Ich habe noch mit keinem anderen Ausländer
über meine Vergangenheit gesprochen.
Sie sind der erste, dem ich davon erzählt habe,
weil ich hörte, Sie wollten darüber etwas erfahren.
Tschiang Tsching, 12. August 1972
Zu meiner unerwarteten Reise nach China war es in der Folge des dramatischen Umschwungs in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen gekommen. Dieser Umschwung hatte im Sommer 1971 nach mehr als zwanzigjähriger »Nichtanerkennung« begonnen. Diese merkwürdige Doktrin basierte auf unserer im Kalten Krieg verstärkten Furcht vor dem Kommunismus, dessen eigentümliche chinesische Spielart sich unserem Verständnis immer noch entzog. Unserem systematischen Ignorieren der chinesischen Realität entsprach die traditionelle Selbst-Abkapselung Chinas, nun auf vieldeutige Weise relativiert durch ein marxistisches Weltbild, das eine rituelle Verunglimpfung der imperialistischen Supermächte begründete. Aus der Perspektive der Kommunistischen Partei Chinas war dabei die Regierung der Vereinigten Staaten von beispielloser Bedeutung. Aus Gründen der Realpolitik schlug in einem denkwürdigen Augenblick die programmierte Feindseligkeit in ungeduldige Verhandlungsbereitschaft um. Dem ersten vorsichtigen Annäherungsversuch von Außenminister Henry Kissinger bei Ministerpräsident Tschou En-Iai folgte der Besuch Präsident Nixons und seiner eindrucksvollen Delegation.
Wir verfolgten diese historische Begegnung am Fernsehschirm und stellten erstmals die seltsame Mischung von Begeisterung und Feindlichkeit in Frage, mit der wir beobachtet hatten, wie das revolutionäre China die Energien von mehr als 800 Millionen Menschen gegen die Vorherrschaft der Vergangenheit mobilisiert hatte. Der Umschwung kam schnell. Im Herbst wurde eine Ständige Vertretung der Volksrepublik China bei den Vereinten Nationen zugelassen, und die geschickte chinesische Kulturdiplomatie gewann in den Vereinigten Staaten ein neues Betätigungsfeld. Das Interesse der Amerikaner, das »wirkliche« China kennenzulernen, schien plötzlich unersättlich. Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen, die sich eiligst um ein Visum bemühten und die chinesische Botschaft in Ottawa belagerten, tat ich nichts dergleichen. Ich war während des Kalten Krieges in den fünfziger Jahren aufgewachsen und davon überzeugt, daß der Gegenstand meines Lehrens und Forschens in den sechziger Jahren, nämlich die moderne chinesische Geschichte auf sozialem und intellektuellem Gebiet, für mich rein »akademisch« bleiben würde - unberührt von persönlicher Erfahrung. Aber eine zufällige Begegnung lockte mich aus der Reserve.
Im Spätherbst 1971 fuhr ich nach New York, um an dem »Modern China Seminar« der Columbia-Universität teilzunehmen. Ich stieg in einem bescheidenen Hotel ab, dem »Roosevelt«. Als ich am nächsten Morgen nach dem Frühstück in der Halle die »New York Times« überflog, zog eine hereinstürmende quasi militärische Formation meine Aufmerksamkeit auf sich. Gestalten, so steif, als hätten sie einen Stock verschluckt, die Augen geradeaus, mit sorgfältig gebürstetem kurzen Haar und in marineblauen Jacken mit hohem Kragen. Unverkennbar die eben aus der Volksrepublik eingetroffene chinesische Delegation. Diese Beamten waren vorübergehend im vierzehnten Stock untergebracht, und ich wohnte im selben Hotel, ohne diese Gelegenheit, die mir wie ein Wunder erschien, zu nutzen. Ich hatte nur noch wenige Augenblicke Zeit vor meiner nächsten Verabredung. So eilte ich denn zum Lift und drückte auf den Knopf mit der »14«, nur um dahinterzukommen, ob diese streng erzogenen Emissäre Pekings an der Tradition festhielten, die ich vor fünf Jahren in Taiwan kennengelernt hatte. Nahmen sie ein typisch nordchinesisches Frühstück mit einfachen Eiern und Pfannkuchen zu sich? Und hielten sie ihre Teekannen vielleicht auf den antiquierten Heizkörpern des Hotels warm? Vor dem sich öffnenden Fahrstuhl standen zwei riesige Polizisten und ein uniformierter Hotelpage. »Zeigen Sie Ihren Ausweis«, forderte der eine der beiden Beamten. Ich gehorchte. »Zweck des Besuches?« Ich sagte irgend etwas Albernes - ich sei geistig an China interessiert und so weiter. Da wurde ich eines pyjamabekleideten Chinesen ansichtig, der neugierig aus einer der Zimmertüren herüberblickte. »Ni tschih-le ma?« fragte ich ihn im Umgangschinesisch (»Haben Sie gegessen?«) und fügte die Frage hinzu, wie er und seine Landsleute sich in einer amerikanischen Stadt zurechtfänden. Alarmiert verschwand er. Nach aufgeregtem Getuschel hinter der Tür erschien ein schlanker Mann in einem kurzärmligen Hemd und ausgebeulten Hosen. »Ich bin Liu«, erklärte er nervös, während er mich in ein kleines Zimmer führte. Wir setzten uns.
Er bot mir Tee und Zigaretten an, chinesische Produkte. Abwechselnd chinesisch, französisch und englisch sprechend, begannen wir eine liebenswürdige Konversation über die Wandlungen in der chinesischen Diplomatie, über die Möglichkeit eines Studentenaustausches (»in ferner Zukunft«) und die Chancen einer geistigen Verständigung zwischen dem chinesischen und dem amerikanischen Volk. Wir stellten Spekulationen an, blieben aber zurückhaltend. Der Name des Vorsitzenden Mao fiel nicht. Mit leiser Stimme lud mich Mr. Liu ein, doch einmal wiederzukommen. Als ich ging, folgte mir der Hotelpage in den Fahrstuhl. Wir fuhren herunter, und er sagte mit pfiffigem Lächeln: »Sie halten mich für einen Hotelpagen, aber in Wirklichkeit bin ich Detektiv. Und nicht nur das. Ich bin auch Student der John-Jay-Universität. Wenn Sie wirklich, wie Sie angeben, Professorin sind - und ich habe meine Zweifel - dann könnten Sie doch meine Semesterarbeit über Ökologie durchsehen. Warum nicht?« Ich spürte seinen Blick im Nacken, als ich schnurgerade auf den Ausgang zustrebte. Schließlich wurde ich den Kerl los, nachdem ich, im dichten Menschengewühl ein paar Straßenzüge weit gelaufen war. Diese seltsame Begegnung brachte mir wieder zum Bewußtsein, was mich der Kalte Krieg und die akademische Arbeit fast hatten vergessen lassen, nämlich daß Kommunisten Menschen sind, die anders handeln und sprechen können, als es der ideologischen Engstirnigkeit entspricht, mit der sie sich gedruckt äußern. Als ich nach einigen Wochen mit einem anderen akademischen Auftrag wieder nach New York kam, waren die Chinesen in das eigens für sie umgebaute Hotel in der Westlichen Sechsundsechzigsten Straße umgezogen.
Dort hatten sie damit begonnen, sich wirkungsvoller gegen amerikanische Sonderlinge abzuschirmen. Obwohl ich nur wenige Stunden Zeit hatte, wollte ich ihnen doch einen erneuten Besuch abstatten. Das war nicht gerade ein leichtes Unterfangen, denn ich mußte ungefähr zwanzigmal telefonieren, bis ich die richtige Verbindung bekam. Unter anderem geriet ich an das UN-Büro von Nationalchina (Taiwan), das gerade aufgelöst wurde. Eine wütende Männerstimme erklärte: »Die kommunistischen Banditen wohnen nicht hier!« Bald darauf wurde ich mit einer Mitarbeiterin Mr. Lius, Ho Li-liang verbunden. Sie war Botschaftsrätin in der diplomatischen Vertretung bei den UN und die Frau des Botschafters Huang Hua, des Chefs der Mission, der jahrelang der ranghöchste Beamte Chinas im Ausland war. Sie bestand auf einem Besuch an diesem Nachmittag. An unserer Unterhaltung, die teils chinesisch, teils französisch geführt wurde (damals drückte sich Ho Li-liang lieber französisch als englisch aus), nahm später auch Kao Liang teil, damals der zweite Botschaftssekretär. Kao Liang, der zu dieser Zeit nur chinesisch sprach, war ein robuster und lebhafter Mann. Wie während des Gesprächs deutlich wurde, hatten sie durch eigene Nachforschungen erfahren, daß ich an einem Buch über die moderne chinesische Frauenbewegung arbeitete. Ich hatte mich in dieses Thema eingearbeitet und war nun mit der rebellischen Jugend mancher chinesischer »Veteranen der Revolution« vertraut. Sie waren auch dahintergekommen, daß ich der Mitautor einer sechzehnbändigen Auswahl aus bislang nicht übersetzten persönlichen Erinnerungen von Revolutionären - unter dem Titel »The Red Flag waves« - war.[1] Sie äußerten sich kritisch über die Sammlung und machten mich darauf aufmerksam, daß die Ansichten einiger der darin Vertretenen - unter ihnen waren auch gestürzte Genossen - »Irrtümer enthielten.« Außerdem interessierten sie sich sehr für eine Untersuchung von mir über die unruhige Jugend des Vorsitzenden, der ich den Titel »Mao, Frauen und Selbstmord in der Bewegung des 4. Mai« gegeben hatte.[2] Als wir über das Dilemma sprachen, in dem sich Frauen in einer sozialistischen Revolution befinden wobei mir Ho Li-liang versicherte, die Frauen brauchten nur am proletarischen Klassenkampf teilzunehmen, um mit den Männern gleichberechtigt zu sein - erwähnte ich, daß ich im Herbst 1967 bei meiner Rückkehr nach Berkeley - ich hatte eine zweijährige Studienreise durch Asien und Europa hinter mir - Zeitungsberichte über Tschiang Tsching gelesen hatte. Diese Berichte hatten mich fasziniert. Die Frau Mao Tse-Tungs, die sich zuvor der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen hatte, beherrschte plötzlich die nationale Szene, fiel über große alte Männer her und griff das Establishment an. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und schob alle anderen Arbeiten beiseite, um Tschiang Tschings Geschichte zu schreiben. Ein Plan, der sich nahezu als undurchführbar erwies. Denn bis zur Zeit der Kulturrevolution, die 1966 losbrach, hatte die kommunistische Presse ihre Person und ihre politische Bedeutung, worin sie auch bestanden haben mochte, so gut wie ignoriert. Soviel Zurückhaltung im Zentrum der Macht reizte die professionellen China-Beobachter zu kühnen Spekulationen. Sie empfanden es als Sensation, daß eine Frau in China Macht ausübte. Außerdem meldeten sich einige Chinesen, geschwätzige alte Herren, behaupteten, den aufgehenden Stern schon in der Vergangenheit gekannt zu haben, als Tschiang Tsching keine große Schönheit und keine besonders gute Schauspielerin, dafür aber eine notorisch launenhafte Einzelgängerin gewesen sei. [3] Wie nicht anders zu erwarten, tauchten in diesen Erinnerungen immer wieder sexuelle Motive auf: Filmstar-Romanzen und gebrochene Herzen hatten angeblich ihren Weg zur Macht begleitet. Nicht nur die Korrektheit, auch die Relevanz solcher Informationen war zweifelhaft. Man stelle sich vor, das Objekt all dieser Geschichten wäre ein Mann gewesen, der plötzlich an die Macht gelangt war. Würde man die Spekulationen oder den durch sexuelle Ressentiments genährten Klatsch ehrgeiziger oder enttäuschter Frauen als verläßliches Quellenmaterial für eine Biographie anerkennen? Nachdem ich mich sechs Wochen in diesen Schmutz versenkt hatte, legte ich alles angewidert zu den Akten und sah es erst Monate später wieder durch, nachdem ich die betreffende Dame kennengelernt hatte. Ich sprach Ho Li-liang auf das verzerrte und diskriminierende Bild an, das man sich im Ausland von Tschiang Tsching machte. Aufgebracht riet sie mir - obwohl sie feststellte, daß Tschiang Tsching eine »geborene Revolutionärin« sei - mich nicht über Gebühr mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Warum interessierte ich mich nicht lieber für jüngere Genossinnen, zumal fur die, welche in den letzten Jahren ins Zentralkomitee berufen worden waren? Sie und Kao Liang seien gern bereit, für mich einen Brief nach Peking zu schreiben, damit ich China besuchen dürfte, um die Lage der Frauen und die chinesische Kultur im weitesten Sinne zu studieren.
Denn nur wenn ich das Land mit meinen eigenen Augen gesehen und selbst mit den Menschen gesprochen hätte, könnte ich die Gefahr vermeiden, mit Hilfe irreführender Dokumentationen, die in ausländische Bibliotheken gelangt seien, »akademisch« über dieses Thema zu schreiben. Natürlich hatte ich nichts dagegen einzuwenden, aber ich nahm den Vorschlag auch nicht ernst. Ich kehrte zu meiner Lehrtätigkeit in Binghamton an der State University of New York zurück und machte mich daran, meine Geschichte der chinesischen Frauenbewegung in den zwanziger Jahren umzuschreiben. Aber ein paar Wochen später rief mich Kao Liang an, mit vor Aufregung schriller Stimme. Die Gesellschaft des chinesischen Volkes für Freundschaft mit dem Ausland (das Amt, das die Beziehungen zu den Ländern pflegt, mit denen China keine offiziellen diplomatischen Beziehungen unterhält) lud mich ein, in diesem Sommer, zu einem von mir gewählten Zeitpunkt, China »als Privatperson« zu besuchen. Alle Ausgaben würden mir in China ersetzt werden. Nein, es sei nicht nötig, erst nach Ottawa zu reisen, erklärte mir Kao. »Schicken Sie uns einfach Ihren Paß ...« Ich schickte einen neuen, der nicht meine Reisen nach Taiwan verriet. Wenige Tage später kam der Paß mit dem Visum in einem einfachen braunen Briefumschlag zurück.
Am 18. Juli flog ich nach Hongkong. Ich wurde auf dem Kai Tak-Flughafen von »unseren Freunden« begrüßt, den liebenswürdigen Vertretern der Freundschaftsgesellschaft. Sie lieferten mich in einem unscheinbaren Hotel ab. Am nächsten Morgen begleitete mich der Chef der Freunde mit zwei anderen unauffällig auf der Fahrt durch die Halbinsel von Kowloon bis zu der Stadt Schumtschun, der Grenzstation zwischen Hongkong und der Volksrepublik. Hier stand ich am Rande einer Kultur, die ich nur aus historischen Zeugnissen kannte und von deren gegenwärtiger Wirklichkeit ich mir kaum ein Bild machen konnte. Auf meinen Studienreisen vor einigen Jahren hatte ich von den Höhen von Hongkong und den vor der Küste gelegenen Inseln Quemoy und Matsu einen kurzen Blick auf »Rotchina« geworfen, wie damals die Etikettierung lautete. Die Menschen dort drüben waren kalligraphische Zeichen vor einer sich lang hinziehenden verschwommenen Landschaft. Jetzt, aus unmittelbarer Nähe, haftete der Szene noch immer etwas Unwirkliches an.
Unter den schmetternden Klängen revolutionärer Musik wandte ich Kowloon den Rücken. Ich überschritt die Lowu-Brücke und sah vor mir ein Bilderbuchbild vom zeitlosen China: fröhliche Arbeiter und Bauern im Vordergrund, ordentlich bestellte Felder in der Mitte und grüne Hügel im Hintergrund. Im grellen Schein der Morgensonne hatte dieser erste flüchtige Blick auf die Wirklichkeit die surreale Wirkung eines Cartoons von Peter Max. Von Schumtschun fuhr ich mit dem Zug nach Kanton, wo ich zwei weiblichen Mitgliedern der örtlichen Freundschaftsgesellschaft anvertraut wurde. Die eine war jung, die andere war in mittleren Jahren, aber beide waren ungemein gastfreundlich. Nach einer Siesta (bei meiner Ungeduld empfand ich den Brauch als Zwang; ich konnte nur so tun, als ob ich schliefe) und einem hervorragenden Essen nach südlicher Art setzte ich die Reise auf dem Luftweg nach Peking fort. Aber unterwegs meldeten unsere übervorsichtigen Piloten unsichere Wetterverhältnisse, und sie verfügten einen außerplanmäßigen Aufenthalt über Nacht in Tschengtschou, erwähnenswert als Zentrum der Tabakindustrie. Man gab uns das Gepäck nicht heraus, und wir verbrachten eine schwüle Nacht auf Rotang-Betten in einem proletarisch-palastartigen, doch baufälligen Gästehaus. Am Morgen setzten wir den Flug fort. Am Flughafen erwartete mich eine Abordnung des Pekinger Büros der Freundschaftsgesellschaft.
Während der Fahrt auf einer der strahlenförmig aus der Hauptstadt herausführenden Straßen, die von Weiden gesäumt wurde, unterhielt ich mich mit den drei Beauftragten, die für die nächsten sechseinhalb Wochen meine Begleiter sein sollten: Yü Schih-lien, eine erfahrene Dolmetscherin von Mitte Dreißig; Tschen Wen-tschao, ein noch in der Ausbildung befindlicher Dolmetscher Anfang Dreißig und Frau Tschen Ming-Hsien, die wir für gewöhnlich Lao Tschen (Ehrwürdige Tschen) nannten, da sie die Älteste von uns war - Anfang Vierzig. Obwohl der Altersunterschied zwischen Lao Tschen und meinen beiden jüngeren Begleitern weniger als ein Jahrzehnt ausmachte, markierte eben dieses Jahrzehnt eine Kluft zwischen den Generationen. Die beiden jüngeren waren Produkte des kommunistischen Erziehungssystems. Lao Tschen dagegen hatte noch die halbwestliche liberale Erziehung erfahren, die mit dem Triumph der Lehre der Kommunistischen Partei ihr Ende gefunden hatte. Zwar sprach sie nicht englisch, doch ihr umfassenderes Wissen und ihre Sensibilität erleichterte unsere Verständigung und ebnete mir, wie ich glaube, den Weg - gerade in den entscheidenden Situationen. Kaum war ich ins »Peking-Hotel« gezogen, wurde ich aufgefordert, einen Reiseplan festzulegen und eine Liste der Personen, die ich zu interviewen wünschte, zusammenzustellen. Das Reiseprogramm, das einige größere Städte einschloß, enthielt nichts Ungewöhnliches. Doch meine Interview-Wünsche bezogen sich nicht nur auf Personen, die mir bei meiner Arbeit weiterhelfen konnten. Einige waren scheinbar unerfüllbar. Ich bat auch um ein Interview mit dem Gegenstand dieses Buches: eine Verbeugung pro forma vor der prominentesten Frau Chinas, der Autorität auf dem Gebiet der revolutionären Kultur. Ich glaubte damals selbst nicht daran, daß es zu einer Begegnung kommen würde, und hatte auch in Anbetracht ihres einschüchternden Rufes gar nicht den Wunsch, sie zu sprechen. Nach drei Wochen kannte ich alle Sehenswürdigkeiten Pekings, des kaiserlichen wie des revolutionären. Ich war in den Nordwesten geflogen, wo ich Sian besucht hatte, die Geisterhauptstadt der erlauchten Tang-Dynastie (618-960) und nach Jenan, einer Barackenstadt, aufpoliert als heilige Stätte für den Kult Mao Tse-Tungs und der Kommunistischen Partei Chinas, Auf jeder Station sorgten die Dolmetscher dafür, daß ich mit Männern und Frauen verschiedener Altersgruppen sprechen konnte - Menschen, deren wirtschaftliche Lage sich nach der Revolution verändert hatte.
Von ein paar denkwürdigen Ausnahmen abgesehen, hatten diese sorgfältig ausgewählten Beispiele der neuen sozialen Ordnung sich von dem Schatz ihrer persönlichen Erfahrung getrennt oder ihn entsprechend den Leitlinien der herrschenden Ideologie umstrukturiert. Für jemanden wie mich, der im Geist einer individualistischen Moral erzogen worden und an die intellektuelle Unruhe der akademischen Welt gewöhnt war, hatten die sich ständig wiederholenden politischen Litaneien etwas Qualvolles. Ich mußte mir immer vor Augen halten, daß sie nicht einfach versuchten, mir etwas zu beweisen, sondern daß sie sich selbst davon überzeugen wollten, daß die neuen Glaubenssätze »richtig« und die alten »falsch« waren. Bei solchen weitgehend programmierten Begegnungen spielte das Alter meiner Gesprächspartner eine wichtige Rolle. Je höher das Alter und der soziale Status waren, desto reicher und unverfälschter war die Erinnerung. Ältere Frauen, die die politischen Prozesse der ersten Jahre der neuen Ordnung überlebt hatten, argumentierten zäh und flexibel im Rahmen der festgelegten Themen, vor allem wenn es um die schematisierten Berichte über den Sieg der Revolution ging. Einige wenige zeigten Schlagfertigkeit, Humor und sogar Mutterwitz. Aber da sie nun einmal als Revolutionäre ausgewiesen waren, wollte so gut wie niemand auf ungewöhnliche politische Fragen antworten. Intellektuelle Abenteuer zwischen unseren Klassen und Kulturen waren ohnehin unzulässig. Jüngere Frauen, die in der relativ ruhigen Zeit seit der Jahrhundertmitte aufgewachsen waren, zeigten sehr viel weniger Bereitschaft, Erfahrungen wiederzugeben und - selbst in alltäglichen Fragen - Urteile abzugeben als die alten Frauen.
Paradoxerweise wirkten manche jungen Mädchen mit jugendfrischen Gesichtern weit über ihre Jahre hinaus gesetzt und verbraucht. Aber auch wenn sie einfach die Parteilinie zitierten, bewies dies anschaulich die Macht der Führer, zu bestimmen, was gedacht werden darf, und das öffentliche Verhalten zu kontrollieren. Aber diese Einfalt in den meisten Berichten über die schlechte Vergangenheit und die gute Gegenwart, über den bösen Liu Schao-tschi (den ersten ausgeschalteten Erben Maos) und den wunderbaren Mao zwang mich, meinen Begleitern, die für den Erfolg meiner Arbeit verantwortlich waren, zu erklären: »Wenn ihr erwartet, daß Ausländer meinen Bericht über die Frauen Chinas lesen wollen, dann müssen wir die Schwerpunkte anders setzen.« Wäre es nicht besser, fragte ich sie, statt ausschließlich diese »typischen« Vertreterinnen der Massen zu befragen, deren Durchschnittlichkeit sie für Ausländer uninteressant machte, die Bekanntschaft einiger ungewöhnlicherer Persönlichkeiten zu suchen - deren Namen im Ausland bekannt waren - und zu zeigen, daß sie mit der Zeit gegangen waren? Mein Vorschlag fand Anklang, denn im Lauf der dritten Woche meines Aufenthalts stieg allmählich das Niveau der Interviews, und nun wurde auch so etwas wie wechselseitige Herausforderung spürbar. Während dieser den halben oder auch ganzen Tag beanspruchenden Begegnungen mit Historikern, Ärzten und Künstlern - in der Mehrzahl Frauen - fand ich mich unweigerlich in der Rolle des einzigen Opponenten der ideologischen Orthodoxie, die sie mir unermüdlich vorbeteten. Überdrüssig dieser Monotonie und begierig auf ein intellektuelles Spiel übernahm ich zuweilen die Rolle des advocatus diaboli (das heißt des Revisionisten oder des Verteidigers des in Ungnade gefallenen Liu Schao-tschi).
Nur so konnte ich politisch und intellektuell Distanz zu der von ihnen vertretenen simplen Linie halten. Am Abend des 11. August teilten mir meine Begleiter, aufgeregter als gewöhnlich, mit, daß am nächsten Morgen Teng Ying-tschao und Kang Kotsching mit mir über die Ursprünge der Frauenbewegung sprechen wollten. Teng Ying-tschao war die Erste Beamtin der Revolution für die Förderung der Frauen und die Frau des Ministerpräsidenten Tschou En-lai, und Kang Ko-tsching war die kriegerische Frau von Tschu Te, dem Gründer der Roten Armee. Diese vollkommene Übereinstimmung des Hauptthemas meiner wissenschaftlichen Arbeit und dem, was im Zentrum des Lebens dieser Frauen stand, war, gelinde gesagt, aufregend. Ich lief die langen Treppenfluchten des Hotels hinunter und tauchte in die nächtliche Hitze des Platzes am Tor des Himmlischen Friedens. Dort mischte ich mich unter die Menge, die sich bis in die frühen Morgenstunden auf dem Platz drängte. Nach einem kurzen Schlaf war ich bereit für das Interview im Außenministerium um neun Uhr. Teng Ying-tschao und Kang Kotsching waren in Begleitung anderer führender Frauen erschienen, doch waren diese sichtlich von geringerer Bedeutung als die beiden Matriarchen der Revolution. Teng Yingtschao, eine zarte Frau Ende der Sechzig, glänzte mit schlagfertigem Witz und großzügigem Humor. An diesem Morgen begann sie, über die revolutionären Krisen der letzten fünfzig Jahre zu sprechen - aus einer recht unvertrauten Perspektive, der der Frauen. Noch benommen von dieser Exkursion in die Vergangenheit kehrte ich ins »Peking-Hotel« zurück. Zum erstenmal sehnte ich mich nach der chinesischen Siesta. Yü Schih-lien fing mich ab, was mich überraschte, weil sie wie meine übrigen Begleiterinnen sonst zu dieser Tageszeit ihren Nachmittagsschlaf hielt. Yü flüsterte mir zu: »Möglicherweise werden ein paar jüngere Genossinnen Sie heute nachmittag in Ihrem Zimmer aufsuchen.« »Wer?« »Ich weiß nicht«, erwiderte sie ausweichend. Ein paar Augenblicke später erschien sie wieder an meiner Tür, um mir anzukündigen, es sei wahrscheinlich, daß »jüngere Genossinnen« mich besuchen würden. »Es wäre gut, wenn Sie etwas aufräumen, und ich werde einen besseren Tee und frische Tassen kommen lassen.« Während ich meine Papiere und Bücher auf dem Schreibtisch ordnete, wurden Tabletts mit Tee und Mineralwasser und eine Pyramide von frischem Obst gebracht. Dann kam Yü zurück, mit vor Erregung funkelnden Augen. »Sie sind auf dem Weg. Und anscheinend hat sie Genossin Tschiang Tsching geschickt!« Punkt drei Uhr standen zwei überwältigende junge Frauen vor meiner Tür, verblüffend attraktiv in dem herben Stil der Revolution. Hsü Erh-wei und Schen Jo-yün gaben mir die Hand und stellten sich mit der offiziösen Herzlichkeit hoher Parteifunktionäre vor. Ich begrüßte sie auf chinesisch, und sie antworteten in einem ausgezeichneten Englisch mit dem Akzent der britischen Oberschicht. »Die Genossin Tschiang Tsching wünscht, Ihnen ihre politischen Ansichten mitzuteilen«, begann Schen. »Sie hat uns beauftragt, Ihnen eine Zusammenfassung von vier Ansprachen vorzulesen, die sie während der Kulturrevolution gehalten hat.« »Warum ist es so dringend?« fragte ich verwundert. »Wir haben keine Ahnung«, erwiderten sie lächelnd. Dann machten sie sich an die Arbeit. Zweieinhalb Stunden lang rezitierten sie eine improvisierte Übersetzung eines langen, weitschweifigen Vortrags, den Tschiang Tsching im Februar 1966 in der Beratung über die Arbeit in Literatur und Kunst in der Armee gehalten hatte. [4] Sie unterbrachen die Lesung nur, um Leitungswasser aus Schalen zu schlürfen. Mit einer kühnen, aus zehn Punkten bestehenden programmatischen Erklärung forderte Tschiang Tsching die Volksbefreiungsarmee auf, die Initiative in der Kulturrevolution gegen Überbleibsel und Wiedererweckungsversuche der Schwarzen Linie der dreißiger Jahre zu ergreifen - der Zeit, in der die proletarische und die bürgerliche Kunst Chinas und die internationale Links-Kultur eine erste Blüte erlebten - und eine revolutionäre Kultur zu schaffen, die den Arbeitern, Bauern und Soldaten diente. Meine Rolle bestand nicht darin, artig zuzuhören, wie sie mich wissen ließen, sondern nach kommunistischer Manier fleißig mitzuschreiben. Immer wenn bei rhetorischen Stellen oder Wiederholungen meine Feder ruhte, blickten sie solange starr auf meine Hand, bis diese ihre Tätigkeit wieder aufnahm. »Warum lassen Sie mich diese Texte nicht im Original lesen, wenn ich dazu Zeit finde?« fragte ich. »Weil uns die Genossin Tschiang Tsching beauftragt hat, sie Ihnen vorzulesen.« Was ich bereits damals ahnte, fand seine Bestätigung, als ich, wieder in Amerika, Einblick in die Aufzeichnungen der Reden Tschiang Tschings nehmen konnte: Die gedruckten Originalversionen, die in China meist nur in wenigen Exemplaren verbreitet wurden, enthielten freundschaftliche Hinweise auf Lin Piao, Tschen Po-ta und andere Führer der Kulturrevolution, die später aus den Reihen der revolutionären Elite ausgestoßen worden waren. So lasen sie weiter, und ich schrieb weiter mit, bis halb sechs Uhr, als Yü ihnen durch ein Kratzen an der Tür ein Zeichen gab. Sofort griffen sie nach ihren schwarzen PlastikAktenmappen (dem Statussymbol der Funktionäre) und packten die unzensierten Reden Tschiang Tschings wieder ein. Dann verabschiedeten sie sich rasch. Aufgeregt und ungeduldig legte mir Yü nahe, mich frischzumachen. Aber ich war erschöpft von einem langen Vormittag mit einigen Begründerinnen dieser außergewöhnlichen sozialen Ordnung und von diesem Nachmittag, an dem ich pausenlos mit fieberhaftem Eifer hatte schreiben müssen. Ich erklärte also Yü, daß ich heute abend in Ruhe essen und zur Abwechslung einmal früh zu Bett gehen wollte. »Das können Sie nicht tun!« erwiderte sie scharf. »Warum nicht?« »Weil es möglich ist, daß Genossin Tschiang Tsching heute abend Zeit findet, Sie zu sehen. Beeilen Sie sich also!«
In wenigen Augenblicken wurde aus »möglich« »wahrscheinlich« und schließlich »sicher«. Über Art, Ort oder Zweck eines solchen Besuchs wurde ich im unklaren gelassen. Ich bemühte mich, vernünftig zu sein und mich von früheren, meist unangenehmen Vorstellungen von Tschiang Tsching freizumachen. Ich hatte sie nur einmal persönlich gesehen, aus einer Distanz von vier Tischen bei einem Bankett in der Großen Volkskongreßhalle, mit dem am 1. August der fünfundvierzigste Jahrestag der Gründung der Volksbefreiungsarmee gefeiert wurde. Sie war zusammen mit den anderen führenden Politikern steif in den Saal marschiert, und man hatte ihr einen Platz in der Mitte der erhöhten Tafel angewiesen, wo die Patriarchen der Revolution saßen, unter ihnen Tschu Te und Tung Pi-wu, beide wächserne, zum Skelett abgemagerte Achtziger. Sie trug eine unansehnliche graue Uniform und unterhielt sich kaum mit ihrer prächtig gekleideten Tischgenossin Madame Sihanouk von Kambodscha, die, nicht im geringsten entmutigt durch Tschiang Tschings mürrische Miene, lächelnd und lebhaft plauderte. Ich erinnerte mich auch an Fotos in Zeitungen, die Tschiang Tsching im sackartigen militärischen Drillichanzug zeigten, auf dem Kopf eine verwegene Mütze und - es war zur Zeit der Kulturrevolution - im Begriff, eine Rede an die Menge zu halten. Schließlich erinnerte ich mich an eine Photographie vom Beginn der sechziger Jahre, die noch an die Atmosphäre der fünfziger Jahre gemahnte. Sie war offensichtlich verlegen, lächelte aber grimmig-entschlossen in die Kamera. »Noch zwanzig Minuten!« sagte Yü. Sie trieb mich aus meinen verschwitzten Sachen - Hemd und Hose - die ich seit fünf Uhr früh trug. Ein rasches Bad im kalten Wasser, eine doppelte Tablettendosis, um heftigen Kopfschmerzen zuvorzukommen - dann zog Yü den Reißverschluß an dem von ihr ausgewählten Reisekleid zu. »Besser das schwarze als das rote«, hatte sie entschieden. Die Gastlichkeit der Chinesen ist legendär. Daran erinnerte ich mich, als unser Wagen hupend den Tschang-an-Boulevard hinunterfuhr. Und legendär war ihr Talent, ihre Gäste zu kontrollieren, indem sie ihrem Geschmack und ihren Interessen entgegenkamen, und sie dann zu überraschen, wenn sie am wenigsten darauf vorbereitet waren.
Als der Wagen vor der breiten Freitreppe vorfuhr, die zur Großen Volkskongreßhalle führte, in der die politische Führung wichtige politische Veranstaltungen und Empfänge arrangierte, stellte sich heraus, daß das, was wie eine improvisierte Einladung ausgesehen hatte, in Wahrheit ein sorgfältig orchestriertes Ereignis war. Da Tschiang Tsching eine ihrer seltenen Einladungen an einen ausländischen Besucher hatte ergehen lassen, und zwar in diesem Falle an einen, dessen Rolle sie zu bestimmen hatte, waren die Medien mobilisiert worden, um dem Vorgang einen offiziellen Anstrich zu geben. Photographen von Hsinhua, der Presseagentur der Partei, liefen in Scharen auf unseren Wagen zu, machten Blitzlichtaufnahmen und eilten zu den Fernsehkameras, als wir die Treppe hinaufstiegen. Im Hauptsaal kam es zu einem raschen Austausch von Namen, jeweils von einem Kopfnicken begleitet, mit den verschiedenen Mitgliedern des Gefolges von Tschiang Tsching. Zu diesem Gefolge gehörte damals auch die Nichte Mao Tse-Tungs, die Stellvertretende Außenministerin Wang Hai-jung. Wir durchquerten mehrere Räume, bis wir in einem großen, im künstlichen Licht fahl erscheinenden Vestibül stehenblieben. Jemand räusperte sich und verkündete mit hoher Stimme, daß die Genossin Tschiang Tsching sich im nächsten Raum befinde, »so gut wie empfangsbereit«. Die Tür ging auf, und rasch, mit ausgestrecktem Arm und breitem Lächeln, trat Tschiang Tsching ein. Meine Hand ergreifend, blickte sie mir forschend in die Augen. Unsere Arme sanken herab, aber unsere Blicke blieben aufeinander geheftet - vielleicht waren es zwei Minuten, doch mir erschien es wie eine Ewigkeit - bevor wir weitere Worte wechselten. »Sie sind jünger, als ich dachte«, bemerkte sie. »Älter, als ich aussehe«, sagte ich. Ich hoffte, sie würde nicht enttäuscht sein. Sie lachte und sagte, sie würde alt, bald sei sie schon sechzig. Ich verkniff mir zu sagen, daß sie weit jünger aussah, als sie war, denn selbst im Zeitalter der Revolution brachte das Alter noch immer den Vorteil eines höheren Ranges. Während wir weitersprachen, musterte sie ungeniert, ohne ihre Neugier zu verbergen, mein Gesicht, mein Haar, mein Kleid und die Sandalen mit den hohen Absätzen. Auch ich war neugierig, aber ich glaube, daß ich meine Prüfung nicht ganz so auffällig vornahm
Tschiang Tsching trug die braune Kunststoffbrille, die ich seit den frühen sechziger Jahren auf Bildern von ihr bemerkt hatte. Die zarte olivfarbene Haut ihres Gesichts glänzte in der Hitze. Nase und Wangen waren kräftig geformt und ähnelten im Schnitt denen Maos. Die gelblichrosafarbenen Muttermale an der Nasenspitze und am rechten unteren Mundwinkel waren eher dekorativ, als daß sie ihr Gesicht entstellt hätten. Sich zu ihrer vollen Größe von 1,65 m aufrichtend, nahm sie für sich in Anspruch, recht groß zu sein (wie es die meisten Schantung-Bewohner sind). Aber als sie sich neben mich stellte und es sich zeigte, daß sie etliche Zentimeter kleiner war als ich, wies sie mit gespieltem Vorwurf auf den unfairen Vorteil meiner hohen Absätze hin. Schlank und feingliedrig, mit abfallenden Schultern und schmaler Taille, bewegte sie sich mit ungewöhnlicher Geschmeidigkeit und Anmut. Ihre zarten Hände mit den schlanken Fingern (»Bohnenfadenfinger« sagten die klassischen Dichter dazu) begleiteten ihre Sätze mit fließenden Bewegungen. Ihre Kleidung war konservativ - perlgraue Hosen und eine dazu passende Jacke über einer weißseidenen Hemdbluse. Wie fast alle Chinesen trug sie Kunststoff-Sandalen ungewöhnlich war nur ihre weiße Farbe. Sie paßten zu ihrer weißen Plastikhandtasche, die durchaus aus unserer eigenen proletarischen Kultur hätte stammen können. Stil, Schnitt und Stoff ihres Kostüms waren, wie bei dem von Teng Ying-tschao, von besserer Oualität als durchschnittlich. Aber an den Säumen war ihre Kleidung (und die Tengs) ein wenig fadenscheinig geworden. Waren dies kultivierte Zeichen einer proletarischen Gesinnung auf berühmten Schultern? Links neben Tschiang Tsching stand in etwas gezwungener Haltung Yao Wen-yüan, den sie enthusiastisch als einen Mann vorstellte, der der Kulturrevolution von ihrem frühesten Stadium an loyal als Propagandist gedient hatte. Er war von mittlerem Wuchs, hatte runde Schultern und einen bulligen, kahl werdenden Schädel und trug einen Anzug aus dem leichten perlgrauen Stoff, der Politikern der ersten Garnitur vorbehalten war. Unter den anwesenden Männern war er der einzige, der die typische Arbeitermütze mit weichem Deckel und schmalem Schirm trug. Unruhig verlagerte er das Gewicht seines Körpers von einem Fuß auf den anderen - seine Füße steckten in Schuhen aus glänzendem Kunstleder - und wiederholt nahm er die Mütze ab und setzte sie wieder auf, während die anderen sprachen.
Bei dieser ersten Begegnung zeigte er den übertriebenen Diensteifer eines Mannes, der noch nie seine Zeit verschwendet hatte. Um mehr als zehn Jahre jünger als Tschiang Tsching, nahm er ihr gegenüber eine unterwürfige Haltung ein, stets bereit, auf jede ihrer im Gespräch gegebenen Anregungen zu reagieren. Sie führte uns in einen Empfangsraum, in dem wir ein etwas konfuses Gespräch über Geschichte und Literatur führten. Jeder unternahm tapfere (oder vergebliche!) Anstrengungen, etwas über die Kultur des anderen zu sagen. Unser unverbindliches Geplauder führten wir im Mandarin-Chinesisch, das wir beide sprachen - aber das, worum es uns an diesem Abend eigentlich ging (ihre Vergangenheit, ihre gegenwärtige Arbeit und ihre Ansicht zu verschiedenen Problemen), wurde durch Dolmetscher auf englisch wiedergegeben. Diese Dolmetscher waren, wie sich herausstellte, meine beiden Quälgeister vom Nachmittag, die mir Tschiang Tsching gesandt hatte: Sehen Jo-yün und Hsü Erh-wei. In diesem Augenblick, während einer Begegnung, die intensiver und lebendiger und deren Ablauf weniger vorhersehbar war als jede andere, die ich bis dahin in China gehabt hatte, sagte ich Tschiang Tsching, dag ich vollkommen vergessen hätte, mir Notizen zu machen. Sie versicherte mir, es werde alles auf Band aufgenommen, durch Schreiber aufgezeichnet und sodann von führenden Genossen durchgesehen, bevor man mir den Text in chinesischen und englischen Abschriften [5] übergeben werde. Der Raum war im unausgewogenen Stil des revolutionären China eingerichtet - übergroße, üppig gepolsterte Sessel, undefinierbare Couch- und Beistelltische und leichte Holzstühle, die für die Assistenten und Dolmetscher nach Bedarf hin- und hergetragen wurden. In Seladon-Krügen, die mit einem Deckel versehen waren - einer vergröberten Version eines Modells aus der Sung-Dynastie - wurde ein stark aromatischer Tee gereicht, Abgesehen von einem roten Faden, der um den Henkel ihrer Tasse gewickelt war, und einem elektrischen Klingelknopf, der, in ein kleines Handtuch gewickelt, auf dem Tischchen neben ihr lag, unterschieden sich die Gegenstände, die Tschiang Tsching benutzte, in nichts von denen der anderen. Das Essen für zehn Personen - für uns und die acht Assistenten und Helfer - wurde an einem runden Tisch in einem geräumigen Saal serviert. Ich saß zur Linken Tschiang Tschings, und zu meiner Linken saß Yao Wen-yüan. Das Menü war eine Komposition zum klassischen Thema der Peking-Ente mein Lieblingsgericht, wie ich bemerkte. Das habe sie gewußt, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln. Als weitere Platten aufgetragen wurden, beeilte sie sich, mich auf die ungewöhnlichen vegetarischen und aus Meerestieren zubereiteten Gerichte und deren Zusammensetzung hinzuweisen; auch wollte sie sicher sein, daß ich die (eßbaren) Blumen aß. Als das Entenklein, in dünne Scheiben geschnitten und auf einer Platte köstlich angerichtet, serviert wurde, holte Yao Wen-Yüan mit seinen Eßstäbchen die Entenzunge heraus und steckte sie mir in den Mund. Ich schluckte, dankte ihm und verkniff mir die Bemerkung, daß ich noch nie in meinem Leben etwas gekostet hatte, das so sehr wie ein Gummiband schmeckte.
Dieser Abend war das einzige Mal, daß ich mit Yao Wen-yüan zusammentraf. Da Tschiang Tsching zugleich die Gastgeberin und der Hauptgegenstand des Gesprächs war, wandte ich ihr das Gesicht und damit ihm den Rücken zu. Aber das war weniger peinlich als der Umstand, daß er während meines ganzen Aufenthaltes in China der einzige Chinese war, der mein gewiß alles andere als vollkommenes Chinesisch nicht verstehen wollte. Wenn ich das Wort an ihn richtete, warf er in Verzweiflung die Hände hoch und rief nach einem Dolmetscher: »Ta schuo-ti schen-ma! Ta schuo-ti schen-ma! - Was hat sie gesagt? Was hat sie gesagt?« Da er aus Schanghai stammte seine Stimme hatte noch den Kommandoton der unverändert gebliebenen Gesellschaft dieser Stadt - mochte für ihn mein Mandarin-Chinesisch (mit amerikanischem Akzent), dessen klassische Aussprache auf dem Pekinger Dialekt beruht, schwer verständlich gewesen sein. Oder hatte meine Weigerung, jeden Gedanken in den üblichen ideologischen Jargon zu kleiden, ihn verärgert? Die Reste der ersten Gänge wurden von jungen Mädchen mit jugendlich frischen Gesichtern abgeräumt, während drallere junge Frauen gewaltige Platten mit karamelfarbenen gebratenen Enten hereintrugen, damit die Gäste sie bewundern konnten. Daraufhin zogen sie sich hinter Wandschirme zurück, um dort das Geflügel geschickt zu zerlegen und die Haut vom Fleisch und das Fleisch von den Knochen zu lösen. Den Rumpf reservierten sie für die Suppe, die als vorletzter Gang gereicht werden sollte. Während dieser Handreichungen sagte ich zu Yao Wen-yüan, daß ich erst kürzlich die Volkskommune der Chinesisch-Kubanischen Freundschaft besucht und dort den ganzen Zyklus der Arbeit auf einer Entenfarm beobachtet hätte. »Gestopfte Enten«, erklärte Yao. »Ja, und ich habe sogar das Endstadium der Mästung photographiert, wenn der >Spezialist< den Entenschnabel über der Futterzuleitung stopft.«
»Sie haben auch Freude an der Photographie!« bemerkte Tschiang Tsching. »Dann haben wir etwas gemeinsam. Ich photographiere gern.« Wir tauschten unsere Meinungen über gute Motive in und um Peking aus. Während ich vor allem an menschlichen Motiven interessiert war - Männer und Frauen in Schlängelbewegung bei der Ausübung des alten tai-tschi tschüan oder singend vor den widerhallenden Palastwänden im Morgengrauen - zog sie die Natur vor. »Haben Sie einmal bei Sonnenuntergang die Wolken über dem Peihai Park aufgenommen?« fragte sie, nein, das hatte ich nicht- »Ich bin keine gute Photographin«, fuhr sie fort, »aber ich habe Aufnahme gemacht, die ich Ihnen geben kann.« Später gab sie freilich zu, eine Unmenge Photos gemacht zu haben, rund zehntausend Aufnahmen in den letzten Jahren. Aber drei- bis viertausend habe sie vernichtet, und sie müsse noch mehr aussondern, vor allem die, denen weder ein künstlerischer noch ein historischer Wert zukomme. »Aber warum eine solch phantastische Zahl von Aufnahmen?« »Um mich zu üben!«
Dieses Wort, das sie noch oft gebrauchte, war ihr Kürzel für Selbstdisziplin und die ständige Bemühung, es immer besser zu machen. Sie wechselte das Thema. Zu den Dingen, die Ministerpräsident Tschou am Herzen lägen, sagte sie, gehöre es, ihr zu empfehlen, weiche ausländischen Gäste sie empfangen solle. Als die Gattin Edgar Snows, Lois NVheeler Snow, im September 1970 nach Peking kam, mußte kurzfristig ein Empfang für sie arrangiert werden. Tschiang Tsching hatte sich zu Hause zu einer Siesta niedergelegt, als die Aufforderung kam, zum Empfang zu erscheinen. Völlig unvorbereitet, wie sie war, fiel ihr kein passendes Geschenk für den Ehrengast ein. Mrs. Snow ihrerseits war dermaßen verwirrt, daß sie versehentlich Tschiang Tsching ein Geschenk übergab, das sie dem stellvertretenden Außenminister Tschiao Kuan-hua zugedacht hatte. »Haben Sie die Snows einmal kennengelernt?« fragte sie. Nein, aber ich hatte viel von Snow gelesen. Darüber unterhielten wir uns kurz. Ich hatte mit seiner früheren Frau, Nym Wales, korrespondiert. Sie hatte die führenden Frauen der chinesischen Revolution Ende der dreißiger Jahre interviewt.[6] »Auch seine jetzige Frau steht China freundlich gegenüber. Wenn Sie sie einmal sehen, dann grüßen Sie sie und ihre ganze Familie von mir und sagen Sie ihr, ich hoffte, daß sie uns wieder besucht. Wenn Sie eine Freundin Chinas werden, müssen auch Sie uns häufig besuchen. Solange ich lebe, werde ich Sie immer empfangen.« Der Gedanke an die Zukunft und unser aller Sterblichkeit stimmte sie ernst. Mit einem raschen Blick in die Gesichter der anderen sagte sie: »Als dialektischer Materialist kann man sehr wohl die Gesetze von Geburt, Alter, Krankheit und Tod verstehen. Man kann politisch jung bleiben, aber es ist sehr schwer, sich eine immerwährende Gesundheit zu erhalten. Ich gestehe, daß ich alt bin.« Ihren plötzlichen Stimmungsumschwung aufgreifend, begann Yao Wen-yüan zu rezitieren:
Das alte Streitroß, das im Stall liegt,
Verlangt danach, tausend Meilen zu rennen,
Der Held in seinen abendlichen Jahren
Gibt sein erhabenes Ideal nie auf.
»Dieser Vers von Tsao Tsao ist sehr gut«, bemerkte Yao.
»Die anderen Verse des Gedichts sind auch nicht schlecht«, meinte Tschiang Tsching und fuhr fort:
Mag auch die Heilige Schildkröte lange leben
Es kommt die Zeit, da sie sterben muß.
Die Fliegende Schlange steigt über den Nebel
Und sinkt zuletzt in den Staub.
»Es folgt noch ein Vers«, sagte sie. »Aber das ist naiver Materialismus«, schickte sie voraus.
Nicht allein beim Himmel liegt
Fülle oder Verkürzung des Lebens.
Indem man Seele und Körper in Frieden hält,
Gewinnt man ein langes Leben.
Das Gedicht hatte die Gedanken Tschiang Tschings auf die Beziehung zwischen Langlebigkeit und physischem Wohlbefinden gelenkt. Wie ihre Lebensgeschichte zeigt, hatte sie lange unter Krankheiten gelitten und gelernt, in der Krankheit und in persönlichen Feinden etwas Gemeinsames zu sehen: die Herausforderung an den Willen zum Überleben, biologisch oder politisch. Während ihre Eßstäbchen über eine Reihe frisch aufgetragener Platten und Schüsseln flatterten, erklärte sie: »Ich habe mich in letzter Zeit etwas ausgeruht. Aber Ihretwegen bin ich heute gekommen. Es ging mir gesundheitlich nicht sehr gut, und ich habe in letzter Zeit schlecht geschlafen. Ich brauche Ruhe und ärztliche Behandlung ebenso wie Leibesübungen.« »Welche Art von Sport treiben Sie?« »Schwimmen, Reiten, Spazierengehen und Gartenarbeit«, erwiderte sie. Sie fuhr mit der Hand in ihre Tasche und holte eine Handvoll Jasminblüten hervor, die im Tschung-nan-hai gewachsen waren, der Familienresidenz Maos im früheren Kaiserpalast in Peking.
Als sie mir diese stark duftenden weißen Blüten in die Hand drückte, spiegelte sich in ihrem Gesicht meine Überraschung und mein Entzücken. »Und ich züchte einige chinesische Heilkräuter«, fügte sie hinzu. »Den Jasmin habe ich selbst gezüchtet. Außerdem baue ich verschiedene Gernüse an. Es ist mir auch gelungen, auf einem kleinen Feld Reis anzubauen. Er steht schon fast so hoch« - sie hielt die Hände in einem Abstand von etwa dreißig Zentimetern übereinander. »Ich habe auch ein wenig Baumwolle angepflanzt. Das alles hilft mir, mich geistig und physisch zu entspannen.« »Wir exportieren Jasmin«, fuhr sie mit sichtlichem nationalen Stolz fort. »Und wir bauen Tee in Kiangsu, Tschekiang und Schantung an.« Ich sagte ihr, daß ich wie viele Ausländer gern Jasmintee trank, aber meine Lieblingssorte sei doch Chrysanthementee. »Chrysanthementee ist gut für die Augen. Der Anbau von Chrysanthemen ist eine Nebenbeschäftigung. Sie werden in weiten Gebieten des Landes gezogen. Haben Sie schon die baumartigen Päonien in China gesehen?« »Ja, aber hauptsächlich auf Bildern aus der Zeit der Ming-Dynastie oder auf Photographien - aber nur selten mit eigenen Augen. »Ich kann Ihnen ein paar Aufnahmen zeigen. Ich habe einige Exemplare angepflanzt. Man kann sie auch als Heilmittel verwenden.«
Den Daumen und den Zeigefinger weit auseinanderspreizend, sagte sie: »Ein Stück Rinde von der Wurzel, etwa so groß, reicht in einer Apotheke vier bis fünf Monate. Es ist sehr teuer.« »Was kann man damit behandeln?« fragte ich. »Ich bin kein chinesischer Arzt vom alten Schlag. Ich weiß es nicht. Dann gibt es auch die Stauden-Päonie. Bei ihr dienen die Wurzel und die Blume medizinischen Zwecken. Natürlich gebe ich alles, was ich anbaue, dem Staat.« »Ich habe chronische Beschwerden in den oberen Atemwegen«, fuhr sie mit der gleichen Sachlichkeit fort. »Das führte zu Schwierigkeiten in den Harnwegen. Früher ließ ich mir, wenn ich Fieber hatte, Antibiotika injizieren. Aber in letzter Zeit habe ich Lotosstengel genommen. Lotos wirkt harntreibend. Jetzt nehme ich viermal täglich Lotosstengel zu mir und fühle mich sehr viel besser.« Beeindruckt von diesen persönlichen Mitteilungen fragte ich sie, wie man den Lotosstengel zu sich nimmt. »Sie lassen ihn fünfzehn Minuten in Wasser kochen und trinken dann die Lösung wie Tee«, erklärte sie. »Es schmeckt leicht aromatisch. Ich habe seit 1969 an keinen ernsthaften Beschwerden dieser Art mehr gelitten. Bei einer Analyse des Lotosstengels gelang es mir, ein bestimmtes Lotos-Alkaloid zu isolieren. Aber die Einnahme des Alkaloids allein wäre nutzlos, denn der Lotosstengel besitzt noch viele andere Eigenschaften. Ich glaube, daß es der Wissenschaft noch einmal gelingen wird, mehr über seine Zusammensetzung zu erfahren. Nehmen Sie zum Beispiel die weiße Tageslilie, die Tuberose. Ihre Blüte ähnelt einer Haarnadel. Sie strömt einen intensiven Geruch aus, und Schlangen machen einen Bogen um sie. Die ganze Pflanze ist für medizinische Zwecke verwendbar. Aber bis heute hat die Wissenschaft nicht ihre chemischen Bestandteile analysieren können. Also hinkt die medizinische Wissenschaft den Erfordernissen des täglichen Lebens hinterher. Wenn die amerikanische Wissenschaft daran interessiert ist, kann sie auf diesem Gebiet forschen. Da ihr und wir in denselben Breiten wohnen - nur auf den entgegengesetzten Seiten des Globus , kann das, was hier wächst, auch bei euch wachsen. Haben Sie schon Lotosblumen gesehen?« »Ja, erst vor kurzem im Sommerpalast, im Garten der Harmonischen Interessen.« »Im Sommerpalast stehen nur rote Lotosblumen.« »Und die im Park des Purpurnen Bambus sind weiß«, ergänzte Yao Wen-yüan.
»Die Chinesen haben immer gesagt, daß alle Teile der Lotosblume wertvoll sind«, fuhr Tschiang Tsching fort. »Nichts ist nutzlos. Was wir als appetitanregende Vorspeise gegessen haben, war Lotoswurzel von der weißblühenden Art. Die Wurzel der rotblühenden kann nicht auf die gleiche Weise zubereitet werden. Nur die weiße Abart kann als Nahrungsmittel verwendet werden. Lotos gedeiht südlich des Yangtse-Flusses, wo sein Anbau eine Nebentätigkeit der Bauernfamilien ist.« In diesem Augenblick wurden die letzten Gänge des Mahls serviert, unter anderem ein sahniger Lotosbrei. Auf der Oberfläche des Breis, der in einer Schale vor jedem Gast stand, lagen weiße Jasminblüten. »Für den sogenannten Zucker-Lotossamenbrei nimmt man Hirse als wichtigste Zutat. Meine Heimatstadt produziert diese Art von Hirse. Hirse ist bei weitem nahrhafter als Reis. Eiweiß und Fett sind weitere Zutaten.« In den Kommentaren Tschiang Tschings zu dem Nährwert und den medizinischen Eigenschaften der Speisen spiegelte sich auch ihr Vergnügen an dem Bewußtsein, daß die Nahrungsmittel aus allen Teilen des Landes auf ihre kosmopolitische Tafel in der Hauptstadt kamen. Zum ersten DessertGang, rosa Melonenscheiben von einer zarten Textur, wie ich sie noch nie gesehen hatte, bemerkte Tschiang Tsching: »Das ist Hami kua, eine Melone aus der Provinz Sinkiang.« Und sie fuhr fort: »Wir haben in Sinkiang jetzt vier Millionen und siebenhunderttausend Uighuren.« (Die Uighuren sind eine politisch nützliche Minorität, die für China einen Puffer gegen die Sowjetunion bildet). Ich fand die Melone ungewöhnlich köstlich und sagte es. Jemand mußte sich das gemerkt haben, denn an den folgenden Abenden wurden mir im »Peking-Hotel« wundervoll reife Hami-Melonen serviert, ohne daß ich sie bestellt hatte. Die Stimmungen Tschiang Tschings wechselten rasch. Als sie bemerkte, daß sie beim Essen ein wenig Entenbratensauce auf ihre Hose geschüttet hatte, warf sie lachend die Arme hoch und sagte, sie sei doch unordentlich wie ein Kind. Und als der letzte Gang aufgetragen wurde Früchte, die den »Pfirsichen der Unsterblichkeit« aus der taoistischen Legende in nichts nachstanden - fragte sie mich mit mutwilligem Spott:
»Haben Sie, bevor Sie nach China kamen, sich uns in Ihrer Phantasie als Dämonen mit drei Köpfen und sechs Armen vorgestellt?« »Eigentlich nicht. Aber ich hatte mich darauf gefaßt gemacht, daß ich während meines Besuchs hier wenigstens einmal mit dem alten Spitznamen >fremder Teufel< beschimpft werden würde. Aber ich bin enttäuscht worden.«[7] »Ihr Haar ist nicht so lang, und Ihr Rock ist nicht so unheimlich kurz«, bemerkte sie und lachte kurz. Später fiel mir auf, daß ihr musikalisches Lachen manchmal etwas scharf klingen konnte. »Das Volk erkennt mich überall und umringt mich, wo ich auch bin«, erklärte sie im Laufe des Gesprächs. »Einmal nahm ich mir vor, im Sommer-Palast spazierenzugehen, aber ich hatte nicht daran gedacht, daß Kindertag war. Plötzlich war ich von Tausenden umringt und konnte nicht entkommen. Je weniger man gesehen wird, desto größer ist das Staunen - je mehr man gesehen wird, desto geringer ist das Staunen«, dichtete Tschiang Tsching. »Wenn ich in meinem Wagen ausfahre, muß ich auf beiden Seiten die undurchsichtigen Fenster hochkurbeln. Sonst entdeckt mich die Menge, ruft meinen Namen und läuft hinter dem Wagen her. Am größten ist das Problem für den Vorsitzenden Mao. Sobald ihn jemand bemerkt, drängen sich die Massen hinter seinem Wagen. Und wenn Ministerpräsident Tschou ausgeht, sucht die Menge durch Geschrei seine Aufmerksamkeit zu erregen und umringt ihn, um ihm die Hand zu schütteln.« Nach dem Essen an diesem Abend begaben wir uns in das Tien-tschiaoTheater, wo wir mit einer Stunde Verspätung zu einer Sonderaufführung der »Geschichte einer Roten Signallaterne« eintrafen. »Die Rote Signallaterne« war die erste Oper, die Tschiang Tsching umgearbeitet hatte, damit sie der proletarischen Linie entsprach, die sie während der Kulturrevolution für alle Künste verbindlich gemacht hatte. Nach dem Ende der Vorstellung hatte Tschiang Tsching einen triumphalen Abgang. Sie führte uns in ein privates Vestibül, wo wir uns in den Polstern eines riesigen Sofas niederließen. Als der Lärm des aufbrechenden Publikums hinter der geschlossenen Tür verhallt war, sagte sie, den Blick konzentriert auf mich gerichtet: »Ich hoffe, es wird Ihnen möglich sein, den Weg von Edgar Snow und Mrs. Snow zu beschreiten.« [8] »Das ist ein gewaltiges Vorbild«, erwiderte ich, erschreckt von dieser Herausforderung.
Aber ich begriff, daß alles davon abhing, ob wir uns vertrauen konnten. »Die Leute könnten sagen, daß wir Sie einer Gehirnwäsche unterzogen haben«, neckte sie mich. »Fürchten Sie sich davor?« »Nein. Eine solche Säuberung wäre unmöglich.« »Schließlich sind Präsident Nixon und seine Frau hier gewesen. Wenn ich das Präsidentenpaar begleiten kann, warum kann ich dann nicht Sie begleiten? Sie können sich doch auch um die Präsidentschaft bewerben!« Dann wurde sie wieder ernst. Sie machte sich Gedanken über meine gegenwärtige Rolle. Ich sei die erste Ausländerin, der sie von ihrem Leben erzählt habe, erklärte sie. Und auf meine Frage, ob ich das Gehörte veröffentlichen dürfe, nickte sie und antwortete: »Sie können es veröffentlichen. Aber Sie müssen wissen, daß ich Sie nicht als Korrespondentin, sondern als eine gute Freundin betrachtet habe. Zuerst muß ich den Ministerpräsidenten bitten, das Protokoll unseres Gesprächs durchzulesen. Was ich Ihnen heute abend erzählt habe, ist wahr. Zugegeben, wir sind einen schwierigen und nicht immer geraden Weg gegangen. Doch wenn ich auch heute auf die Sechzig zugehe - ich bin noch immer entschlossen, mir meine politische Jugend zu bewahren.« Hatte sie noch mehr zum Begriff der »politischen Jugend« und zu anderen Aspekten ihres Lebens zu sagen? »Dazu haben wir diesmal keine Zeit mehr. Wenn Sie wieder nach China kommen, werden wir wieder darüber sprechen. Einstweilen möchte ich Ihnen ein paar Dinge zur Erinnerung mitgeben. Ich bin zwar nur eine schlechte Amateurphotographin, aber ich will Ihnen einige Aufnahmen als Andenken überlassen. Vielleicht ist es einfach >Protzerei in Gegenwart eines Fachmanns<. Hier habe ich keine guten Bilder. Ich habe ein paar Aufnahmen von der Frauenmiliz gemacht, aber >gewisse Leute< haben mir die guten Bilder weggenommen. Wenn ich nach Tschung-nan-hai komme, werde ich überall nachsehen.« Als wir uns im Theater verabschiedeten, das jetzt, von den Mitgliedern ihrer Begleitgruppe abgesehen, so gut wie leer war, bat man mich, als erste das Haus zu verlassen, damit Tschiang Tsching unbemerkt durch die Nacht nach Hause fahren konnte.
Obwohl ich nicht damit rechnen konnte, Tschiang Tsching wiederzusehen, hatte sich ihr Bild meinem Gedächtnis eingeprägt - ein Bild von provozierender Lebendigkeit. Um anderen einen angemessenen Eindruck von ihrem Werdegang zu vermitteln, hatte ich zu wenig erfahren.
Was sie über ihre größtenteils unbekannte Jugend und ihre zunehmende Verstrickung in die historischen Auseinandersetzungen angedeutet hatte, reizte die Wißbegierde mehr, als daß es sie befriedigte. Sie war nur eine Frau von vierhundert Millionen. Aber ich vermutete, daß ihre einzigartige Erfahrung - die Verschmelzung von Alltäglichem und Außergewöhnlichem uns wichtige Hinweise auf das problematische Verhältnis von Frauen und Macht im revolutionären China geben könnte. Am Morgen nach diesem ersten Abend mit Tschiang Tsching nahm ich meine Gespräche mit Teng Ying-tschao und anderen führenden Frauen wieder auf. Wir setzten die Gespräche an vier aufeinanderfolgenden Vormittagen fort. Wie ihr Ehemann Tschou En-Iai hatte auch Teng einen ungewöhnlich hohen Wissensstand, und sie konnte über ideologische Fragen in einer Sprache sprechen, die sich über den politischen Jargon erhob. Sie wurde 1904 geboren, war also nur ein Jahrzehnt älter als Tschiang Tsching. Aber unter dem Aspekt der Generationen bestand ein größerer Unterschied. Teng gehörte zu der ersten kommunistischen Generation, die zusammen und gleichberechtigt mit Mao seit dem Beginn der zwanziger Jahre in der Bewegung aktiv war. Tschiang Tsching dagegen gehörte zur zweiten Generation der Revolutionäre. Von ihnen kamen zwar einige in den Weißen Gebieten mit der Kommunistischen Partei zu Beginn der dreißiger Jahre in Berührung. Doch zu der revolutionären Kerngruppe um Mao in den Roten Gebieten stießen sie erst am Ende dieses Jahrzehnts. Von überkommenen sozialen Abhängigkeiten befreit, widmeten Teng und Tsai Tschang - Frau Li Fu-tschuns und Revolutionärin von Anfang an - zusammen mit anderen Frauen aus der Gründergeneration ihr Leben der historischen Aufgabe, die Frauen Chinas wachzurütteln, zu organisieren und zu revolutionieren. Durch ihr unzweideutiges und freimütiges Bekenntnis, daß es ihr in erster Linie um die speziellen Probleme der Frau ging und ihre Gewohnheit, sich überall und bei allen politischen Anlässen mit Frauen zu verbünden, unterschied sich Teng von Tschiang Tsching. Der Feminismus Tschiang Tschings war mehr privater Natur, und ihr großer politischer Ehrgeiz verbot es ihr, in erster Linie als Kämpferin für die Gleichberechtigung der Geschlechter aufzutreten. Doch ich verlor nicht den Kontakt zu Tschiang Tsching. Nach meinen Gesprächen mit Teng Ying-tschao erschienen an den folgenden Nachmittagen die beiden Abgesandten Tschiang Tschings, Hsü Erh-wei und Scheu Jo-yün, in meinem Hotelzimmer, um mir weitere Reden Tschiang Tschings vorzulesen. Beide waren hervorragende Dolmetscherinnen, nicht nur Sprachenkenner oder Funktionäre.
Sie wurden gleichermaßen wegen ihres politischen Geschicks und wegen ihrer goldenen Zunge geschätzt und waren zudem Dolmetscherinnen verschiedener Kulturen. Mit ihrer gewinnenden Persönlichkeit, ihrem attraktiven Äußeren, ihrer Sprachbegabung und ihrer überlegenen und gelassenen Haltung hätte Sehen Jo-yün in jeder Gesellschaft Karriere gemacht. Ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten ließen es um so bemerkenswerter erscheinen, daß sie strikt den kompromißlosen proletarischen Standpunkt vertrat. Allerdings wurde sie mit zunehmendem Prestige und Einfluß belohnt. In der Mitte der sechziger Jahre hatte sie anderthalb Jahre in London studiert, bis sie wie fast alle im Ausland lebenden chinesischen Kommunisten zurückgerufen wurde, um an der Kulturrevolution teilzunehmen. 1972 begleitete sie das chinesische Tischtennis-Team bei seiner ersten diplomatischen Mission in die Vereinigten Staaten. Im Sommer 1972 diente sie Tschiang Tsching bei den heikelsten Unternehmungen. Noch im selben Jahr kehrte sie als persönliche Dolmeterschin des Stellvertretenden Außenministers Tschiao Kuan-hua in die Vereinigten Staaten zurück. 1974 erhielt sie einen verantwortungsvollen Posten im Verbindungsbüro in Washington. Nach meinem überraschenden Zusammentreffen mit Tschiang Tsching pflegte Schen zu allen möglichen Tageszeiten, auch abends, bei mir vorbeizukommen. Außer der politischen Lektüre brachte sie bis dahin unveröffentlichte Aufnahmen von Tschiang Tsching und Mao in Jenan aus den vierziger Jahren, einige Farb-Kunstphotos, eine Reihe von Porzellan-Pandas (aus dem berühmten Tsching-te-tschen-Ofen - wobei allerdings die Qualität der Produkte seit den Tagen des Kaiserreichs nachgelassen hat) und andere Erinnerungsstücke aus dem Leben Tschiang Tschings mit. Ihre Kunstphotographien - von Landschaften und Blumen, den Lieblingsmotiven der traditionellen chinesischen Malerei - erschienen mir wie eine moderne Variante der Arbeit mit dem Pinsel, wie sie von der einstigen Mandarin-Klasse kultiviert worden war. Dies alles - ihre künstlerischen Neigungen, die esoterische Liebe zum Gartenbau, die fixe Idee, sich durch selbst angepflanzte Heilkräuter zu kurieren, der Stolz auf ihre sportlichen Fähigkeiten und schließlich ihre offizielle Vorliebe für das Theater - dies alles verband sie mit der kaiserlichen Tradition Chinas.
Wie Mao, ließen auch der ehrwürdige Führer der Roten Armee Tschu Te, der faustische Kuo Mo-jo und andere alte, dem proletarischen Ethos verpflichtete Revolutionäre nicht davon ab, sich als klassische Dichter zu betätigen und ihre Arbeiten zu veröffentlichen. Allerdings war den rangniederen Genossen und den unter ihrer Herrschaft erzogenen Generationen der Zugang zu dieser erhabenen Tradition versperrt. Und ganz wie ihre kaiserlichen Vorgänger wollte keiner der gegenwärtigen Führer, Tschiang Tsching nicht ausgenommen, mehr sein als ein Dilettant und wäre er ein noch so begabter Künstler. Mit Vergnügen stellte ich beim Betrachten ihrer Photographien fest, daß die Widmungen auf der Rückseite mit Rotstift geschrieben waren die moderne proletarische Entsprechung der zinnoberroten Tusche, die für die kaiserliche Signatur verwendet worden war. Mit Hilfe von Schen stellte Tschiang Tsching meine photographischen Fähigkeiten scherzhaft auf die Probe. Hatte sie die Aufnahmen von Pfingstrosen, die sie selbst gesät hatte, bei natürlicher oder künstlicher Beleuchtung gemacht? Zu welcher Tageszeit waren die Aufnahmen entstanden? Woher rührte die Feuchtigkeit in der Atmosphäre? Ich ging mit Vergnügen auf ihr Spiel ein und vertraute Schen meine Vermutungen an.
Am nächsten Tage kam sie dann mit den richtigen Antworten zurück und schilderte mir das Entzücken Tschiang Tschings, wenn diese feststellen durfte, daß ihr raffiniertes Artistentum mein Urteil irregeführt hatte. So hatte ich eine natürliche Beleuchtung durch die Morgensonne vermutet, obwohl Tschiang Tsching in Wirklichkeit, von ihrer Leibwache unterstützt, ein ausgeklügeltes System künstlicher Beleuchtung bei Einbruch der Dunkelheit in Betrieb genommen hatte. Und dann hatte ich geglaubt, daß die edelsteinartigen Tropfen auf den Blütenblättern das Resultat eines natürlichen Niederschlags seien. Doch Tschiang Tsching hatte mit ihren Fingerspitzen Wasser auf die Blütenblätter gespritzt, einen Augenblick, bevor sie die Aufnahme gemacht hatte.
Meine fünf Tage in Schanghai, beginnend mit dem Ende der dritten Augustwoche, wurden von einem erweiterten Kontingent von Reisebegleitern gestaltet. Zu meinem Pekinger Stammpersonal kamen nun noch fünf Frauen und ein Mann aus Schanghai - Künstler und Wissenschaftler, die an den Umgang mit Ausländern gewöhnt waren. Gewiß hatte ich diese verstärkte offizielle Aufmerksamkeit meinem ersten Zusammentreffen mit Tschiang Tsching zu verdanken - einem Ereignis, über das die »Volkszeitung« einen Bericht mit Bild gebracht hatte. In Schanghai erlebte ich die übliche Vorführung revolutionärer Wundertaten, wozu auch die durch Akupunktur bewirkte Anästhesie gehörte, vorgeführt an Frauen, die sich bei Bewußtsein und in heiterer Stimmung einer Gebärmutteroperation unterzogen. Nervenblockierung, verstärkt durch politische Hypnose - Magie schien im Spiel zu sein. Tsai Tsui-an, die jüngste Tochter des berühmten liberalen Erziehers Tsai Yuan-pei, berichtete hinter vorgehaltener Hand mit vielen Einzelheiten und ohne die parteioffizielle Terminologie über das Leben ihres Vaters und über ihr eigenes. Einige jüngere Schriftstellerinnen gestanden mir, wie qualvoll und nahezu unmöglich es für sie sei, in Übereinstimmung mit den von der Kurlturrevolution gesetzten Normen den Ton autentischer Schlichtheit zu treffen, um »dem Volk zu dienen«. In diesem Kreis befand sich auch eine vom Regime als Musterbeispiel der »neuen Frau« Geförderte, Wang Hsiu-tschen, eine Textilarbeiterin, die 1969, als sie Mitte Dreißig gewesen war, ins Neunte Zentralkomitee der Partei gewählt worden war - und 1973 ins Zehnte Zentralkomitee. Aber der Umstand, daß sie ein politischer Star geworden war, hatte ihr nichts von ihrer Bescheidenheit genommen. Nur erinnerte die lebhafte Schilderung ihrer Vergangenheit eher an ein Drehbuch für einen Film als an einen persönlichen Erfahrungsbericht.
Diesen Eindruck gewann ich auch bei vielen anderen, abgesehen von denen, die bereits die höchsten Stufen der Macht erreicht hatten. Sehr wichtig war auch, daß unsere Besuche uns in den kulturellen Bereich Schanghais führten, der als die Domäne Tschiang Tschings galt. Yao Wenyüan war hier ihr Stellvertreter. Ein Besuch im Haus des streitlustigen modernen Schriftstellers Lu Hsün endete mit literarischen Auseinandersetzungen, die später bei Tschiang Tsching wieder aufgenommen wurden. Auch eine Diskussion mit dem kampferprobten Literaturkritiker Professor Liu Tatschie von der Fu-tan-Universität über den großen chinesischen Roman des achtzehnten Jahrhunderts, »Der Traum der roten Kammer«, wurde bei Tschiang Tsching fortgesetzt. Yao Wen-yüan arrangierte Opernaufführungen und Ballettveranstaltungen und sorgte für Interviews mit den Künstlern. Am späten Nachmittag des 24. August kehrten wir von einem anstrengenden Interview heim. Ich hatte mich lange mit den unter der Ägide Tschiang Tschings vom Ballettklassizismus befreiten Tänzern unterhalten. Als wir im Auto saßen, die untergehende Sonne vor uns, die sich mit einem Dunstschleier über die niedrige, von Industrieanlagen geprägte Silhouette der Stadt senkte, blickten meine Begleiter plötzlich auf Lao Tschen, die ihre Selbstbeherrschung aufgab und aufgeregt verkündete: »Wir haben erfahren, daß Genossin Tschiang Tsching heimlich nach Kanton geflogen ist. Dort denkt sie über ihr Leben und die Revolution nach. Sie will sich noch mehrmals mit Ihnen treffen. Sie wird alle Fragen beantworten, die Sie ihr gestellt haben. Sie fliegen morgen mit einer Maschine, die aus Peking kommt, nach Kanton. Wir müssen Sie darauf hinweisen, daß die Reise geheim ist und daß niemand außer uns, die wir Sie begleiten, davon erfahren darf.« Sollten wir in ein mythisches Reich befördert werden, das von Frauen beherrscht wurde? Das fragte ich mich, während ich ängstlich bemüht war, das Gefühl für die Wirklichkeit nicht zu verlieren. Einen Augenblick später brachen wir alle in Gelächter aus: Das, was sich nun als der Zweck unserer Reise herausstellte, erschien nur solange vernünftig, bis man darüber nachdachte. Es war ebenso absurd wie wunderbar. Trotzdem war es offenkundig, daß hinter dem Ablauf der Ereignisse der unbeugsame Wille Tschiang Tschings stand. Sie war entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen. Am Nachmittag des nächsten Tages brachte uns die Schanghaier Gruppe zum Flughafen. Yü, Lao Tschen und ich wurden auf einem Platz abgesetzt, auf dem nur ein großes silbernes Düsenflugzeug stand. Mit ihm waren Tschang Ying, eine prominente Propagandistin, die Dolmetscherin Schen Jo-yün und Tang Lung ping, ein Vizechef des Protokolls und nunmehr das einzige männliche Mitglied unserer Gruppe, aus Peking gekommen. Lächelnd und winkend erschienen sie in der Tür. Das geräumige und geschmackvoll eingerichtete Innere der Maschine unterschied sich eindrucksvoll von der Inneneinrichtung, die in China üblich war. Tschang Ying und ich wurden in die vordere Kabine geführt. Hier standen Schreib- und Eßtische mit elektronischem Zubehör und ein richtiges Bett mit feinbestickter seidener Bettwäsche und passendem Kopfkissen, alles in Blaßrosa und Weiß gehalten. Ich war mit Tschang Ying allein, und sie erzählte mir von ihren Abenteuern als junge Reporterin in Tschungking gegen Ende der dreißiger Jahre, bevor sie nach Jenan übersiedelt war. In dem kommunistischen Stützpunktgebiet hatte sich zum erstenmal ihr Weg mit dem Tschiang Tschings gekreuzt. In ihrer Eigenschaft als Leiterin der Propagandaabteilung reagierte sie auf meine Begeisterung für die intellektuelle Vielseitigkeit Lu Hsüns mit einem Bekenntnis zur strengen Parteilinie. Sie sah bei ihm nur Ansätze kommunistischer Gesinnung. Doch obwohl sie eine treue Dienerin des Regimes war, hatte ihr Denken nichts an Flexibilität eingebüßt, und unsere ideologischen Differenzen beeinträchtigten weder unseren Respekt voreinander noch die Bequemlichkeit unseres Flugs. Während wir in liebenswürdiger Weise diskutierten, trugen zwei ungemein hübsche Mädchen der VBA Platten mit gebratener Ente, Süßigkeiten, frisch gedämpfte Brötchen, erlesene Früchte, Eis, Liköre, Bier und Wein in die Kabine. Ermattet vom Genuß des chinesischen Weins, gab ich dem Drängen Tschang Yings nach und willigte ein, mich in Anbetracht dessen, was mich in Kanton erwartete, ein wenig auszuruhen. Sie selbst zog sich in die Hauptkabine zurück. Die seidenen Bettücher bildeten einen wohltuenden Kontrast zu der proletarischen Nüchternheit des chinesischen Alltags. Als ich im Begriff war einzuschlafen, zog eine Stewardeß die Vorhänge zu. Ich schlief, bis mich die freundliche Stimme des Kopiloten weckte. Er beugte sich über mich und beschrieb unsere Landung über dem Kanton-Delta mit präzisen Zeit- und Ortsangaben.
»Genossin Tschiang Tsching ist bereit!« Diese Worte waren die Aufforderung, das Gästehaus, in dem wir gewartet hatten, zu verlassen und zur Villa Tschiang Tschings zu fahren. In der Abenddämmerung bahnten sich unsere Wagen hupend einen Weg durch das Verkehrschaos von Menschen und Tieren. Die Dunkelheit brach herein, als wir die Peripherie Kantons erreichten. Bei der Zickzackfahrt auf holprigen Straßen verloren wir jedes Gefühl für die Richtung. Eine enge kurvenreiche Straße führte durch Bambushaine zur Villa. Im Gehölz erkannten wir junge Wachen der VBA mit blinkenden Bajonetten. Die Villa, ein einstöckiges modernes Gebäude, stand friedlich und fern vom Lärm der Stadt inmitten von tropischen Gärten. Hier wuchsen rankende Bougainvilleas, Hibiskussträucher in glühenden Farben, rosa angehauchte Lotosblumen, die auf spiegelnden Teichen schwammen, duftende Magnolien, Jasmin und Ingwerblüten. Die Nacht war erfüllt vom vibrierenden Zirpen der Zikaden und dem atonalen Diskant der Vögel. Das Innere der Villa war geräumig, aber die Ausstattung war nüchtern, belebt nur durch Vasen mit leuchtend blauen und goldenen Schwertlilien und einigen Rollenbildern. Diese Bilder stammten zwar von zeitgenössischen Künstlern, zeigten aber keineswegs den Stil des sozialistischen Realismus. Hier, Tausende von Meilen entfernt von der nördlichen Hauptstadt, wo sie auf Formalitäten und persönliche Rivalitäten Rücksicht nehmen mußte, konnte Tschiang Tsching sich sanfter und entspannter geben. Sie trug ein vorzüglich geschnittenes Hemdblusenkleid aus schwerem Crépe de Chine mit einem weiten, bis zur Wadenmitte fallenden plissierten Rock. Dieser Stil erinnerte an die frühen fünfziger Jahre in Amerika. Die weißen Kunststoffsandalen und die dazu passende Handtasche kannte ich bereits, doch war der Handtaschengriff jetzt mit zerrissenem frotteeartigem Stoff umwickelt.
»Sind Sie in meiner Gegenwart nervös? Das dürfen Sie nicht sein.« »Nein.« Tatsächlich war ich weit weniger nervös als bei unserer ersten Begegnung. Ich begann, mir Notizen zu machen. Da es heiß und schwül war, rollte ich mir die Hemdsärmel bis über die Ellbogen hinauf. »Ihnen ist warm«, bemerkte sie. Sie bedeutete einem Gehilfen, die Klimaanlage einzuschalten. Stöhnend sprang das Gebläse an. Es lief einige Augenblicke mit leisem Brausen und erstarb dann plötzlich. Sie kam auf die Hintergründe unserer ersten Begegnung vor fast zwei Wochen zu sprechen. Ministerpräsident Tschou habe sie gefragt, ob sie mich nicht kennenlernen wolle. Er habe ihr gesagt, ich sei »jung und von China begeistert« und sei ihm von John S. Service empfohlen worden, nachdem ich meine Gespräche in der UN-Mission begonnen hatte.[9] Obwohl ich keine Kommunistin sei, sehe man in mir einen »entschiedenen Freund des chinesischen Volkes und aller revolutionären Menschen«. Sie sei damals im Begriff gewesen, eine andere Flugreise anzutreten, doch sie sei geblieben, um mich wiederzusehen. Warum? Wenn sie es nicht getan hätte, würde sie den Eindruck gemacht haben, arrogant oder eingebildet zu sein. Außerdem lasse sie sich von dem Gefühl ihrer Verantwortung gegenüber dem chinesischen Volk leiten. Sie wußte auch, daß ich bereits die Große Schwester Teng (Teng Ying-tschao) getroffen hatte und daß wir schon lange Diskussionen geführt hatten. In aller Eile habe sie einige Opernbesuche für mich arrangiert; es sei, wie sie mir versicherte, keine Zeit geblieben, um besondere Vorbereitungen zu treffen. Dann habe sie sich mit der Frage beschäftigt, was sie mir schenken könne. Jetzt lachte sie, wenn sie daran dachte, daß all diese ängstlichen Bedenken und das ganze Hin und Her sie zum Schwitzen gebracht hatten. Gewiß, sie habe mich nicht gut gekannt, aber sie habe sich doch an jenem Abend in Peking ein gutes Bild von mir gemacht. Nach unserem Abschied habe sie über meine Arbeit nachgedacht und sich für das »Grundkonzept« einer Reihe von Interviews entschlossen, die sie mir, wohl wissend, daß sie veröffentlicht werden würden, geben wolle. (Sie gebrauchte den Ausdruck »Grundkonzept«, ohne zu erklären, was er bedeutete.)
Vor vier oder fünf Tagen sei sie in aller Frühe aufgestanden und nach Kanton geflogen. Warum nach Kanton? Um sich von der täglichen Regierungsarbeit zu erholen und um sich ärztlich behandeln zu lassen. Sie schlafe und esse besser, wenn sie von dem Druck, unter dem sie in Peking stehe, frei sei. Nach wenigen Tagen arbeite ihr Gedächtnis, das sie in den letzten Monaten wiederholt im Stich gelassen habe, wieder besser. Damit ich mich nicht zu dem irrigen Schluß verleiten ließ, daß dies die übliche Art sei, in der sie ihre Zeit verbringe, versicherte sie mir, daß sie sich im allgemeinen »mit ernsten politischen Angelegenheiten« beschäftige. Und mit Nachdruck erklärte sie: »Die Beschäftigung mit Lappalien ist mir unerträglich.« Sie und ich würden unsere Zeit nicht mit Lappalien vertrödeln. Kurz vor meiner Ankunft hatte sie vor etwa fünfzehnhundert Menschen gesprochen, und vor einer Gruppe von Funktionären hatte sie über die aktuelle Situation referiert. Von diesen Verpflichtungen abgesehen, war das eigentliche Motiv ihrer Reise, daß sie mich sehen wollte. Aber sie betonte, daß unsere Zusammenkünfte geheim bleiben müßten. Wenn die Massen in Kanton und Umgebung erführen, daß sie noch immer hier sei, ihnen so nahe sei, würde sie das schrecklich aufregen. Und wenn sie gar den eigentlichen Zweck der Reise erführen nämlich mit einer Ausländerin zu sprechen - so würden sie das nicht verstehen. Darum dürfe auch ich nur mit ihr und den Mitgliedern ihrer und meiner Begleitung verkehren und keine Verbindung zur Außenwelt aufnehmen. Edgar Snow, fuhr sie fort, habe ausreichend Zeit für lange, eingehende Gespräche mit dem Vorsitzenden Mao, Ministerpräsident Tschou und den Revolutionären der älteren Generation gehabt. Diese Männer arbeiteten damals, Ende der dreißiger Jahre, im Nordwesten. Die älteste Revolutionärin, mit der ich bisher gesprochen hatte, war Teng Ying-tschao. 1919, während der Bewegung des 4. Mai, war sie schon fünfzehn gewesen. Tschiang Tsching war damals fünf Jahre alt gewesen - zu klein, um dieses umwälzende Ereignis einschätzen zu können. Tschiang Tsching gab zu, daß Teng Ying-tschaos revolutionäre Geschichte länger sei als ihre. Dafür sei ihre Geschichte »umfassender«, wie sie erklärte. Denn sie sei nicht auf Frauen-Angelegenheiten beschränkt.
Als sie und die anderen politischen Führer von 1937 bis 1947 im Nordwesten gearbeitet hatten, sei es ihr gemeinsames Ziel gewesen, den Standpunkt des Vorsitzenden Mao zu unterstützen. Auf Grund ihrer besonderen Position in jenen Jahren (sie hatte Mao 1939 geheiratet), werde sie mehr aufschlußreiche Einzelheiten der Jenan-Periode schildern können, als das Teng Yingtschao möglich sei. Wenn sie auch selbst nicht am Langen Marsch vom Zentralen Sowjetgebiet in den Nordwesten (in der Mitte der dreißiger Jahre) teilgenommen habe, werde ihr Bericht doch Aufschluß über diesen Marsch geben. Im allgemeinen wolle sie sich auf die Ereignisse konzentrieren, die sie selbst miterlebt habe. Doch nichts solle mir aufgezwungen werden. Wenn ich an militärischen Fragen nicht interessiert sei, werde sie darüber hinweggehen. Aber da die Bourgeoisie nun einmal »bis an die Zähne bewaffnet« sei, könnten die Chinesen nicht auf Waffen verzichten. Die Chinesen, so beteuerte sie, wollten keinen Krieg. Doch bestehe ein Unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen. Sie, die Chinesen, führten niemals einen ungerechten Krieg gegen andere. Aber sie habe nicht die Absicht, erklärte sie mit entspannter Miene, länger dogmatisch draufloszureden.
Lächelnd griff sie nach einem schmalen Goldbrokatetui und entnahm ihm einen kleinen, kunstvoll aus Sandelholz geschnitzten Fächer. Liebevoll ließ sie ihre Finger über ihn gleiten. Sie habe ihn schon viele Jahre benutzt, sagte sie. Auf einer Seite war der seidene Bezug mit rosa Pflaumenblüten bemalt. Auf der anderen Seite stand Mao Tse-Tungs Gedicht »Winterwolken« (Tungyün) vom 26. Dezember 1962, seinem siebzigsten Geburtstag (nach chinesischer Rechnung gilt der Tag der Geburt als erster Geburtstag). Das Gedicht lautete:
Schneelast auf Winterwolken, weiße Flocken im Flug
zehntausend Blüten, zahllos verwelkt, auf einmal so selten.
Hoch der Himmel, Wirbel an Wirbel, der Frost strömt gierig,
groß die Erde, wenig, wie wenig Wärme, ein Lufthauch.
Einzig mutige Männer machen Jagd auf den Tiger,
noch geringer ist der Tapferen Furcht vor dem Bären
Prunusblüten zur Freude, daß weit der Himmel verschneite;
starr gefroren die Fliegen, und keiner, den es wundert.
Als ich die Zeilen Maos überflog, versicherte sie mir, daß dies kein Original seiner Handschrift sei. Die Handschrift des Vorsitzenden sei ein Kunstwerk, und sein Gras-Stil, die Kursivschrift, sei berühmt. Er sei der Schrift Wang Hsi-tschihs ebenbürtig.[10] Sollte jemand wirklich glauben, er könne in den Besitz einer Original-Kalligraphie des Vorsitzenden Mao gelangen, würde er sein Leben riskieren. Mit einer weitausholenden Handbewegung deutete sie auf die große Reproduktion der kühnen, zuweilen sprunghaften Handschrift Maos, die hinter uns an der Wand hing. Auf den Fächer zurückkommend, sagte sie, daß sie für mich einen bestellt habe. Er werde in Kürze eintreffen, doch könne ich einstweilen diesen benutzen. Einen Augenblick später entschloß sie sich, ihn meiner Tochter zu schenken. »Wie heißt sie?« fragte sie.
»Alexandra.«
»Warum haben Sie einen russischen Namen gewählt?« forschte sie mißtrauisch. Ich sagte irgend etwas über die Russen und über das Entlehnen von Namen aus dem Griechischen, doch schien sie das nicht zu interessieren. Sie entnahm flachen Porzellanschalen kleine Ringe von weißem Jasmin und winzigen weißen Orchideenblüten und legte sie auf den Tisch. Dann tauchte sie die Finger in eine mit Wasser gefüllte Schale und besprengte die Blütenblätter. Mit diesem hübschen Ritual eröffnete sie jeden unserer gemeinsamen Abende. Gelegentlich verteilte sie während unserer Gespräche lose Blüten an die Assistentinnen. Da die Fächer bis in die späte Nacht fast ständig in Bewegung waren, waren wir eingehüllt in das scharfe Aroma der Blüten, in den sich der schwere Duft von Sandelholz mischte. Dieser Geruch drang in alle Ecken des Raumes.
»Wie wollen wir vorgehen?« fragte sie, als erwarte sie eine Antwort von mir. Da ich sehr gespannt war, wie sie die Sache angehen würde, sagte ich ihr, daß sie als die Gestalterin kultureller Programme auch hier die Initiative behalten solle. Ich wußte auch, wie sehr sich die Arbeit, die mir bevorstand, von dem Interview mit einem westlichen oder westlich orientierten Führer unterscheiden würde. Ein westlicher Staatsmann hätte von mir viele Fragen und auch Widerspruch erwartet. Außerdem war ich bereits lange genug mit ihr zusammengewesen, um einzusehen, daß meine vom amerikanischen Wissenschaftsbetrieb beeinflußte Neugier in keiner wesentlichen Beziehung zur inneren Dynamik ihres Lebens und der Geschichte der chinesischen Revolution stand.
Ihre Lebensgeschichte sei lang, schmerzlich und romantisch, begann sie träumerisch. »Aber schreiben Sie nicht einfach über mich«, fügte sie hastig hinzu. Als Marxistin legte sie mir ans Herz, ihre Lebensgeschichte stets nur vor dem Hintergrund der Revolution zu sehen. Mit dieser sei sie untrennbar verbunden. Wenn man den umfassenden Bereich der revolutionären Erfahrung in Betracht ziehe, nehme sich die Rolle einer einzelnen Person sehr klein aus. Und ihre Rolle sei völlig unbedeutend gewesen, erklärte sie mit Entschiedenheit.
Ich sollte mir die Freiheit nehmen, auch einmal nicht mit ihr übereinzustimmen und ihr zu widersprechen; dies würde unserer Freundschaft nicht schaden. Ihre einzige Bitte an mich sei, nicht den Sinn ihrer Worte zu verdrehen. Ich hätte nicht die Absicht, sie zu rühmen oder zu tadeln, erwiderte ich, denn ich wolle es vermeiden, in den belehrenden Ton konfuzianischer und kommunistischer Historiker zu verfallen. Mein Hauptziel sei es, vorurteilslos wiederzugeben, was sie sagte, und dem Leser einen Eindruck von ihrer Persönlichkeit zu geben, den nur die direkte menschliche Begegnung vermitteln könne. Mit einem Zitat Lu Hsüns antwortete sie, auch wenn sie andere kritisiere, kritisiere sie stets sich selbst noch strenger. Man dürfe nie selbstzufrieden sein. Sie hoffe, mein einzigartiges China-Erlebnis werde mich nicht eitel machen. Ganz gleich, wie außergewöhnlich das Leben eines Menschen sei, man müsse immer bescheiden bleiben.
Sie vermute - und sie lächelte wissend, als sie es sagte - daß ich mehr über ihr Privatleben erfahren wolle. Darum wolle sie mit dem Krieg beginnen, denn die Prinzipien der Kriegführung enthielten auch den Schlüssel zu ihrem Leben und zur Dynamik der gesamten Revolution. Wenn es mich nicht interessiere, so werde sie mir die Kriegsgeschichte nicht aufdrängen. Doch sie verbürge sich dafür, daß ihre Darstellung nicht trocken sei. Im Anschluß werde sie auf ihre persönliche Geschichte zu sprechen kommen und mit ihrer Kindheit beginnen.
Inzwischen war es neun Uhr abends geworden. Abgesehen von einer Pause, in der wir aßen und in ein anderes Zimmer gingen, um frischere Luft zu haben, sprach Tschiang Tsching ununterbrochen bis drei Uhr dreißig am Morgen. Je später es wurde, desto höher stieg ihr Energiespiegel, und sie schien nicht darauf zu achten, daß sich in dieser unbarmherzigen Hitze, in der nur sie allein sprach, Mattigkeit und Schläfrigkeit ihrer regungslosen Zuhörer bemächtigten.
Allabendlich beendete Tschiang Tsching ihren Bericht nur auf das wiederholte Drängen ihrer Leibwache und Krankenschwestern hin - und dank der stummen Signale ihrer beiden Leibärzte, die den Raum durchmaßen oder sie aus einer entfernten Ecke beobachteten. Neben diesen für ihr Wohlergehen verantwortlichen Menschen gehörten zu den Zuhörern Hsü Erhwei und Schen Jo-yün, die sich als Dolmetscher ablösten, ferner Tschang Ying, die VizeLeiterin für Propaganda, Tang Lung-ping, der Stellvertretende Protokollchef (der einzige Mann in ihrem Gefolge), und meine beiden Begleiterinnen Yü Schih-lien und Lao Tschen. Hin und wieder wechselte ich mit den beiden einen Blick oder ein Lächeln, aber ungeachtet ihrer Redegewandtheit wahrten sie in Gegenwart Tschiang Tschings fast völliges Stillschweigen. Am zweiten Abend zogen wir in eine größere Villa um (obwohl Tschiang Tsching auch weiterhin in der anderen wohnte). Sie enthielt mehr Zimmer, die wir nacheinander benutzen konnten, wenn die schwüle Luft zu stickig geworden war. Jeder dieser höhlenartigen Räume war auf dieselbe Weise ausgestattet: mit Handtüchern (großen und kleinen, trockenen und nassen, warmen und kühlen), mit denen wir uns erfrischten, mit Teewagen, Zigaretten, Schalen mit getrockneten Früchten, Schreibpapier und Büromaterial, Mikrophonen auf niedrigen Tischen und Tonbandgeräten. Die Interviews begannen am frühen Abend, wurden mit einem späten Dinner unterbrochen und dann bis in die frühen Morgenstunden fortgesetzt. Insgesamt nahmen sie sechs Tage in Anspruch. Einmal einigten wir uns auf eine zusätzliche Sitzung am späten Vormittag und eine andere am Nachmittag desselben Tages. In dem gebieterischen proletarischen Stil, den sie als ihr Vorrecht ansah, erzählte mir Tschiang Tsching, mit vielen Abschweifungen und sich immer wieder unterbrechend, die Geschichte ihres Lebens in der Revolution.