtskreis gerät. Mit der Überwindung des klinischen Horizonts öffnet sich der Blick auf ein weites Spektrum unterschiedlichster sozialer Beziehungen, in welchem der frühere klinische Patient nun wieder auftaucht — nicht als ein reduzierbares pathologisches Faktum, sondern als Handelnder neben anderen Handelnden im sozialen Raum. Im psychosozial-institutionellen Feld erscheint er als ein Benutzer solcher Dienste, aber nicht nur er allein, sondern ebenso die anderen Personen und Institutionen, die in seiner Lebenssituation involviert sind und sich an diese Institution des psychosozialen Dienstes wenden. Nicht selten taucht der Patient selbst in diesem Feld gar nicht, oder zumindest lange Zeit nicht auf und ist nur virtuell anwesend durch die verschiedenen Reaktionen aufsein Verhalten, wie z.B. Klagen, Ängste, Aggressionen, Schadensmeldungen, Strafanzeigen. An einem Beispiel aus unserer Praxis sei dies verdeutlicht:
Seit Jahren wird unsere Beratungsstelle von der Mutter eines jetzt 24-jährigen jungen Mannes mit einem frühkindlichen Hirnschaden, der früher von uns betreut wurde, mit der Forderung bedrängt, ihn in eine Anstalt einzuweisen, da das Zusammenleben mit ihm zu Hause für sie und ihren Mann nicht mehr erträglich sei. Bei früheren stationären Aufenthalten des Sohnes setzte die Mutter in umgekehrter Weise nach wenigen Wochen alle Hebel in Bewegung, seine Entlassung nach Hause zu erreichen. Der Sohn selbst hat mit uns seit 2 Jahren keinen Kontakt mehr. Er sucht aber ständig und häufig wechselnd verschiedene Ärzte auf, zu denen er den Kontakt nach kürzerer oder längerer Betreuungszeit abbricht, und die sich ebenso wie die Mitarbeiter verschiedener Institutionen (vom Sozialamt bis zur Polizei und zum Referenten des Sozialministers) ratlos anfragend, auch klagend an uns wenden.
Solch ein Nicht-Patient, dessen sozialer Schatten in seiner lebensweltlichen wie institutionellen Umgebung dann zum Gegenstand psychosozialer Praxis und somit zum Ersatz-Patienten wird, markiert vielleicht am deutlichsten die Mittelpunktverschiebung psychiatrischer Praxis.
Aber auch im »Normalfall« sind die psychiatrisch Tätigen in diesen ambulanten Diensten vor Ort notwendigerweise sowohl in interpersonellen wie auch in interinstitutionellen Verhältnissen engagiert. Ihre Praxis ist mehr beziehungs- als fakten- oder personenzentriert. Sie ist insofern weder im strengen Sinn dieses Wortes noch in der damit bisher bezeichneten klinischen Praxisform »Psychiatrie«. Diese neue Praxis ist primär weder auf den Arzt noch auf den Patienten orientiert, noch hat sie es in erster Linie oder ausschließlich mit seelischen Phänomenen, Symptomen oder Verhältnissen zu tun. Die traditionellen Darstellungen ihrer Arbeitsgegenstände und -ergebnisse, ihres Klienteis und ihrer Personalstruktur wie die quantitativen Analysen dieser Versorgungsstruktur und die Evaluation sozialpsychiatrischer Strategien haben diesen Gesichtspunkt bisher weitgehend unberücksichtigt gelassen. Entsprechend gilt es nun, sich den Wahrnehmungs- und Praxisformen im psychosozialen Feld zuzuwenden.[2]
Die weitreichenden Veränderungen von Standpunkt und Perspektive der psychosozial Tätigen wie der mit ihnen Konfrontierten sei an einem weiteren, etwas ausführlicher dargestellten Beispiel aus unserer Praxis illustriert:
Im letzten Sommer war ich zusammen mit der zuständigen Amtsrichterin bei einer Versammlung in der Hauswartswohnung eines Hauses, in dem ein jetzt 35-jähriger Mann seit 10 Jahren in einer 1-Zimmerwohnung lebt. Nach Abbruch eines Studium kurz vor dem Examen traten bei ihm in den letzten Jahren wiederholt paranoid-halluzinatorische Zuspitzungen einer bekannten Psychose auf und führten jeweils zu stationärer psychiatrischer Behandlung, meist gegen seinen Willen. Die ambulante Betreuung gestaltete sich sehr schwierig und war im wesentlichen durch die sich entziehende bis offen ablehnende Haltung von Herrn Z. gekennzeichnet, so daß eine regelmäßige, vor allem auch medikamentöse Betreuung nicht zustandekam. Zu dieser Hausversammlung hatten wir die Hauswartsfrau und die übrigen Mieter sowie die Hausverwalterin und den Hausbesitzer wie auch Herrn Z. selbst angeregt, um eine weitere Eskalation der Situation in diesem Hause verhindern zu können. Es war in den Wochen und Monaten davor wiederholt Wasser aus der Dusche, die Herr Z. nicht immer abgestellt hatte, in die darunter gelegene Wohnung gelaufen und hatte Wasserschäden verursacht. Verschiedene Mieter im Haus hatten sich beklagt, daß Herr Z. ihnen durch seine abgerissene und ungepflegte Erscheinung Angst mache. Auch fühlten sich manche dadurch belästigt, daß er sie um Geld gefragt bzw. kleine Geldbeträge bei ihnen ausgeliehen hatte, ohne sie zurückzugeben.
Wenige Monate davor hatte Herr Z. an einem Sonntagmorgen Flaschen aus seiner im 4. Stock gelegenen Wohnung auf den Gehweg vor dem Haus geworfen und dabei einer ihn beobachtenden Mieterin grinsend zugewinkt. Herr Z. selbst war zu der Versammlung, wie zu erwarten war, nicht erschienen. Ein breites Spektrum von Klagen wurde uns präsentiert: von Kritik am Äußeren des Herrn Z. über mehr oder weniger irrationale Ängste im Hinblick auf seine potentielle Gefährlichkeit bis hin zu Klagen über den Flaschenwurf aus dem Fenster und den wiederholten Wasserschäden. Die Richterin und ich stellten danach die Rechtslage und die Situation der psychosozialen Betreuung dar. Maßnahmen nach dem Niedersächsischen Psychische Krankengesetz waren bis dahin nicht angezeigt bzw. nicht möglich. Von der Hausbesitzerin wurde mitgeteilt, daß inzwischen die Räumungsklage eingereicht sei. Aufklärende Anmerkungen unsererseits zur Frage der Gefährlichkeit von psychisch Kranken allgemein und Herrn Z. im besonderen, zu unseren bisherigen Versuchen der Betreuung und der Verweis auf die Rechtslage wurden von den meisten Anwesenden (bemerkenswerterweise ausschließlich Frauen) meist mit Skepsis bis Unglauben aufgenommen. Nur eine jüngere Mieterin fühlte sich von Herrn Z. weder belästigt noch geängstigt.
Nach dem traditionellen Funktions- und Positionsverständnis der Institutionen (sowohl in deren Selbstverständnis wie im Bewußtsein der Öffentlichkeit) markiert diese in der psychosozialen Praxis alltägliche Situation einen durchaus noch ungewohnten Positionswechsel: Der Ritter (das hohe Gericht, die bisher geschlossene Anstalt) setzt sich in Bewegung, steigt vom hohen Roß herunter, verläßt seine institutionellen Trutzburgen und sucht die führer mehr oder weniger eingeschüchtert und angstvoll zu ihm Kommenden, zu ihm Zitierten oder Eingewiesenen bzw. ihre Mitmenschen, am Ort ihres Lebens (»vor Ort«) heim. Gemischte Gefühle auf beiden Seiten sind unvermeidlich, von der Verunsicherung über konkrete Erwartungen (»Lösungen«, Entlastung, Abhilfe) bis zur versteckten und offenen Abwehr. Schwierig ist schon die wechselseitige Identifizierung. Ein Arzt, noch dazu ein Psychiater, wird nicht so ohne weiteres in einer Wohnung — gar noch als Initiator einer Hausversammlung — erwartet, noch weniger eine Amtsrichterin. Sie werden beide mit ihren Institutionen in ihrer traditionellen, also statischen, abgeschotteten Gestalt identifiziert. Wenn sie nun so offensichtlich sich einmischend und anbietend, sich aufdrängend im sozialen Raum auftauchen, wird ihnen vielfach zunächst mit Mißtrauen begegnet. Andererseits sind diese Institutionsrepräsentanten es bisher gewohnt, daß man zu ihnen kommt, daß sie über Ort und Zeit wie Anlaß einer Begegnung bestimmen, daß sie die Situation kontrollieren.
3. Das Ende der klinischen Hegemonie?
Was uns in der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Situation über das pragmatisch-konsolidierende Festhalten an den vorhandenen Reformprojekten zu tun bleibt, ist nicht zuletzt die Selbstverständigung psychosozialer Praxis über den bisher zurückgelegten Weg. Dabei wird zu fragen sein, ob das Sektorgebiet von den psychosozial Tätigen nicht in ähnlich verdinglichender Sicht (»von oben«) in den Blick genommen wird wie der klinisch-stationäre Raum von den »Herren der Klinik« (Hemprich/Kisker, 1968); ob die Verteilung fachlicher wie institutioneller Kompetenz vom in der Klinik als Machtzentrum angesiedelten Arzt auf ein vielköpfiges »multiprofessionelles Team« nicht eine Ausweitung des psychiatrischen Zuständigkeitsbereichs im sozialen Raum bedeutet und insofern nicht zu einer früheren und umfassenderen Psychiatrisierung führt, als dies unter den vergleichsweise zurückhaltenden, weil zurückgezogenen klinischen Bedingungen der Fall ist; welche Rolle die traditionelle psychiatrische Nosologie in diesem Praxisfeld spielt; ob sich so etwas wie eine psychosoziale Terminologie herausgebildet hat und welche Verhältnisse sie benennt; welche Bedeutung Symptome und Krankheitsbilder (im klinisch-psychiatrischen Sinne) in diesem neuen fachlichen und sozialen Kontext annehmen — und wie sie sowohl von der fachlich-institutionellen Seite wie deren Benutzer verwendet und beantwortet werden; schließlich: ob sich, und wenn ja welche, Entsprechungen zur klinischen Magie (weißer Kittel, geschlossene Tür, Medikamente, Wachsaal, Fixierung etc.) finden?
Damit gelangen wir zu der zentralen Frage — und sie wird der sozialen Psychiatrie von Sozialwissenschaftlern wie Selbsthilfe-und Beschwerdezentren gestellt —, ob es sich bei diesen vorverlagerten Eingriffen einer bisher sich von der sozialen Welt abkapselnden, repressiv eingeschätzten Institution nicht bloß um eine Entäußerung und Entgrenzung des klinisch-psychiatrischen Raumes und damit die Invasion seines etikettieren-repressiven Zugriffs in den sozialen Raum handelt. In dieser Perspektive erscheint die soziale Psychiatrie als Metastase der Anstaltspsychiatrie, markiert den Exodus der klinischen Auffassungsund Umgangsformen aus ihrem traditionellen Ort — ohne diesen allerdings aufzugeben. Hier nun liegt meiner Meinung nach ein wesentlicher Springpunkt der Auseinandersetzungen um das psychosoziale Projekt: solange psychosoziale Praxis bei Strafe ihrer Annullierung zur Kooperation mit der aus den bisherigen Reformversuchen letztlich gestärkt hervorgegangenen Anstaltspsychiatrie sowie der neu sich entwickelnden Bettenpsychatrie an den Allgemeinkrankenhäusern gezwungen ist (oft in deren direkter Abhängigkeit als Instituts- oder Ermächtigungsambulanz bzw. als therapeutisch-vorsorgend nicht ermächtigter sozialpsychiatrischer Dienst), wird sie diese kritischen Anfragen und Zweifel nicht überzeugend zurückweisen und entkräften können. In der Praxis zeigt sich vielmehr, daß auch die soziale Psychiatrie sehr schnell und vorwiegend zu einem Kontroll-und Aussonderungsinstrument von oben verkommen kann, wenn ihr von den sozialen Verhältnissen vor Ort nicht Spielräume, d.h. unter den Bedingungen ambulanter Praxis autonome Zeiträume zugestanden werden, um nicht-repressive, möglicherweise nicht-institutionelle Alternativen in einer Situation zu suchen. Auf dem Hintergrund des alten gesellschaftlichen Konsenses, der auf Ausgrenzung des Verunsichernden und Störenden ausgerichtet war, kann sich eine sozial sich verstehende neue Praxis nicht entfalten.
Die oben skizzierten Fragen sind z.Zt. noch nicht zu beantworten. Von entscheidender Bedeutung für das Ergebnis dieser kritischen Nachfrage ist die Perspektive, in der sie angegangen wird. Nur wenn dabei die historische Tatsache im Blick behalten wird, daß das psychosoziale Projekt von Klinikern aus der Klinik heraus entwickelt worden ist, können seine Fortschritte wie Grenzen faßbar werden. Zur Verdeutlichung dieser zentralen Problematik sozialpsychiatrischer Verhältnisse, ihrer fürsorgenden Verortungsversuche sei an dieser Stelle dem obigen Anstaltsgrundriß (s. Abb. 1) das Modell der »Stufenrehabilitation« (nach Bosch) gegenüber- oder besser an die Seite gestellt:
Beide Darstellungen psychiatrischer Praxis, die sozial entrückte wie die gemeindenahe, weisen bereits auf den ersten Blick eine verblüffende Gemeinsamkeit auf: die Gesellschaft, zu der sie doch gehören, in deren Dienst sie stehen, umgibt sie, ist ihnen äußerlich, ein fremdes Gegenüber. Diese Sicht ist nun für die Anstaltsposition nicht erstaunlich, sie ist vielmehr deren logische und ideologische Voraussetzung. Daß aber eine gemeindenah sich verstehende psychiatrische Praxis sich selbst ausdrücklich außerhalb der Gesellschaft (bzw. in Abb. 2 als deren Innerstes, sozusagen als therapeutischen Kern dieser anonymen »Gesellschaft«) lokalisiert sieht, muß verwundern und Fragen aufwerfen, etwa nach der Vorstellung von Gesellschaft und Gemeinde, die sich hier ausspricht. Auf den zweiten Blick wird eine weitere Gemeinsamkeit beider Praxisfelder deutlich: die strikte Raumaufteilung nach der Funktion. Dies allerdings mit dem Unterschied, daß die klinischen Verhältnisse bei weitem klarer und übersichtlicher erscheinen. Die gemeindepsychiatrische Funktionsvernetzung wirkt dagegen wie eine dynamische Vervielfältigung der statisch-stationären psychiatrischen Vorgehensweise in der Weite des sozialen Raumes.
Diese bisher nicht überwundene, sozusagen klinische Gestalt psychosozialer Praxis, ihre zur klinischen Institution komplementäre statt alternative Position ist wesentlich für ihre gegenwärtige Krise mitverantwortlich. Die Krise der psychiatrischen Reform hat darüber hinaus verschiedene, von ihr nicht zu verantwortende und kaum zu beeinflussende andere Ursachen. Auf die einschneidenden ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen der letzten Jahre sei hier nur kurz hingewiesen (s. Keupp 1987, Pfefferer-Wolf 1987). Die reformimmanente Krisenursache steht allerdings damit in Zusammenhang. So konnte die bisherige Reformpraxis (auch in ihren fortgeschrittenen Varianten) in Folge ihrer Betten- und Klinikzentriertheit der Öffentlichkeit keinen überzeugenden Bruch mit der bisherigen klinisch-abseitigen Psychiatrie signalisieren. Es kann von daher nicht verwundern, daß diese reformerische Ambivalenz von skeptisch abwartenden, ebenfalls ambivalenten öffentlichen Reaktionen beantwortet wurde. Dabei dürfte die reformerische Unentschlossenheit weniger durch das wohl erwartete negative öffentliche Echo auf einen radikalen Neuanfang in der psychosozialen Praxis, sondern eher durch ihre eigene klinische Zurückgezogenheit bedingt sein. Insofern blieb sie bis heute der traditionellen psychiatrischen Position und Perspektive verhaftet. Für die von Anfang an mangelhafte kommunale und regionale Wahrnehmung der sozialen und politischen Verantwortung der Gemeinschaft für die Realisierung der Reform ist sie somit mitverantwortlich.
Von politischer wie von psychiatrischer Seite wurde die konkrete soziale Utopie der Nach-68er-Zeit, die ja allererst über eine intensive Kritik der Anstaltspsychiatrie zu den Reformansätzen geführt hatte, nicht erkannt bzw. nicht ernstgenommen, sondern oft als utopistisch verdächtigt und abgewehrt. In konsequenter Weise konzentrierte sich die Reformplanung neben der Verkleinerung und Humanisierung der Anstalten im wesentlichen auf die Einrichtung von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern und deren Flankierung durch ambulante und teilstationäre Dienste. Der klinisch-psychiatrische Raum wurde damit wieder mehr in die soziale Welt einbezogen, andererseits aber in den Bereich der klinischen Medizin integriert. Die primär nichtmedizinische und nicht-klinische Orientierung, die die wesentliche Errungenschaft der Psychiatriekritik der 60er und 70er Jahre darstellt, wurde damit in der Reform weitgehend ignoriert. Wo lokale Projekte, etwa auch im Rahmen des Modellprogramms der Bundesregierung von 1980-1985, an dieser Orientierung der frühen Jahre festhielten und sie in einem Reformprojekt praktisch virulent werden ließen (wie etwa bei der Auflösung der psychiatrischen Klinik Blankenburg in Bremen), kam es zwischen diesen, dem ursprünglichen Reformansatz treuen Reformpraktikern und den staatlichen bzw. gemeinnützigen Reformplanern und -Verwaltern zu intensiven Auseinandersetzungen.
In dieser Situation muß die Frage nach dem Ende der klinischen Hegemonie deplaziert, zumindest zur Unzeit gestellt erscheinen. Aus einem meist verkannten, aber sehr naheliegenden Grund ist sie dies nicht: solange sich die psychosoziale Praxis nur auf dem Hintergrund der klinisch-psychiatrischen Praxis und in Anlehnung an sie definiert, etwa als deren Ergänzung oder Verlängerung, muß sie unweigerlich ihre alternative und damit kreative Potenz verkennen und letztlich einbüßen. Zu verhindern ist dies nur, wenn sie die Aufgabe der kritischen Selbstbefragung im Hinblick auf ihre Verhaftung in den traditionellen klinisch-psychiatrischen Sicht- und Herangehensweisen wahrnimmt und angeht. Sie wird sich dann entscheiden müssen, ob sie in der Nachfolge bzw. Abwandlung der traditionellen Psychiatrie sich an einer technischen Lösungsstrategie orientiert, in der medikalisierende und psychia-trisierende Experten Koordinaten für Normalität und Abweichung bestimmen und ein Problem »lösen« oder verwalten — oder an einer Konfliktperspektive, die die Gesellschaft zwingt, sich in jenen Widersprüchen zu definieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, die sie in den »Abseitigen« personalisiert und loswerden möchte.
Ein solcher Reorientierungsversuch des psychosozialen Reformprojekts muß über eine Rückbesinnung auf die konkrete soziale Utopie der
Reformanfänge und deren visionäre Phantasie und Risikobereitschaft neben der aktuellen sozialen und politischen Situation vor allem die eigenen bisherigen Praxiserfahrungen in den Blick nehmen. In vielfältiger Weise kann es sich dabei sowohl der phänomenologischen und der transkulturellen wie der gesellschafts- und ideologietheoretischen Beiträge seines Mitinitiators und Anregers Erich Wulff bedienen. Er hat aus unterschiedlichen Perspektiven wertvolle Vorschläge gemacht, wir sollten sie annehmen. Die Erkenntnis des klinischen Geburtsfehlers der Reform kann bereits den ersten Schritt zu seiner Korrektur darstellen. Zu bedenken ist allerdings, daß für die Überwindung der klinisch-psychiatrischen Blickbegrenzung nicht nur die Öffnung abgeschlossener und abseitiger Räume, sondern die Entrümpelung der Köpfe unabdingbar ist. Oder in den Worten des unvergessenen Franco Basaglia auf dem Berliner Gesundheitstag 1980 kurz vor seinem Tode: Man muß die Mauer im Kopf einreißen (»bisogna rompere il muro in testa«).
* Heiner Keupp und Stephan Wolff danke ich herzlich für ihre Kritik und ihre Anregungen