Dieser Bericht soll Rückblick sein auf ein lehrreiches Jahr als junger Stationsarzt, der seine erste Tätigkeit in der Psychiatrie unter der Obhut eines engagierten Stationsteams und eines erfahrenen Oberarztes ausüben konnte, wodurch ihm manche Not eines Anfängers erspart blieb. Die hier berichteten Zahlen habe ich gesammelt in dem Wunsch, mir abseits der Zeitnot alltäglichen Handelns klarer darüber zu werden, was ich für wen und wozu eigentlich gemacht habe. Sie sollen gleichzeitig Ausgangspunkt für eine Untersuchung sein, bei der ich die ambulanten psychiatrischen Betreuer im Halbjahres-Rhythmus um einen kurzen Verlaufsbericht über die von mir entlassenen Patienten bitte. Aus dieser Konzeption ergeben sich auch die Aufnahmekriterien der Untersuchungsgruppe: Entscheidend ist, daß der Patient zwischen dem 1. Juni 1984 und dem 31. Mai 1985 entweder in ambulante Betreuung, ein therapeutisches Übergangswohnheim bzw. eine Pflegeeinrichtung entlassen oder in unsere Tagesklinik verlegt wurde. Sonstige Verlegungen innerhalb unserer Klinik oder in andere Krankenhäuser führten zum Ausschluß des Patienten aus der Untersuchungsgruppe; darunter befindet sich auch eine Patientin, die nach einem Suizidversuch auf unserer Station in der Intensivmedizinischen Abteilung der Medizinischen Hochschule Hannover verstarb.
Die Psychiatrische Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover hat sich Anfang der 70er Jahre verpflichtet, für ein Einzugsgebiet mit jetzt ungefähr 150000 Einwohnern Hannovers die Verantwortung für jegliche stationäre Betreuung psychiatrischer Patienten zu übernehmen. Sie hat darüber hinaus im Laufe ihrer Entwicklung spezialisierte Stationen für die Behandlung suchtkranker und geronto-psychiatrischer Patienten eingerichtet und die Trennung von Akut- und Rehabilitationsstationen aufgehoben. In den daraus hervorgegangenen 4 »Regelstationen« (je 2 für die beiden Subsektoren) werden also Patienten von der Klinikaufnahme bis zur Entlassung in ambulante Betreuung behandelt, sofern nicht eine Verlegung in die Tagesklinik oder auf die sogenannte Übergangsstation für längerfristiges Sozialtraining erfolgt. Ich habe auf einer solchen Regelstation mit 14 Betten gearbeitet, dessen Stammpersonal bis auf einen Wechsel der Beschäftigungstherapeutin während des ganzen Jahres konstant blieb. Die Spezialisierung innerhalb der Klinik hat dazu geführt, daß es die Regelstation vorwiegend mit psychotischen Patienten zu tun hat. Rund ein Drittel der Patienten wohnten nicht im MHH-Sektor.
Das Kreuz mit den Diagnosen
Ohne die Notwendigkeit einer diagnostischen Beurteilung in Frage zustellen, habe ich die Relativität des Internationalen Diagnosen-Schlüssels (ICD) für die psychiatrische Arbeit erkennen müssen, was für mich vornehmlich naturwissenschaftlich ausgebildeten Arzt schon eine gewisse Anfechtung war. Richtlinie für therapeutisches Handeln war vielmehr der Charakter gestörten inneren Erlebens und sozialen Handelns, der Grad der aktuellen Desintegration der Ich-Funktionen. Die Verpflichtung, für die Klinik-Dokumentation dann auch eine ICD-Num-mer zu finden, hat nicht nur bei mir teilweise merkwürdige Ergebnisse gebracht, wie das Studium mancher alten Krankenakten von häufiger aufgenommenen Patienten zeigte. In einem Fall wechselte die Diagnose fast bei jedem Aufenthalt über die gesamte Breite psychiatrischer Klassifikationen hin und wieder zurück. Trotzdem mag die hier aufgeführte Statistik einen Anhaltspunkt für die Zusammensetzung der behandelten Patienten darstellen. Unter der bereits recht klein ausgefallenen Gruppe der Neurosen und Persönlichkeitsstörungen finden sich eine Reihe von sogenannten Borderline-Fällen und sozial abgeglittenen chronifizierten neurotischen Fehlentwicklungen, so daß man davon ausgehen muß, daß Kriseninterventionen bei klassischen Neurosen in Hannover in dem relativ dichten ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Netz aufgefangen werden können oder aber in spezialisierte Kliniken außerhalb Hannovers Einlaß finden. Dabei spielt sicherlich eine Rolle, daß unser Stationsleben von den chronisch psychotischen Patienten bestimmt wird, was die Umgangsformen und die therapeutischen Angebote betrifft. Faktisch ist unsere »Regelstation« eine Art SpezialStation für schizophrene Patienten unter 40 Jahren ohne regulären Arbeits- oder Ausbildungsplatz.
Die geschlossene Tür
Eine für Patienten wie Mitarbeiter schmerzliche Tatsache ist die erhebliche Behinderung des therapeutischen Prozesses durch den Charakter der Station als (halb-)geschlossene. Auch wenn eine (teils kurzzeitige) Zwangsunterbringung nur in insgesamt 25 % aller Aufenthalte bestand, leiden auch diejenigen, die trotz »freien Ausgangs« jedesmal fragen müssen, wenn sie sich eine Schachtel Zigaretten kaufen wollen, sehr unter dem Eindruck eingeschlossen zu sein. Und dem Personal geht viel Zeit mit dem ständigen Auf-und Zuschließen verloren, Zeit, die dann u.U. bei der persönlichen Betreuung einzelner Patienten fehlt. Wenn wir nicht häufig durch ungelernte Kräfte wie Praktikanten, Schüler(innen) und einen Zivildienstleistenden unterstützt worden wären, wäre bei einer oftmaligen Besetzung von nur einer Krankenpflegekraft pro Schicht der Betrieb zusammengebrochen.
Die geschlossene Tür ist das stets gegenwärtige Symbol unseres Zwangs und damit unserer Hilflosigkeit gegenüber schwerem psychischem Leiden, dessen Widerständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Regeln — sei es in Form von Eigen-, sei es in Form von Fremdgefährdung — uns Psychiater zum Agenten öffentlich legitimierter Gewaltmacht. Ich habe die pure Notwendigkeit solchen Handelns auch im Interesse des Eingesperrten eingesehen, doch der therapeutische Zugang zum Patienten ist unter solchen Bedingungen oft behindert, manchmal unmöglich gewesen. Aber ich bin bei allem froh, in einer Klinik ohne Trennung von (geschlossener) Akutstation und (offener) Rehabilita-! tionsstation tätig gewesen zu sein; der Sanktionscharakter der Ausgrenzung, die Isolation der Schwerstkranken wäre sonst noch vollkommener durchgeführt. Und ich bin froh gewesen, in den Teammitgliedern und in meinem Oberarzt Menschen gefunden zu haben, die gerade auch in Fragen der Ausgangsregelungen soviel Mut zum Risiko im Interesse der Freiheitsbedürfnisse auch von Schwerkranken praktiziert haben.
Das Diktat der Patienten
Bald nach Beginn meiner Tätigkeit auf Station verdichtete sich bei den Therapeuten der Wunsch, auf einer ganztägigen Team-Klausur über Anspruch und Wirklichkeit unserer Arbeit gemeinsam nachzudenken. Eine ganze Liste von Meckerpunkten innerhalb des Alltags hatten sich in der Vergangenheit angesammelt. Ziel der Reflexion sollte eine Anpassung des Therapie-Ablaufes an veränderte Arbeitsbedingungen sein. Denn durch gesonderte Behandlung gerontopsychiatrischer und suchtkranker Patienten sowie durch die Verbesserung und Ausweitung der ambulanten Betreuung im Versorgungssektor hatte sich die Zusammensetzung der Klientel auf der »Regelstation« in den letzten Jahren merklich verschoben. Die Zusammenballung akut psychotisch dekompensierter Patienten und, durch langjährige Psychiatrie-»Karriere« ermüdeter, chronisch Kranker hatte zu neuen ungeahnten Belastungen des Personals geführt. Das Bezugstherapeuten-System, das jedem Patienten einen Therapeuten seines Vertrauens an die Seite geben wollte, brach durch die Übermacht kustodialer Aufgaben bei einer Personalbesetzung von oft nur einer examinierten Pflegekrafi pro Schicht zusammen. Die Anleitung zu persönlicher Hygiene, einem die Würde des anderen achtenden Umgang der Patienten untereinander und zur leidlichen Ordnung in den gemeinsam genutzten Räumen bedurfte dauernder Anstrengungen und blieb trotzdem zu oft ohne Erfolg. Über mangelnde Teilnahme an den therapeutischen Aktivitäten wurde ebenso geklagt wie über häufigen Rückzug ins Bett.
Solche Unzufriedenheit und Erschöpfung hinterließ bei den Therapeuten auch ihre Spuren: Die Leitung der Morgenrunde mit den Patienten war eine unbeliebte Aufgabe, die Kooperation zwischen Beschäfti-gungs- und Bewegungstherapeutin einerseits und dem Krankenpflegepersonal andererseits bot Anlaß zur Klage, gemeinsame Fallbesprechungen im Team wurden Seltenheiten. Das ausführliche Gespräch über all diese Probleme einen Tag lang abseits der Station war lösend, förderte den Zusammenhalt über die gemeinsame Tätigkeit. Auch wenn sich einige der dort beschlossenen Vorhaben an den Widerständigkeiten des Alltags abschliffen, sollte meiner Ansicht nach eine solche Team-Klausur ein- bis zweimal im Jahr fester Bestandteil der Klinikplanung sein, für jede Station.
Den wichtigsten Lernprozeß machten wir wohl in der Anpassung unserer Zeitvorstellungen an die realen Perspektiven der Patienten durch. Wer schon viele Jahre das Joch einer Psychose trägt, wer praktisch keine Chance mehr hat, im regulären Berufsleben wieder Tritt zu fassen, wessen soziale Kontakte sich so ausgedünnt haben, der mag/kann sich meist nicht eine unseren Wünschen entsprungene, für ihn ausgetüftelte Stufenleiter beruflichen und sozialen Kompetenzerwerbs hinaufarbeiten. Der schmerzliche Abschied von manchen bewegungs- und beschäftigungstherapeutischen Strategien, von manchem sozialpsychiatrischen Aktivierungsideal ermöglichte uns jedoch auch eine neue Aufmerksamkeit für den Augenblick, das Aufnehmen momentaner Befindlichkeiten und Bedürfnisse innerhalb der Patientengruppen. Ob sich das beim Tanzen in der Rhythmik-Stunde, beim Plastizieren von Masken, beim Wandern im Harz oder beim Gespräch in der Morgenrunde über Ängste entfalten durfte — es wurden oft genug gelungene Begegnungen ohne Anspruch auf Wiederholung bzw. Ausweitung dieser »Leistungen« am Folgetag. Es mag einigen dabei geholfen haben, das schwierige Leben auf einer geschlossenen Station mitten in einer persönlichen Krise zu ertragen.
Die Drehtür
Jeder aufgenommene Patient, der uns Mitarbeitern auf Station bereits bekannt ist, stellt auch eine Infragestellung unserer therapeutischen Leistung dar. Deprimierend, wenn ein ehemaliger Stationsarzt 5 Jahre nach seinem Weggang bei einem kurzen Besuch feststellt, daß er die Hälfte der gegenwärtig stationär betreuten Patienten kennt. Und wie oft wird in den Team-Runden, wenn über Frau X. oder Herrn Y. erzählt wird, immer wieder auf Holz geklopft in abergläubischer Hoffnung, das würde eine drohende Wiederaufnahme dieser z.Zt. »draußen« lebenden Patienten verhindern. Dabei ist doch bekanntermaßen die Drehtür gegenüber der früher häufigen Unterbringung auf Lebenszeit ein entschiedener Vorteil »moderner« psychiatrischer Kliniken in der Versorgung chronisch psychotischer Patienten. Und die meisten leben schon viele Jahre mit ihrem Leiden, sind schon mehrfach bei Krisen in stationärer Behandlung gewesen. Es kann sein, daß unsere relativ kurzen Verweildauern Mehrfachaufnahmen begünstigen, aber das ist mir — und den meisten Patienten wohl auch — lieber als lange Verweildauern. Der große Nachteil einer ausschließlich klinischen Arbeit des Stationsteams ist, daß die Patienten nur dann gesehen werden, wenn es ihnen schlecht geht, bzw. wenn ein Rückfall nicht ambulant aufgefangen werden kann. Über diese verzerrte Wahrnehmung geraten die vielen Menschen in Vergessenheit, denen wir mit einem begrenzten stationären Aufenthalt nachhaltig und vielleicht für immer über eine seelische Krisensituation hinweghelfen konnten.
Ich habe die Schwerpunkte unserer Arbeit auf der Regel Station in der stationären Krisenintervention seelisch Leidender, ihrer Vorbereitung auf ein Zurechtkommen draußen und in ihrer Vermittlung an eine die Wünsche und Bedürfnisse des einzelnen Patienten berücksichtigende ambulante Behandlung gesehen. Im 2. Halbjahr bin ich mutiger gewesen, einem aus meiner Sicht vorzeitigen Abbruch dieser Bemühungen von Seiten des Patienten durch Abforderung seiner Unterschrift unter den Zettel »Entlassung gegen ärztlichen Rat« Ausdruck zu verleihen. Dennoch war auch in solchen Fällen meist eine Adresse für die ambulante Fortsetzung der Behandlung bekannt. Die Zusammensetzung des Patientenklientels brachte es mit sich, daß einige wenige Aufenthalte durch Entweichen von Station bzw. durch disziplinarische Entlassungen vorzeitig ein Ende fanden. Ich bin im Nachhinein jedoch erstaunt, wie viele Behandlungen unter den widrigen Bedingungen in der Akutpsychiatrie regulär beendet werden konnten. Das ist sicher vor allem ein Verdienst der Erfahrung und Homogenität des Teams, des Prinzips der Subsektorisierung, das durch Konstanz der zuständigen Regelstation eine insbesondere für chronisch psychotische Patienten wichtige vertraute Atmosphäre schafft.
Wohin nach der Entlassung?
Motiviert durch eine frühere Arbeit habe ich als Stationsarzt den Kontakt nicht nur zu unseren beiden Polikliniken, sondern auch zu den niedergelassenen Haus- und Nervenärzten gepflegt. Hier war das Telefon ein unentbehrliches Hilfsmittel. War der Patient damit einverstanden, bekamen alle an der ambulanten Betreuung beteiligten Ärzte einen Entlassungsbrief zugeschickt. Wenn möglich, wurde dem Patienten vor Entlassung ein Vorstellungstermin bei seinem ambulanten Therapeuten besorgt. Bei unseren Polikliniken und den städtischen Beratungsstellen haben wir häufig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Patienten schon vor der Entlassung zu einem Gespräch dorthin zu schicken
Es ist inzwischen auf allen Seiten unbestritten, daß niedergelassene Nervenärzte bei chronisch psychotischen Patienten öfter ebenso wie Hausärzte überfordert sind, da von ihnen der notwendige Zeitaufwand, die nachgehende Betreuung, die sozialarbeiterische Kompetenz und sozialpsychiatrische Gruppenangebote nicht geleistet werden können. So ist es nicht verwunderlich, wenn nur eine Minderzahl der Patienten dort psychiatrische Hilfe sucht. Aber es gibt auch bemerkenswert viele Gegenbeispiele, die die Einzelpraxis als wichtige Alternative ambulanter Betreuung bei Psychotikern ausweist. Bei allen oben aufgeführten Nachteilen ist dort die Integration in die allgemeine gesundheitliche Versorgung am größten, die personelle Kontinuität des Therapeuten über Jahrzehnte häufig gewährleistet, die manchmal auch heilende Flucht vor der Psychiatrie am besten durchführbar, ohne ganz auf professionelle Begleitung verzichten zu müssen.
Zweimal Grund zur Wut
Es gab während dieses Jahres als Stationsarzt in der Psychiatrie eine Reihe von Anlässen, die mich ärgerlich, unzufrieden, traurig werden
ließen: z.B. wenn Medikamente mangels Möglichkeit intensiverer persönlicher Betreuung herangezogen werden mußten; wenn Animositäten
zwischen Team und Oberarzt nicht auszuräumen waren; wenn wir in unserer Aufgabe versagten, die Angehörigen eines Patienten zu einer eindeutigeren Haltung ihm gegenüber zu bewegen; wenn es der Klinikleitung an Informations- und Diskussionsbereitschaft, an Fingerspitzengefühl, an Mut zur offensiven Weiterentwicklung des ursprünglichen Reformkonzepts fehlte; wenn die psychotische Krankheit unbeeindruckt aller entgegenarbeitenden Bemühungen ihren Lauf nahm. Wirklich bedrückend aber sind für mich zwei Faktoren geworden, an denen meiner Ansicht nach die gesellschaftliche Integration chronisch psychisch Kranker im Rahmen einer sektorisierten Psychiatrie zu scheitern droht:
Da ist zuerst die fast vollständige Ausgrenzung der Patienten aus dem regulären Arbeitsleben. Im Zuge der seit Jahren bestehenden Massenarbeitslosigkeit haben die jungen Patienten kaum mehr eine Chance, überhaupt ins Berufsleben zu gelangen; und viele Ältere werden vorzeitig berentet. Damit entfällt für uns Therapeuten aber ein Schwerpunkt unserer rehabilitativen Bemühungen, sowohl hinsichtlich des Ziels als auch des Wegs dorthin. Wenn einer der — zu wenigen — Plätze in einer beschützenden Werkstatt nicht mehr Etappe, sondern Endstation auf dem Weg ins Arbeitsleben bedeutet, ist die Rückkehr des psychotischen Menschen in die Gesellschaft nicht gelungen. Das kann sich erst ändern, wenn die Gesellschaft auch diesen Menschen braucht und das auch angemessen honoriert.
Der zweite Grund zur Wut liegt in den Finanzierungsmodalitäten unserer therapeutischen Bemühungen, die der Logik sektorisierter Psychiatrie diametral entgegenlaufen. Kurz gesagt: Je besser unsere stationäre und ambulante psychiatrische Arbeit gelingt, desto gefährdeter ist
deren weiterhin notwendige Fortführung. Denn da wir meist mit chronisch psychisch Kranken bzw. seelisch Behinderten zu tun haben, bedeutet bessere psychiatrische Arbeit mehr ambulante und weniger stationäre Betreuung, selten einmal Rückkehr des Patienten in ein Leben ganz ohne psychiatrische Begleitung. Da aber der teure Klinikaufenthalt nach der Verweildauer und die ambulante Betreuung über Poliklinik oder Ermächtigungsvertrag nach schlecht honorierter Einzelleistung bezahlt werden, kann sich auch die MHH-Psychiatrie personell nur solange stabil halten, wie die Betten in der Klinik belegt sind. Die personellen Ressourcen können nicht je nach aktuellem Erfordernis in der Klinik oder in der Ambulanz konzentriert werden. Das Vergütungssystem zementiert die Vorherrschaft der Anstaltspsychiatrie. Der an sich erfreuliche Zustand, daß weniger Patienten in die Klinik müssen und von dort schneller wieder entlassen werden können, ist nicht erwünscht. Zwangsläufige Konsequenz: Die Patienten werden schneller klinifiziert, länger dort behandelt, und/oder die MHH forciert den Konkurrenzkampf um sektorfremde Patienten, untergräbt damit aber die selbst proklamierten Essentials einer integrierten, gemeindenahen und sektorisierten Psychiatrie. Und im Hintergrund dämmert die neue alte Ideologie, daß man psychische Krankheiten in der Klinik heilen könne, wenn man sie nur lang genug dort festhält und behandelt.