In den letzten zwanzig Jahren ist der humane Sinn der psychiatrischen Praxis durch die Reformbewegung in der Psychiatrie der kapitalistischen Staaten häufiger und radikaler in Frage gestellt worden als in den vorhergehenden zwei Jahrhunderten, in denen die Psychiatrie als spezialisierte medizinische Disziplin und als soziale Institution zur Betreuung psychisch Kranker ihre Konturen gewann. Erstaunlich ist dieses Phänomen insofern, als es einen weitgehenden Bruch mit dem bis dahin vorherrschenden historischen und professionellen Selbstverständnis im Fachgebiet repräsentiert, nach dem die Entwicklungsgeschichte der Disziplin als steter Progreß bei der Ausbildung effizienter werdender Formen der Diagnostik und Therapie interpretiert worden ist, als Prozeß, in dem mit fortschreitenden wissenschaftlicher Einsicht in ätiologische und pathogenetische Zusammenhänge auch zunehmend besser die Befreiung psychisch Kranker von ihrem Leid und ihrer Hilflosigkeit gelingen kann.
Wichtige Komponenten dieses tradierten Selbstverständnisses sind wohl auch heute noch von der Mehrheit der Psychiater akzeptiert, insbesondere von jenen, die einer emanzipatorisch orientierten Kritik weitgehend verständnislos oder gar ablehnend gegenüberstehen; mit dem Anspruch wissenschaftlicher Solidität werden derartige historische Darstellungen jedoch nicht mehr ernsthaft angeboten, was als ein produktives Resultat der neueren Psychiatriekritik angesehen werden kann. Schwierigkeiten beim Verständnis mancher Trends und einiger Erscheinungsformen der Kritik der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Psychiatrie haben allerdings nicht nur Fachvertreter, die ein heroisierendes Bild dieser Geschichte der eigenen Disziplin als Legitimationsbasis der eigenen Kompetenz zu benötigen scheinen; sie treten auch bei Wissenschaftlern auf, die sich um eine vorurteilsfreie und produktive Beziehung zu den emanzipatorischen Intentionen bemühen. Einige solcher Schwierigkeiten, die wir selbst im Verhältnis zu verschiedenen Wertungen der bisherigen Psychiatrieentwicklung haben und die uns manche Thesen als undialektisch und vereinfachend erscheinen lassen, möchten wir im folgenden im Sinne von Anmerkungen und Reflexionen zu uns vorrangig erscheinenden Themen dieser Kritik wenigstens andeuten, wobei es vor allem um die historische Funktion der »Anstalt«, um den Gebrauch von Macht bzw. Gewalt in der Psychiatrie und um das Verhältnis von therapeutischem Auftrag und Toleranz gehen soll.
Das eigentliche Interesse gilt weniger der Korrektur von historischen Urteilsbildungen als dem Verständnis der realen Bedingungen und Möglichkeiten einer weiteren Humanisierung der Psychiatrie, die an historisch Gewachsenem anknüpfen muß, um wirken zu können.
Seit die psychiatrische Reformbewegung zum Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre ihr spezifisches Profil auszubilden begann, richtete sich ihre Kritik vordergründig und strikt gegen die tradierte Anstaltsbewahrung psychisch Kranker bzw. gegen jene Institutionen, die diese in modernisierter Form verkörperten, gegen die psychiatrischen Großkrankenhäuser. Die Vorwürfe waren dabei radikal: sie betrafen den kustodialen Stil des Umgangs mit den psychisch Kranken ebenso wie die Herauslösung der Patienten aus den gewohnten Sozialbezügen und kommunikativen Bindungen; weiterhin die außerordentliche Einengung der Freiheitsräume sowohl der Patienten als auch der Angehörigen des medizinischen Personals durch die einer »totalen Institution« eigenen Sachzwänge der organisierten Lebensgestaltung und die unzureichende Zuwendung zum einzelnen Patienten sowie zu aktivierenden rehabilitativen Strategien. In einem neu strukturierten historischen Zusammenhang erschienen diese Einrichtungen nicht mehr als Wahrzeichen der humanitären Fürsorge der Gesellschaft für ihre hilflos gewordenen Geisteskranken, sondern als Stätten der von staatlichen Sicherheitsinteressen geprägten und von sozialen Ausgrenzungsstrategien geförderten Isolierung und Asylierung jener Mitglieder der Gesellschaft, die den leistungsorientierten Lebensprozeß störten und behinderten, wie auch als Institution der Entfaltung sich verselbständigender Macht- und Autoritätsbestrebungen der Anstaltspsychiater, d.h. letztlich als Produkte einer im Prinzip antihumanen Einstellung zum psychisch Kranken, als Symbole eines im Ansatz verfehlten Selbstverständnisses der Psychiatrie. Eine Vielzahl inzwischen erarbeiteter Detailstudien zur Entwicklungsgeschichte der Anstaltsbehandlung psychisch Kranker relativiert diese Qualifikationen erheblich, vor allem durch den Aufweis, daß ein durchaus bedeutsames staatliches Interesse bei der Formierung des Anstaltswesens bereits im 18. und vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland von der sich etablierenden Psychiatrie genutzt worden ist, um den sozialen Status der vorrangig versorgungsbedürftigen armen Irren als kranker und einer ärztlichen Behandlung zugänglichen Patienten zu verbessern, unabhängig davon, daß die in diesem Rahmen unternommenen therapeutischen Versuche weitgehend wirkungslos blieben und manche Züge einer schwer zu begreifenden Gewalttätigkeit einschlössen. Berechtigt ist diese auf die Vergangenheit bezogene Kritik allerdings in bezug auf die Anpassung der Anstaltspsychiater an den staatlichen Auftrag der Sicherung der Gemeinschaft vor den angeblich gefährlichen Kranken, die zu vielen unsinnigen und therapiefeindlichen Formen der Freiheitsbeschränkung der Patienten geführt hat und dazu beitrug, den ursprünglich als Heilstätten und Zufluchtsorten konzipierten Einrichtungen den Charakter jener gefängnisartigen Asyle erneut aufzuprägen, in denen die Irren vor der Ära der Medizinalisierung schon einmal interniert waren. Eine aus sozialen Gründen rasch wachsende Zahl versorgungsbedürftiger Kranker und stets nur zögernde Bereitstellung von Mitteln aus den Sozialfonds bewirkten dann weitere Komplikationen in der Entwicklung dieses gesamten Systems der Irrenbehandlung und zunehmend desolate Zustände in den an Überfüllung und Ärztemangel leidenden Einrichtungen, die chronisch Kranken und schwerwiegend geistig Behinderten Überlebenschancen fern von den Lebensräumen der Gesellschaft auf dem Niveau einer Minimalversorgung und des fast vollständigen Verzichts auf eigenständige Lebensgestaltung boten. Die Anpassung an die Gegebenheiten war dabei auf seiten der Psychiater weder total noch uniform — selbst unter schwierigen Bedingungen traten viele von ihnen für Verbesserungen der Lage ihrer Patienten ein, bemühten sich progressive Vertreter um die Eingrenzung oder Abschaffung von Zwangsmitteln oder um neue Modifikationen der Anstalten selbst (etwa durch sogenannte agri-coloniale Strukturen oder den Ausbau einer sinnvollen Arbeitstherapie) und blieben vielfältige Intentionen zur Erweiterung des therapeutischen Handlungsraumes lebendig. Fortschritte auf dem Wege zur Sicherung der therapeutischen Funktion der psychiatrischen Anstalt gab es dabei nur in kleinen Schritten und oft nur vorübergehend, immer behindert durch die gesellschaftsferne Lage der Anstalten und die durch den hohen Grad der Zentralisierung bedingte unglückliche Ballung großer Zahlen der schwersten Formen psychischer Störungen. Den Weg zur Humanisierung des psychiatrischen Umgangs mit psychisch Kranken gab es jedoch immer, seit dieses Strukturelement der psychiatrischen Versorgung existiert und seine innere Widersprüchlichkeit erkennbar werden läßt.
Mit dem Blick auf die hier nur angedeuteten Vielschichtigkeiten erscheint es nicht verwunderlich, daß die Ergebnisse des von der Reformbewegung zunächst initiierten Kampfes gegen die Großkrankenhäuser nicht deren Beseitigung oder Auflösung sind, sondern ihre allmähliche innere Wandlung. Welchen Anteil an derartigen Umstrukturierungen die von außen erfolgende Kritik für sich beanspruchen kann und welche Anteile systemstabilisierenden Bestrebungen zuzusprechen sind, mag zunächst offenbleiben. Wichtig ist, daß Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Patienten, Öffnung nach außen durch extramurale Betreuungsformen und durch die Übernahme der Versorgung auch von Akutkranken sowie interne Strukturierungen zustande gekommen sind, die als Gewinn an humaner Qualität der Betreuungspraxis gelten können. Einen Ausnahmestatus auf diesem Weg der Reform scheint nur Italien einzunehmen, wo die Auflösung der auf das Niveau von Elendsasylen abgesunkenen Großkrankenhäuser anscheinend die einzige Möglichkeit bot, ein qualifiziertes Betreuungssystem neu aufzubauen, wo aber bislang keineswegs abzusehen ist, wieweit in Zukunft auf größere Krankenhäuser eines spezialisierten psychiatrischen Profils verzichtet werden kann. Besonders bemerkenswert für das Verständnis des abgelaufenen Prozesses und der Perspektiven der sogenannten Anstaltsbetreuung erscheint uns die in den letzten Jahren immer wieder akzentuierte These, daß die Psychiatrie jenen chronisch Kranken und erheblich geistig Behinderten Orte zum Leben und menschliche angemessene Fürsorge bieten muß, die aus unterschiedlichen Gründen den Weg zurück in die soziale Gemeinschaft nicht gehen können oder gehen wollen. Unter sozialen Verhältnissen, die eine hohe Leistungsbereitschaft der Individuen als Basis für die Sicherung einer einigermaßen eigenständigen Lebensgestaltung erfordern und durch Konkurrenzzwänge im Verhalten der Menschen zueinander geprägt sind, gerät die übereilte Verdrängung der genannten Gruppen aus den psychiatrischen Krankenhäusern rasch zu nicht beabsichtigter Verelendung im Sinne der in den Vereinigten Staaten inzwischen sehr kritisch registrierten Folgewirkungen der »Decarceration« oder in der Gestalt der Etablierung neuer ausbeuterischer Unternehmungen der Heimfürsorge, über die in der Bundesrepublik erste problematische Erfahrungen vorliegen. Aus unserer Sicht trägt die Psychiatrie eine große Verantwortung für den Schutz und die Versorgung jener ihr anvertrauten Patienten und Pflegebedürftigen, für die alternative Institutionen nicht existieren, wobei sicher Formen der Lebenssicherung mit begleitender medizinischer Hilfe und Beratung im sozialen Lebensraum entwicklungsfähig sind, das Krankenhaus selbst jedoch noch lange nicht aus solchen Fürsorgepflichten ausscheiden kann und sich eher als Zentrum der sinnvollen Organisation und Anleitung verstehen sollte.
Es ist durchaus möglich, daß unser durch eine Außen-Perspektive bestimmtes Bild von den Reformen der »Anstaltspsychiatrie« zu einseitig geraten ist, sicher ist, daß es nur einige Aspekte des Themas überhaupt tangiert; jedoch sollten an diesem Beispielbereich erkennbare dialektische Momente in allen Reformierungsbemühungen in der Psychiatrie gezeigt werden. Radikale Kritik bewährt sich für einen bestimmten historischen Zeitraum als Mittel der Sensibilisierung für erforderliche Veränderungen und kann Barrieren beseitigen, die infolge von Tradition, Gewöhnung oder begrenzten Partialinteressen Wandlungen entgegenstehen; hätte sie in ihrer kompromißlosen Strenge Chancen der Verwirklichung, stünde sie in der Gefahr, mit einseitigen neuen Modellen nicht zu nützen, sondern nur andere Probleme enthaltende Praxisformen zu schaffen. Der mühsame Weg durch die Institutionen der Psychiatrie bleibt jenen nicht erspart, die um Verbesserung ernsthaft bemüht sind — er muß nicht mit ihrer Auflösung enden und kann es meist auch nicht; es ist viel erreicht, wenn die Institutionen eine andere Gestalt gewinnen und ihren therapeutischen und fürsorgerischen Aufgaben entsprechend besser funktionieren.
Was für die historisch gewachsenen psychiatrischen Krankenhäuser gilt, ist ebenso für neue inzwischen institutionalisierte Formen der psychiatrischen Betreuungspraxis gültig; daß sie nämlich in problematische Wirkungsformen abgleiten können, die sie im Extremfalle unfähig machen, ihrem ursprüngliche Zweck zu dienen. Auch Einrichtungen der sogenannten extramuralen Betreuung und der psychosozialen Dienste können dazu genutzt werden, Patienten ohne zwingende Gründe in kontrollierender Abhängigkeit zu halten, den Kreis der zu betreuenden Population über den medizinischen Auftrag hinaus ständig auszudehnen, sie können in bürokratischen Systemen des Aufbaus von Datensammlungen und der Perfektion von Verwaltung erstarren und vieles andere mehr. Maßgeblich ist demnach der in solchen Einrichtungen wirksame Geist und die ständige Besinnung auf die vorrangigen Interessen derer, für die solche Institutionen eigentlich geschaffen werden, und nicht ein Optimum reibungslosen Funktionierens eines stets wachsenden und gelegentlich auch wuchernden Netzes an derartigen Institutionen.
Eine aus unserer Sicht besonders wichtige Frage bei der Beurteilung der Bedeutung unterschiedlicher institutioneller Formen der psychiatrischen Versorgung für die Effizienz und die humane Qualität der Kranken und Leidenden angebotenen Hilfen ist die nach dem eigentlichen therapeutischen Auftrag der Psychiatrie und nach dessen Grenzen. Dieses Thema ist im Rahmen der mit Reformansätzen verbundenen emanzipatorischen Kritik an der tradierten Psychiatrie oft und kontrovers diskutiert worden, wobei mindestens in der Aufschwungperiode der Reformbewegung die Neigung ausgeprägt schien, das tradierte Verständnis einer Pflicht zur Therapie zu relativieren und eine solche Pflichtauffassung für eine Neigung zur Gewaltsamkeit im Umgang mit Kranken verantwortlich zu machen. Als Gegenposition zu einer als repressiv dem Wesen nach geltenden Auffassung von einer Behandlungspflicht der Psychiater erscheint dagegen die Forderung nach der Toleranz gegenüber dem Andersartigen, nach der kritischen Sicht der im Therapieprogramm unterstellten Normalitätsnormen und nach dem Verzicht auf den Einsatz von Macht und Gewalt im unmittelbaren therapeutischen Handlungsfeld. Manche Aspekte dieses vielschichtigen Themas sind heute noch Gegenstand erheblicher Meinungsverschiedenheiten und fordern zu Positionsbestimmungen heraus, da die hier zu treffenden Entscheidungen mitbestimmen, was zu einer weiteren Humanisierung der Psychiatrie anzustreben wäre.
Im historischen Gesamtzusammenhang ist der therapeutische Impetus der Dreh- und Angelpunkt der Legitimation der Psychiatrie überhaupt und aller bisherigen Bemühungen, Möglichkeiten zur Heilbehandlung psychisch Kranker zu entwickeln. Diese im psychiatrischen Arbeitsfeld stets lebendige therapeutische Intention hat nicht nur dazu beigetragen, psychisch kranken einen neuartigen sozialen Standort zuzuweisen, sondern auch zur Folge gehabt, daß ihnen zumeist in den psychiatrischen Einrichtungen mit Hilfs- und Zuwendungsbereitschaft begegnet wird. Unbezweifelbar ist allerdings auch, daß Psychiater häufig die ihnen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gegebenen Möglichkeiten zur Heilung psychischer Erkrankungen überschätzt haben und in der Situation der faktischen Hilflosigkeit gegenüber der Widerständigkeit eines unbeherrschbaren Krankheitsgeschehens dazu neigten, risikovolle und belastende Methoden der Behandlung einzusetzen, die moralisch fragwürdig auch dann bleiben mußten, wenn dieser Einsatz aus guter Absicht geschah. In diesem Punkte weist die Entwicklung der Psychiatrie viele Parallelen mit der anderer medizinischer Disziplinen auf, in denen reale Hilflosigkeit und Handlungszwang ähnliche Überziehungen bewirkt haben. Ebenso unbezweifelbar ist es, daß Psychiater mit einer starken Affinität zur Übernahme eines von der Gesellschaft geforderten Sicherungsauftrages dazu neigten, problematische Formen sozialen Verhaltens zu medizinalisieren, indem sie sie als Folgewirkungen von psychischen Erkrankungen interpretierten oder zu eigenständigen Krankheitsformen umdefinierten, wie etwa die sogenannte »Psychopathie«, was notwendigerweise zur Folge haben mußte, fragwürdige Therapien an untauglichen Objekten auszuprobieren oder rein disziplinierende Maßnahmen zur »Therapie« hochzustilisieren. Ebenso kritikwürdig an der bisherigen Entwicklungsgeschichte psychiatrischer Therapeutik ist der über weite Stadien unverkennbare Trend, die zu behandelnden Individuen objektivierend zu betrachten, als Repräsentationen von umschriebenen Klassen von Krankheitsvorgängen zu sehen und von deren Subjektqualitäten weitgehend zu abstrahieren. Alle diese problematischen Trends und Entgleisungen sprechen jedoch nicht prinzipiell gegen die Rechtmäßigkeit eines therapeutischen Auftrages der Psychiatrie, der aus den maßgeblichen Wesensmerkmalen psychischen Krankseins herzuleiten ist. Wir verstehen unter psychischen Erkrankungen solche Zustände von Individuen, die in der Unfähigkeit zur adäquaten Wahrnehmung der eigenen Person und ihrer Lebensbedingungen und zu zweckmäßigem Verhalten zum Ausdruck kommen und Hilflosigkeit im Umgang mit der Realität bedingen und damit erkennbare Risiken für die Lebenserhaltung enthalten. Sie entstehen entweder auf der Grundlage erheblicher Beeinträchtigungen der alle psychischen Leistungen ermöglichenden Basissysteme oder im Zusammenhang mit schwerwiegenden psychosozialen Belastungen. Von den für den praktisch tätigen Psachiater durchaus wesentlichen Unterschieden zwischen geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen wird bei einer solchen allgemeinen Bestimmung ebenso abgesehen wie von dem bedeutsamen Umstand, daß psychische Erkrankungen spezifische Formen der subjektiven Reaktion auf die erlebten Beeinträchtigungen von Realitätsbezügen zur Folge haben, die als komplexe Verarbeitungen von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Ausdrucksweisen von Bedürfnissen fungieren und den oft schwer durchschaubaren psychopathologischen Überbau zu den psychischen Grundstörungen darstellen. Psychische Erkrankungen repräsentieren eine der existentiellen Möglichkeiten des menschlichen Daseins zu beeinträchtigten Lebensvollzügen und können im Prinzip jedermann treffen — das Wesentliche ihrer Existenz besteht darin, daß sie Individuen daran hindern, ein sinnvolles und befriedigendes Leben nach eigenem Plan und in selbstgewählten Wertsystemen zu gestalten, daß sie es den Betroffenen unmöglich machen, die das Kulturniveau einer Gesellschaft ausmachenden Güter und Werte anzueignen, und daß sie ein hohes Maß der Abhängigkeit von anderen bewirken, die damit auch mißbrauchbare Macht gewinnen, und die die leidvolle Erfahrung der Abweisung und Fremdbestimmung bei den Betroffenen auslösen können, die psychisch Kranke besonders hart treffen kann. Da ein Leben in einer solchen Situation fundamentalen Bedürfnissen des Menschen nach Selbstverwirklichung als Persönlichkeit entgegensteht, kann es nicht einfach ohne den Versuch der helfenden Wiederherstellung der Orientierungs- und Handlungskompetenzen der »normalen« Persönlichkeit als Zustand hingenommen werden, selbst dann nicht, wenn auf Grund spezifischer Bedingungen bei den jeweils Betroffenen eine Intention zur Änderung ihrer Lage nicht erkennbar ist oder gar helfende Unterstützung Abwehr und Zurückweisung erfährt. Die moralische Legitimation für psychiatrische Therapie und selbst solcher Therapie gegen den Willen psychisch Kranker liegt in der Zielsetzung begründet, einem Individuum zum Leben in Selbstbestimmung und mit der Möglichkeit zur rationalen Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Lebensprozeß zu verhelfen.
Deutlich abzuheben von Zuständen psychischer Erkrankungen und damit auch von einem psychiatrischen Therapieauftrag sind alle Problemfälle des sozialen Lebens, in denen Individuen auf der Basis durchaus vorhandener Urteils- und Entscheidungsfähigkeit die Einhaltung sozialer Normen verweigern, alternative Lebensformen suchen oder erproben und in einer Gesellschaft geltende Wertsysteme für sich selbst ablehnen oder durch die eigene Lebensform negieren. Psychiater können von den Betroffenen als Ratsuchende oder von der Gesellschaft in gutachterlichen Funktionen in die Regelung derartiger konfliktvoller Beziehungen von Personen zu ihrer Umwelt einbezogen werden, müssen sich jedoch nach allen Erfahrungen strikt davor hüten, leichtfertig »Krankheit« zu diagnostizieren oder »Therapie« vorzuschlagen und vielmehr dafür eintreten, daß menschlich vertretbare Formen des Ausgleichs von Interessengegensätzen und möglichst gewaltfreie Lösungen gefunden werden. Die in einer bestimmten Gesellschaft möglichen Formen und Grenzen von Toleranz gegenüber normenverletzendem Verhalten hängen von vielen Umständen ab und bleiben in vielen Fällen notwendig unbestimmt und fließend; Verschärfungen solcher Grenzen durch die unkritische »Psychiatrisierung« problematischer Verhaltensformen haben bislang weder der Psychiatrie noch den betroffenen Menschen Nutzen gebracht und sollten deshalb ganz bewußt vermieden werden; sie sind auch dann nicht entschuldbar, wenn damit Hilfs- und Schutzfunktionen wahrgenommen werden sollen.
Eine unverzichtbare Basisbedingung für den zu sichernden humanen Inhalt begründeter psychiatrischer Therapiebemühungen bleibt u.E. bei allen Schwierigkeiten des mitmenschlichen Umgangs mit dem uneinsichtigen und Hilfe ablehnenden Kranken die Achtung und Respektierung seiner personalen Würde, die u.a. darin ihren Ausdruck finden sollte, daß die im Prinzip negative Wertung des Krankseins als beeinträchtigter und unvollkommener Form menschlichen Daseins nicht in die moralische Abwertung des Kranken als Person umschlägt und diesem mindere oder weniger Lebensrechte zugesteht als allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Die unerläßliche Achtung des Personseins sowohl des Kranken wie des Behinderten verlangt zwingend, die unter therapeutischen Gesichtspunkten u.U. erforderlichen Freiheitsbeschränkungen so gering wie nur irgend möglich zu halten und alle Chancen zu nutzen, Arrangements der beabsichtigten Hilfe im Dialog und mit dem Einverständnis des Betroffenen zu finden, notfalls auch solche, die gegenüber den als optimal anzusehenden Vorgehensweisen nur begrenzte Kompromißlösungen darstellen und die Behandlung komplizieren.
Gerade die immensen Schwierigkeiten eines die menschliche Würde des psychisch Kranken achtenden Stils von Therapie und Hilfe sprechen u.E. dafür, daß hier die »via regia« einer weiteren Humanisierung der Psychiatrie vorgezeichnet ist, ein Weg, der auch innerhalb der unterschiedlichen Institutionalisierungsformen der psychiatrischen Versorgungssysteme letzten Endes darüber entscheidet, ob Menschen die dort angebotenen Behandlungen annehmen und den Psychiatern mit Vertrauen begegnen können. Die hauptsächlichen Risiken für eine solche anzustrebende menschliche Begegnung innerhalb jeder therapeutischen Beziehung sind dabei überschaubar, zu ihnen gehören: vorschnelle Diagnosen und leichtfertige prognostische Urteilsbildungen, Überschätzung der verfügbaren therapeutischen Mittel und Unterschätzung der ihnen eigenen Risiken und Belastungen, Ungeduld und unzureichendes Bemühen um das Verständnis der psychopathologischen Erlebniswelt der Patienten. Eine völlige Ausschaltung solcher Risiken wird kaum gelingen — ihre Minimierung anzustreben sollte das Ziel der fachlichen Qualifikation und der zu fördernden menschlichen Reife der in der Psychiatrie Tätigen sein, zu deren inhärentem Bestandteil auch ein fundiertes Wissen um die iatrogenen Folgewirkungen unangemessener Entscheidungen und um die besondere Sensibilität und Verletzlichkeit des psychisch Kranken gehören sollte. Reformbewegungen in der neueren Psychiatriegeschichte haben wahrscheinlich stärker, als ihren Vertretern bewußt geworden ist, so manche bedeutenden Impulse aus jenen Richtungen der modernen Psychopathologie erhalten, die sich dem »verstehenden« Zugang zum Kranken, den anthropologischen Reaktionsmustern auf verschiedene Formen des Verlustes an Identität und Weltorientierung sowie den Komplikationen intersubjektiver Kommunikation unter solchen Bedingungen zugewandt haben, auch wenn diese nicht selten die Form praxisferner Abstraktionen und vorschnell generalisierender Erklärungsmuster angenommen haben. Aus unserer Sicht ist es bedauerlich, daß die Probleme der Förderung der Kultur angemessener menschlicher Begegnungen in der Psychiatrie bislang recht weit außerhalb des Interesses der Reformbewegung geblieben sind, wenngleich wir keineswegs verkennen, daß für eine solche Kultur bestimmte Basisbedingungen gegeben sein müssen, deren Durchsetzung besonderer Formen der organisierten Aktion bedarf. Die Überwindung der alten Form der gesellschaftsfernen psychiatrischen Verwahranstalt ist dabei ebenso wichtig wie die Organisation leicht zugänglicher psychiatrischer Einrichtungen mit den Möglichkeiten der Krisenintervention und der Beratung; ebenso notwendig erscheint daneben aber auch die erst allmählich zu gewinnende Bereitschaft der Gesellschaft, psychisch Kranken und »Andersartigen« Lebensräume ohne Asylmerkmale offenzuhalten sowie Toleranzgrenzen ihnen gegenüber zu erweitern.
Eine bemerkenswerte Erfahrung der jüngeren Entwicklungsgeschichte der deutschen Psychiatrie besteht u.E. in der Einsicht, daß die letztgenannten außerordentlich wichtigen Bedingungen für humane Lebensmöglichkeiten psychisch Kranker ganz erheblich von der Psychiatrie und deren Bewertung des Krankseins und der »Andersartigkeit« geprägt werden. Besonders einprägsam stellt sich dieser Zusammenhang für das Geschehen während der Zeit der faschistischen Diktatur dar, deren Auswirkungen auf die Psychiatrie mit Recht im Rahmen des Aufschwungs der Reformbewegung eine gründliche und kritische Bewertung erfahren haben und auch künftig einen zentralen Bereich der historisch-kritischen Auseinandersetzung bilden sollten. Viele Momente des in dieser Zeit psychisch Kranken und geistig Behinderten gegenüber begangenen Unrechts sind dabei den Interessen jener in der Gesellschaft herrschenden Klassen und Gruppen geschuldet, die Einsparungen an Fürsorgekosten anstrebten, um die Rüstungsproduktion zu finanzieren, um denen in den Kriegsjahren psychiatrische Einrichtungen als Kasernen und Lazarette nutzbringender verwendet schienen als zur Betreuung von Menschen, die, ohne Leistungen zu erbringen, auch noch ernährt und bekleidet werden sollten. Die eine solche Politik begründenden Argumente und Bewertungsmuster lieferten allerdings als fachkundig angesehene Psychiater; sei es durch die Etikettierung der Kranken als »minderwertigen« oder gar »lebensunwerten« Lebens oder durch deren Diskriminierung als angeblichen Trägern der Potentiale zunehmender Degeneration und schließlich auch durch die dauernde Betonung der Chronizität und angeblichen Unheilbarkeit der meisten relevanten Erkrankungsformen — immer aber in Richtung der Abwertung kranken Daseins als Gefahr und Belastung für die Gesellschaft. Diese Grundmuster der Urteilsbildung waren dabei für einen Teil der Fachvertreter jener Zeit offensichtlich eng verkoppelt mit der kritiklosen Annahme rassistischer und chauvinistischer Vorurteilshaltungen und insofern Momente einer typisch imperialistischen Ideologie, dennoch mehr als nur »Übernahmen« oder »Übertragungen«, da sie zumeist ganz aktiv und enthusiastisch ausgebaut und perfektioniert worden sind, u.a. auch durch die Einbeziehung von immer mehr Gruppen von Menschen in diese Art von Abwertung, insbesondere der Behinderten und der sogenannten »Asozialen« bzw. »Gemeinschaftsfremden«. Entgegen allen Legenden von der durch den Staat angeblich erzwungenen Dehumanisierung der Psychiatrie muß ausdrücklich betont werden, daß es ebenfalls Psychiater waren, die den Vertretern der Staatsmacht die organisatorischen Wege vorzeichneten, auf denen die Vernichtungsmaschinerie in Gang gesetzt werden konnte, und die neue Formen der Tötungspraxis ersannen und am Leben hielten, als im August 1941 der zentralisierte Massenmord auf höheres Geheiß eingestellt worden war. Die Erklärung dieser Haltungen ist schwierig und hat viele mitwirkende Momente in Rechnung zu stellen, unter denen die Bereitschaft zur Partizipation an der Macht, die Verführbarkeit des einzelnen durch rasche Karrieren u.a.m. eine Rolle spielen dürften; ansetzen muß sie jedoch in erster Linie an dem unverkennbaren Umstand, daß allen Formen inhumanen Gebrauchs der medizinischen Kompetenz in jener Zeit die grundsätzliche Einschränkung der Lebensrechte jedes Menschen zugrundelag, der für die Funktionsfähigkeit des als Organismus aufgefaßten sozialen Systems belastend oder entbehrlich schien, d.h. ein utilitaristischer und a priori inhumane Konsequenzen einschließender Bewertungsmodus des Lebens selbst. Die »Gesellschaft« für die Annahme solcher Bewertungsformen und Praktiken zu gewinnen, war dabei interessanterweise gar nicht so einfach, wofür die Tatsache ebenso spricht, daß gerade die Krankentötungen verdeckt organisiert worden sind, wie auch der Umstand, daß selbst der im Umgang mit Menschenleben völlig skrupellose Hitler ein allgemeines »Euthanasie«-Gesetz nicht zu unterzeichnen wagte, da ihm sein Volk dafür noch nicht reif genug schien.
Wir möchten aus diesen hier nur angedeuteten Zusammenhängen die für unser Thema wichtig erscheinende These ableiten, daß die in sozialen Gemeinschaften existierenden Toleranzhaltungen wie auch Ausgrenzungsbestrebungen gegenüber psychisch Kranken und geistig Behinderten immer auch Produkte der von der Psychiatrie vertretenen und praktizierten Umgangs- und Wertungsmuster gegenüber ihren Patienten darstellen, gleichsam Spiegelbilder der therapeutischen Kultur, und deshalb nicht ohne deren Mitwirkung verändert werden können. Einer der Wege zu einer weiteren Humanisierung der Lebensbedingungen psychisch Kranker führt deshalb über den verantwortungsbewußten Gebrauch der wissenschaftlichen Autorität der Psychiatrie in die Gesellschaft hinein. Ein solcher angemessener Gebrauch dieser Autorität sollte die Zurückdrängung falscher und fatalistischer Auffassungen von der Unheilbarkeit psychischer Erkrankungen ebenso einschließen wie die Vermittlung von Wissen darüber, daß alle Fortschritte der psychiatrischen Diagnostik und Therapie nicht imstande sein werden, schwerwiegende Behinderungen und chronische Verläufe von Erkrankungen auszuschließen. Besonders dringend dürfte dabei auch die offensive Abwehr da und dort wiederauflebender Ängste vor einer erheblichen Belastung der Gesellschaft durch die rasche Zunahme erblich bedingter Erkrankungen, d.h. des Mythos von der Gefahr der Degeneration der modernen Kultur, sein. Daß in der uns zugänglichen Literatur zum aktuellen Stand der Psychiatriereformbewegung eine deutliche Zuwendung zum Problem der sozialen Integration gerade chronisch Kranker erkennbar wird, erfährt unsere besondere Sympathie und Anerkennung. Diese Bemühungen werden in Zukunft viel Kraft und Engagement erfordern, da überall in ökonomisch entwickelten Ländern die Tendenz dahin geht, gesunde und leistungsfähige Individuen — möglichst mit abgeschlossener akademischer Ausbildung — zum Idealbild der Persönlichkeit zu erheben, was ohne Gegensteuerung leicht dazu ausufern kann, das Person-Sein der anderen, der psychisch Kranken, der Behinderten oder der Alt-Gewordenen, aus den Augen zu verlieren.
Nach diesen allgemein gehaltenen Überlegungen und Anmerkungen zu einigen Aspekten des Themas »Humanisierung« der Psychiatrie, die vor allem eine uns wichtig erscheinende Vielzahl von zu bedenkenden Wegen und Aufgaben charakterisieren sollten, wollen wir nun versuchen, die in unserem Lande beschrittenen Wege zu einer Verbesserung der psychiatrischen Betreuung darzustellen. Auf diesem Wege gab es widerspuchsvolle Auswirkungen angestrebter und realisierter Erneuerungen, Auseinandersetzungen über Zielgrößen und Methoden, Konservatismus und Illusionen, wie es dergleichen Phänomene in Zukunft weiter geben wird — jedoch existieren für die Vorhaben einer humanen Gestaltung der psychiatrischen Praxis wie der Lebensformen psychisch Kranker und geistig Behinderter günstige soziale Basisbedingungen, die es nicht erforderlich machten, die Reform der Psychiatrie gegen tradierte gesellschaftliche Strukturen zur Geltung zu bringen. So können wir auch weder den Standpunkt einer »Reformbewegung« noch den der Psychiatrie vertreten, sondern lediglich ein von persönlichen Erfahrungen und Intentionen bestimmtes Bild der Entwicklung zeichnen, in der manche Probleme anders aussehen, aber auch manche Parallelen zu Themen erkennbar sein sollten, die progressive Reformverfechter auch in der BRD seit längerem beschäftigen.
Für die Entwicklung neuer Formen der Betreuung psychisch Kranker in der DDR entsprechend den Prinzipien eines sozialistischen Gesundheitswesens, wie sie sich bereits seit den zwanziger Jahren in der Sowjetunion in Form eines dezentralisierten, auf den Lebensraum der Bevölkerung konzentrierten Versorgungssystems herausgebildet haben, existierten nach der Befreiung vom Faschismus 1945 besondere Schwierigkeiten. Diese bestanden vor allem in dem traditionellen Erbe des in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entstandenen Betreuungssystems, das seinen Schwerpunkt in den großen Anstalten hatte, deren isolierte Stellung in der Gesellschaft mit der Zusammenballung großer Zahlen der schwersten Formen psychischer Erkrankungen und geistiger Behinderungen repressive Umgangsformen mit den Kranken erzeugte und ausgeprägte Ausgrenzungsfunktionen besaß. Demgegenüber war der ambulante Sektor weit zurückgeblieben und auf den Bereich der sogenannten kleinen Psychiatrie zentriert. Die weitgehende Anpassung der Psychiatrie an die Ziele der faschistischen Diktatur, die zur Sterilisierung und Ermordung zehntausender von psychisch Kranken führte, hatte darüber hinaus nicht nur die materiellen und personellen Bedingungen der psychiatrischen Versorgung in kaum vorstellbarer Weise verschlechtert, sondern auch die gesellschaftliche Stellung und das Ansehen der Psychiatrie auf das schwerste geschädigt, wodurch die isolierte Stellung der Psychiatrie und damit ihre Ausgrenzungsfunktion notwendig verstärkt worden waren. Früher entstandene Ansätze zur Überwindung der isolierenden Wirkung der psychiatrischen Versorgung und ihrer Spaltung in zwei kaum miteinander verbundene Säulen — den stationären und ambulanten Bereich — etwa in Form der Außenfürsorge nach dem Erlanger Modell, waren weitgehend liquidiert.
Die vordringlichste Aufgabe bestand nach dem Krieg zunächst darin, die vorhandenen Einrichtungen wieder funktionstüchtig zu machen, menschenwürdige Unterbringung und elementare Voraussetzungen einer klinischen Behandlung zu schaffen. Hierfür war vor allem auch eine ideologische Neuorientierung der in der Psychiatrie Tätigen notwendig. In diesen ersten Jahren des Neubeginns unter schwierigsten materiellen, personellen und institutionellen Bedingungen und unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten — außer Elektro- und Cardiazolkrampfbehandlung, Hypnotika und einer krankenhauszentrierten Arbeitstherapie für einen begrenzten Teil der Patienten gab es keine Therapie — dominierte notwendig ein alten Traditionen entsprechendes restriktiv-autoritatives kustodiales Regime, in dem das medizinische Personal auch auf Grund des katastrophalen Mangels an hinreichend ausgebildeten Ärzten eine dominierende Rolle spielte.
Die Situation in der psychiatrischen Versorgung änderte sich — hier zeichnet sich eine zweite Entwicklungsetappe ab — mit der Einführung moderner Psychopharmaka, insbesondere der Neuroleptika, die die Möglichkeit gaben, die psychopathologischen Syndrome wirksam zu beeinflussen und das Verhalten der Patienten und damit die Atmosphäre auf den Stationen weitgehend zu normalisieren. Der erfolgreiche Einsatz der Psychopharmaka förderte daneben eine neue, aktivere und optimistische Einstellung zum Patienten und zur Rehabilitation. Insgesamt war diese Phase gekennzeichnet durch eine Klinifizierung der psychiatrischen Betreuung, die eine erhebliche Steigerung der Entlassungszahlen und wesentliche Verkürzungen der Verweildauer ermöglichte. Auf der Ebene der theoretischen Reflexion zeigte sich diese Wandlung in der Akzentuierung eines medizinisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsverständnisses und im Ausbau der nosologischen Konzeption, wobei auch vereinfachende Sichtweisen des psychopathologischen Geschehens, das auf die physischen Trägerprozesse reduziert wurde, auftraten. Die intensive Anwendung der Psychopharmaka begünstigte auch ein Therapiekonzept, in dem psychotherapeutischen und soziotherapeutisch-rehabilitativen Aspekten kaum Bedeutung beigemessen worden ist. Diese Entwicklung hatte dennoch ihre progressive Seite; sie förderte die Gleichstellung der psychisch Kranken mit körperlich Kranken und eine Aufwertung der Psychiatrie als klinischer Disziplin. Die Veränderung der Betreuungsatmosphäre durch die Psychopharmakabehandlung brachte in den psychiatrischen Einrichtungen-gleichzeitig aber auch eine Inaktivierung der Patienten mit sich, eine Intensivierung der Bettruhe, die ähnlich regressive Wirkungen auf das Verhalten des Patienten hatte wie die autoritär-hierarchischen Umgangsformen und ihn in eine Situation der Abhängigkeit und Unselbständigkeit brachten. Erwähnenswert sind für diese Phase auch erste Bemühungen um die Entwicklung extramuraler Betreuung vor allem in Form von ambulanten Abteilungen an Fachkrankenhäusern sowie von rehabilitationsorientierten Außenstationen in der Landwirtschaft oder in anderen Bereichen der gesellschaftlichen Produktion.
Es zeigte sich jedoch bald, daß die Psychopharmaka die in sie gesetzten Hoffnungen nicht vollständig erfüllten. Aus dieser kritischen Sicht einer klinisch-medikamentösen Therapie entwickelte sich — hier könnte man von einer dritten Phase sprechen — vom psychiatrischen Krankenhaus ausgehend eine Neubelebung soziotherapeutisch-rehabilitativer Aktivitäten vor allem in Form des Ausbaus der Arbeitstherapie, der Umgestaltung des therapeutischen Milieus sowie der Schaffung extramuraler Betreuung, insbesondere geschützter Werkstätten und Wohnheime. Beispielhaft für diese Phase ist eine solche Entwicklung in psychiatrischen Krankenhäusern gewesen, u.a. in Brandenburg (Eichler), in Mühlhausen (Lange) und in Rodewisch (Walther). Unterstützt wurden diese von den psychiatrischen Großkrankenhäusern ausgehenden Bemühungen um eine rehabilitationszentrierte komplexe therapeutische Praxis durch das »Gesetz über die Einweisung für psychisch Kranke in psychiatrische Einrichtungen« vom 11.6.1968, das die Verantwortung für die Indikation und auch Realisierung einer Einweisung des psychisch Kranken gegen seinen Willen in die Kompetenz des Arztes legte und die Interessen des Patienten, dessen seelische oder soziale Gefährdung in den Vordergrund stellt. Ebenso positiv wirkte sich auf die Betreuung der psychisch Kranken die »Anordnung zur Sicherung des Rechts auf Arbeit für Rehabilitanden« von 1968 aus, die in vollem Umfang auch für die Psychiatrie angewandt wurde. Mit dieser Anordnung wurden einmal differenzierte Möglichkeiten einer gestuften beruflichen Rehabilitation gegeben, die durch einen dem aktuellen Leistungsstand des Patienten entsprechenden Einsatz sowohl in speziellen Einrichtungen als auch in Betrieben gefördert werden konnte. Zum anderen wurde die Verantwortung der Betriebe für die Beschäftigung von psychisch Kranken moralisch stimuliert und materiell dadurch gefördert, daß die Rehabilitanden außerhalb des Arbeitskräftestellenplans beschäftigt werden konnten. Auch innerhalb der psychiatrischen Krankenhäuser konnte eine Aufwertung des sozialen Status des Patienten durch die Umwandlung der schlecht bezahlten Arbeitstherapie in Rehabilitationsarbeitsplätze erreicht werden; diese Patienten wurden damit rechtlich zu Mitarbeitern des Krankenhauses, ein Prozeß, der durch die Schaffung von Stationen mit Wohnheimcharakter gefördert wurde.
Einen Höhepunkt dieser Phase einer Reform der psychiatrischen Krankenhäuser und ihrer Orientierung auf gesellschaftszentrierte Betreuungsformen bildete das Internationale Symposium sozialistischer Länder über Rehabilitation psychisch Kranker des Jahres 1963 in Rodewisch, auf dem die sogenannten Rodewischer Thesen formuliert und den Ministerien für Gesundheitswesen der sozialistischen Länder übergeben wurden.[1] Gefordert wurde die Ergänzung der klinisch-medikamentösen Therapie durch soziotherapeutische Verfahren, die Entwicklung von Tages- und Nachtkliniken, der rasche Ausbau von geschützten Behandlungsangeboten für Arbeit, Wohnen und Freizeit, die Ablösung des Sicherungs- durch ein umfassendes Fürsorgeprinzip sowie die vorbehaltlose Realisierung des »Open-Door«-Systems. In Rodewisch kamen Ansätze einer theoretischen Neuorientierung zum Ausdruck in Form der Relativierung der nosologischen Betrachtungsweise für Fragen der Rehabilitation und der sozialen Prognose psychischer Erkrankungen. Diese Bemühungen um eine Überwindung des einseitig naturwissenschaftlichen nosologischen Krankheitsverständnisses hatten ihren Ausgangspunkt in den neuen Praxiserfahrungen und in der intensiveren Aufarbeitung des inzwischen erreichten Reflexionsstandes der Psychologie und schließlich in kritischen Auseinandersetzungen mit den anthropologischen und daseinsanalytischen Richtungen der Psychiatrie, in der Verarbeitung ihrer rationalen Inhalte: der Zuwendung zum ganzheitlichen Subjekt des Kranken, der Widerspiegelung wichtiger Momente seiner psychosozialen Problemsituation und seiner Lebensgeschichte.
Bedeutsam in diesem Zusammenhang waren kritische Bewertungen der Rolle des psychiatrischen Krankenhauses und der tradierten Stellung des psychisch Kranken im Behandlungssystem, die vor allem vom Fachkrankenhaus für Psychiatrie in Brandenburg (Späte, Schirmer, Müller 1973) ausgingen und bis in die Gegenwart fortgeführt wurden. In den »Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft« aus dem Jahre 1974 wurden wesentliche Aspekte dieser Debatte zusammengefaßt. Es wird darin festgestellt, daß die historisch gewachsene Struktur psychiatrischer Krankenhäuser geeignet ist, zusätzliche psychische Störungen hervorzurufen oder bestehende zu verstärken und daß insbesondere deren hierarchischer Aufbau zu einem Hindernis bei dem Bestreben geworden ist, die Schranken zwischen psychisch Gestörten und der Umwelt abzubauen. Den Weg zur Verminderung pathogener sozialer Einflüsse und zum Abbau unzeitgemäßer undemokratischer organisatorischer Strukturen sollte der Aufbau der »Therapeutischen Gemeinschaft« bilden, die »die Umwandlung der menschlichen Beziehung zwischen Patienten und therapeutischem Kollektiv von zum Teil noch nebeneinander stehenden und unabhängig voneinander wirkenden in kontinuierlich und miteinander arbeitende und die Behandlung gestaltende Gruppen und den Übergang vom häufig hemmenden, streng hierarchisch gegliederten System der Anordnung und Unterordnung zur demokratischen Leitung und einem weiten Spielraum der Mitsprache aller Mitarbeiter und Patienten enthält. Therapeutische Gemeinschaft unter unseren Bedingungen wurde verstanden als »die Realisierung des sozialistischen dialektischen Verhältnisses von ausgeübter Souveränität und anerkannter Unterordnung, von Freiheit und Disziplin auch im Binnenbereich psychiatrischer Großkrankenhäuser«.
Die bisher dargestellten neuartigen Entwicklungen in der Psychiatrie standen zunächst stark unter dem Einfluß der psychiatrischen Großkrankenhäuser, die die Funktion von Zentren wahrnehmen, von denen aus präventive und auch rehabilitative Behandlungsangebote in den extramuralen Bereich, in den sozialen Lebensraum des Patienten hinein entwickelt wurden. Das hatte zur Folge, daß die Hauptverantwortung für die psychisch Kranken nicht bei den Gemeinden und ihrem Gesundheits- und Sozialwesen lag, sondern auf oft abgelegene zentralisierte Einrichtungen delegiert wurde.
Seit der Mitte der sechziger Jahre kann von einer vierten Phase der Entwicklung unserer Psychiatrie gesprochen werden. Auf der Ebene der theoretischen Reflexion war diese gekennzeichnet durch die Fortsetzung der oben erwähnten Bemühungen um eine Überwindung der Einseitigkeit eines ausschließlich naturwissenschaftlichen Krankheitsverständnisses und durch den Ausbau sozialpsychiatrischer Konzepte. Hinzu kam, daß eine Reihe von Hochschulkliniken moderne gemeindenahe Behandlungsangebote wie Tages- und Nachtkliniken, therapeutische Klubs u.a. entwickelten. Das therapeutische Programm wurde durch Einzel- und Gruppenpsychotherapie sowie differenzierte soziotherapeutische Gruppen ergänzt. Dabei wurde — das betrifft eigene Erfahrungen an der Psychiatrischen Universtitätsklinik, aber auch die allgemeine Entwicklung an Fachkrankenhäusern — die Gefahr eines selektiven Indikationskonzepts deutlich. Patienten wurden uns überwiesen, weil sie auf Grund des sozialen oder psychologischen Status und ihrer Reflexionsfähigkeit für Psychotherapie besonders geeignet schienen. Meist handelte es sich um jüngere, intelligente Patienten aus günstigen sozialen Lebensbedingungen. Für eine ähnliche Gruppe entstanden auch an vielen Krankenhäusern Abteilungen für Soziotherapie o.a. Psychosoziale Behandlungsformen gerieten auf diese Weise in die Gefahr, zu einer »Spezialtherapie« für ausgewählte Patientengruppen zu werden. Damit wurden internationale Erfahrungen bestätigt, wie sie auch von Erich Wulff in seinem Beitrag »Therapeutische Gemeinschaft und Sektorprinzip — Konflikte bei psychiatrischen Reformen« dargestellt worden sind. Die Orientierung der theoretischen Sichtweise und der Praxis auf die psychosozialen Probleme des Kranken und die erwähnten Gefahren führten zu der Erkenntnis, daß die Übernahme der vollen Versorgungspflicht für einen begrenzten, überschaubaren sozialen Raum durch ein Betreuungszentrum, das als funktionale Einheit über alle notwendigen Einrichtungen (stationäre, halbklinische, ambulante und komplementäre Behandlungsmöglichkeiten) verfügt, im Sinne einer sektorisierten Versorgung Voraussetzung für eine rationelle und wirksame Entwicklung der sozialpsychiatrischen Praxis ist. Hieraus wurde die Notwendigkeit abgeleitet, auch unabhängig vom psychiatrischen Großkrankenhaus ein basis- bzw. gemeindenahes komplexes psychiatrisches Betreuungssystem aufzubauen, das diesen Versorgungsauftrag gewährleisten kann. Wesentlich unterstützt wurde dieser Trend durch die Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED vom Jahre 1971, der die Bedeutung der ambulanten medizinischen Betreuung generell betonte und für die Versorgung psychischer Erkrankungen ausdrücklich auf die Entwicklung geschützter Lebensformen für Arbeit, Freizeit und Wohnen orientierte. Eine besondere Rolle bei der Herausbildung von Betreuungsformen mit engen Bindungen zu den Lebensräumen der Patienten, d.h. auf Kreis- oder Stadtbezirksebene, spielte auch der enge Kontakt mit der Psychiatrie in der UdSSR, der durch die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Psychoneurologischen Forschungsinstitut »Bechterew« in Leningrad und weiteren Einrichtungen entstand. Dort lag von vornherein das Zentrum, der Kern der psychiatrischen Versorgung nicht im stationären Sektor, sondern in den psychiatrischen Dispensaires, bei denen es sich um personell und institutionell großzügig ausgestattete ambulante Behandlungszentren mit tagesklinischer Betreuungskapazität und Einrichtungen für geschützte Arbeit und geschütztes Wohnen handelt. Erstmalig wurde 1975 für die Stadt Leipzig die Entwicklung eines sektorisierten Betreuungssystems geplant, in welches das zuständige psychiatrische Fachkrankenhaus und die Psychiatrische Universitätsklinik einbezogen wurden. 1976 wurde für einen Stadtbezirk die sektorisierte Betreuung durch die Psychiatrische Klinik der Universität gemeinsam mit der psychiatrisch-neurologischen Fachambulanz der zuständigen Poliklinik realisiert. Auf Grund der dabei gemachten Erfahrungen wurde dieses System durch Veränderung der Binnenstruktur des Fachkrankenhauses für Psychiatrie mit Bildung von zwei Sektorkliniken 1978 auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt. Das Ziel war, die Betreuung psychisch Kranker in all ihren Anteilen, besonders für den stationären Bereich basisnahe, d.h. in enger Wechselbeziehung mit dem sozialen Lebensraum des Patienten und integriert in das Gesamtsystem der medizinischen Betreuung auf der Ebene der Grundversorgung zu gestalten und die tradierte Ausgrenzungsfunktion der psychiatrischen Versorgung zu überwinden.
Die mit der Herausbildung dieser Versorgungsstruktur im Zusammenhang stehenden Veränderungen der Inanspruchnahme der Behandlungsbedingungen und der Verlaufscharakteristika psychischer Erkrankungen vor allem im Hinblick auf den Institutionalisierungsprozeß wurden Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen mit dem Ziel der Evaluation.
In Auswertung der bei der praktischen Realisierung einer basisnahen psychiatrischen Versorgung in den oben erwähnten Bereichen gemachten Erfahrungen und der sie begleitenden wissenschaftlichen Untersuchungen wurden für den Zeitraum 1981-1990 vom Ministerium für Gesundheitswesen Richtlinien für die weitere Entwicklung der psychiatrischen Betreuung erlassen. In diesem Dokument wird die Mehrzahl der psychiatrischen Betreuungsaufgaben als Bestandteil der medizinischen Grundbetreuung definiert.[2]
Damit wird die Hauptverantwortung für die Versorgung psychisch Kranker auf den Kreis bzw. Stadtbezirk festgelegt. Dies gilt nicht nur für die Prävention und Rehabilitation, sondern ausdrücklich auch für die Dauerbetreuung chronisch psychisch Kranker und pflegebedürftiger Patienten. Es ist vorgesehen, die Aufgaben der Betreuung geistig Behinderter aus der stationären psychiatrischen Versorgung herauszulösen und unter Einbeziehung der Rehabilitationspädagogik neue Betreuungsformen zu entwickeln.
Die Verlagerung der Betreuung psychisch Kranker auf die Kreisebene, in den sozialen Raum, in dem sich das persönliche und soziale
Leben des psychisch Kranken vollzieht, wird mit der Notwendigkeit der Förderung der Wechselbeziehung zwischen dem psychisch Kranken und seinen sozialen Bezugsgruppen begründet. Weiterhin wird gefordert, für überschaubare Territorien mit einer Größe von 80000 bis 250000 Einwohnern alle an der Betreuung beteiligten Einrichtungen zu funktionalen Einheiten als komplexes Betreuungssystem zu entwickeln, um dadurch eine kontinuierliche und flexible Behandlung zu gewährleisten. Besondere Bedeutung wird dem Ausbau leistungsfähiger ambulanter psychiatrisch-neurologischer Abteilungen an den Polikliniken beigemessen. Aufgabe dieser Einrichtungen wird es sein, Leitungs- und Koordinierungsfunktion bei der Entwicklung des psychiatrischen Betreuungssystems zu übernehmen. Neben der Schaffung von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern (Kreiskrankenhäuser) für die stationär-psychiatrische Grundbetreuung in den Bereichen des Landes, in denen das zuständige psychiatrische Fachkrankenhaus auf Grund der ungünstigen Lage die stationäre psychiatrische Grundversorgung nicht übernehmen kann, und weiteren tages- bzw. nachtklinischen Betreuungskapazitäten, wird der Aufbau eines vielgliedrigen Netzes komplementärer Betreuungsangebote in Form von Tagesstätten, Einrichtungen für geschützte Arbeit, sowie geschützter Wohnbereiche sowohl für die Dauerbetreuung als auch als Übergangseinrichtung mit dem Ziel der Rehabilitation angestrebt. Für die psychiatrischen Fachkrankenhäuser werden spezialisierte Betreuungsaufgaben festgelegt, unter denen vor allem bestimmte Aufgaben der Geropsychiatrie, der Suchtkrankenbetreuung und der Psychotherapie genannt werden. Vor allem aber wird die Veränderung der Binnenstruktur empfohlen und zwar die Bildung von weitgehend offenen, gemischt-geschlechtlichen Basisstationen, die für ein abgegrenztes Territorium der oben erwähnten Größenordnung die volle stationärpsychiatrische Grundversorgung übernehmen und enge funktionelle Beziehungen zu den ambulanten Behandlungseinrichtungen entwickeln. Dadurch wird entsprechend internationalen Erfahrungen auch bei größerer Entfernung zwischen Lebensraum und Krankenhaus zumindest ideelle Gemeindenähe möglich. Interessante praktische Formen der Realisierung solcher Beziehungen wurden im Fachkrankenhaus Neuruppin für einen ländlichen Einzugsbereich entwickelt. Die weitere Optimierung der psychiatrischen Betreuung wird als abgestimmter Prozeß zwischen schrittweisem Ausbau eines wohn- und arbeitsplatznahen vielgliedrigen Betreuungssystems (ambulante, teilklinische und stationäre Kapazitäten, geschützte Wohn-, Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten sowie Pflegeeinrichtungen) und einer weiteren Entflechtung der Fachkrankenhäuser mit umschriebenen Teilfunktionen (z.B. stationär-psychiatrische Grundversorgung, Langzeitrehabilitation, Pflege- und Betreuungsaufgaben) im Rahmen von auszubauenden komplexem Betreuungssystemen auf Kreis- und Stadtbezirksebene gestaltet. Damit werden neue Lücken in der psychiatrischen Betreuung verhindert und bestehende schrittweise überwunden. Vorrangig werden Veränderungen in den Kreisen mit den ungünstigsten Betreuungskapazitäten und großen Entfernungen zu den bisher zuständigen Fachkrankenhäusern angestrebt. Übergeordnetes Ziel ist es, die Beziehungen zwischen behandelnder Institution und sozialem Raum zu verbessern. So wird in der Direktive der Volkswirtschaft der DDR 1986 bis 1990 als eine wesentliche Aufgabe des Gesundheits- und Sozialwesens die weitere Stärkung der ambulanten nervenärztlichen und der stationär-psychiatrischen Betreuung genannt.
Viele der in unserem Entwicklungsprogramm der Psychiatrie fixierten Aufgaben befinden sich erst im Anfangsstadium der Realisierung, zumal die für eine Reihe von Modernisierungen und Erweiterungen des Versorgungssystems erforderlichen finanziellen und personellen Kapazitäten erst nach und nach im Rahmen des Volkswirtschaftsplanes bereitgestellt werden können. Deutlicher als zuvor wird aber mit jedem Schritt der Umsetzung dieses Programms die Notwendigkeit ersichtlich, das Niveau der fachlichen Qualifikation aller in der Psychiatrie Tätigen systematisch zu fördern. Dabei erscheint uns in der gegenwärtigen Situation folgender Aspekt bedeutungsvoll. Die Entwicklung eines basisnahen Betreuungssystems führte zu einem erheblichen Anwachsen der Patientenkontakte, der Anforderungen an spezialisierte Formen der Diagnostik und Therapie. Für uns kam der Wegfall von Selektionsmechanismen der Hochschulklinik hinzu, der dazu führte, daß zunehmend Patienten aus ungünstigeren sozialen Lebensbedingungen, mit geringerer Reflexionsfähigkeit aufgenommen wurden, die unserem gewohnten psychotherapeutischen Zugang zunächst Widerstand entgegensetzten. Diese Bedingungen und die Zentrierung der Bemühungen auf die Regelung sozialer Beziehungen und den Ausbau der rehabilitativen Wirksamkeit bargen das Risiko in sich, die psychodynamischen Aspekte des individuellen Krankheitsgeschehens, den Kranken als Subjekt an den Rand treten zu lassen. Da die Intention des bei uns in Gang gekommenen Prozesses der »Reform der Psychiatrie« nicht darin besteht, ihre tradierte Funktion der sozialen Kontrolle in modernisierter Gestalt Wiederaufleben zu lassen, sondern darin, erkrankten Menschen zu helfen, zur Selbstbestimmung und rationalen Selbstgestaltung ihres Lebens zurückzufinden, muß ausdrücklich der Gefahr begegnet werden, den Patienten zum Objekt nunmehr vor allem sozialer Betreuung und von der Psychiatrie ausgehender Arrangements der Lebensführung zu machen. Möglichkeiten dazu sehen wir vor allem in der intensiveren Integration psychotherapeutischen Wissens und Könnens in die Ausbildung aller in der Psychiatrie Tätigen, wobei wir uns an einer modifizierten Fassung des gesprächspsychotherapeutischen Konzepts orientieren, da dieses besonders günstige Voraussetzungen für die Zuwendung zum ganzheitlichen subjektiven Erleben der Kranken bietet und Fähigkeiten zum emphatischen Verstehen ausprägen hilft, die von fundamentaler Bedeutung für einen humanen Stil des Umgangs mit Menschen in der psychiatrischen Praxis sind. Die durch die Gesprächspsychotherapie intendierte dialogische Beziehung zum Patienten erscheint uns besonders geeignet als übergreifender, die objektivierende, verdinglichende Wirkung eines einseitigen medizinisch-naturwissenschaftlichen oder soziologischen Krankheitsverständnisses aufhebender Rahmen. Wir sehen hier enge Beziehungen zu dem phänomenologischen Vorgehen, dessen Bedeutung und Möglichkeiten im Rahmen eines sozialpsychiatrischen Denkansatzes Erich Wulff anhand der Analyse des paranoischen Verschwörungswahns gezeigt hat. Diese Vertiefung psychiatrischer Handlungskompetenz muß den Ausbau von medizinisch-somatischen Fertigkeiten begleiten, da sich bereits gegenwärtig Verschiebungen im Morbiditätsspektrum in Richtung auf eine relative Erhöhung des Anteils von schwerwiegenden neurotischen Entwicklungen, von sogenannten Grenzzuständen und von Suchterkrankungen abzeichnet, denen ohne psychotherapeutische Zugangsweisen nicht mehr sinnvoll begegnet werden kann. Einen weiteren Weg der Förderung der Humanität in der Psychiatrie sehen wir in der Erarbeitung angemessener moralischer Normen des professionellen Verhaltens, die u.a. ihre Funktion darin haben, problematische Verhaltensweisen und oft unbedachte Konsequenzen öffentlicher Stellungnahmen sensibler wahrzunehmen und kritischer zu beurteilen.
Es ist ein Vorzug der Situation der Psychiatrie in unserer Gesellschaft, daß sie bei klaren Begründungen von ihr vorgeschlagener Wandlungen im Versorgungssystem und bei der Orientierung an den humanistischen Grundwerten der Persönlichkeitsbildung meist rasch die Unterstützung des Staates und gesellschaftlicher Organisationen erlangt. Dies legt den Psychiatern die Verpflichtung auf, die eigenen Praxiserfahrungen kritisch zu beurteilen, erforderlichen Veränderungen gegenüber aufgeschlossen zu reagieren und widerspruchsvolle Momente im derzeit existierenden System der eigenen Tätigkeit unvoreingenommen zu sehen; daß es nicht leicht ist, diesen Erfordernissen zu entsprechen, bedarf keiner besonderen Begründung.
Auch wenn der Weg der Psychiatrie in unserem Lande sehr stark von den sozialen und gesundheitspolitischen Bedingungen einer sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft geprägt worden ist, wollen wir gern anerkennen, daß ihm viele Anregungen zugute gekommen sind, die von humanistisch und demokratisch orientierten Vertretern der Reformbewegung der Psychiatrie in anderen Staaten ausgegangen sind. Erich Wulff, dessen Intentionen und Leistungen unsere besondere Hochachtung genießen, wird in den vorstehenden Überlegungen hoffentlich manche Positionen wiedererkennen, die im gemeinsamen Gespräch trotz Differenzen in Detailfragen Abklärung und Vertiefung erfuhren; wir wünschen ihm weiterhin Schaffenskraft und ungebrochenen Optimismus und uns auch künftig die Möglichkeit zum Dialog der Vernunft auch in der Psychiatrie.
Bezüglich der Literatur verweisen wir auf H. Späte, A. Thom und K. Weise, 1982: Theorie, Geschichte und aktuelle Tendenzen der Psychiatrie. Schriftenreihe Medizin und Gesellschaft Band 15. Hrsg. G. Baust, A. Keck, R. Löther, S.M. Rapoport, H. Spaar. VEB Gustav Fischer Verlag. Jena/DDR