»Willst du Kenntnisse erwerben,
mußt du an der die Wirklichkeit umwälzenden
Praxis teilnehmen. Willst du den Geschmack
einer Birne kennenlernen, mußt du sie verändern,
das heißt sie in deinem Mund zerkauen.«
Mao Tse-tung, »Über die Praxis«
Einen Monat nach dem Tode Mao Tse-tungs am 9. September 1976 wurde seine Witwe Tschiang Tsching auf Geheiß der selbsternannten Nachfolger verhaftet und zur Staats- und Parteifeindin gestempelt. Ihr Schicksal teilten drei führende Männer der Partei - Yao Wenyüan, Wang Hung-wen und Tschang Tschun-tschiao - alle drei an die Macht gekommen, indem sie Maos Prinzipien der Kulturrevolution propagiert hatten. In den folgenden Wochen drängten sich die nach Millionen zählenden Massen in den Straßen von Peking, Schanghai und anderen Städten und überschütteten die »Viererbande« mit Anschuldigungen; dazu gehörten versuchter Mord an dem neuen Vorsitzenden Hua Kuo-feng und der Versuch, die höchsten Partei- und Staatsämter an sich zu reißen. In Schanghai führten die Demonstranten Bilder von Tschiang Tsching mit sich, auf denen ihr Hals in der Schlinge des Henkers steckte, und Transparente, auf denen ihr Name in riesigen Schriftzeichen stand, die in der Form von Knochen gemalt waren. Und als auf den Wandzeitungen die Todesstrafe für sie gefordert wurde, kündete Anfang November die Regierung an, daß der »Viererbande« der Prozeß gemacht werden würde.
Anfang Oktober informierte, wie verlautete, Hua das Politbüro des Zentralkomitees darüber, daß Tschiang Tsching mit einer ganzen Reihe von unerlaubten Mitteln versucht habe, mehr Macht zu erlangen, wozu auch ein ungewöhnliches wochenlanges Interview gehörte, das sie 1972 einer amerikanischen Professorin gegeben hatte. Sie habe - dies war der Vor-wurf das Interview benutzt, um einen »Kult um ihre Person« zu begründen, und dabei persönliche Angelegenheiten und Parteigeheimnisse an eine Ausländerin verraten.
Während des ganzen nächsten Monats sah man Wandplakate mit Karikaturen von ihr, auf denen sie als »Kaiserin« und »Verräterin« gebrandmarkt wurde. Einige Plakate zeigten Aufnahmen von Tschiang Tsching und der »amerikanischen Professorin« - mir - beim Interview. Was einmal als ihr Privileg gegolten hatte, war ihre Strafe geworden.
Tschiang Tsching ist die vierte und letzte Frau Mao Tse-tungs, des revolutionären Führers mit dem größten und beständigsten Einfluß in unserer Zeit. Damals, als wir miteinander sprachen - war sie, ungeachtet der geringen Publizität, die ihr die chinesische Regierung gab, die mächtigste Frau der Welt. Trotz ihrer Ehe mit Mao, durch die sie an die Macht gelangte, sprach sie in unseren Unterredungen weniger von sich als der Frau Maos als von ihrem eigenen dreißigjährigen Ringen um eine führende Stellung. Und selbst als sie die Höhen der Macht erreicht hatte, war ihre Stellung immer gefährdet. Warum das so war, zeigt ihre Lebensgeschichte mit großer Deutlichkeit. In dem ersten der letzten vier Jahrzehnte war sie noch weithin unbekannt; im zweiten und dritten gelangte sie als die Frau eines revolutionären Führers in eine Gesellschaft, die weitgehend patriarchalisch war und es noch immer ist - wenn auch nicht mehr in dem Maße wie früher. Erst im vierten Jahrzehnt, als Maos Kräfte abnahmen, als er im Grunde nur noch ein Symbol war und immer weniger Macht ausübte, trat sie in den Vordergrund. Obwohl sie einen Platz an der Spitze einnahm, mußte sie feststellen, daß die Welt nicht viel von ihr wußte. In China war es seit jeher das Ziel eines begabten Mannes, sich einen Namen in der Geschichte zu machen. Tschiang Tsching gehört zu den wenigen Frauen der chinesischen Geschichte, die den gleichen Ehrgeiz hatten. Dieses Buch zeigt, wie sehr sie sich um ihre historische Anerkennung bemühte und daß sie ihr Leben so darstellen wollte, wie nur sie selbst es kannte. Sie wollte, daß man sich später an ihre eigenen Überzeugungen und Leistungen erinnerte.
Natürlich nahm Tschiang Tsching ein großes Wagnis auf sich, als sie sich um Publizität bemühte. Mit ihrem Wunsch nach einem Buch, in dem ihre eigene Geschichte erzählt wurde, setzte sie sich über die Gesetze der kommunistischen Bewegung in ihrer gegenwärtigen Phase hinweg' Zwischen dem Ende der dreißiger und der Mitte der vierziger Jahre, als die chinesischen Kommunisten - die ihre Basis irn nordwestlichen Jenan hatten - noch begeisterte junge Bauern-Revolutionäre von mehr oder weniger schlechtem Ruf waren, suchte die herrschende Kuomintang ihre Bedeutung in der Weltöffentlichkeit herunterzuspielen, indem sie ihnen jeden Zugang zur Außenwelt verwehrte. Aber die Kommunisten halfen sich, indem sie geschickt redigierte Biographien tollkühnen Journalisten anvertrauten, denen es gelungen war, bis zu ihren Stützpunkten vorzudringen. Man hoffte, daß die ausländischen Gäste - der bekannteste war Edgar Snow - die nichtchinesische Welt mit wohlwollenden Porträts kommunistischer Kämpfer vertraut machen würden. Doch die Periode der bestellten Biographien endete mit der Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft über China in der Mitte unseres Jahrhunderts, als die Kommunisten eine vollständige Neugliederung von Land und Volk in Angriff nahmen und diplomatische Beziehungen zu auswärtigen Mächten aufnahmen. Obgleich China in den siebziger Jahren noch weitgehend von derselben Gruppe beherrscht wurde, die sich schon in Jenan gebildet hatte, propagierte diese Gruppe aggressiver denn je die Marx'sche These, daß die Geschichte mehr von den Massen als von deren Führern gemacht werde. Mit dem Selbstvertrauen, das ihnen nach fast einem Vierteljahrhundert Herrschaft zugewachsen war, luden sie Tausende von Ausländern ein. Sie erwarteten, daß die Gäste vom neuen China beindruckt sein und ausführlich und freundlich über die befreiten Massen berichten würden.
Zwar widersprach Tschiang Tsching als strenge chinesische Kommunistin nicht dem Grundsatz, daß die Geschichte vom Volk gemacht würde und die Geschichtsbücher deshalb vom Volk zu handeln hätten. Doch konnte sie nicht vergessen, daß man ihr, als sie noch im Schatten Maos in Jenan gelebt hatte, keine Chance gegeben hatte, sich auch außerhalb Chinas einen Namen zu machen und ihren Leistungen gemäß beurteilt zu werden. Als im Sommer 1972 die von ihr inspirierte Kulturrevolution sie nach oben getragen hatte, ergriff sie die Gelegenheit, mir (ich hatte nur den Auftrag, über die Frauen in China zu berichten) und damit der Welt klarzumachen, daß sie um eine führende Position kämpfte und nach Maos Tod einen Anteil an seinem Erbe beanspruchen wollte.
Um dies deutlich zu machen, mußte sie sich oft vorsichtig und zweideutig ausdrücken. Wie bei vielen chinesischen Herrschern in der Vergangenheit verbanden sich auch bei ihr politisches Geschick und künstlerische und literarische Begabung. Auf die Rückseite eines der Photos, die sie mir schenkte - einer Ansicht der Han-yang-Spitze im Lu-schan-Massiv schrieb sie ein Gedicht, das höchstwahrscheinlich ein unveröffentlichtes Gedicht von Mao ist. (In Stil und Inhalt erinnert es an seine Gedichte aus den frühen sechziger Jahren.) In der Tradition einer Lyrik, die scheinbar von der Natur, in Wahrheit aber von Politik handelt, vergleicht er Tschiang Tsching mit einem wunderbaren Berggipfel, der meist im Flußnebel verborgen bleibt (»Tschiang« bedeutet »Fluß«). Nur selten zeige sich seine - ihre »Majestät« unverhüllt. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb sie mir das Bild gab.
»Ich schlage vor, daß ich mich vor Ihnen seziere«, sagte Tschiang Tsching. Sie offenbarte mir jedes Detail in ihrem Leben mit demonstrativer Offenheit und ideologischer Virtuosität. Das Bild vom »Sezieren« - wesentlich für ihr Selbstverständnis und ein Leitmotiv ihres Berichts - hatte sie von Lu Hsün entlehnt, dem größten chinesischen Protestschriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, einem Mann, den sie vergötterte. Ihre Sektionen waren wie die seinen stets zweischneidig: Selbst-Sektion und Sektion der anderen. In freierer Übersetzung für die Massen wurden daraus Selbstkritik und Kritik der anderen, die tägliche Litanei des revolutionären Lebens.
Die Selbstanalysen Tschiang Tschings offenbarten eine Fülle von Widersprüchen und Konflikten. Am auffälligsten war dabei der Widerspruch zwischen ihrer persönlichen Unsicherheit und der festen und entschlossenen Haltung, mit der sie der Öffentlichkeit gegenübertrat, ferner die Paradoxie ihrer hartnäckig oppositionellen Haltung in einer Gemeinschaft von »Genossen« und schließlich die Skrupellosigkeit, mit der sie ihrer Überzeugung von den wohltätigen Wirkungen der Revolution diente.
Maos von Marx übernommene Erkenntnis, daß die Dialektik die »Algebra der Revolution« sei, hat das Leben Tschiang Tschings emotional und ideologisch bestimmt. Von Kind an gewann sie ihre Kräfte aus Konflikten. Die marxistische Dialektik, die sie in ihrer Jugend kennengelernt hatte, bestärkte sie in ihrem eigenwilligen und kämpferischen Temperament. Auch ihre Erfahrungen in der Agitation gegen das repressive Regierungssystem TschiangKai-scheks rechtfertigten eine am Konflikt orientierte Haltung. Die Ehe mit dem Banditenfürsten, die ihr in der revolutionären Avantgarde Prestige verlieh, befriedigte vielleicht ihr Herz und ihr Gemüt. Doch der Lauf der Dinge, Maos Auffassung von der hauptsächlichen Chance und ihr persönlicher Ehrgeiz gaben ihrem Leben eine andere Bestimmung.
Das Leben Tschiang Tschings, die Revolution und damit auch dieses Buch sind also voller Widersprüche: Einige sind verwirrend, manche aber aufschlußreich. In den täglichen Auseinandersetzungen des zum Maoismus gewordenen Marxismus ist vor allem von den großen Konflikten zwischen den Klassen die Rede (Grundbesitzer und Bauern, Kapitalisten und Arbeiter, Bourgeoisie und Proletariat). Fast alle ausländischen Beobachter Chinas geben sich mit Erklärungen, die auf diese Gegensätze verweisen, zufrieden. Aber auch aus anderen, vertrauteren und leichter nachvollziehbaren Konflikten speist sich ein revolutionäres Bewußtsein. Dazu gehören die Spannungen zwischen den verschiedenen Führern, zwischen den Führern und Geführten, zwischen den Geschlechtern, den Generationen, dem öffentlichen und dem privaten Bereich, zwischen dem intellektuellen Liberalismus und der politischen Orthodoxie und zwischen den »starken« und »schwachen« Seiten der menschlichen Natur. Obwohl sich alle offiziellen Erklärungen Tschiang Tschings in marxistischen Gedankengängen bewegten, zeigt ihre Lebensgeschichte, daß für sie andere Konflikte ebenso bedeutsam (und für ihre eigene Person sogar noch bedeutsamer) waren.
Ihr Leben, wie sie es mir beschrieb, war einsam und hart gewesen, ein Leben, in dem Vertrauen und Güte fehlten, sieht man einmal von den wenigen familiären und freundschaftlichen Bindungen ab. Nachdem die Kinder, die sie gemeinsam mit Mao aufgezogen hatte, groß geworden waren und während Mao seinen kühnen Weg weiterging - immer wieder unterbrochen von Perioden, in denen er sich völlig zurückzog und in sich selbst zu versinken schien -, war sie einsamer als je zuvor. In ihren mittleren Jahren stand sie vor der Entscheidung, entweder als anonyme Lebensgefährtin zu altern oder um einen Platz in der Führungsschicht zu kämpfen. Dabei mußte sie sich auf ihre eigenen Fähigkeiten verlassen, wenn sie überleben wollte. So setzte sie sich in den frühen sechziger Jahren vorbehaltlos für eine kulturelle Revolution ein und entwickelte dabei ihren eigenen politischen Stil, der bewußt dialektisch und durch taktisches Geschick gekennzeichnet, aber im Grunde höchst widersprüchlich war. Sie brachte es zu einer wahren Kunst darin, ihre Vertrauten und Berater zu unbedingter Loyalität zu verpflichten. Diese Vertrauten gewannen dann ihrerseits diejenigen für sich, die in der politischen Hierarchie unter ihnen standen. Aber da Tschiang Tsching die Furcht vor Verrat nie verlor, konnte sie dieser Loyalität nie ganz froh werden. So wenig wie Mao durfte sie Skrupel haben, wenn es darum ging, Genossen, die ppktisch nicht mehr von Nutzen waren, fallenzulassen oder sogar öffentlich bloßzustellen. In einer Welt, in der die Lehre von der Verpflichtung gegenüber dem ganzen Volk Vorrang hat vor der Verpflichtung gegenber dem Individuum, hielt keine Freundschaft einem »klassenbewußten~c Urteil stand. Da ihre politischen Maßstäbe so streng waren, wußte sie weit nehr von Feinden als von Freunden zu erzählen - das heißt, sie »sezierte« sie in der Tat.
Bereits 1934, als sie noch eine ehrgeizige junge Filmschauspielerin war, hatte sie ein ambivalentes Verhältnis zu den Massen, die schon damals das eigentliche Subjekt und Objekt aller radikalen und politischen Anstrengungen waren. Würden die Massen sich um sie drängen und sie mit Blumen überhäufen, oder würden sie sie ermorden? Oder so sehr demütigen, daß sie zum Selbstmord getrieben wurde? Ich kam dahinter, daß ihre persönlichen Obsessionen fast immer einen politischen Hintergrund hatten. Ein gutes Beispiel ist die lange, teils eingebildete, teils wahre Geschichte von den Scäikanen, die sie von dem Kulturkommissar Tschou Yang und seiner Garde von Talenten erdulden mußte. Ihren Groll gegen diese Männer nährte sie drei Jahrzehnte lang, bis sie genug Macht erworben hatte, um sie zu vernichten. Persönliche Rachsucht in Verbindung mit einer Politik im Dienste Maos ließen sie eine Kulturrevolution gegen die widerspenstige revisionistische [deologie solcher Männer fordern - gegen eine Ideologie, die uns wesentlich liberaler als die Ideologie Tschiang Tschings und Maos erscheint.
Dabei blieb ihr immer bewußt, daß sie der Unterstützung Maos für ihre grandiosen Pläne nie ganz sicher war, zumal in den Jahren, in denen er eher ein zurückgezogen lebender Philosoph als ein regierender König war. Diese Sorge, die in ihrem ganzen Bericht spürbar ist, muß als Reaktion auf die Impulsivität Maos verstanden werden. Als paranoid kann man sie nicht bezeichnen. Nachdem er seine erste Frau verstoßen hatte - ein Bauernmädchen, das ihm seine Eltern aufgezwungen hatten -, heiratete und verließ er seine zweite Frau, eine Intellektuelle, von der er drei Söhne hatte. Sie murde, zur Vergeltung für seine kommunistische Agitation, von der Kuomintang hingerichtet. Seine dritte Frau - sie erlitt während des qualvollen Langen Marsches einen Nervenzusammenbruch - wurde nach langjährigem Exil in der Sowjetunion in eine chinesische Heilanstalt eingewiesen. Seine widen designierten Nachfolger, Liu Schao-tschi und Lin Piao, verloren plötzlich sein Vertrauen, und er vernichtete sie beide in der Blüte ihrer Jahre. Wie konnte sich Tschiang Tsching angesichts eines solchen Verhaltens als Frau und als politische Partnerin auch nur im geringsten sicher fühlen?
Wenn man sich nicht als Anthropologe betätigen will, um zu begreifen, mit welchen Schwierigkeiten Tschiang Tsching in ihrer Umgebung zu kämpfen hatte, könnte man leicht eine klare Linie in ihrem Leben vermissen. Mit so simplen Etikettierungen wie »radikal«, »ultralinks« oder auch »paranoid« zeichnet man kein Bild von ihrer Persönlichkeit oder von der Revolution, der sie sich zusammen mit Millionen anderer verschrieben hatte. Wenn eine, Gesellschaft sich lieber darüber ausläßt, was sein sollte, statt aufzudecken, was ist, dann ist die notwendige Umformung der Realität keine leichte Aufgabe.
Das China der Gegenwart wird ebenso von den Kräften der Tradition bewegt wie vom revolutionären Elan. Von zentraler Bedeutung für die politische Dynamik ist überall die Beziehung zwischen Führern und Geführten. Der Philosoph Konfuzius, der Begründer der politischen Morallehre, an die man sich in China ungefähr fünfundzwanzig Jahrhunderte lang hielt, verglich die Wirkung des Herrschers auf das Volk mit dem Druck, den der Wind auf das Gras ausübt. Dank innerer Tugend und äußerer Tatkraft, mit Worten und Taten, war der Herrscher ein Vorbild für sein Volk, das sich seiner letztlich moralischen Macht beugte.
Die kommunistischen Führer - vielleicht ohne sich dessen immer bewußt zu sein - haben von Anfang an nach demselben Prinzip gehandelt. Die »führenden Genossen« (wie sich die Spitzenpolitiker selbst nennen) dienen dem Volk als Vorbilder in ihrer moralischen Haltung und ihrem Handeln. Um beim Volk einen starken Widerhall zu finden, werden einzelne aus den Volksmassen belohnt, wenn sie sich der von der Zentrale ausgehenden moralischen Kraft beugen. Die aus den Massen hervorgegangenen würdigsten Personen werden als lokale Vorbilder präsentiert. Das System des allgemeinen Wettstreits wird auf alle kontrollierbaren Bereiche des Alltags ausgedehnt: die Familie, die Schule und den Arbeitsplatz. Aber alle politischen Vorstellungen, die auf der untersten Ebene verwirklicht werden, gehen von der Spitze aus.
Wer also regiert, und wer macht Geschichte? Die Führer, schon avanciert die einen, frisch den Massen entwachsen die anderen, wie es der konfuzianischen Tradition entspricht? Oder in erster Linie die Massen, wie es Marx gelehrt und die chinesischen Kommunisten bekräftigt haben? Tschiang Tsching sprach und handelte - wie das Regime, das sie repräsentierte - nach dem Vorbild beider Traditionen. Und sie lebte an beiden Enden des sozialen Spektrums - freilich nirgendwo angenehm.
Daß sie eine Frau war, brachte sie in ein Dilemma, das in ihrem Leben von zentraler Bedeutung war. Sie war ein Kind des Volkes, trennte sich von ihrer Familie und lernte als Schauspielerin die Kunst, das Publikum für sich zu gewinnen. Schließlich erkämpfte sie sich einen Weg bis zum Gipfel der revolutionären Macht. Ihre Ehe mit Mao, die ihren Erfolg begünstigte, schien sie an die Spitze einer Gesellschaft zu führen, in der Männer und Frauen angeblich gleich waren. Aber in Wirklichkeit sah sie sich gezwungen, im Schatten des großen Mannes zu stehen. Sie blieb ausgeschlossen von den Beratungen der führenden Männer, und sie war isoliert von den Massen, die die Geschichte zu verändern begannen. In ihren mittleren Jahren entzog sie sich dem Einfluß des Vorsitzenden, indem sie sich anderer einflußreicher Männer und der darstellenden Künste bediente, um ihre Verbindung zu den Massen wiederherzustellen. Nur die Massen konnten ihr die politische Legitimation und Sicherheit bieten, die sie für ein Leben in der permanenten Revolution benötigte. Für Tschiang Tsching war das Leben in den Massen nie leicht gewesen. Es wurde noch erschwert durch die Entschlossenheit der in den dreißiger Jahren herrschenden nationalistischen Regierung, alle Unzufriedenen zu beseitigen, insbesondere Radikale wie sie. Dazu kamen der Nachteil, eine Frau zu sein die Geringschätzung des weiblichen Nachwuchses war in China Tradition -, und der schlechte Ruf, in dem selbst die guten Schauspielerinnen und Filmstars standen. Und als sie im befreiten Nordwesten des Landes ihr Schicksal mit dem Mao Tse-tungs verband, forderte sie damit neue Vorurteile heraus: das Vorurteil gegen die jüngere Frau, die die ältere Ehefrau verdrängt, und das gegen die Frau des politischen Führers, die nach einem Sonderstatus strebt und eine direkte Beziehung zum Volk sucht. Als selbsternannte politische Führerin geriet sie in den sechziger Jahren noch mit einer anderen, bis dahin nicht in Frage gestellten Tradition in Konflikt - mit der Überzeugung, daß Autorität in Fragen der Kunst ein Vorrecht des Mannes sei. Im Verlauf der Kulturrevolution übernahm sie das Kommando über den außerordentlich wichtigen Bereich der Kultur. In diesem Bereich wird im heutigen China die Ideologie vermittelt und damit das Bewußtsein des Volkes geprägt. Wie keine andere Frau ihrer Zeit machte sie den Nietzsche'schen Sprung über die eigene Generation hinweg und lebte immer mehr in der faustischen Überzeugung, daß es keine Kunst gab, die sie nicht ausüben, keine Wissenschaft, die sie nicht verstehen, kein Gebiet, das sie nicht beherrschen könnte.
Als Kind rebellierte sie spontan, und später wurde sie eine Frau der Extreme. Sie machte sich ein entschiedenes marxistisches Denken zu eigen und verwarf die gemäßigte Position. In der Gesellschaft, in der sie lebte, verabscheute sie die Bourgeoisie. Im Theater, das sie unter ihre Kontrolle gebracht hatte, verbannte sie alle »mittleren Rollen« von der Bühne (das heißt jene, die keine extremen Klassengegensätze darstellten). Alles, was sie plante, führte sie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen bis zum Ende durch. Nichts war wahr für sie, wenn es nicht wehtat - ihr oder einem anderen oder einer sozialen Klasse. Ihr Leben unter ständigem Risiko, das geschärfte Bewußtsein für die Vergangenheit und der improvisationsfreudige Stil ihrer Kulturrevolution ließen erkennen, daß sie gegen gewisse heilige Vorstellungen rebellierte, an denen die kommunistische Politik hing. So bekämpfte sie den altmodischen Bürokratismus, der die Frauen und die Jugend von der Ausübung der Macht und von der Verantwortung ausschloß.
Obwohl sie in einer von den Männern beherrschten Gesellschaft jeden Grund gehabt hätte, Feministin zu sein, war sie keine - nicht im üblichen Sinne. Sie machte gelegentlich Bemerkungen über die Schwierigkeiten, mit denen die chinesischen Frauen zu kämpfen hätten, und über die Veränderungen des Status der Frauen (sie äußerte sich nicht über die Lage der Frauen in der westlichen Welt). Aber sie beklagte sich so gut wie nie, obwohl ihr doch Männer oft das Recht auf eine eigene Meinung bestritten und ihren Aufstieg zur Macht zu verhindern gesucht hatten. Die Gründe für ihre Zurückhaltung waren im wesentlichen ideologischer Natur. In einer marxistischen Darstellung der Vergangenheit Chinas gehörte die Frauenrechtsbewegung zu der bürgerlich-demokratischen Phase der historischen Entwicklung. Deshalb entwickelte die Chinesische Kommunistische Partei die Theorie, daß unter dem Sozialismus die Frau den Kampf der Geschlechter abbrechen, den Klassenkampf beginnen und an der Seite ihrer proletarischen Brüder gegen die gemeinsamen Unterdrücker kämpfen sollten - die Grundbesitzer, Kapitalisten und Imperialisten. Wann immer Tschiang Tsching in unseren Gesprächen ihrem Ärger über einen Mann Luft machte, warf sie ihm »revisionistische« und »konterrevolutionäre« Machenschaften vor, nur selten »männliche Anmaßung«. Hätte sie behauptet, daß in der kommunistischen Führung lauter männliche Chauvinisten säßen, hätte sie den Erfolg in Frage gestellt, mit dem das Regime das Stadium des Sozialismus erreicht hatte, und überdies der ebenso traditionellen wie revolutionären Vorstellung zuwidergehandelt, nach der die Führer rechtschaffene Vorbilder für das ganze Volk sind. Und schon gar nicht konnte sie aus allen möglichen allgemeinen und privaten Gründen ihren Mann kritisieren: Gerade der Vorsitzende Mao präsentierte sich den Massen der Frauen als ihr persönlicher Fürsprecher er, der Führer, der sie stolz machte, wenn er sagte: »Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels.«
Wir sollten uns an Tschiang Tsching als an einen Menschen von ungewöhnlichem Mut erinnern - eine Führerin in einer Periode des Übergangs und ein hervorragendes Mitglied der revolutionären Avantgarde. Sie war ein Überbleibsel aus dem feudalen Zeitalter, als die Herrscher machtlose, aber schöne und begabte Frauen heirateten - Frauen, denen es zuweilen gelang, am Ende selbst Macht auszuüben, doch nur im Hintergrund, kaum je vom Thron des Herrschers aus. Die Schritt für Schritt erfolgende Befreiung der Nation katapultierte einige wenige Frauen in leitende Positionen. Aber erst die Kulturrevolution gab den Armen, der Jugend und den Frauen mehr Unabhängigkeit von der Familie. Obwohl der Weg Tschiang Tschings zur Macht mit ihrer Heirat begann, wurde die autonome Stellung, die sie später erreichte, auch für andere Frauen zum Signal, ohne Rücksicht auf Ehemann und Familienbande nach politischer Autorität zu streben.
Hätte die politische Karriere Tschiang Tschings im materiellen Bereich der Revolution begonnen - dort, wo es um Fortschritte in der Landwirtschaft, der Industrie oder der Wissenschaft geht -, wäre meine Aufgabe, eine historische Rekonstruktion, sehr viel leichter gewesen. Niemand wird widersprechen, wenn man feststellt, daß eine Ausweitung der Lebensmittelproduktion und eine gerechtere Verteilung eines der wichtigsten nationalen Ziele für ein riesiges Land sein muß, das regelmäßig von Hungersnöten heimgesucht wird. Aber als Tschiang Tsching auf den Kontrollturm der Revolution kletterte, wurde die Wirtschaft des Landes von Männern überwacht, die die Macht schon lange in Händen hielten. Andere fungierten als Wächter der Ideologie.
Aber gerade der nicht-materielle Bereich - in der marxistischen Terminologie der »Überbau« - interessierte Tschiang Tsching am meisten. Mao hatte schon immer gewußt, daß die größte Herausforderung an die revolutionäre Führung darin bestand, den menschlichen Geist zu manipulieren, die Ungebildeten wie die Gebildeten dazu zu bewegen, im Namen des proletarischen Klasseninteresses jahrhundertealte Werte zu verwerfen. Wie aus dem Bericht Tschiang Tschins hervorgeht, haben die chinesischen Führer ebenso wie die ausländischen Beobachter über die moralischen und technischen Probleme der Revolution und über den Nutzen und den Mißbrauch der Propaganda gründlich nachgedacht. Allerdings wissen wir kaum etwas darüber, an welche Alternativen die führenden Politiker dachten. Wir kennen nicht viel mehr als ihre öffentlichen Erklärungen.
Ideologie wird oft als etwas angesehen, das in keinem Zusammenhang mit der Praxis steht, und für Journalisten sind die »ldeologen« oder »Radikalen« eine Gruppe für sich. Aber in China besteht ein vitaler Zusammenhang zwischen der Ideologie und der Lösung der materiellen Lebensfragen. Dieser Zusammenhang von Idee und Aktion faszinierte Tschiang Tsching, und ihr Hauptinteresse galt den Techniken der Beeinflussung menschlicher Motivationen. Wie konnte man Bauern und Arbeiter dazu bringen, mit den Gewohnheiten vieler Generationen zu brechen und die sozial Höherstehenden (Grundbesitzer, Kapitalisten und so weiter), die für sie vielleicht Patriarchen, keine Tyrannen gewesen waren, zu entmachten? Wie konnte man Millionen junger Menschen dazu bringen, gegen das fundamentale Gebot Konfuzius' zu verstoßen, gegen das Gebot kindlicher Ehrfurcht, das besagte, daß die Weisheit des Alters unter allen Umständen respektiert werden müsse? Und wie konnten Frauen lernen, ihren Männern die Stirn zu bieten, wenn die herkömmliche Kriecherei bequemer war? Wie brachte man Menschen, die seit Jahrhunderten nach derselben alten Produktionsmethode arbeiteten, dazu, Neuerungen einzuführen, um ein kühnes Produktionsziel zu erreichen? Und wie waren sie durch nicht-materielle Anreize wirksam zu stimulieren? Die Antwort auf diese Fragen lag in einer Etablierung neuer Werte und in einem System von Belohnungen und Bestrafungen, wie es so zielstrebig noch nie in der Geschichte angewandt worden war. In dieser schonungslos errichteten Kulturindustrie der sechziger Jahre tauchte Tschiang Tsching als der Chefingenieur auf, mit Plänen in der Hand, die kein anderer als der Vorsitzende Mao selbst entworfen hatte. In einer Welt, in der die nationale Gegenwart die gleiche Bedeutung wie die nationale Vergangenheit hatte, duldeten Tschiang Tsching, Mao und ihre Anhänger keine andere Autorität und keine ausgleichenden Gegenkräfte.
»Ein großer Schriftsteller ist sozusagen eine zweite Regierung seines Landes«, schrieb Solschenizyn in »Der erste Kreis der Hölle«. Da die zaristische Tradition durch europäische Begriffe wie Freiheit und Liberalismus durchsetzt war, sah sich die Sowjetunion gezwungen, Gruppen von Abtrünnigen, die sich immer wieder bildeten, zu dulden. Aber in China war die autokratische Tradition des Kaiserreichs von solchen Ideen weitgehend unberührt geblieben, bevor die Regierung Mao Tse-tungs diese Tradition auf andere Weise fortsetzte. Millionen von Anhängern übertönten die vereinzelten Stimmen der Dissidenten, die sich zum erstenmal in einer kurzlebigen liberalen Bewegung erhoben hatten, von der sich der gleichermaßen autokratische Tschiang Kai-schek herausgefordert sah. Die Schriftsteller, die die Regierung Maos nicht unterstützten, wurden unterdrückt, liquidiert oder durch ideologische Umerziehung »gerettet«.
Unter der, Herrschaft Maos wurde die Freiheit des Gewissens, der Rede und der Presse, die wir in unserer Kultur als Lebensrecht beanspruchen, als bürgerlich, reaktionär und konterrevolutionär verurteilt. Als Tschiang Tsching vom Kampf gegen eine Zentralregierung (die der Nationalisten der dreißiger Jahre) zur Verteidigung einer anderen (der Mao Tse-tungs) überging, wurde sie die treibende Kraft des geistigen Sektors, die Hüterin des Oberbaus, die Leiterin des nationalen Syndikats einer proletarischen Kultur. Der Leitgedanke war, daß - da ja nun die Zentralregierung wirklich die Regierung »des Volkes« war - eine »zweite Regierung«, von links oder von rechts, völlig überflüssig war.
Man wird natürlich Tschiang Tsching und Mao - die eine entmachtet, der andere tot - als Menschen und als politische Führer miteinander vergleichen. Die Hingabe an die Sache war beiden gemein, aber die Unterschiede, was das Talent und den strategischen Überblick betrifft, waren unübersehbar. In dem, was Tschiang Tsching sprach und schrieb, fehlten die ideologische Virtuosität, die Souveränität in der Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Wechsel von Sanftheit und Schärfe, die poetischen Höhenflüge, die Gelassenheit und der Stich ins Absurde, der das gelackte Bild Mao Tse-tungs menschlicher machte. Tschiang Tsching lernte es, in der Öffentlichkeit zu leben und ihre politische Karriere dem Test des praktischen Erfolgs auszusetzen. Alles in allem sind vielleicht die Geschichte ihres Lebens und ihre Selbsteinschätzung (im Hinblick auf den Einfluß, den sie ausgeübt hat) historisch bedeutsamer als die Ansichten, die sie dem chinesischen Volk - und durch dieses Buch verkündet hat. Tschiang Tsching hatte - wie jeder in China weiß, der sie kannte - eine gewisse Ausstrahlung, die ich in ihrer Nähe empfand, während sie sich mit wachsender Entfernung zu verflüchtigen schien - und die in ihren Schriften völlig fehlt. Ungeachtet ihres Alters setzte sie jene Anziehungskraft ein - manche mögen es Sex-Appeal nennen - die mit großer Macht verbunden ist. Während ihres eindrucksvollen Monologs erlebte ich manch theatralischen Stimmungswechsel - von Wut zu Zärtlichkeit und heiterem Übermut, vergleichbar den wechselvollen Schaustellungen der von ihr geführten Kulturrevolution. Die politische Starrolle, die sie spielte, ist nicht einfach als Fortsetzung ihrer lang zurückliegenden kurzen Karriere als Schauspielerin zu verstehen. Tschiang Tschings Selbstbewußtsein gründete, wie es mir schien, in der Gewißheit, daß ihr niemand mehr ihren Platz in der Geschichte streitig machen kann. Privat spielte sie diese Rolle ebenso überzeugend wie vor den Massen. In ihrer kraftvollen, lebenssprühenden Persönlichkeit konzentrierte sich das Gefühl des Volkes für das gewaltige nationale Drama, das sich vollzog.
Dieses Buch ist »autorisiert« nur insofern, als Tschiang Tsching den Wunsch nach seiner Veröffentlichung äußerte. Nie hat sie verlangt, das Manuskript vor der Drucklegung einsehen zu können. Auf unsere erste Begegnung in Peking war ich nicht vorbereitet; zwar hatte ich mein Notizbuch bei mir, aber die Situation schlug mich so sehr in Bann, daß ich es nicht gebrauchte, Sie berührte einen weiten Kreis von Themen, einige beiläufig andere mit Nachdruck. Etwa zwei Wochen später erhielt ich eine Niederschrift des Interviews, die, wie sie erklärte, auf »Präzision und Diskretion« hin redigiert worden war. Die »Redakteure« waren: Tschou En-Iai, der Premierminister, Yao Wen-yüan (der Chef der literarischen Mitarbeiter Tschiang Tschings) und andere »führende Genossen« (dieser Hinweis schloß Mao nicht aus). Wie ich es erwartet hatte, waren einige schockierende Bemerkungen über Lin Piaos Travestien und deren schädliche Auswirkungen auf ihre psychische und physische Gesundheit aus der Aufzeichnung gestrichen worden - aber nicht aus meinem Gedächtnis. Auf ihren Wunsch hin werden jedoch solche Einzelheiten in diesem Buch nicht behandelt.
Bei unseren nächsten Zusammentreffen machte ich mir regelmäßig Notizen, trotz der Zusicherung Tschiang Tschings, daß ich jedesmal eine Aufzeichnung erhalten würde. Diese Aufzeichnungen beruhten, wie sie sagte, jeweils auf einer Bandaufnahme, die durch Notizen von einem oder mehreren offiziellen Schreibern ergänzt wurden. Wenn wir allerdings unterwegs waren, verließen wir uns ausschließlich auf diese Notizen. Doch obwohl ich die Fähigkeiten der Schreiber nicht bezweifelte und durchaus darauf vertraute, daß Tschiang Tsching stark genug war, um Wort zu halten, machte ich mir Notizen für meine eigenen Aufzeichnungen, die das meiste von dem, was sie gesagt hatte, enthielten. Außerdem notierte ich, wie sie aussah und sich bewegte, in welchem Rahmen das Gespräch stattfand und die Namen dritter Personen, die am Gespräch teilnahmen. Notfalls würden mir meine Notizen genügen, und sonst konnte ich sie mit der offiziellen Niederschrift vergleichen. Die politische Bearbeitung durch Tschou und andere war für mich von besonderem Interesse.
Nachdem ich im Jahre 1972 in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, tauschten Tschiang und ich über zwölf Monate lang zahlreiche Bücher und Fotos, zwei Spielfilme und mehrere Mitteilungen aus. Dies geschah auf diplomatischem Weg, durch Vermittlung des chinesischen Botschafters bei den Vereinten Nationen, Huang Hua, und seiner Frau Ho Li-Liang. Dann jedoch verzögerte sich die Zustellung der restlichen Protokolle, und es kam zu einem monatelangen Tauziehen. Von Zeit zu Zeit erhielt ich eine Benachrichtigung, aus der hervorging, daß die Ausfertigung der Protokolle in zwei Sprachen (chinesisch und englisch) Schwierigkeiten bereite, ich sie aber bald erhalten würde. Endlich, im Mai 1973, wurde ich von Ho Li-Liang im Namen des Botschafters und ihrer Genossen davon unterrichtet, man sei der Meinung, daß unsere Gespräche »zu lang und zu kompliziert« seien, als daß man sie als einen offiziellen Bericht der Partei oder der Regierung herausgeben könne. Aber es stünde mir frei, versicherte Ho Li-Iiang (und sie und der Botschafter wiederholten bei anderen Gelegenheiten diese Aufforderung), die erste Niederschrift zu veröffentlichen (deren Themen in den ausführlicheren Berichten, die mir Tschiang Tsching später gegeben hatte, wieder aufgegriffen wurden) und im übrigen meine eigenen Notizen zu verwenden. Ich sollte keine »Biographie« schreiben (da dies gegen den marxistischen, Grundsatz verstoßen würde, daß die Massenen und nicht die Führer Geschichte machten - und gegen die Auffassung. daß allein Mao die Quelle der Wahrheit und Weisheit sei), sondern eine Geschichte der Revolution, dargestellt »vom Standpunkt des Vorsitzenden Mao« aus. Wenn ich einige wenige Kapitel Tschiang Tsching widmen wolle, sei dagegen nichts einzuwenden.
»Aber ich bin mit dem Vorsitzenden Mao nicht zusammengetroffen und kenne daher seinen Standpunkt nicht«, erwiderte ich. »Sie können seine Werke lesen«, sagte Ho Li-Liang. Das, sagte ich ihr, hätten schon viele getan, sogar viele Ausländer. Aber was die persönliche Perspektive des Vorsitzenden angehe, so könnte ich wenig Neues hinzufügen, und dieses Wenige würde notwendigerweise auf dem beruhen, was mir Tschiang Tsching erzählt hatte. Ich erfuhr daraufhin, daß das Botschafterpaar den Auftrag Tschiang Tschings an mich, ihren »Standpunkt« ohne Abstriche zu veröffentlichen, zurückziehen sollte. Daß man mir, abgesehen von den ersten Niederschriften, alle Protokolle verweigerte, war betrüblich. Aber zugleich weckte es mein Interesse, ich sah nun deutlich die Widersprüche und die Interessenkonflikte innerhalb der chinesischen Führung. Die Sorge, die ich hinter ihrer verkrampften Gastfreundschaft in ihrer New Yorker Mission spürte, war - das wußte ich - nur der äußere Ausdruck sehr viel tiefergehender Zerwürfnisse, und diese wurden vor der chinesischen Öffentlichkeit stets durch allgemein gehaltene Erklärungen und Anordnungen des Vorsitzenden Mao verdeckt. Aber letzten Endes gab die Entscheidung, mir keine offizielle Version der Äußerungen Tschiang Tschings zu überlassen, mir meine Freiheit als Autorin dieses Buches zurück. Statt daß ich nur als Sprachrohr Tschiang Tschings fungierte, wie man es von mir erwartete, konnte ich jetzt berichten, was sie gesagt hatte, es mit anderen Ouellen vergleichen und interpretieren. Den Konflikt in der chinesischen Führung konnte ich nun aus meinem Bericht nicht mehr ausklammern. Zum Beispiel stellte ich mir die Frage: Hatte Tschiang Tsching, die mir die Protokolle versprochen hatte und die, solange ich in China war, jedes Versprechen gehalten hatte, sich plötzlich freiwillig dazu entschlossen, sie nicht zu autorisieren? Hatte Mao diesen Entschluß gefaßt? Oder hatten andere es verübelt, daß Tschiang Tsching die Regeln der revolutionären Anonymität mißachtete, tagelang allein unterwegs war, den mörderischen Konkurrenzkampf zwischen den Führern aufdeckte und Meinungen äußerte, die sich von denen Maos unterschieden oder überhaupt von niemandem geteilt wurden? Diese offenen Fragen bestärkten mich in meinem Entschluß, mich auf das umfangreiche Material zu verlassen, das mir Tschiang Tsching geliefert hatte. Meine Arbeit an dem Buch blieb der chinesischen Delegation bei den Vereinten Nationen nicht verborgen, und ihre Besorgnis wuchs. Offenbar war die Delegation aus Peking über die Substanz der Gespräche (und die Bedenken von höchster Stelle) informiert worden. Im Januar 1974 forderte Ho Li-Liang (die kurz zuvor drei Monate in Peking verbracht hatte) mich noch einmal eindringlich auf, keinen vollständigen biographischen Bericht zu geben, besser gesagt, »keine Geschichte der Revolution zu schreiben, die weitgehend den Standpunkt der Genossin Tschiang Tsching wiedergibt«. Ho fragte mich, ob ich mich nicht an das »Mai-Kommuniqué« erinnerte (im Mai 1973 hatten sie und Huang Hua mich davor gewarnt, ein Biographie zu schreiben), und sie bot mir eine finanzielle Entschädigung an, für den Fall, daß ich ihrer Bitte entspräche. Natürlich weigerte ich mich. Mit Rücksicht auf die ursprünglichen Wünsche Tschiang Tschings und weil ich sicher war, daß meine Aufzeichnungen von großem historischem Interesse seien, setzte ich meine Arbeit fort.
Was hohe chinesische Beamte zu unterdrücken suchten, das wollten ihre amerikanischen Kollegen ebenso begierig erfahren. Beauftragte des Büros von Außenminister Kissinger, das CIA und der FBI baten mich direkt und indirekt (durch Freunde und Kollegen) um vollständige Kopien der Protokolle und meiner persönlichen Notizen. Ich lehnte es aus zwei Gründen ab, ihnen die Kopien zu überlassen. Der erste: Kein Vertreter der chinesischen Regierung hatte in China versucht, mich als Überbringer politischer Informationen an die amerikanische Regierung zu benutzen, und keine Fragen der nationalen Sicherheit standen auf dem Spiel. Der zweite: Als Historikerin, die, als sie nach China ging, nur sich selbst repräsentierte, sah ich mich nicht verpflichtet, anderen mein noch nicht ausgewertetes Material auszuhändigen, bevor ich selbst die Maßstäbe von Präzision und Diskretion angelegt hatte. Zuerst wollte ich das Material zu einem Buch zusammenstellen, das der breiten Öffentlichkeit das ungewöhnliche Leben Tschiang Tschings, das untrennbar mit der Geschichte der Revolution verbunden war, nachvollziehbar machen konnte. Nachdem ich aus China zurückgekehrt war und ein Jahr in Stanford und später zwei Jahre an der HarvardUniversität verbracht hatte, wurde es publik, daß Tschiang Tsching mehrere ausführliche Interviews gegeben hatte, obwohl nur eine Auswahl des Materials in akademischen Kreisen und einigen Zuhörern bekanntgeworden war (ich hatte über Tschiang Tschings Leben, ihre Genossen und die chinesische Problematik insgesamt referiert). Es begann im Spätherbst 1975. In dieser Zeit fand das übliche Gerangel um mehr Einfluß unter den rivalisierenden chinesischen Führern unter den Mitgliedern der alten Garde wie unter den Emporkömmlingen größeren öffentlichen Widerhall als sonst. Die Chinaspezialisten der Presse griffen einige Bemerkungen auf, die ich privat oder öffentlich über die Interviews gemacht hatte. So konnte man unter anderem hören, daß Tschiang Tschings Indiskretionen gegenüber einer Ausländerin und die Enthüllungen der »geheimen Taktiken« des Vorsitzenden Mao ihren Sturz verschuldet hätten - sicher eine Übertreibung angesichts der Tatsache, daß Tschiang Tsching noch jahrelang nach den Interviews öffentlich aufgetreten war und die von ihr vertretenen Prinzipien noch lange Gültigkeit hatten. Im nächsten Frühjahr, als der mutmaßliche Nachfolger Tschou En-Lais, Teng Hsiao-ping, in Ungnade gefallen war, sahen Reisende in Kanton Wandzeitungen, auf denen Tschiang Tsching (die als treibende Kraft der Bewegung gegen die Rechten galt) angeprangert wurde, weil sie eine Biographie veranlaßt habe, die innerparteiliche Vorgänge und »für Mao peinliche persönliche Angelegenheiten« preisgab. Ähnliche Spekulationen, auch unsinnige Berichte über einen Diebstahl von Teilen meines Manuskripts aus meinem Büro in der Harvard-Universität und über die Übergabe dieser Texte an den amtierenden Premierminister Teng Hsiao-ping (der sie dann seinerseits an Mao weitergereicht haben soll) wurden im nächsten Frühjahr international verbreitet.
Solche Spekulationen über die Herren Chinas und ihre riskanten Kontakte mit dem Ausland passen sehr gut zu der Geschichte Tschiang Tschings. Bei der Rekonstruktion ihrer Vergangenheit kam immer wieder zur Sprache, wie sie in ihrem ganzen Leben von dem Klatsch verfolgt wurde, dem eine Frau, die um politischen Einfluß kämpft, unweigerlich ausgesetzt ist. Besorgt äußerte sie einmal, sie hoffe, mein enger Kontakt mir ihr und der Umstand, daß ich über sie schrieb, werde mich nicht ähnlichen Verleumdungen aussetzen.
Tschiang Tschings wechselnde Stimmungen, ihre Neigung, unvermittelt vom Persönlichen zum Allgemeinen und von großer Offenheit zu höflicher Korrektheit überzugehen, eigene Meinungen zu äußern und sich dann auf die Orthodoxie Maos zu berufen - das alles macht es ungewöhnlich schwierig, ihrer menschlichen und historischen Bedeutung gerecht zu werden. Ich zitiere Tschiang Tsching in diesem Buch wörtlich und indirekt, und ich füge meine Beobachtungen hinzu, die sich auf sie als Person und als Erzählerin beziehen. Wenn nötig stelle ich ihre Erinnerungen in einen größeren historischen Zusammenhang, der dokumentarisch belegt ist. Ihre unbegründeten Schmeicheleien - auch sie gehören zu ihrem politischen Stil - habe ich aus dem Manuskript gestrichen. Die Schwierigkeit, ein einheitliches Bild von Tschiang Tschings Vergangenheit zu zeichnen - eine Aufgabe, die sie als Gastgeberin, Erzählerin und Vorbild für ihr Volk nicht ohne fremde Hilfe erfüllen konnte, diese Schwierigkeit wurde noch dadurch erhöht, daß die chinesische Kultur uns fremd geblieben ist. Dies betrifft auch die sexuellen Tabus, von denen sich in China sogar eine entschiedene Revolutionärin nicht freimachen kann. Hinzu kommt noch das übersetzungsproblem (eine wortgetreue Übersetzung aus dem Chinesischen garantiert nicht immer Literatur) und die Vieldeutigkeit der starren marxistischen Terminologie, die heute in großem Maße den Alltag des chinesischen Volkes und seine Vorstellungen von der Außenwelt prägt.
Hätte der Vorsitzende oder das Zentralkomitee ein propagandistisches Buch über Tschiang Tsching gewünscht, dann hätten sie es selbst zusammenstellen und in beliebig viele Sprachen übersetzen lassen können. Mit einer von mir nur leicht redigierten Wiedergabe von Interviews, die den Charakter gesprochener Memoiren haben, wäre niemandem gedient, am wenigsten Tschiang Tsching, da ihr Weltbild einer Interpretation bedarf. Ein journalistisches Gemisch von sensationellen und nicht durchdachten Meinungen eine unvermittelte Konfrontation ihrer proletarischen Kultur mit der unseren - hätte das Ergebnis verfälscht. Tschiang Tsching hatte alles riskiert, um die verschlungenen Wege ihres Werdegangs und der politischen Entwicklung zu entwirren. In einer Wiedergabe des Redetextes wäre gerade das, worauf es ihr ankam, nicht deutlich geworden. Ich entschied mich dafür, Tschiang Tsching so zu präsentieren, wie es mir aus der Erfahrung unserer Gespräche heraus geboten erschien.
Ich ergänzte ihren Bericht und meine Beobachtungen durch distanzierte Beurteilungen. Denn ich war ja, wie Tschiang Tsching mehrmals nachdrücklich feststellte, keine Journalistin, sondern Historikerin.