Was den »Bedarf an Theorie« betrifft

Zur Lage der Demokratischen Psychiatrie

In den frühen siebziger Jahren erhielt ich von einer Gruppe spanischer demokratischer Psychiater die Einladung, an einem Treffen in Barcelona teilzunehmen. Es waren auch Franco Basaglia, mit dem ich in Gorizia zusammengearbeitet hatte, und Erich Wulff eingeladen. So haben wir uns kennengelernt. Es waren Geheimtreffen, weil die francistische Polizei jede Zusammenkunft überwachte bzw. verhinderte, die nicht offiziell genehmigt war. Wir machten uns in kleinen Gruppen auf den Weg in eine Schule, wir saßen auf kleinen Bänken und diskutierten Themen wie die repressiven Methoden in der Psychiatrie, den Kampf gegen die Irrenhäuser, das Verhältnis zwischen alter und neuer Kultur, in einer Umgebung, in der uns alles an Faschismus und Diktatur erinnerte. Es waren Themen, die direkt auf den politischen Bereich verwiesen und, mehr noch, auf die Praxis, auf Ansätze, die organisatorische Erfordernisse und laufende Erfahrung miteinander verbanden.
Aus dieser Gruppe junger spanischer Ärzte entstand die lebendige »Asociacion Espaiiola de Neuropsyquiatria«, aus den italienischen Erfahrungen entstand die »Psichiatria democratica«, und im Jahre 1978 wurde in Italien das Gesetz 180 verabschiedet, das die Auflösung der psychiätrischen Krankenhäuser vorschreibt.[1]
Erich Wulff, kosmopolitischer Psychiater, Forscher, Anthropologe, Genosse bekam einen Lehrstuhl an der Universität Hannover, um Psychiatrie zu lehren und weckte u.a. das Interesse junger Psychiater wie Hans Pfefferer-Wolf. Erich Wulff stellt einen festen Bezugspunkt in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie in der Bundesrepublik und für den R~seau der Alternative zur Psychiatrie auf internationaler Ebene dar. Jeder der Anwesenden des damaligen ersten europäischen Zusammentreffens überbrachte Forderungen und Ansprüche, die aus einer persönlichen Erfahrung im Rahmen einer besonderen, unannehmbaren Situation herrührten: aus der Praxis einer Psychiatrie der Repression der Verfolgung, des Konzentrationslagers, einer Psychiatrie, die die Menschenrechte negiert.
Wir können wohl sagen, es war der Moment des praktischen Handelns, der Kritik an der herrschenden Ideologie, der praktischen Kritik am Gleichgewicht und an den Widersprüchen der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Die fünfzehn Jahre, die uns von damals trennen, sind voll von weiteren Zusammenkünften und Veränderungen der psychiatrischen Praxis, die in jenen Wurzeln ihre Legitimität finden.
Diese Jahre waren in Italien durch die Krise des Zentralstaates, die Entstehung der Regionen, die Dezentralisierung der Administration und die Verabschiedung der Gesundheits- und Psychiatriegesetze von 1978 charakterisiert. Es bestand kein Gegensatz zwischen jenem Aktivismus, den gesetzlichen Lösungen und dem Entstehen einer neuen Kultur, die zersplitterte Einzelwissenschaften waren (saperi separati e disciplinari), von denen viele den Triumph der klassischen Psychiatrie begleitet hatten.
Im Gegenteil, die Krise der alten Kultur der Verdinglichung wurde durch den Druck, den die neue anti-institutionelle Praxis ausübte, beschleunigt. Dennoch könnte man vielleicht heute sagen, daß die Theorie damals ungenügend entwickelt wurde und daß man darangehen sollte, diese Insuffizienz zu beheben.
Mir scheint es nützlich, diesen Hinweis anzunehmen und auch auf diesem schwierigen Gebiet zu arbeiten.

1. Über das Denken und über die Theorie

»So denken, daß Auschwitz sich nicht wiederholt«, hat Adorno uns schriftlich hinterlassen.[2] Wir können, ja wir müssen diese Verpflichtung, die wohlgemerkt nicht im Handeln, sondern im Denken besteht, auf die Anstalt ausdehnen. Und folglich wiederholen wir: »So denken, daß die Anstalt sich nicht wiederholt.« Trotzdem kann uns diese Verpflichtung nicht sagen, wie und was denken. Vielleicht kann sie uns sagen, was wir nicht tun dürfen, wie wir uns organisieren müssen, damit bestimmte Entscheidungen nicht getroffen werden und damit Schritte, und seien es auch kleine, in die richtige Richtung gemacht werden, d.h. in die Richtung, die von Auschwitz wegführt.[3]
Es stellt sich dabei das Problem, wie man diese Schritte verifizieren kann, wer sie verifiziert und daß eben das Denken wie auch das »Subjekt« des Denkens wieder den Vorrang erhält. Unser »Denken« ist, glaube ich, jedenfalls ein »Denken«, das an die starke Linie (linea forte) geknüpft ist: des Kampfes gegen Unterdrückung, Ignoranz, Elend, für Freiheit und Gleichheit. Ich möchte noch weitergehen: Es ist ein Kampf für die kollektive Organisation gegen das Leiden und die Einsamkeit, die durch ziemlich genau identifizierbare soziale, ökonomische und politische Dynamiken aufgezwungen werden. Es ist ein Kampf auch gegen Klassen- und Standesegoismen, der darauf hinzielt, soziale Ungleichheit und Gewalt zu verringern und letztlich abzuschaffen. Dies ist zwar noch zu allgemein formuliert, doch werden in dieser Richtung schon H w se gegeben, wie Praxis und Erkenntnis zu organisieren sind. Welchen Sinn können Begriffe wie »Empörung«, »Rebellion«, »Solidarität« »Kampf« einerseits und Begriffe wie »Korporativismus«, »Passismus«, »Gewalt«, »Herrschaft« andererseits haben? Sind erstere »gute«, »positive« Begriffe, letztere Vertreter des »Bösen«, den Klassengegner bezeichnend? Ist es wahr, was einmal Blanchot schrieb - heute erscheint es fernliegend und fast wie gegen den Strom, aber ich empfinde es als sehr nahe - daß »die Wörter die Dinge vernichten, die Wörter die Existenzen töten«?[4] Eine ungeheure, auch theoretische Arbeit liegt vor uns. Es ist eine Aufgabe, die keine Psychiatrie erfüllen kann und nicht einmal die angebliche »Klasse der Intellektuellen« allein bewältigen kann. Es ist eine Aufgabe, die ich als anthropologische definieren möchte, d.h. den Menschen als solchen, die Menschheit betreffend.

1.1 Die »starke« Linie: das »schwache« Denken?
Wir sagten: die »starke« Linie (linea »forte«). Wie kann man sie sonst nennen? Eine Linie des Widerstandes und auch der Macht. Diese Linie ging zweifellos von der Negierung der Institution und der Praxis ihrer Umwälzung (rovesciamento) aus, wie sie sich im Kampf gegen die Anstalt und ihre Logik entwickelt hat, die wir heute noch »Kritische Praxis der Institutionen« nennen können, und d.h. von der gesamten organisierten Bewegung, die, gewappnet mit kritischer Theorie, in diesen Jahren allen deutlich vor Augen geführt hat, daß die Anstalt nicht überleben konnte. Es ist wahr, wie Piro sagt, daß es sich dabei um einen »Modernisierungsprozeß« handelte, aber dieser Prozeß hatte völlig andere Merkmale als in anderen Ländern, in denen er früher eingesetzt hat. Es müßte eine vergleichende Untersuchung durchgeführt werden mit ziemlich raffinierten Instrumenten aus verschiedenen Wissensbereichen, bei der uns unsere englischen, deutschen und anderen ausländischen Freunde helfen müßten herauszufinden, warum anderswo diese Evidenz nicht herbeigeführt werden konnte oder in den ersten Ansätzen steckengeblieben ist, oder wie und ob heute eine kritische Bewegung wieder in Gang kommen kann usw.
Dennoch ist es interessant, daß die Linie des Widerstandes und der Stärke, die wir beschrieben haben, sich sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 180 rapide geschwächt hat in Zusammenhang mit merkwürdigen Ereignissen, auf die wir verspätet reagiert haben, vielleicht weil wir zu sehr damit beschäftigt waren, unseren Boden zu verteidigen und Überraschungen und Übergriffen keinen Raum zu geben: so standen wir in der Verteidigung. Und ich beziehe mich im besonderen auf das Problem der psychiatrischen Krankenhausdienste, auf die Universitätskliniken und ihre mindestens zweideutige Logik, auf die geringe Klarheit des Konzepts der sogenannten »Chronizität« etc. Aber mich interessiert in diesem Moment nicht, die Verspätung zu beklagen und die Schwächung zu sehr zu unterstreichen. Auch weil - entsprechend einer scharfen Beobachtung von Rovatti und Vattimo - der an die »herrschende Vernunft« gezahlte Preis in einer ungeheuren Beschränkung der Dinge besteht, die man sehen und über die man sprechen kann.[5]

1.2 Die Krise der Linken: starke und diffuse Antworten
Es ist leicht, diese ganzen Anstrengungen (Verspätung und Schwächung inbegriffen) auf dem Hintergrund der veränderten politischen Perspektiven zu sehen: der »Krise der Linken«, der Niederlage der Arbeiter, des industriellen Wiederaufbaus, des Angriffs der Gemäßigten und Technokraten (leider mit einigem Recht) auf die Gesundheitsreforrn und die öffentlichen Dienstleistungen, des Bedarfs nach einer neo-bürgerlichen Professionalität für Tausende von Arbeitern außerhalb des öffentlichen Dienstes, der kulturellen Vorherrschaft der Massenmedien, der erneuerten Rolle der »neutralen« Experten, der technokratischen Perspektiven alles dessen, was Neo-Konservatismus genannt wird, auch wenn dieser für sich den Aspekt einer Bewegung der Veränderung geltend macht: In Wirklichkeit ist das, was man bewahren will, ein System der Ideologie und Macht, das in die Krise geraten ist durch das Eingreifen wachsender Massen von Personen, die als Subjekte ihren Anspruch auf Bedürfnisse und Rechte geltend machen und Unterdrückung, Ungleichheit und Leid nicht länger ertragen.[6] Diese Hinweise, die als simple nachträgliche Rechtfertigungen erscheinen werden, vermögen nicht den Kernpunkt der Probleme zu treffen, die ich gerne als »theoretische« bezeichne, theoretisch wenigstens in dern Sinne, daß sie dazu berufen sind, die Gründe dieses seltsamen Widerspruchs zu klären, offenzulegen und verständlicher zu machen: des Widerspruchs zwischen dem, was ich die »Linie der Stärke« (»linea di forza«) genannt habe und dem nicht-systematischen, diffusen Denken, das offen ist gegenüber den Stimmen der Unterdrückten, die wirr und gebrochen sind. Es soll genügen, der Stimmen der ehemaligen Anstaltsinsassen zu gedenken, die oft außerordentlich lehrreich waren, aber auch gebrochen durch die Beklemmung, die Angst, nicht verstanden und gehört zu werden. Der Widerspruch ist also der zwischen einer Stärke, die auch schwach ist und einer Schwäche, die zur Stärke wird. Jemand von uns hat einmal erbittert gefragt, wieso denn die autoritäre Lösung (z.B. fesseln, einsperren, sedieren) sich als »stark« (forte) präsentierte, während sie in Wirklichkeit ein Zeichen von Schwäche, feiger Ängstlichkeit und Egoismus war. Die freiheitliche Lösung und das gegenseitige SichKonfrontieren liefen also Gefahr, sich als zu schwach zu präsentieren und wurden somit manchmal von den Patienten selbst, von den Angehörigen, von anderen Menschen zurückgewiesen, weil man sich gegenüber Devianz und Verzweiflung nicht passiv und schwach zeigen darf, sondern eingreifen, handeln, »die Situation in die Hand nehmen muß«. Übrigens standen diese Themen im Mittelpunkt kürzlicher Debatten unter uns über den »starken Dienst« (»servizio forte«) und den »diffusen Dienst« (»servizio diffuso«).7 Ist dies nicht das theoretische Problem par excellence -jenseits der Anstalt, ihrer Überholtheit und ihres Untergangs? Daß nämlich diese Dynamiken, neben anderen, die direkter mit soziookonomischen Faktoren in Zusammenhang stehen, eine Psychiatrie hervorgebracht haben, die buchstäblich davon »Besitz ergreift«, was sie »psychische Krankheit« genannt hat, indem sie die Verantwortung für das Leben und das Schicksal anderer Menschen an sich nimmt? Es handelt sich einerseits darum, daß durch die Praxis und die Ideologie der Medizin fundamentale Menschenrechte betroffen sind, die Freiheit des Denkens, des Redens, der Kritik und des Handelns; während andererseits all das, was die Psychiatrie zu erfinden vermocht hat und immer noch zu erfinden weiß, um Anderssein und Verzweiflung, die sich auf andere, stigmatisierte, entfremdete und unklare Weise Ausdruck verschaffen (was die »Art und Weise« der Äußerung betrifft, aber auch den Ort und den sozialen Zusammenhang, in denen sie sich manifestiert), zu beherrschen und unter Kontrolle zu halten, zum konkreten Symbol der Abwehr gegen eine substantielle Demokratie wird, zur Absage an die Befreiung des Menschen von Unterdrückung und von der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Hier liegt der harte Kern der Theorie. Er liegt in der paradoxen universellen Gültigkeit unserer Linie' der Stärke (linea die forza) und in der relativen theoretischen Insuffizienz (sagen wir es so), die jene rechtfertigt und wirksam macht - jenseits einer Praxis, die, um den verschiedenen Tendenzen der ideologischen Kräfte zu widerstehen, unaufhörlich und »unerschöpflich« (inesauribile) sein muß.
Auf diese relative Insuffizienz geben wir dennoch Antworten, wenn auch mit Zweifeln und Zögern, die wir erkennen müssen, selbst wenn wir dabei sind, sie zu überwinden. Andererseits stößt diese Arbeit noch auf weitere Schwierigkeiten. Gewöhnlich entgehen der aktuellen Diskussion und Aufmerksamkeit der Humanwissenschaften die materiellen und konkreten Lebensbedingungen, unter denen die Menschen leben müssen und unter denen sie die Veränderung ihres Lebens planen. Dies geschieht nicht aufgrund einer absichtlichen und bewußten Unachtsamkeit, sondern weil diese Bedingungen nicht konstituierender Bestandteil des epistemologischen Horizonts der Wissenschaften sind, die sich mit Kommunikation, Interpretation, Ideen, Formen und somit der »Kultur« beschäftigen. Auch die Wissenschaften, die sich dagegen mit Zellen, dem Funktionieren der Organe und des physischen Apparates, den biochemischen Gleichgewichten, der Gentechnologie, orthopädischen und chirurgischen Reparaturen und somit der »Natur« beschäftigen, sind nicht direkt (aber auch nicht implizit) an den materiellen Lebensbedingungen interessiert, geschweige denn am Leben der Menschen und an der Beziehung zwischen dem Leben und der Art und Weise, wie sich Herrschaft und Kontrolle manifestieren. Diese Dimension, die man »politisch« nennen könnte, erscheint fremdartig zu wenig »wissenschaftlich«. So wird sie der Politologie oder einer gewissen Soziologie überlassen, die fast immer als grob vereinfachend und unwissenschaftlich etikettiert werden, sogar in der alltäglichen Diskussion in den Massenmedien.[8]
Und so kommen wir direkt zu der Frage der »Macht« oder der »Herrschaft« und zu den unterschiedlichen makro- und mikroskopischen Formen, in denen sie sich ausdrückt. »Marx und Freud«, schrieb Foucault in Microfisica delpotere »reichen vielleicht nicht aus um zu helfen, dieses mysteriöse Ding, das gleichzeitig und unsichtbar, gegenwärtig und versteckt, überall anzutreffen ist und das man Macht nennt, zu begreifen.« Und Deleuze fügt hinzu, daß »sich keine Theorie entwickeln kann, ohne auf eine Art von Mauer zu stoßen, und es ist die Praxis notwendig, um sie zu durchbrechen«.[9]
Die Verifizierung der Macht (verifica dei poteri)[10] muß sich in einem entschiedenen Aufbrechen der Spezialisten-Käfige realisieren, die Forschung und Theorie der Wissenschaften der Moderne beherrscht haben. Dieses Aufbrechen kann nur durch praktische Initiativen erfolgen, d.h. durch eine harte Arbeit der Transformation, die schwer und grob sein wird wie die Mauer, die sie zum Einsturz bringen muß. Was übrigens geschieht zur Zeit, um wieder auf den besonderen Fall der Psychiatrie zurückzukommen? Auf die wirkliche Legitimationskrise [11] der Anstalt antworten jene, die sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, indem sie Ziele ausmachen, die den Widerspruch zwischen der Legitimation und Effizienz rechtfertigen sollen und die so Strategien der Wiedergewinnung des verlorenen institutionellen Terrains darstellen.
Während jedoch diese Wiedergewinnung einerseits die Sehnsucht nach der Anstalt, andererseits robustere und konkretere Antworten eines Effizienzdenkens enthält, zielt die Proliferation der Techniken entschieden auf andere Lösungen ab (Wohngemeinschaften, beschütztes Wohnen, Wohnheime (centri residenziali), sog. »Übergangs«-Strukturen, wobei man nicht weiß, zwischen welchen Extremen usw.), die imstande sind, den angestrebten psychiatrischen Interventionen im Sinne von Herrschaft und Kontrolle wieder eine Rechtfertigung zu verschaffen, wie wir weiter oben aufgezeigt haben.

2. Legitimationskrise: der Fall Italien

Die Legitimationskrise, die sich anschließt an jene, die Paradigmakrise genannt worden ist, hat in unserem Land mehrere Phasen durchlaufen: In einer ersten Phase haben sich die Erfordernisse und/oder Praktiken der Modernisierung mit praktischen Erfahrungen des Bruchs mit der klassischen Psychiatrie vereint, deren Konsequenzen sich - auch auf theoretischer Ebene - bis heute auswirken. Diese Phase hat in unserem Land in den sechziger Jahren begonnen und sich bis weit in die siebziger Jahre weiterentwickelt. Man sprach - wie bekannt - von »praktischer Umwälzung« (»rovesciamento pratico«) und von »institutioneller Negation« (»negazione istituzionale«), aber auch von »konkreter Utopie«.[12]
Eine zweite Phase wurde durch die Erfahrungen der territorialen Dienste und die Gesetzgebung von 1978 eröffnet. Diese Phase liegt meiner Meinung nach in den letzten Zügen, nicht so sehr, weil sich die »vorwärtstreibende Kraft« des Gesetzes 180 erschöpft hätte - die es in einigen Gegenden nie gehabt hat -, sondern weil gegenwärtig eine Verlagerung stattfindet von den praktisch-organisatorischen Prozessen und den therapeutischen Techniken auf epistemologische und theoretische Fragen, auf eine Konfrontation zwischen den Schulen, Theorien, Richtungen. Es ist interessant zu beobachten, daß diese Konfrontation eher ideologischer und theoretischer Art ist, entsprechend der Regel, daß die Aneignung von Konzepten mehr von deren Faszination abhängt und von der alltäglichen Demagogie der kulturellen und akademischen Meinungsführer - als von ihrer Wirksamkeit und ihren Resultaten. - Nur ausnahmsweise öffnet man sich dem Beitrag interpretativer Modelle, deren Anwendung den psychiatrischen Käfig aus seinen historischen Angeln heben würde.
Die dritte Phase, die diesen interpretativen Ansatz entfaltet, begann in den letzten Jahren. Sie entstand aus der Krise des Wohlfahrtsstaates, d.h. aus der Krise der Lösungen - einer Mischung aus Aussonderung und Fürsorge (assistenza) - die die modernen Staaten erfunden haben, um allzu großen Ungerechtigkeiten, unerträglicher Verzweiflung, zerrütteten Verhältnissen und der Verlassenheit abzuhelfen. Wie bekannt, sind gemäß einer berühmten Formulierung von O'Connor die fiskalischen Mechanismen allmählich ineffizient geworden, und auf diesem Boden sei eine grundlegende Korrektur der Konzeption des Sozialstaats (stato assistenziale) gereift.[13] Diese Frage ist zu komplex, um an diesein Ort behandelt zu werden, doch werden durch sie beeindr-uckende Analogien zwischen den Benutzern des Wohlfahrtsstaates und den Betreuten der psychiatrischen Dienste aufgezeigt. Die Verantwortlichen waren gezwungen, erneut die Frage der institutionellen Einfriedung (recinto istituzionale) aufzuwerfen als Pseudolösung fÜr Probleme, die Probleme des Überlebens, des sozialen Raumes, des Wohnens, des Zusammenlebens, des Geldes usw. sind.

2.1 Der Stand der Durchführung der Reform
Es ist angebracht darauf hinzuweisen, daß schon vor der Verabschiedung des Gesetzes 180 im Jahre 1978 in verschiedenen Provinzen eine radikale Veränderung der psychiatrischen Hilfeleistung stattgefunden hat, die sich hauptsächlich auf den Kampf gegen die repressive Aussonderungspraxis innerhalb der Psychiatrischen Krankenhäuser griindete, sowie auf die Schaffung von Diensten mit großer Flexibilität entsprechend den Erfordernissen des Territoriums, auf eine Veränderung des Arbeitsstils der psychiatrischen Mitarbeiter, auf eine Einbeziehung der Bevölkerung, der Administration und ihrer Mitbeteiligung. Letztendlich hat die Zerstörung der materiellen, aber auch der psychologischen und sozialen Barrieren zwischen »drinnen« und »draußen« allen deutlich vor Augen geführt, daß das Psychiatrische Krankenhaus aufgelöst werden mußte.
Es ist wichtig, auf diesen Punkt hinzuweisen, weil man sonst nicht verstehen kann, warum eine so kühne Gesetzesänderung wie die des Aufnahmestops für Patienten in den Anstalten und die Organisierung von verschiedenen alternativen gesundheitlich-sozialen territorialen Diensten sich unter bestimmten Bedingungen als wirksam erwiesen, dagegen unter anderen Bedingungen Leiden und Proteste hervorgerufen hat.
Es besteht in der Tat kein Zweifel, daß ein Aufnahmestop für sich genommen ohne andere Maßnahmen mit Sicherheit keinen Fortschritt in der psychiatrischen Versorgung und in der Verteidigung der psychischen Gesundheit darstellt. Dies ist in einigen Regionen für einen gewissen Zeitraum geschehen, der ausreichte, um Proteste zu provozieren, die sich eher gegen das Gesetz als gegen seine Nichtanwendung oder die Untätigkeit der Politiker und Psychiater richtete. Es ist wirklich sehr einfach, im Falle von Problemen, die sich aus mangelndem psychiatrischem Eingreifen ableiten, sozialen Alarm auszulösen und die alten und neuen Gespenster der Gefährlichkeit des Kranken herauszubeschwören. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, daß überall dort, wo man an der Veränderung der psychiatrischen Intervention gearbeitet hat, sich auch die angebliche Gefährlichkeit als falsch und als Ergebnis von Vorurteilen erwiesen hat.
Was die Anwendung der Reform betrifft, so sind vier Modelle beschrieben worden, die ich als sehr realitätsgerecht ansehe und mit denen es möglich ist, die sehr unterschiedlichen bisherigen Ergebnisse der Reform zu begründen. Die Anwendungsmodelle sind folgende:

Modell A: Das Krankenhausmodell

Bei diesem Modell wird das Gesetz weitgehend nicht umgesetzt, weil keine territorialen Dienste geschaffen werden und keine »schrittweise Auflösung<~ der Anstalt geplant wird wie laut Gesetz vorgeschrieben. Entlassungen führen zu einem Sich-selbst-Überlassensein des Patienten in ärztlicher, psychiatrischer wie sozialer Hinsicht. Die psychiatrischen Dienste im Allgemeinkrankenhaus sind gezwungen, eine nicht-therapeutische Arbeit und somit lediglich eine Sedierung der Krise zu leisten. Dieses unwirksame und unproduktive Modell hat die-Tendenz, sich auf den zweiten Modelltyp hin zu entwickeln, nicht jedoch ohne erheblichen Schaden und Verwirrung bei Patienten, Familien, Mitarbeitern und der öffentlichen Meinung angerichtet zu haben.

Modell B: Das Modell des Ambulatoriums

Es stellt eine scheinbare Umsetzung der Reform dar, insofern als neben dem Psychiatrischen Krankenhaus und dem psychiatrischen Dienst im Allgemeinkrankenhaus einige Zentren der psychischen Gesundheit in Form von Ambulatorien eingerichtet wurden. Diese Zentren konnten sich wegen der beschränkten öffnungszeiten, des begrenzten Personalstandes und der ausschließlich ambulanten Leistungen nicht als Alternative, sondern nur als Ergänzung zum Anstaltskreislauf etablieren. Dieses Modell läßt gleichsam die negativen Aspekte unangetastet, die am Modell A feststellbar sind, nämlich das Fortbestehen einer Anstaltsstruktur bei gleichzeitigem Im-Stich-lassen der Patienten und schlechtem Funktionieren der Dienste im Allgemeinkrankenhaus. Der Rückgriff auf private Strukturen, vor allem für die Langzeitpatienten, wird unabdingbar.

Modell C: Alternative zur Anstalt

Es stellt die Schaffung eines komplexen, vollständigen, sozial-gesundheitlichen Systems dar. Dabei arbeitete und arbeitet man sowohl auf Eiitlassungen von Patienten hin, die von der Anstalt geplant und betreut werden, als auch auf eine Schließung der Anstalt und eine anderweitige Nutzung ihrer Strukturen. Der territoriale Dienst ist der Lebensnerv des Systems, insofern als auch die Inanspruchnahme des Dienstes im Allgemeinkrankenhaus nur eine seiner Möglichkeiten darstellt. Bezüglich Arbeitszeiten, Einrichtungen, Personal ist er ausgestattet für verschiedene therapeutische und soziale Aktivitäten und auch für den Aufenthalt über Nacht. Es wird die Verbindung zu den Allgemeinärzten und zu den Fachärzten des örtlichen Bereichs, zu den Schulen, zu den Ordnungskräften, zur Bevölkerung gepflegt. Dieses Modell tendiert dazu, die Reform sowohl nach ihrem Wortlaut als auch nach ihren Grundsätzen durchzuführen.

Modell D: Rationalisierung

Eine Umsetzung, die zwischen Modell B und C steht. Die Organisation der Dienstleistungen erzeugt wie in Modell B, wenn auch in effizienterer Weise, einen neuen Kreislauf, der nicht nur keine Alternative zum psychiatrischen Krankenhaus darstellt, sondern sogar das Bestehen eines Raumes der Ausgrenzung voraussetzt, der am Ende eine »humanisierte« Anstalt sein kann. Die Bereitstellung einiger territorialer Einrichtungen der Hilfestellung (Tagesklinik, therapeutische Wohngemeinschaften usw.) ist nicht mit einem konkreten Programm zur Auflösung der Anstalten und anderer ausgrenzender Einrichtungen verbunden.

2.2 Verdrängung und Ausgrenzung
Was die Besonderheit der klassischen Psychiatrie betrifft, ist es notwendig, zwei Momente zu analysieren, die ich als Momente der Verdrängung bezeichnen möchte. Beide sind miteinander verbunden: Es handelt sich dabei um eine historische Verdrängung und eine epistemologische Verdrängung.
Erstere hat es gestattet, der Erkenntnis aus dem Weg zu gehen, daß die Psychiatrie und die Anstalt nicht nur aus der gleichen Epoche starnmen, sondern daß sie miteinander groß geworden sind, indem sie sich gegenseitig verstärkten, sich gegenseitig mit Normen, Prozeduren, Bestätigungen, Zensuren versorgten und die soziale Kultur veränderten. Es ist wahr, daß der Psychiater sofort, nachdem er seine Anstalt in Besitz genommen hatte, ein medizinisch-institutionelles Modell auskostete, von dem er sich die verdinglichende Sichtweise und den klinischen Blick ausborgte. Aber unter dem Deckmantel der Therapie und der Wiederherstellung verbarg sich immer schon eine schreckliche Realität der Ausgrenzung, der Negation elementarer Rechte von Folter und Tod. Darüber gibt es nunmehr keinen Zweifel, und trotzdem ist diese Realität verschleiert und mystifiziert worden, so daß man heute in unserem Land meint, ruhig eine neue Seite aufschlagen zu können, auch nach den Anzeigen und den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte und trotz der bestehenden Bedingungen in den Rest-Ghettos. Leider wissen wir, daß in anderen Ländern die Institution der Anstalt in voller Blüte steht und im sozialen System ihren festen Platz hat, und die Psychiatrie die Kleider wechselt, um sich nicht wirklich zu verändern. Ihre Krise drückt sich jedoch u.a. in kleinen täglichen Verdrängungen und Zensuren aus, die Kinder und Enkel der ursprünglichen Verdrängung sind. Allein die Existenz einer Anstalt und der Psychiatrie als Unterdrückungsinstrumente müßten einen Skandal auslösen. Bedauerlicherweise werden dagegen die Freiheit und die Solidarität mitunter zum Skandal. Ohne diesen historischen Verdrängungsprozeß einer Überprüfung und Revision zu unterziehen (zur Erinnerung: die Anstalt und die Psychiatrie wurden gleichzeitig geboren und rechtfertigen sich gegenseitig, die Modelle der Psychiatrie, auch die aktuellen, stehen unter dem Einfluß dieses Ursprungs) ist es nicht möglich, irgendeine wirksame theoretische Arbeit durchzuführen.
Dann ist da die epistemologische Verdrängung. Es gab und gibt immer noch Verwirrung und Mehrdeutigkeit über den Gegenstand der Psychiatrie: das kranke Gehirn, die soziale Gefährlichkeit, die Abweichung, die Behinderung. Dieses Faß ohne Boden hat sich jeweils unlösbare oder beunruhigende zufällige Phänomene einverleibt. Kürzlich wurden Flugzeugentführer und sogar ihre Geiseln einer psychiatrischen Beobachtung unterzogen, während die Homosexuellen (mit Mühe) aus der Psychiatrie herauskommen, doch nur, wenn sie gut angepaßt sind. Übrigens benutzen die Klassifikationen der psychischen Krankheiten immer noch Parameter wie »inkohärentes Sprechen« (incoherent speech) oder »bizarres Denken« (bizarre thinking), deren Willkürlichkeit evident ist.[14]
Es ist offensichtlich, daß dieser kritische Entwurf nicht notwendigerweise die Existenz der »psychischen Krankheit« negiert oder das Leiden, das sich mit psychologischen Merkmalen präsentiert, d.h. das, was man gewöhnlich als psychisch oder geistig-seelisch definiert. Das Problem besteht vielmehr darin, daß der Gegenstand der Psychiatrie historisch gesehen schlecht abgegrenzt wurde, daß er schillernd, willkürlich, je nach den historischen, sozialen und kulturellen Umständen weiter oder enger gefaßt worden ist; auch wenn es, wie bekannt, ernstzunehmende Untersuchungen gab, die zeigen konnten, daß man mit seriösen diagnostischen Instrumenten eine Standardisierung der Daten erreichen kann, um so ihre Vergleichbarkeit der Daten in psychiatrisehen Zentren sowohl in Europa als auch in Amerika und Afrika zu garantieren. Auch wenn man das als wahr annimmt (und was man so übersetzen könnte: die psychiatrischen Etikettierungen sind in der Lage, auf willkürliche, aber hinreichend vergleichbare Weise überall bizarre Ideen und inkohärentes Sprechen zu diagnostizieren), mußte dasselbe Forschungsprogramm später mit Verwunderung feststellen, daß die Konsequenzen dessen, was als »Schizophrenie« definiert worden war, in den »zivilisierten-, (d.h. industrialisierten) Ländern sehr verschieden (und d.h. schwerwiegender) gegenüber denen in den Entwicklungsländern waren.[15] So wäre die Hypothese aufzustellen, daß die konkrete Modalität des Umgangs mit »Schizophrenie« eine Rolle spielt - was zu beweisen war.
Ohne die beharrliche Verifizierung und dadurch Beendigung dieser zweifachen Verdrängung wird sich die Psychiatrie als soziales Instrument der Kontrolle und Unterdrückung reproduzieren. Ich will nochmals unterstreichen, daß diese Verifizierung nicht möglich erscheint ohne die Suche nach einer theoretischen Position, die nicht eklektisch und nicht oberflächlich ist. Das Problem besteht nicht nur darin, den regressiven Charakter des postpsychoanalytischen Jargons und der Subkultur in der Demokratischen Psychiatrie zu denunzieren, sondern darin, diesen Jargon und diese Subkultur mit dem, was man konkret macht, in Zusammenhang zu bringen. Besonders wichtig ist es zu wissen, ob dieses »Konkrete« nicht gerade durch den Gebrauch dieses Jargons und das Überleben dieser Subkultur sozusagen verschleiert, mystifiziert, von einer womöglich schmerzhaften Verifizierung ferngehalten wird. Dies scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Auch hier drückt sich wieder die ideologische Funktion der Verschleierung mit Hilfe sprachlicher Elaborate aus, besonders wenn sie die Machtfrage ausklammern und verdrängen. - Auf der anderen Seite gibt es auch richtiggehende Moden und einen kulturellen Druck, diese ungeeigneten und ungeauen Mittel zu benutzen. Der Gebrauch von Wörtern oder Definitionen hängt nämlich von Optionen ab, die nicht nur von der Entscheidung über die sprachliche Angemessenheit, von der epistemologisehen Praxis (operativitä epistemologica) und von weiteren Möglichkeiten der Verifizierung der praktischen Arbeit, der Dienste und des einzelnen Mitarbeiters vorgeschrieben werden, sondern auch:

  • von den Erfordernissen des in der geschichtlichen Periode und dein sozialen Kontext jeweils vorherrschenden kulturellen Horizonts,
  • von kulturellen Moden und fachlichen, ideologischen, akademischen usw. Zwängen,
  • vom subjektiven Willen des Verfassers, dem Definitionsgegenstand Gültigkeit und Würde abzusprechen. Es mag reichen, hier an die systematisch verleumderische Sprache der psychiatrischen Symtomatologie zu denken.

Schlußfolgerungen: Wir müssen uns den Luxus der Theorie, der Forschung, der Organisierung des Wissens, erlauben - einer Theorie, die ihrerseits Frucht einer freien und sachkundigen Reflexion ist (sowohl des Mitarbeiters (operatore) als auch seines »Benutzers«), die auch eine kritische Theorie der bestehenden oder vorherrschenden Praktiken ist und der Ideologien, die diese unterstützen. Denn wir müssen die Zu stimmungsfunktion des Intellektuellen in einer Gesellschaft bedenken, die »komplex« sein mag, die aber trotz allem eine Gesellschaft bleiben wird, in der die Bedeutung der Wörter davon abhängt, wer der Herr ist, wie Lewis Carroll in »Alice im Wunderland« sagt.

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