Das psychosoziale Reformprojekt

Erschöpfung oder gibt es noch Perspektiven?

Erich Wulff in freundschaftlicher Verbundenheit. Ich stütze mich in Teilen auf einen Vortrag, den ich auf seine Einladung an der Medizinischen Hochschule Hannover gehalten habe. Das Gesamtmanuskript hat das Ludwig-Boltzmann-Institut für Medizinsoziologie beim Institut für Höhere Studien in Wien in broschierter Form aufgelegt. Enthalten ist dieser Beitrag in erweiterter Fassung auch in meinem kürzlich erschienen Aufsatzband »Psychosoziale Praxis im gesellschaftlichen Umbruch« (Bonn, Psychatrie-Verlag, 1987)

Das gesellschaftliche Projekt einer umfassenden Neustrukturierung der psychosozialen Praxis bindet kaum mehr Hoffnungen. Uns Professionellen in diesem Sektor ist die kühne Perspektive abhanden gekommen. Wir streiten uns darüber, ob das, was sich in den vergangenen fünfzehn Jahren an Veränderungen in der Konfiguration psychosozialer Institutionen vollzogen hat, eine wirkliche Reform war oder lediglich als überfälliger Modernisierungsprozeß zu begreifen ist. In der Periode, in der wir über Strukturreformen diskutiert haben und sie in Gang zu bringen versuchten, konnten wir uns auf das Schwungrad reformpolitischer Gesamtentwürfe verlassen. Jetzt, da uns die utopischen Energien als erschöpft erscheinen, setzen wir das Thema Utopie immer häufiger auf unsere Tagesordnung. Die eingeschliffenen professionellen Handlungsroutinen sichern den Fortgang der psychosozialen Praxis ab, aber die motivationalen Ressourcen für diese Praxis werden zu einem viel diskutierten Problem. Sie drohen sich aufzubrauchen, verloren zu gehen.
Wie kaum ein zweites Thema hat jenes vom »Ausbrennen« (burn-out) der Helfer Konjunktur. Gründe für den Motivationsverlust und die Stagnation der Reform sind schnell gefunden: die Krise der Weltwirtschaft und die mit ihr verbundene Hegemonie neokonservativer Regierungsblöcke verhindern die Fortführung der Reformprojekte der 60er und 70er Jahre. Angesichts einer solchen Konstellation seien Krisen und Rückschläge bei den Reformkräften nicht verwunderlich. Entscheidend sei jetzt, sich realistisch auf geringere Veränderungschancen einzustellen, ohne deshalb die langfristigen Ziele aus den Augen zu verlieren. Die implizite Botschaft, die hier vermittelt wird, betont die unveränderte Gültigkeit des Programmpakets, das in der hinter uns liegenden Reformperiode zusammengestellt wurde. Mit der erwartbaren Ablösung neokonservativer Regierungen würden die Bedingungen für eine Fortführung unserer unveränderten Reformprogramme wieder besser werden.
Es bestehen begründete Zweifel an den Prämissen dieser Aushaltestrategie. Die Krise des psychosozialen Reformprojekts reicht sehr viel tiefer als es die Rede von der neokonservativen Wende anzudeuten vermag. Der Krisendiagnostiker findet gegenwärtig Krisensymptome in Fülle: es gibt die Krise des Arbeitsmarktes, die Klienten und auch Helfer trifft und die das Ziel der Rehabilitation durch Arbeit immer illusionärer erscheinen läßt. Es gibt die Krise der Institutionen, die ihre Personalbestände nur mühsam halten können und schon manche Einbrüche als Folge des fortgesetzten Sozialabbaus hinnehmen mußten. Es gibt aber auch eine Krise, die sich auf die Modelle umfassender wohlfahrtsstaatlicher Versorgungslösungen richtet: die konservative Sozialstaatskritik läßt sich vielleicht noch problemlos wegstecken. Wie aber sollen progressive Professionelle auf die Kritik von Betroffenengruppen reagieren, die sich ihrem therapeutischen Zugriff und ihrer Form des Normalisierungsprinzips entziehen wollen? Und schließlich gibt es die Krise unserer Konzepte und Paradigmen. Taugen Vorstellungen über Rehabilitation durch Arbeit in einer Gesellschaft, der nicht nur die Arbeit ausgeht, sondern in der auch ein ernst zu nehmender Diskurs über die »Befreiung von falscher Arbeit« geführt wird? Und inwiefern können wir noch mit Persönlichkeitsmodellen und Identitätskonzepten arbeiten, die sich auf Sozialcharaktere beziehen, denen ein stetiger Erosionsprozeß die Basis zu entziehen beginnt?
Die vielfältigen Krisenindikatoren lassen sich nur begrenzt mit dem Verweis auf »die Wende« und die mit ihr assoziierten Blockierungen normalisieren. Sie rechtfertigen vielmehr die Annahme eines gesellschaftlich-kulturellen Umbruchs, der unsere bislang bestimmenden Sichtweisen und Verstehenshorizonte in einem spezifischen Sinne »veralten« läßt. Eilfertig angebotene neue Paradigmen — sei es der Versuch, überall den Rettungsanker »Ökologie« anzupreisen oder sich auf die Verheißungen der Esoterik einzulassen — können allenfalls kurzfristig die sich ausbreitende Einsicht verdecken, daß wir für die gegenwärtige soziokulturelle Situation und die in sie eingelagerte psychosoziale Praxis kaum paßförmige Interpretationsfolien haben. Der Soziologe Ulrich Beck faßt diese Einsicht in folgendem Satz zusammen: 'Wir schlittern in eine neue Gesellschaft,..., in ein neuartiges gesellschaftliches Gefüge, für das wir noch keinen Begriff und damit auch keinen Blick haben« (1985, 90).
Ich halte es für vordringlich, sich um eine intensive Aneignung von dem zu bemühen, was sich als neuartiges gesellschaftliches Gefüge abzeichnet. An diesem gesellschaftlichen Umbau sind drei Prozesse beteiligt, die sich einigermaßen präzise herausarbeiten lassen. Es sind Prozesse der Individualisierung von Lebenslagen, der sozialpolitisch in Kauf genommenen Spaltung der Gesellschaft und der Entstehung neuer sozialer Bewegungen als Antwort auf die Risiken und Widersprüche der bestehenden Gesellschaftsformation. Der Prozeß der Individualisierung läßt sich als eine Entwicklung beschreiben, die nicht zu trennen ist von der Gesamtgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Er hat jedoch in den letzten Jahrzehnten eine radikalisierende Zuspitzung erfahren. Der Prozeß der Spaltung der Gesellschaft ist ein Phänomen, das sich mit der Erschöpfung wohlfahrtsstaatlicher Programme Ende der 70er Jahre abzuzeichnen begann und jetzt der bundesrepublikanischen Gesellschaft (wie den meisten spätkapitalistischen Gesellschaften) eine spezifische Signatur gibt.

1. Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse

In zwei kürzlich erschienenen Heften der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift »Soziale Welt«, die normalerweise über ein breites Themenspektrum von Untersuchungen zum Bildungswesen, zur Arbeitswelt, zur Technikentwicklung etc. streut, ist mir eine thematische Verdichtung aufgefallen, die sich in Themen der folgenden Art widerspiegelt: »Individualisierung als Hoffnung und Verhängnis« (Baethge 1985), »Wege zum Ich vor bedrohter Zukunft« (Rosenmayr 1985), oder »Zweifel am Fortschritt und Hoffen aufs Individuum« (Rammstedt 1985). Die Gesellschaftsanalytiker kommen anscheinend immer mehr in das Revier der Psychologen. Entdecken sie jetzt endlich auch das Subjekt, von dem wir immer schon wußten, daß es unser Dreh- und Angelpunkt zu sein hätte? Sie entdecken das Subjekt in einem ganz anderen Sinne als es die Psychologie tut. Sie entdecken einen »Freisetzungsprozeß« des Subjekts aus traditionsbestimmten Lebensformen und -entwürfen, der die Individuen in einem Maße zur Führungsgröße der eigenen Lebensorganisation macht, wie es historisch in diesem Umfang noch nie möglich war. Und in diesem Freisetzungsprozeß stecken Risiken und Probleme von neuer Qualität, aber auch Chancen zur Realisierung der Vorstellungen und Utopien von einem Stück eigenen Leben.
Wie läßt sich dieser »Freisetzungsprozeß« näher charakterisieren? Wodurch ist er möglich geworden? Vor allem aber, wodurch unterscheidet sich diese neue Phase der Freisetzung von jenen früheren, durch die der Kapitalismus möglich geworden ist? Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise bedeutete eine Auflösung der feudalen Abhängigkeitsverhältnisse. Die gesellschaftliche Herstellung der »freien Lohnarbeiterexistenz« hat Menschen aus ihren traditionellen Lebenszusammenhängen herausgerissen, hat sie von ihrem Grund und Boden und ihren Herkunftsregionen getrennt, hat gewaltige Bevölkerungswanderungen in die neuen Industriezentren in Bewegung gesetzt. Aber dieser permanente Freisetzungs- und Vereinzelungsprozeß hat nicht zu einer Individualisierung geführt, sondern mündete in der Kollektiverfahrung der Verelendung und Ausbeutung. Die gemeinsame Erfahrung der fortschreitenden Verschlechterung der Lebenslage hat zur Solidarisierung und zum Zusammenschluß der Arbeiterklasse geführt. Individualisierung war der Prozeß, durch den sich das bürgerliche Subjekt herausbildete, und dieser Prozeß beruhte entscheidend auf Kapitalbesitz und dessen Vermehrung.
Der Freisetzungsprozeß, der zu jener Individualisierungswelle geführt hat, die seit den 50er Jahren durch alle gesellschaftlichen Schichten geht, hat eine wohlfahrtsstaatliche Absicherung und einen Lebensstandard zur Voraussetzung, der den Entfaltungsspielraum des einzelnen vergrößert und zugleich die Notwendigkeit der Solidargemein-schaft aus der existentiellen Not heraus abgebaut hat. Nehmen wir dafür nur drei Indikatoren: die Lebenszeit ist um mehrere Jahre gestiegen, die Erwerbsarbeitszeit ist seit den 50er Jahren um mehr als ein Viertel gesunken, und die Reallöhne sind erheblich gestiegen. Entscheidend hat sich das Verhältnis von Arbeits- zur Reproduktionszeit verändert. Mehr verfügbare finanzielle Möglichkeiten können in einer gewachsenen Freizeitwelt verbraucht werden. Hiermit ist nicht eine Verbesserung von Lebensqualität behauptet, sondern zunächst nur das Faktum beleuchtet, daß die kollektiv erreichte Absicherung vor Risiken und die veränderte Reproduktionssituation die Klassenbindungen gelockert haben. Behauptet ist ebensowenig ein Abbau sozialer Ungleichheit; diese läßt sich in den relativen Einkomens- und Besitzunterschieden als fast unverändert nachweisen. Festgestellt ist eine Niveauverschiebung, die der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung eine Existenzbasis gesichert hat, die nicht mehr von Not und Elend bestimmt ist.
Eingebettet in die Ressourcen der spätkapitalistischen Wohlfahrtsstaaten hat die Dynamik von Arbeitsmarktprozessen zu einem tiefgreifenden Individualisierungsschub geführt, zu einem »sozialen und kulturellen Erosions- und Evolutionsprozeß von beträchtlicher Reichweite« (Beck 1983,42). Dieser spezifische Freisetzungsvorgang wird von Beck als »Arbeitsmarkt-Individualisierung« bezeichnet, die sich »im Kreislauf von Erwerb, Anbietung und Anwendung von Arbeitskompetenzen entfaltet«. In drei Dimensionen, die durch ihren unmittelbaren Arbeitsmarktbezug gekennzeichnet werden können, läßt sich dieser Freisetzungsprozeß aufzeigen:

  • (1) Der Ausbau formaler Bildungsprozesse hat die Herauslösung aus traditionellen Orientierungen, Lebensstilen und Denkmustern beschleunigt. Die Verlängerung institutioneller Bildungsprozesse in den vorschulischen Bereich hinein und die Ausweitung schulischer Bildung hat den familiären Einfluß und den des Herkunftsmilieus geschmälert. Die permanenten Selektionsprozesse des Bildungssystems und die damit genährten Aufstiegsorientierungen fördern die Herausbildung von Einzelsubjekten, die ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu nutzen suchen. Je geringer diese Chancen werden, je mehr sie zu einem Nadelöhr werden, durch das nur noch wenige einzelne kommen, desto mehr entstehen individualistische Muster.
  • (2) Auf dem Arbeitsmarkt wird durch soziale und geographische Mobilitätsprozesse eine spezifische Besonderung von Lebensläufen erzwungen. Der Bevölkerungsanteil von Menschen, die noch an dem gleichen Ort leben und arbeiten, an dem sie geboren wurden oder gar die Eltern- oder Großelterngeneration gelebt hat, wird immer kleiner. Auch innerhalb einer Arbeitsbiographie werden Arbeitsplatz-, Orts- und Berufswechsel immer häufiger. Langfristige nachbarschaftliche, freundschaftliche und berufliche Bindungen werden dadurch erschwert. »Die Lebenswege der Menschen verselbständigen sich gegenüber den Bedingungen und Bindungen, aus denen sie stammen oder die sie neu eingehen, und gewinnen diesen gegenüber eine Eigenständigkeit und Eigenrealität, die sie überhaupt erst als ein persönliches Schicksal erlebbar und identifizierbar machen« (Beck 1983, 46).
  • (3) Ein Prozeß, der die Vereinzelung und gegenseitige Abschottung entscheidend befördert, ist die Konkurrenz, in die der Arbeitsmarkt die Menschen zueinander setzt. Der Konkurrenzdruck ist mit dem Ausbau des Bildungssystems, der gleichzeitig wachsenden Arbeitslosigkeit und der Entwertung von Bildungsabschlüssen gewachsen. »Konkurrenz beruht auf Austauschbarkeit und setzt damit den Zwang frei, diese Austauschbarkeit durch Betonung und Inszenierung der Besonderheit, Einmaligkeit und Individualität der eigenen Leistung und Person zu unter laufen und zu minimieren« (ebd. 46).
    Das Spektrum der Bedingungen und Konstellationen, die diesen Freisetzungsprozeß unterstützen und beschleunigen, läßt sich durch Aspekte erweitern, die zum Teil von den drei genannten Dimensionen abhängig sind:
  • (4) Die wohlfahrtsstaatlichen Programme (Kranken-, Sozial- oder Arbeitslosenversicherung) basieren auf der Individualisierung von Risiken und sichern diese Risiken auch nur aufgrund der Zurechnung zu einer bestimmten Person ab. In diesem sozialpolitischen Sicherungs- und Steuerungssystem vollzieht sich eine spezifische Sozialisation der Subjekte, die als »sozialpsychologische Infrastruktur« des sozialstaatlich durchwirkten Kapitalismus bezeichnet wurde (Rodel und Guldimann 1978). Sozialstaatliche Leistungen können nur dann erwartet und eingeklagt werden, wenn die Statsbürger Defizite und Probleme sich selbst zurechnen. Kollektive Betroffenheit von spezifischen Problemen und eine auf die strukturelle Ursache solcher Probleme zielende Intervention sind als sozialpolitische Definitions- und Handlungsmuster nicht möglich.
  • (5) Alte Wohngebiete und die in ihnen über Generationen gewachsenen Bindungen verschwinden immer mehr aus dem Bild einer modernisierten Republik. Mit diesen Wohnformen verschwinden auch dichte Netzwerkbeziehungen und subkulturelle Milieus, in denen kollektive Erfahrungen und spezifische Lebensmuster weitervermittelt werden könnten. Für die neuen großstädtischen Wohngebiete sind gelockerte Bekanntschafts- und Nachbarschaftskreise typisch oder auch die isolierende Abgrenzung voneinander.
  • (6) Lebensweltlich erworbenes Erfahrungswissen und dessen Weitergabe oder kollektive Deutungsmuster einer spezifischen Subkultur verlieren zunehmend an Orientierungsfunktion. In einer individualisierten Alltagskultur erscheinen sie schnell antiquiert. Immer größere Bedeutung erlangen massenmedial vermittelte Interpretationsfolien. Für Kinder erlangen sie immer früher den Status des Cicerone durch ihre Welt. Analysen der Massenmedien zeigen, daß sie immer stärker die Aufgabe übernehmen, Orientierungsleitfäden für den Alltag zu vermitteln. Psychologische Deutungsmuster durchwirken diese Leitfäden immer prägender und befördern den Individualisierungstrend auf ihre Weise.
  • (7) Quer zu den arbeitsmarktbezogenen Freisetzungen haben sich durch die reale Infragestellung der klassischen Rollenverteilung der Geschlechter weitere Auflösungsprozesse von Sozialformen ergeben. Die Versuche vieler Frauen, für sich einen eigenen Weg zu finden, der die Option auf Beruf, Kinder und Partnerschaft enthält, hat in die private Welt vieler Menschen eine experimentelle Offenheit gebracht, die nach keinem traditionellen Standardmuster kleinfamiliärer Lebensformen gemeistert werden kann. Die Folge ist eine »Pluralisierung der Familienform«, »eine Vielfalt von Lebensformen, -bahnen, -Verhältnissen ( und -Irrgärten, die mit dem Begriff Familie so wenig einzufangen ist, wie Ameisen mit einem Schmetterlingsnetz« (Beck 1985, 93).

Die Folgen dieser Freisetzungsprozesse gehen für die Subjekte weit über die Veränderungen äußerer Lebenskonturen hinaus. Sie fordern eine veränderte innere Ausstattung, um durch eine sich partikularisierende Welt und die ständig geforderten situativen Umstellungen ohne Zerfall der Person durchzukommen. Stabile Handlungsorientierungen, Koordinaten, die für ein Leben lang sichere Bezugspunkte liefern könnten oder das Anknüpfen an Modellen aus der eigenen Elterngeneration sind kaum mehr möglich. Die Subjekte werden zum »Dreh- und Angelpunkt der eigenen Lebensführung« (Beck 1985, 88), der einzelne muß lernen, »sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen« (Beck 1985, 59). Die Biographien lösen sich immer stärker aus vorgegebenen Rollenmustern und Schablonen, sie werden entscheidungsoffener, sie müssen von den Subjekten selbst gestaltet werden.
Der Individualisierungsprozeß, der im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft von Anbeginn angelegt war, hat in seiner Dynamik mittlerweile unsere Gesellschaft ganz durchdrungen und alle gesellschaftlichen Schichten erfaßt. Durch den gegenwärtig sich vollziehenden neuen technologischen Rationalisierungsschub scheint der Freisetzungsprozeß an Durchschlagskraft noch zuzulegen. Der Mikrochip ist das Symbol für ein neues Niveau gesellschaftlicher Arbeit und mit ihm vollzieht sich ein Umbruch, der das ganze gesellschaftliche Gefüge erfaßt und bevorzugt als »Modernisierung« bezeichnet wird. Er betrifft nicht nur veränderte Formen des Arbeitens, sondern hat Auswirkungen auf Lebensstile und normative Orientierungen und erfaßt die Sozialcharaktere und Identitätsmuster. Beck spricht von einem Prozeß der »Innenmodernisierung«, an dem das Instrumentarium der entwickelten Psychokultur einen spezifischen Anteil hat: »In den Ruinen enttraditionalisierter Lebensformen und Lebenswelten breitet sich die Identitätskrise wie eine Epidemie aus. Diese wird nicht in dem Ausbruch aus der Passivität des Man in die Aktivität des Ich produktiv durchschritten, sondern öffnet das Innen der Menschen dem expansiven Zugriff florierender Erlebnisindustrien, Religionsbewegungen und politischer Doktrinen. Spaß und Freude, Schmerz und Tränen, Erinnerung, Phantasie und die Hingabe an den Augenblick, Hören, Sehen und Fühlen, werden aus ihrer noch verbliebenen traditionalen Ich-Zuständigkeit und Spontaneität herausgelöst und unter marktfördernden Moden wechselnden Innenstandardisierungen unterzogen« (Beck 1985, 111).
Wichtig scheint mir, diesen soziokulturellen und psychosozialen Veränderungsprozeß nicht nur als Verfallsgeschichte zu beschreiben, in der bewährte und liebgewordene Lebensmuster unterminiert und zermahlen werden. Er eröffnet auch die Chance für neue Lebensformen. Der tiefgreifende gesellschaftliche Transformationsprozeß führt zu gesellschaftlicher Desintegration und diese wiederum erweitert die Spielräume für Individualität, für Traditionsbrüche, die neue Lebensperspektiven eröffnen können.

2. Eine sich spaltende Gesellschaft

Von Krisen ist der Kapitalismus mit schöner Regelmäßigkeit geschüttelt worden, sie gehören geradezu gesetzmäßig zu seiner Entwicklungsdynamik. Befinden wir uns in einer solchen Krise mit erhöhter Arbeitslosigkeit, aber auch mit der Perspektive, daß dieser negativen Konjunkturschwankung auch wieder ein neuer Aufschwung folgen wird? Das Besondere der gegenwärtigen Strukturkrise läßt sich auf den einfachen Nenner bringen: der Aufschwung findet statt, aber er gilt nicht für alle. Das klassische Krisenablaufmuster hat offensichtlich seine Gültigkeit verloren. Mit einer konjunkturellen Wiederbelebung wird der Arbeitslosensockel nicht weggeschmolzen, sondern sie beginnt erst oberhalb einer spezifischen gesellschaftlichen Schließungsgrenze neu gewonnene Ressourcen zugänglich zu machen. Der Arbeitsmarkt weist eine sich vertiefende Spaltung und Segmentierung auf. Diese Segmentierung geht weit über die diversen Randgruppen hinaus, die auch in früheren Perioden der Hochkonjunktur kaum in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten. Heute trifft diese Aufspaltung etwa ein Drittel der Erwerbsbevölkerung. »Das ausgegrenzte Drittel wies pro Kopf ca. 2,6 Arbeitslosigkeitsperioden auf und war im Durchschnitt 11,4 Monate, also ca. ein Jahr arbeitslos« (Hanesch 1986, 42). Die Ausgliederungsrisiken wachsen für die sogenannten Problemgruppen des Arbeitsmarktes und zugleich sinken ihre Chancen auf Eingliederung bzw. Wiedereingliederung. Die Problemgruppen sind insbesondere Frauen, Ausländer, ältere Arbeitnehmer, Behinderte und Jugendliche. Diesem Selektionsprozeß, der sich scheinbar naturwüchsig vollzieht, der als unvermeidliche Folge eines technologischen Modernisierungsprozesses betrachtet wird, wird durch keine beschäftigungs- oder sozialpolitische Gegenstrategie die Spitze genommen. Nach einer Periode, die unter Losungen wie »Beschäftigung für alle« und »Chancengleichheit« stand, schichtet sich das gesellschaftliche Gefüge neu. Es entstehen neue Hierarchien: »oben diejenigen aus den mittelständischen Berufen mit Zukunft, die Minderheit der Arbeitenden mit festen, sozialstaatlich gesicherten Jobs, dann die breite Zahl jener, deren Arbeit sozial weniger gesichert ist, als Teilzeitarbeit kaum mehr den Lebensunterhalt für eine Familie, ja, oft nicht einmal fürs eigene Auskommen hergibt, schließlich diejenigen, die keine Arbeit, bzw. kaum oder nur sehr gelegentliche Aussicht haben, eine solche zu bekommen. Wir wissen heute bereits, wo vor allem die Verlierer dieser Entwicklung zu finden sein werden: bei den Frauen und den Alten, die heute entlassen werden, den Jugendlichen, die in ein geschlossenes System gar nicht mehr hineinkommen, den auf irgendeine Weise behinderten Menschen« (Evers und Opielka 1985, 32).
Dieser gesellschaftliche Umbau wird ideologisch begleitet von der Wiederbelebung neokonservativer Werte und Haltungen (vgl. Dubiel 1985). Die Grundprinzipien des sozialdemokratischen Gesellschaftsmodells »wie Fortschritt, Gleichheit, Solidarität, kollektive Wohlfahrt und materielle Sicherheit haben kaum noch Konjunktur. Statt dessen gelten eher wieder Leistung, individuelles Durchsetzungsvermögen, Ellbogencleverness, Privatismus, Familie, Opfer und Moral. Einer sich spaltenden Gesellschaft werden die entsprechenden Weltbilder verpaßt: bestehend aus einer widersprüchlichen Mischung von individualisiertem Leistungsmythos und autoritärem Sicherheitsbedürfnis, Gewaltbereitschaft und Angst, kollektiver Aggressivität und privatistischer Resignation, Pseudoliberalismus und stumpfer Moral, Single-Kultur und synthetischer Familienidylle. Nationalismus wird wieder brauchbar als Ersatz für den verschwundenen sozialen Konsens der Gesellschaft, die sich vertiefenden sozialen Spannungen müssen mit dem Kitt alt-neuer Feindbilder verkleistert werden« (Hirsch 1985, 87).
Wie uns Oskar Negt gezeigt hat, ist die Spaltung der Gesellschaft nicht nur eine analytisch zu fassende Kategorie (Negt 1984). Vielmehr bilden sich zwei Realitäten heraus, die nicht für einander offen sind, die sich gegenseitig abschließen. In beiden Realitäten, die durch die innergesellschaftliche Spaltung entstehen, stehen individualistische Verarbeitungsmuster im Zentrum. Auch den von der Massenarbeitslosigkeit betroffenen Menschen wird diese Problemlage als »persönliches Schicksal aufgebuckelt. (...) Die Betroffenen müssen mit sich selbst austragen, wofür armutserfahrene, klassengeprägte Lebenszusammenhänge entlastende Gegendeutungen, Abwehr- und Unterstützungsformen bereithielten und tradierten« (Beck 1986, 197).
Wenn wir die individualistischen Freisetzungs- und die gesellschaftlichen Aufspaltungsprozesse als Interpretationsmöglichkeiten für die gegenwärtige soziale Umbruchsituation und die mit ihr verbundenen aufreißenden Widersprüche nehmen, dann wird das Nebeneinander von hoffnungsvollen Zukunftsdeutungen und resignativer Apathie, von Wertewandel und den Wiederbelebungsversuchen konservativer Werte, von der Erprobung neuer Lebensformen und der Verzweiflung an dem, was nicht mehr lebbar ist, verständlicher. Es hängt so viel ab von dem jeweiligen eigenen Realitätsspektrum, in dem wir unsere Erfahrungen machen. Es hängt so viel von unseren persönlichen und sozialen Ressourcen ab, ob wir den Erosionsprozeß in den traditionellen Lebensformen und Identitätsmustern als Chance für neue experimentelle Suchbewegungen wahrnehmen können oder erst einmal nur als Verlusterfahrung, auf die wir mit Ängsten reagieren oder mit Verhärtungen und Panzerungen.

3. Neue soziale Bewegungen: Aufbruch in eine andere Gesellschaft?

Wir befinden uns in einer Phase, in der eine grundlegende technologische Modernisierung auf die Tagesordnung gebracht wird. Sie beginnt zu wirken und den Alltag vieler Menschen umzugestalten. Gleichzeitig wachsen die Zweifel an dem Fortschrittsdenken, aus dem heraus die Umgestaltung der Arbeits-und Lebensbedingungen zwingend gefordert erscheinen. Die Folgeprobleme einer ungebremsten industriellen Modernisierung sind für niemanden mehr zu übersehen und für immer mehr Menschen scheint der Preis zu hoch, den ein Weitermachen nach den bisher praktizierten Prinzipien fordert. Es hat sich ein Bewußtsein für Bedrohungen und Belastungen herausgebildet: die mit den konventionellen Problemlösungsstrategien nicht mehr bewältigt werden können. Es hat sich eine Sensibilisierung der öffentlichen Problemwahrnehmung für mindestens die folgenden Krisenherde herausgebildet:

  • a) die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen durch fortschreitende Umweltzerstörung und -Vergiftung (ökologische Problematik)
  • b) die Gefährdungen des menschlichen Lebens durch einen wahrscheinlicher werdenden atomaren Konflikt (Sicherheitsproblematik); 
  • c) die beschleunigte Zersetzung gewachsener Sozialzusammenhänge, die rasche Auflösung tradierter sowie die konflikthafte Freisetzung neuer Orientierungs-, Wert- und Handlungsmuster durch die fortschreitende Industrialisierung des gesamten Lebens (Lebenswelt- und Sinnproblematik); 
  • d)die drastische Verschärfung des Elends in weiten Teilen der >Dritten< und >Vierten Welt< als Folge weltmarktabhängiger industrieller Modernisierungsstrategien (Nord-Süd-Problematik)« (Brand, Büsser und Rucht 1983, 28).

Aus all diesen Modernisierungsrisiken und Bedrohungen sind in den vergangenen Jahren Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen entstanden, die eine große Vielfalt in die politische Kultur der Bundesrepublik gebracht haben. In der Geschichte der Bundesrepublik dürfte es noch nie einen so hohen Grad der Politisierung gegeben haben. Wenn wir von den großen Massendemonstrationen der vereinigten Friedensinitiativen im Herbst 1983 absehen, so wird dieses Potential der neuen sozialen Bewegungen weniger in machtvollen Großdemonstrationen sichtbar als in der vielgestaltigen Landschaft von Initiativen, selbstorganisierten Projekten und Selbsthilfegruppen. Diese Gruppen beziehen ihre Identität nicht mehr aus den klassischen politischen Formationen und gesellschaftlichen Konflikten, sie definieren sich nicht aus der Tradition der Arbeiterbewegung wie es noch Teile der Studentenbewegung getan haben. Sie richten sich teilweise auf die Erprobung von neuen Lebensformen als Ersatz für die traditionellen Muster, die nicht mehr tragen und binden. Sie beziehen sich auf Probleme der Erziehung, des Woh-nens und Arbeitens. Aus meiner Sicht hat sich die lebendigste Vielfalt aus der Frauenbewegung ergeben. Der Erosionsprozeß, in den geschlechtsspezifische Identitätsmuster geraten sind und der vor allem das Modell der Kleinfamilie erfaßt hat, hat zu immer neuen Suchbewegungen für einen lebbaren Alltag gefuhrt und experimentelle Umgangsweisen gefördert.
Es ist sicherlich schwer, über diesen Bereich kleiner und kleinster Gruppen und Initiativen den Überblick zu gewinnen, und sicherlich ist es deshalb noch problematischer, ihr politisches Gewicht taxieren zu wollen. Erkennbar scheint mir aber eine Tendenz, Autonomie gewinnen und verteidigen zu wollen, vor allem gegenüber den verwaltungsmäßigen und politischen Vereinnahmungs-und Anbindungsversuchen. Stattdessen bilden sich »Formen basisnaher und seibstverwalteter Organisationen« heraus (Habermas 1985, 155). In der Terminologie von Claus Offe (1984) vollzieht sich Politik nicht nur in der Arena der politischen Eliten, die den Staatsapparat zu steuern versuchen oder von ihm gesteuert werden. Es gibt natürlich die zweite Arena der Interessengruppen, Verbände und Wirtschaftsvertreter, die den politischen Spielraum für sich zu nutzen versuchen und ihre politischen issues auf die politische Tagesordnung zu setzen versuchen.
Und schließlich gibt es die Arena, in der sich politische Kultur in der Auseinandersetzung mit zentralen alltäglichen Bedürfnissen herausbildet, die ein filigranes Netz von Verständigung ausbildet. Um diese dritte Arena geht es, wenn wir über soziale Bewegungen reden. Habermas hat die Themen und Strukturen dieser dritten politischen Arena zu fassen versucht: »Es geht um die Unversehrtheit und Autonomie von Lebensstilen, etwa um die Verteidigung traditionell eingewöhnter Subkulturen oder um die Veränderung der Grammatik überlieferter Lebensformen. (...) Diese Kämpfe bleiben meist latent, sie bewegen sich im Mikrobereich alltäglicher Kommunikationen, verdichten sich nur dann und wann zu öffentlichen Diskursen und höherstufigen Intersubjektivitäten. Auf solchen Schauplätzen können sich autonome Öffentlichkeiten bilden, die auch miteinander in Kommunikation treten, sobald das Potential zur Selbstorganisation und zum selbstorganisierten Gebrauch von Kommunikationsmedien genutzt wird. Formen der Selbstorganisation verstärken die kollektive Handlungsfähigkeit...« (1985, 159f.).
Ich sehe die Gefahr, die Bedeutung dieser neuen sozialen Formen zu überschätzen, ihnen mehr Hoffnungen aufzuladen, als sie tragen können. Sie werden nicht die Probleme bewältigen können, die in den bei den anderen politischen Arenen produziert werden. Es wird darauf an kommen, das Politisierungspotential dieser Initiativen und Bewegungen in den anderen Arenen sichtbar zu machen und dort auch abzusichern. Die Projekte, die neue Lebens- und Arbeitsformen erproben, brauchen Ressourcen aus staatlichen Fonds. Es gilt exemplarisch sichtbar zu machen, daß es Alternativen zu jenen Krisenstrategien gibt, die sich in geballter Anstrengung auf die Wege fixieren, die zu der Krise geführt haben. Für uns psychosoziale Professionelle sehe ich in der Kultur von Initiativen und Projekten vor allem den Ansatz zur Wiedergewinnung kollektiver Handlungsfähigkeit, die die hoffnungsvollste Antwort auf den Isolationismus freigesetzter Individuen darstellt.

4. Versuch einer Zusammenfassung
mit dem Blick für Perspektiven psychosozialer Praxis

Diese Ausschnitte aus einer widersprüchlichen Gegenwartssituation lassen sich auch durch die vorgenommenen Deutungsversuche nicht auf einen stimmigen Nenner bringen. Klar dürfte geworden sein, daß die gesellschaftlichen Koordinaten und unsere daran festgehakten begrifflichen Verständigungsformen und Erklärungsmuster in Bewegung geraten sind. Nicht alles, was sich da bewegt, ist als Verfallsgeschichte zu beschreiben. Wir befinden uns nicht nur in einer Erschöpfungskrise, die uns alle Hoffnungen nimmt. Aber die zum Teil aufkeimenden neuen Hoffnungen haben noch nicht so klare Konturen, daß wir uns ihnen ganz anvertrauen könnten. Es bleibt eine Mischung von Irritationen und dem vorsichtig tastenden Blick für Neues, von dem wir meist nicht genau wissen, ob es nicht die modische Verkleidung des Alten ist. In einer solchen Situation ist es von besonderer Bedeutung, das widersprüchliche Feld nicht auf zu einfache Formeln zu bringen, die alles »irgendwie« stimmig machen, die uns die Belastungen und Orientierungskrisen ersparen könnten, die mit Widersprüchen notwendigerweise verbunden sind. Habermas hat unsere gegenwärtige Situation treffend mit »neuer Unübersichtlichkeit« (1985) überschrieben, und nichts spricht im Augenblick dafür, daß sich eine neue Klarheit in allernächster Zeit ergeben könnte. — In einer solchen Situation sehe ich die Gefahr durch die Versuchungen aller möglichen Varianten einer »neuen Einfachheit«. Die uns allseits angepriesenen Paradigmen, die verkündeten Transformationen in ein neues (goldenes) Zeitalter oder auch die bescheideneren Verlockungen einer »neuen Fachlichkeit« gehören für mich zu diesen Vereinfachungen. Mir fällt nur ein ehrwürdiges Konzept unserer Disziplin ein, wenn ich begrifflich zu fassen versuche, was wir gegenwärtig brauchen: »Ambiguitätstoleranz« (Frenkel-Brunswik 1949/50). Sich Widersprüchen gedanklich stellen, heißt das, sich nicht vorschnell auf eine Seite ziehen lassen, sie geduldig erkunden, um das, was durch sie in Bewegung kommt, auch wirklich erkennen zu können. Ambiguitätstoleranz verträgt sich aber durchaus mit dem Wunsch, etwas tun zu wollen, etwas voranzubringen.
In einigen Punkten möchte ich abschließend Handlungsperspektiven für den psychosozialen Bereich und einige politische Konsequenzen andeuten, die in der gegenwärtigen Krisensituation erforderlich erscheinen.
1. Der gesellschaftliche Transformationsprozeß, der immer mehr Menschen »freisetzt« und zu gesellschaftlicher Desintegration führt, erweitert die Spielräume für Individualität. Traditionsbrüche können neue Lebensperspektiven eröffnen, die von den Subjekten selbst gestaltet werden können. Der sich vergrößernde Handlungsspielraum ermöglicht neue soziale Beziehungen, die nicht durch starre Rollenmuster vordefiniert sind. Sie können ausgehandelt werden. Zugleich bedeutet dieser Freisetzungsprozeß Verlust lebbarer Formen für den Alltag, die zunehmende Krisenhaftigkeit von Identitätsbildungsprozessen und zunehmende Vereinzelung und Isolation. Die psychosoziale Praxis liefert dafür beständiges Anschauungsmaterial, sie zeigt uns die Kostenseite dieser Freisetzung. Für die positive Nutzung der gewachsenen individuellen Spielräume reichen oft die psychosozialen Ressourcen nicht aus, oder es gibt auch die »Furcht vor der Freiheit«. Wir müssen unsere Praxis an dem Kriterium messen, ob es uns gelingt, eine lebbare Vermittlung der beiden Pole Individualität und neue solidarische Lebensformen zu unterstützen. Eine Psychologie, die auf den Individualitätspol allein setzt, arbeitet der Psychokultur zu, die einem zur Lebensform erhobenen Narzißmus huldigt. Die andere aktuelle Gefahr sehe ich in dem kollektiv-autoritären Infantilismus der Psychosekten, die den Pol einer emanzipatorischen Subjektivität eliminieren. Fördern sollten wir alle Versuche der Selbstorganisation, die die Chancen für neue kollektive Handlungsmöglichkeiten erschließen.
2. Die innergesellschaftliche Spaltung zieht ihren Riß mitten durch das psychosoziale Handlungsfeld. Psychosoziale Praktiker haben mit Menschen aus den zwei beschriebenen sozialen Realitäten zu tun, und sie und ihre Institutionen scheinen sich entweder in der einen oder anderen Realität anzusiedeln. Auf der einen Seite gibt es eine anhaltende Nachfrage jener Menschen, die zum »produktiven Kern« der Gesellschaft gehören und ihre Identitätsprobleme und Ängste angesichts eines steigenden individuellen Profilierungszwanges und veränderter Arbeitsbedingungen bearbeiten wollen. Sie haben genügend finanzielle Ressourcen, um sich auf dem Markt der Psychowaren auch die exquisitesten Angebote leisten zu können. Auf der anderen Seite hat psychosoziale Praxis mit all jenen zu tun, für die Reintegrationsmöglichkeiten in den gesellschaftlichen Kern immer unwahrscheinlicher werden. Eine Kultur der Ausgrenzung und Demoralisierung hat sich entwickelt und psychosoziale Praktiker, die in diesen Feldern arbeiten, drohen teilweise zu Ausgrenzungsfunktionären zu werden. Für viele Kollegen, die in der Psychiatrie, in Sondereinrichtungen oder im Bereich der Arbeits-Verwaltung arbeiten, werden die Möglichkeiten für erfolgreiche Normalisierung immer geringer. Haben die psychosozialen Professionen eine Chance, zur Überwindung jener scheinbar naturwüchsig entstehenden Kultur der Spaltung und Ausgrenzung beizutragen? Augenblicklich scheint sehr viel dagegen zu sprechen. Wir reproduzieren professionsintern gegenwärtig verschiedene Aufspaltungen bzw. vertiefen sie noch. Über den privaten Ausbildungsmarkt versuchen sich Eliten zu etablieren, die hinter sich den Zugang zu den erreichten Finanzierungsquellen erschweren. Die Hochschulen versuchen einen eigenen Weg der  Elitenbildung zu gehen. Es dürfte nicht schwerfallen, die klinischen Psychologen in eine nicht allzu große Gruppe von Privilegierten und ein größer werdendes Heer der Habenichtse aufzuteilen. Auch der Zustand der Verbände, deren Politik gegen eine Kultur der Spaltung gerichtet war, liefert kaum Gründe für eine optimistische Lageeinschätzung. Aus den engen professionellen Ressourcen wird sich keine erfolgreiche Gegenbewegung entwickeln können. Ich sehe einzig in den neuen sozialen Bewegungen ein Potential, das gegen die Vertiefung der Spaltung arbeitet. Ihre zentralen Thesen wie Frieden, Ökologie oder die Suche nach neuen Definitionen für die Geschlechter- und Altersrollen sind ihrer Idee nach nicht aufspaltbar. Die gemeinsame Arbeit an diesen Themen in dezentralen Gruppen oder in überregionalen Zusammenschlüssen (wie beispielsweise auch in den psychosozialen Verbänden) könnte dazu beitragen, die sich ausweitende Kluft zu überwinden.
3. In den Gemeinden und Regionen, in denen wir leben und arbeiten, müssen wir uns für die Förderung von selbstorganisierten Projekten, Initiativen und Selbsthilfegruppen einsetzen. Es scheint wichtig, daß diese Förderung der Kontrolle der Verwaltungen und Wohlfahrtsbürokratien entzogen ist. Notwendig ist die Vergrößerung finanzieller und organisatorischer Autonomie. Das Modell der Schaffung regionaler Fonds wird gegenwärtig in einigen Großstädten erprobt. Die Verschiedenartigkeit dieser Modelle zeigt, mit welch unterschiedlichen politischen Interessen sie verbunden sind. Unübersehbar ist der Versuch neokonservativer Sozialpolitik, Initiativen und Projekte als Mittel zur Entlastung staatlicher Leistungen zu mißbrauchen. Es gibt jedoch auch Ansätze, in denen die experimentelle Erprobung neuer Wege ermöglicht wird und ein hohes Maß der Beteiligung der Initiativen an der Verteilung von Ressourcen eingeräumt wird. Es wäre sicherlich eine Illusion, sich auf diesem Wege eine Lösung der gegenwärtigen Arbeitsmarktprobleme zu versprechen. Es kann nur darum gehen, in exemplarischer Weise neue Umgangsweisen mit den Folgen der gesellschaftlichen Strukturkrise aufzuzeigen. Fünf oder zehn erfolgreiche Alternativprojekte für psychisch Kranke stellen keine gesellschaftliche Lösung für die wachsenden Gettos ehemaliger Patienten dar, aber sie können zu einem Symbol dafür werden, daß neue Formen des Miteinanderarbeitens und -lebens möglich sind, die auch für die normale Erwerbsbevölkerung Alternativen aufzeigen könnten.
Mit dem letzten und den beiden folgenden Punkten betreten wir den politischen Raum, in dem gesamtgesellschaftliche Perspektiven und Forderungen zur Debatte stehen, ohne die eine Überwindung der Strukturkonflikte im psychosozialen Arbeitsfeld nicht denkbar sind.
4. und 5. betreffen zwei Forderungen, die sinnvollerweise nur im Zusammenhang gesehen werden können: Das Recht auf Erwerbsarbeit für jede und jeden bedeutet eine grundlegende Umverteilung der vorhandenen Arbeit und es bedeutet vor allem eine radikale allgemeine Arbeitszeitverkürzung (z.B. das utopisch erscheinende Ziel einer 20-Stunden-Normalerwerbswoche). Wie Untersuchungen zeigen (vgl. z.B. v. Klipstein und Strümpel 1985), gibt es in der Bevölkerung eine große Bereitschaft zu einer Umverteilung der Erwerbsarbeit. Die Einführung eines »garantierten Grundeinkommens« als parallele Entwicklung muß hinzukommen (vgl. dazu Schmid 1984; Opielka und Vobruba 1986). Die Bereitschaft, sich mit solchen Überlegungen auseinanderzusetzen, wächst (vgl. dazu den ZEIT-Artikel von Dahrendorf vom 17.1.1986). Die damit implizierte Entkoppelung von Arbeit und Einkommen scheint auf dem Hintergrund der noch immer tief eingewurzelten neutestamentarischen Formel »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« utopisch, aber die mehrfach angesprochene Erosionskrise unterspült gerade diese tragende Säule unserer Arbeitsgesellschaft. Gerade für jene Bevölkerungsgruppen, die durch die fortschreitende Abspaltung und Ausgrenzung um ihre Lebensperspektive gebracht werden, würde ein garantiertes Mindesteinkommen oberhalb der Armutsgrenze neue Lebenschancen eröffnen.

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