Alleinstehende Frauen

Eine alleinstehende Frau! Hat diese Wortverbindung nicht etwas Klagendes an sich?!« Dieser Seufzer einer englischen Journalistin um die Mitte des 19. Jahrhunderts[1] fiel in den Chor der Stimmen ein, die in unzähligen Artikeln und Büchern das Problem der »überzähligen« Frauen, der sogenannten redundant women entdeckten.[2] Die viktorianische Gesellschaft war bestürzt über die »ungeheure und wachsende Zahl alleinstehender Frauen in der Nation, eine Zahl, die in ihrer Disproportion und Anomalie anzeigt, daß die Gesellschaft krank ist. Sie ist zugleich Ergebnis und Vorzeichen von Fehlentwicklungen und großem Elend. Hunderttausende von Frauen - womöglich noch mehr - aus der ganzen Gesellschaft, aber vorwiegend aus der Mittel- und Oberschicht, müssen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, anstatt das von ihren Männern verdiente Einkommen zu verwalten und auszugeben. Diejenigen Frauen, die sich nicht ihrer natürlichen Aufgabe als Gattin und Mutter widmen können, müssen sich einen künstlichen Weg bahnen und mühsam nach einer Erwerbsgelegenheit suchen; anstatt das Leben ihrer Lieben zu bereichern, zu versüßen und zu verschönern, müssen diese Frauen aus eigenen Kräften ein unabhängiges und unerfülltes Leben führen.«[3]
Den Begriff »Alleinstehende« gab es also schon im 19. Jahrhundert. Hinter den vielen Klagen und Zukunftsängsten in den damaligen Schriften tauchen eine Reihe von Fragen auf, die für die Zeitgenossen zum Problem wurden: Wer sind diese Frauen? Warum sind sie allein? Was ist zu tun? Die große Zahl unverheirateter Frauen - seit jeher Gegenmodell zur idealen Frau - galt als Indikator wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Turbulenzen. Deshalb gerieten die Alleinstehenden in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Doch was konnten diese mit dem Zerrbild der »alten Jungfer« belegten Frauen dem zeitgenössischen Beobachter von ihrem Leben schon zeigen außer der tragischen Maske einer Frau ohne Mann? In unserer heutigen Gesellschaft ist die Bezeichnung »alleinstehend« alltäglich geworden und dient weitaus weniger zur Etikettierung von Männern als von Frauen ohne Ehemann, von Witwen oder Junggesellinnen, mit oder ohne Kind.

Eine Frauensache

Zunächst einmal ist zu fragen, warum das Problem im 19. Jahrhundert einen solchen Umfang annahm und so neuartig wirkte. »Bei jeder Volkszählung überwog das schwache Geschlecht an Zahl« - diese Bemerkung Levasseurs klingt, als beklage er eine Entgleisung der Natur.[4] Während bei der Geburt schon immer jeweils 106 Knaben auf 100 Mädchen kamen, begann Europa erst im Zeitalter des Siegeszugs der Statistik den Frauenüberschuß zu entdecken und den Männermangel zu beklagen. Die ungleiche Verteilung der Geschlechter ging zum Teil auf historische Ereignisse zurück: Die Kriege und Gewaltakte der Revolution und der napoleonischen Zeit hatten einer großen Zahl junger Männer das Leben gekostet. Es wird geschätzt, daß in Frankreich allein aus diesem Grund 14 Prozent der von 1785 bis 1789 geborenen Frauen dazu verurteilt waren, dauerhaft ledig zu bleiben.[5]
Schriftsteller wie Balzac griffen dieses Argument gern auf. um zu erklären, warum es so viele alleinstehende Frauen gab: »Frankreich hat es erfahren, daß das Resultat des von Napoleon befolgten politischen Systems war, recht viele Witwen zu machen. Unter seiner Herrschaft waren die Erbinnen im Vergleich zu den heiratsfähigen Männern sehr in der Überzahl.«[6]
Diese erhöhte Sterberate bei Männern, die für ganz Europa im 19. Jahrhundert gilt, wurde weder durch die überhöhte Sterblichkeit der Frauen im gebärfähigen Alter, noch durch die überhöhte Sterblichkeit der schlechter als die Jungen versorgten und übermäßig mit Arbeit belasteten Mädchen zahlenmäßig kompensiert. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kam es zwar durch Hygiene und medizinischen Fortschritt allgemein zu einer Erhöhung der Lebenserwartung. Doch der Zugewinn der Frauen war deutlich höher als der der Männer. Was auch immer die Ursachen der höheren Männersterblichkeit gewesen sein mögen, ob geschichtliche, wirtschaftliche oder biologische, sie hatte in Gestalt von Ehelosigkeit, Witwenschaft und Alleinsein schwerwiegende Auswirkungen auf die Frauen[8] So wurden in Frankreich 1851 in der Gruppe der über fünfzig Jahre alten Menschen 27 Prozent ledige oder verwitwete Männer, aber 46 Prozent alleinstehende Frauen gezählt. Von diesen waren 12 Prozent Ledige und 34 Prozent Witwen.

Ein europäisches Muster

Hekatomben von Opfern haben Kriege nicht nur im 19. Jahrhundert und nicht nur in Europa gefordert. Doch unterschied sich dieser Erdteil von anderen durch ein Sondermerkmal. Die Ehe war keine universelle Institution. Seit Hajnal[9] haben zahlreiche demographische Untersuchungen das europäische Muster der Ehe herausgearbeitet. In Europa dienten Spätehe und Ehebeschränkungen als Mechanismen der Bevölkerungsregulierung, als eine Art Geburtenkontrolle, noch bevor es diese im eigentlichen Sinne gab. Es mag paradox erscheinen, daß ledige Frauen in der Geschichte erstmals sichtbar gemacht wurden, indem sie als Negativvariable in Untersuchungen zur Reproduktion der Bevölkerung eingingen. Aber diese Berechnungen haben ergeben, daß die lebenslange Ehelosigkeit von Frauen das Fruchtbarkeitsniveau um etwa 7 bis 8 Prozent gekappt haben muß.
Auch Anthropologen haben Ausnahmen von der Regel der Universalität der Ehe aufgezeigt. So wurde für Tibet zu Beginn dieses Jahrhunderts ein hoher Anteil eheloser Frauen nachgewiesen; in China und Indien durften Witwen der oberen Gesellschaftsschichten nicht wieder heiraten, sie blieben zu einer Art nachehelichem Zölibat verdammt.[10]
Aber in China war um 1930 unter tausend Frauen nur eine niemals verheiratet gewesen, während es bei den Männern drei von tausend waren. In Europa dagegen hat der Anteil der lebenslang ehelosen Frauen (also derjenigen Frauen, die bei ihrem Tod mindestens fünfzig Jahre alt und noch ledig waren) selten unter 10 Prozent gelegen. Langfristig betrachtet nahm die Ehelosigkeit von Frauen Ende des 18. Jahrhunderts am stärksten zu, um sich dann im 19. nach einer Spitze im ersten Jahrzehnt zu stabilisieren oder geringfügig zurückzugehen, während zugleich das Alter bei der Erstheirat sank.[11]

Geographische Unterschiede

Ehelosigkeit ist also ein typisches Phänomen der abendländischen Kultur, das deren gesamte Geschichte durchzieht. Deren Ursachen wären noch zu ergründen. Hierfür geben die ungleiche Verteilung der Ehelosigkeit zwischen einzelnen Ländern und innerhalb eines Landes je nach sozialer Schichtung eine Art Lupe an die Hand. Der Anteil lediger Frauen, der im ländlichen Rußland um 1897 unter 5 Prozent, in Preußen oder Dänemark um 1880 bei etwa 8 Prozent lag, erreichte in einigen französischen Departements oder portugiesischen Regierungsbezirken um die Jahrhundertmitte 20 und im Schweizer Kanton Obwalden 1860 sogar 48 Prozent.
Es gibt derzeit keine Gesamtuntersuchung der Ehelosigkeit in Europa, doch aus allen Monographien geht ein krasser Unterschied zwischen einem Nordosteuropa mit dem Vorherrschen der Regelehe und einem Südosteuropa mit signifikantem Anteil alleinstehender Frauen hervor. Auf nationaler Ebene sind die gleichen Unterschiede feststellbar.[12] So blieben etwa in Frankreich die Bretagne, die Halbinsel Cotentin, die Pyrenäen, der Südosten des Zentralmassivs und Ostfrankreich weiterhin Regionen mit hoher Ehelosigkeit und Witwenschaft, während deren Anteile im weiten Pariser Becken deutlich zurückgingen. In Deutschland bestand ein ähnlicher Unterschied zwischen den nordostdeutschen Staaten mit weniger als 10 Prozent und Bayern und Württemberg mit über 15 Prozent Ledigen unter den erwachsenen Frauen. In England gab es die meisten ledigen Frauen in den landwirtschaftlichen Regionen im Norden und in Wales.[13]
Die Kohärenz der Regionalstrukturen verweist über die eigentlich demographischen Parameter (Geschlechterrelation, differentielle Mortalität, Alterspyramide, Altersunterschied zwischen Ehegatten) hinaus darauf, daß das Vorkommen von Ehelosigkeit und Witwenschaft mit einer ungeschriebenen, aber im sozialen Bewußtsein tief verankerten Regel zusammenhing. Aufgrund der von den Volkszählern immer wieder hervorgehobenen Koinzidenz zwischen hoher Ledigenziffer, verbreiteter Spätehe und fehlender Empfängnisverhütung kann als Arbeitshypothese formuliert werden, daß hier ein Malthusianismus per Askese vorliegt. Die Kirchenoberen hätten dann mit ihren Enthaltsamkeits- und Tugendpredigten gegen die Zersplitterung des Familienerbes und zugleich ungewollt für Geburtenbeschränkung agitiert. Es hat deutlich den Anschein, als sei für Gebiete, »in denen Ehelose produziert werden«, auch ein Familientyp charakteristisch, zu dem die Unterwerfung unter den Paterfamilias und das Kontrollieren und Hinausschieben der Eheschließung ebenso gehörte wie die Regelung, daß pro Generation nur der Alleinerbe heiraten durfte, während die übrigen Nachkommen ehelos blieben und ohne Lohn als Gesinde auf dem Hof bleiben oder draußen in der Welt ihr Glück suchen mußten. Im 19. Jahrhundert lösten sich infolge des Verstädterung und Industrialisierung genannten
Strukturzerfalls diese Familienverbände auf. Sie setzten damit Arbeitskräfte frei, die nun für die wirtschaftliche Entwicklung dringend gebraucht wurden.

Die Anziehungskraft der Stadt

Vor dem Hintergrund dieser größeren Umwälzungen wurde die Stadt als traditionelles Auffangbecken für den Überschuß der Landbevölkerung zur Zuflucht der Alleinstehenden; sie erzeugte Ledige und zog sie zugleich an. Schon im Jahrhundert der Aufklärung waren zeitgenössische Beobachter verblüfft »über die Legion alleinstehender Frauen, die in den großen Städten leben, der Ehe entfremdet und auf eine unsichere Existenz angewiesen sind«.[14] Die französische Volkszählung von 1866 förderte zutage, daß drei Viertel aller Städte (307 gegenüber 104) vom »Frauenüberschuß« geprägt waren. Manche erreichten dabei Extremwerte: 61,4 Prozent Frauen in Saint-Jean-d’Angely, 60,2 Prozent in Avranches, 59,9 Prozent in Clermont, usw. Ein Vergleich[15] zwischen Preußen, Sachsen, Bayern, Belgien, Dänemark, England, Norwegen, der Schweiz, Weißrußland und Österreich hat für den Zusammenhang von Verstädterung und Ehelosigkeit folgende Regelmäßigkeit nachgewiesen, die ausnahmslos für Frauen gilt: Ehelosigkeit war unter der Stadtbevölkerung stets weiter verbreitet als auf dem Land (in Sachsen, Dänemark und Weißrußland sogar doppelt so hoch), und geheiratet wurde in der Stadt im allgemeinen später.
Erst durch ihren Zuzug in die Stadt ist die alleinstehende Frau sichtbar geworden. Das gilt für die zeitgenössischen Beobachter, die selbst in der Stadt lebten und die Verhältnisse in ihrem unmittelbaren Umfeld zu beschreiben versuchten. Sichtbar wurden alleinstehende Frauen vor allem, weil sie in ein vorhandenes Gesellschaftsgefüge hineindrängten. Sobald sie ihre Familie, wo Töchter, Schwestern oder Tanten seit jeher unbezahlte Arbeitskräfte in Haus und Hof gewesen waren, verließen, waren sie auf den Markt der Lohnarbeit verwiesen und allen seinen Ungewißheiten ausgesetzt. Der fortschreitende Niedergang des ländlichen Gewerbes und die allgemeine Beschäftigungskrise in der Landwirtschaft zerstörten die traditionelle Eingliederung der alleinstehenden Frauen in die bäuerliche Wirtschaft. Sie wurden zu Randexistenzen.
Zur selben Zeit scheinen junge Frauen die früher übliche temporäre Wanderung über kurze Distanz hin zu Land- und Kleinstädten aufgegeben zu haben. Auf der Suche nach Lohnarbeit wanderten sie nun zunehmend endgültig und über größere Entfernungen vom Lande ab. Ihre Abwanderungsziffern lagen schließlich über denen der Männer. Allerdings hatte dabei das Abenteuer der Auswanderung nach Übersee für Frauen weniger Reiz, es sei denn, sie fuhren zusammen mit dem Ehemann hinaus oder als Missionarinnen - diese Ausnahmegestalten, die sich berufen fühlten, weitentfernte Heiden zu bekehren.[16] Frauen blieben im Lande und blieben allein. So bewirkte etwa in Norwegen der Massenaufbruch nach Amerika um die Mitte des Jahrhunderts einen Männermangel, den Frauen mit dem Status der dauerhaft Ledigen - sie machten in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zu 21,8 Prozent aus - und Witwen mit einer geringen Aussicht auf Wiederheirat bezahlen mußten.[17]

Mündige und aktive Frauen

Der von der Viktorianischen Presse unisono verkündete und in ganz Europa mehr oder minder deutlich empfundene Skandal lag weniger in der großen Zahl alleinstehender Frauen als in deren unbestimmter sozialer Identität. Diese Frauen schienen zufällig oder irrtümlich aus ihrer legitimen Stellung verdrängt worden zu sein und galten als »überzählig«. »What shall we do with our old maids?« fragte sich Frances P. Cobbe in Fräsers Magazine.[18] Im Rückblick läßt sich erkennen, wie entscheidend diese zugleich geographische, soziale und kulturelle Verlagerung des gesellschaftlichen Platzes von Frauen für die Geschichte der Frauen und ihren Kampf um ökonomische Selbständigkeit war. Die Maxime lautete weiterhin, ohne Ehe kein Glück.
Doch der Code Napoleon, der bei den europäischen Nachbarn Schule machte, ließ ledigen Frauen eine Wahl: Sofern sie unverheiratet war, wurde der Frau die volle Rechtsmündigkeit und damit Geschäftsfähigkeit und Verfügungsberechtigung über ihre eigene Person und ihr Hab und Gut zuerkannt. Anders als die Ehefrau erhielt die feme sole gleiche Zivilrechte wie ein Mann, ohne allerdings auch im politischen Sinn Vollbürgerin zu sein. Während verwitwete, getrennt lebende oder geschiedene Frauen im allgemeinen von der Familie oder vom Staat unterstützt wurden, mußten volljährig gewordene Töchter, sofern sie nicht dauerhaft von Zinseinkünften leben konnten, meistens ihre Familie verlassen und für sich selber sorgen.
Als zeitgleiche Entwicklungen markieren das Hineindrängen alleinstehender Frauen in den Arbeitsmarkt, die Zunahme weiblicher Erwerbstätiger und das Wachstum des Dienstleistungssektors einen tiefgreifenden Strukturwandel. Anhand von Volkszählungen läßt sich der Umfang des Phänomens gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich ermessen: »Während in der Landwirtschaft Männer und Frauen verheiratet sind, sind in Gewerbe und Dienstleistungen einzig die Männer zu 80 Prozent verheiratet und die alleinstehenden, ledigen oder verwitweten Männer machen weniger als 20 Prozent aus. Demgegenüber scheinen die außerhalb der Landwirtschaft erfaßten, erwerbstätigen Frauen häufig aus Not zur Arbeit gezwungen zu sein, denn fast die Hälfte von ihnen ist ledig, verwitwet oder geschieden.«[19]
1906 wurden für Frankreich unter den weiblichen Erwerbstätigen im Alter zwischen fünfundzwanzig und vierundvierzig Jahren in der Landwirtschaft 8,5 Prozent Alleinstehende gezählt, dagegen in Gewerbe und Dienstleistung 33 Prozent.
Mit ihrem Eintritt in die Berufswelt setzten sich alleinstehende Frauen den Wechselfällen des Wirtschaftslebens aus. Das Niveau ihrer Ausbildung scheint ausschlaggebend dafür gewesen zu sein, welchen neuen Berufsfeldern sie sich zuwandten. Die Auswahl an Berufen, die ihnen offenstanden, war beschränkt. Doch wo immer Frauen einen Beruf für sich erorberten, veränderten sich durch diese neue Konkurrenz und deren Abwehr die traditionelle Solidargemeinschaft und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Nur allmählich aber wandelte sich auch die Mentalität der Menschen so, daß in ihrem Bewußtsein schließlich die neue Wirklichkeit mit dem Bild der arbeitenden Frau einen Platz erhielt.

Einsam unter fremdem Dache

Das 19. Jahrhundert hatte das Dienstbotenwesen nicht erfunden. Vormals allein Adelskreisen vorbehalten, wurde es aber nun zum Bedürfnis und unerläßlichen Geltungssymbol des Bürgertums. Mit dieser »Demokratisierung« ging einher, daß der Gesindedienst immer weniger männlich und hierarchisiert war und zunehmend weiblich und entwertet wurde. Alle großen Städte Europas zogen Mädchen vom Lande an, die keine anderen Qualifikationen als körperliche Leistungsfähigkeit und Jugend mitbrachten. Manche Mädchen waren erst vierzehn oder gar erst dreizehn Jahre alt. München, das 1828 70 000 Einwohner hatte, zählte damals etwa 10000 Dienstboten, also fast 14 Prozent der Bevölkerung. In London arbeiteten in den 1860er Jahren ein Drittel der Frauen im Alter von fünfzehn bis vierundzwanzig Jahren als Dienstmädchen. Der gleiche Bevölkerungsanteil gilt 1882 für Preußen. Dort waren 96 Prozent aller Dienstmädchen ledig. Ob Berlin, Leipzig, Frankfurt, Paris, Lyon, Prag - es gab keine Stadt in Europa, die nicht einen Großteil zugewanderter, armer, dienstbarer und alleinstehender Frauen beherbergte.
Als Vorbereitung für die Ehe war das Dienstbotendasein ein Durchgangsstadium, um für eine Heirat anzusparen (viele Dienstmädchen vertrauten ihre Rücklagen der Sparkasse an), sich in Hauswirtschaft auszubilden und nicht zuletzt um mit ein wenig städtischer Kultur und Bildung den Weg zum sozialen Aufstieg zu ebnen. Die Löhne der Dienstmädchen waren übrigens höher als die der Textilarbeiterinnen, und etwa ein Drittel stieg am Ende der Dienstzeit durch Heirat auf.[20]
In jedem Falle lag das Alter der Dienstmädchen bei der Hochzeit weit über dem mittleren Heiratsalter. Doch wie bereits die hohe Zahl der fünfzig Jahre alten und älteren alleinstehenden Frauen im häuslichen Dienst zeigt, wurde das Dienen häufig zum Dauerzustand und verurteilte viele Tausende von Frauen zum Zölibat.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildete sich unter dem Personal eine neue Hierarchie heraus. Höhergestellt als Dienstmädchen waren Hauslehrerinnen und Gouvernanten, »mamzelles« oder »Miss« genannt. Sie stammten häufig aus bescheidenen Verhältnissen, waren Töchter von Pastoren oder kleinen Beamten, Waisen oder Mädchen aus kinderreichen Familien. Es war diese von den Schwestern Bronte in Jane Eyre und Agnes Grey verewigte Kategorie, die vornehmlich das Augenmerk zeitgenössischer Beobachter auf sich zog. Das Elend der Arbeiterinnen oder der Dienstmädchen wurde als unabänderliches soziales Schicksal hingenommen. Daß aber bürgerliche Frauen zur Arbeit unter schwierigen Verhältnissen gezwungen waren oder nach dem Tod der Eltern mit vierzig oder fünfzig Jahren erstmals einen Erwerb suchen mußten, erschien in der Wahrnehmung der Oberschicht viel auffälliger und mitleiderregender. Gouvernanten waren in Rußland, Deutschland oder Frankreich gleichermaßen verbreitet, erlangten aber größte Bedeutung in England. Dort hatte das viktorianische Modell, das keine andere Alternative als die der Mutter oder Hure anzubieten hatte, die spinster zum Muster von Reinheit, Güte, Jungfräulichkeit und Opfermut erhoben.
Neben der Masse von 750 000 Dienstmädchen in England im Jahre 1851 wurden zwar nur 25 000 Gouvernanten gezählt, doch wurden sie trotz dieser bescheidenen, wirtschaftlich unbedeutenden und politisch unsichtbaren Gesamtzahl Leitfiguren für die Werte, Probleme und Ängste der viktorianischen Mittelschicht. Der Definition nach war die Gouvernante Hauslehrerin oder Gesellschaftsdame und Erzieherin der Kinder einer Familie. In Wirklichkeit aber lebte sie in einem schmerzlichen Widerspruch zwischen den Werten ihrer Erziehung als gentlewoman und den Aufgaben, die sie gezwungenermaßen wahrnehmen mußte. Als Symbol der neuen Macht der Mittelschicht (man brüstete sich mit ihr, sie wurde Gästen vorgeführt), auch als Symptom dafür, daß die Frau des Hauses nunmehr für müßigen Zeitvertreib und für ihre Rolle als Zierde des Hauses freigestellt war, wurde die Gouvernante, auch wenn ihr Status als lady gewahrt blieb, allein durch das Faktum der Arbeit gegen Lohn auf der sozialen Leiter nach unten gedrückt. Von Schicksalsschlägen getroffen (Tod des Vaters, Bankrott der Familie), war sie als notleidende Bürgerstochter gezwungen, sich mit ihrer Bildung gegen Bezahlung zu »prostituieren«. Im Konfliktdreieck zwischen Eltern und Kindern konnte die Gouvernante nur bei den anderen Dienstboten Trost suchen. Mit Kost, Logis und einem geringen Entgelt konnte sie bei Krankheit, im Alter oder nach einer Kündigung nur noch bei Wohlfahrtseinrichtungen wie der Governesses Benevolent Institution (ab 1841) Hilfe suchen.
»Einsam unter fremdem Dache!« Das war in der Tat die bittere Erfahrung von Dienstmädchen und Gouvernanten. Sie hatten mit vielen Umgang, aber zu niemandem eine enge Beziehung, sie waren verbannt ohne Aussicht auf Heimkehr, sie wirtschafteten in Haushalten, hatten aber keine eigenen vier Wände. Dieses Eingeschlossensein, das die Kontrolle über den Körper und die Negation der eigenen Identität bedeutete, galt auch in weiten Bereichen von Industrie und Gewerbe.

Industrieklöster

Die Arbeiterin, ob hochgelobt oder in Grund und Boden verdammt, war im 19. Jahrhundert das Sinnbild aller arbeitenden Frauen. Die Arbeiterin wird uns meist als Gattin und Mutter vorgestellt. Das Bild ist irreführend. Im Laufe des Jahrhunderts kam es im Zuge von Mechanisierung und Spezialisierung zu einer grundlegenden Umwälzung der Arbeitsorganisation in Fabriken und Werkstätten. Immer neue Arbeitsformen mit noch größerer Vereinzelung wurden ausprobiert. So rekrutierten die Seidenklöster um Lyon,[21] die seit 1830 nach dem Vorbild von Lowell, Massachusetts, gegründet wurden, mit dem Segen der Familien und der Kirche ungelernte und fügsame weibliche Arbeitskräfte. Damit sollte die Moral gehoben werden, denn junge Zuwanderinnen vom Lande, so hieß es, seien Krisen und Versuchungen ausgesetzt und könnten leicht in die Prostitution abgleiten. Reybaud kommentiert:

»Diese jungen Dinger vom Lande, von den Eltern ihrem Schicksal im Trubel der Großstadt überlassen, finden dort immerhin eine Zufluchtsstätte, in der sie etwas lernen können, ungefährdet, ruhig, sicher und geschützt vor einem unsittlichen Lebenswandel, dem sich vordem nur wenige entziehen konnten und in den sie durch Unerfahrenheit, Eitelkeit und oft blanke Not meist unweigerlich hineinrutschten. Hier werden sie vor den Männern wie vor sich selbst behütet.«

So wurden regelrechte »Industrieklöster« im französischen Jujurieux, in Tarare, La Seauve, Bourg-Argental gegründet, aber auch in der Schweiz und in Deutschland, in England und in Irland. In einer Art Rollenverteilung vertraten sie die »gemeinsamen« Interessen von Gewerbe und Kirche und unterwarfen die jungen Frauen solange mit Leib und Seele einem harten Regiment von Fleiß und Moral, bis sie am Ende einen Ehemann fanden. Die Zahl der in der Lyoner Region um 1880 derart »kasernierten« jungen Frauen wird auf 100 000 geschätzt.

Ein hoher Preis

Die Kasernierung, die vor allem jungen Frauen galt und bei der nicht nur die Arbeit, sondern auch tägliches Verhalten, Umgang und Persönlichkeitsentwicklung überwacht wurden, wurde auch in anderen Sektoren der sich modernisierenden Wirtschaft eingeführt. Das galt besonders für die Kaufhäuser. Die meisten der ausschließlich vom Lande rekrutierten Verkäuferinnen in den Pariser Kaufhäusern hatten keine Alternative zum firmeneigenen Wohnheim. In jeder Lebensäußerung bevormundet, mußten sie ledig sein und bleiben, denn heiraten war allemal ein Kündigungsgrund. Diese französischen Zustände standen in Europa durchaus nicht allein da. Auch in Deutschland und Österreich mußten bis 1919 Lehrerinnen und weibliche Staatsangestellte unverheiratet sein und bleiben. Auch in der Privatwirtschaft hatten Telefonistinnen, Stenotypistinnen, Verkäuferinnen und Kellnerinnen mit der Heirat ihre Stellung aufzugeben. Zwar hatten die Regierungen verschiedener deutscher Staaten und Österreichs das Recht auf Eheschließung auch generell reglementiert und die Möglichkeit geschaffen, Mittellosen die Heirat zu verweigern; auch mußten sich manche Gruppen von Beamten in Sachen Heirat einer Quotenregelung unterwerfen oder die Genehmigung des Vorgesetzten einholen; doch die Erfindung der Unvereinbarkeit von Arbeit und Ehe gilt im 19. Jahrhundert bezeichnenderweise einzig für Frauen und erinnert an ein säkularisiertes Priesterinnentum überall dort, wo Frauen in ihrer Berufsausübung einem humanistischen Ideal nacheiferten (Krankenschwester, Lehrerin, Sozialarbeiterin). Kurzum, Frauen, die aus eigenem Entschluß oder aus Not Erwerbsarbeit leisteten, wurden vor die Wahl gestellt, ihre soziale Identität und ihr Frauenschicksal zu besiegeln: entweder Beruf oder Familie. Die Barrieren dazwischen waren weniger gesetzlich vorgegeben als Ausdruck des gesellschaftlichen Kräftespiels, dessen Beharrungsvermögen eigene Gesetze schrieb.
Die Ehelosigkeit der Frau nach abendländischem Muster paßte vorzüglich in die ökonomische Logik des 19- Jahrhunderts, und diese wußte daraus durchaus Vorteile zu ziehen. Der Frau konnte von Berufs wegen Alleinsein auferlegt werden, »weil dieses der Schmierstoff war, der den gesamten Wirtschaftsbetrieb reibungsloser laufen ließ«.[22] Weibliche Angestellte, die meist aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammten, Distanz zu den Arbeiterinnen wahren wollten und oft gebildeter waren als der Durchschnitt der Zeitgenossinnen, strebten nach einem gehobeneren geistigen und gesellschaftlichen Rang. Doch genau dieses Streben, zusammen mit den Zwängen und psychologischen Investitionen des Arbeitslebens hinderten sie, einen Mann zu finden; als Alleinstehende bekamen sie dann die Last des Mißtrauens und Mißkredits zu spüren. So trieb der berufliche Einsatz einen Großteil der in der zweiten Jahrhunderthälfte immer zahlreicheren Verkäuferinnen und Postfräulein, Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen in eine ausweglose persönliche Situation. Sie bezahlten einen hohen Preis, um ein paar Sprossen der sozialen Leiter zu erklimmen.[23]
Der Staat, der in allen europäischen Ländern der erste Arbeitgeber für Frauen war, war auch der erste Produzent von zeitlebens ledigen Frauen. Das ist besonders für das Fernmeldewesen in Frankreich, England, Deutschland und Norwegen hervorragend nachgewiesen worden.[24] So beschäftigte der französische Staat Anfang des 20. Jahrhunderts 53,7 Prozent alleinstehende Frauen, aber nur 18,9 Prozent alleinstehende Männer. Auffallend ist, daß unter den Frauen (Ledige oder Witwen) in den höheren Gehaltsgruppen mehr Alleinstehende waren, während dies bei den Männern umgekehrt in den unteren Gehaltsgruppen der Fall war.[25] Weibliche Angestellte heirateten später als Arbeiterinnen und hatten nur halb so viele Kinder. Es drängt sich die Hypothese auf, daß Ehelosigkeit mit Bildungsstand korrelierte. Zwischen 1870 und 1900 blieben 75 Prozent der Oberschullehrerinnen in den Vereinigten Staaten ledig. In Frankreich waren in den ersten zwanzig Jahren des mit dem Gesetz Camille See im Dezember 1880 eingeführten Oberschulunterrichts für Mädchen die Laufbahnbeamtinnen unter den Lehrkräften und im Verwaltungspersonal zu 62,5 Prozent ledige Frauen. Gleich hoch war deren Anteil im Grundschulwesen, und er stieg für Handarbeits-, Sport- oder Zeichenlehrerinnen auf über 75 Prozent.[26] Mit der allgemeinen Zulassung der Frauen zum Oberschullehrerberuf und zum höheren Verwaltungsdienst im 20. Jahrhundert verstärkte sich dieses Phänomen noch.

Die religiöse Prägung

Der Zugang zur Kultur schien eine stattliche Zahl von Frauen von der Ehe fernzuhalten. Das galt vor allem für diejenigen, die nun ihre intellektuellen Fähigkeiten einsetzten. Deren mögliche Existenz war lange angezweifelt worden, weil Hirn und Gebärmutter sich angeblich nicht gleichwertig entwickeln konnten, wie gewisse »Denker« zu formulieren beliebten. Dagegen zogen die sozialen Berufe alleinstehende Frauen gerade deshalb an, weil dort die ihnen schon immer zugeschriebene Herzensgüte und Hingabe gebraucht wurde.
Jenseits des Hauses sollten alleinstehende Frauen häusliche Tugenden in die Welt hinaustragen und damit die Moral in Fabriken, Krankenhäusern, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen wieder heben. Man ist versucht, für die Sozialarbeit das in den Vereinigten Staaten, England und Deutschland übliche protestantische Muster mit seinen Diakonissen, Missionarinnen und Wohltätigkeitsvereinen dem besonders gut für Frankreich und Italien untersuchten katholischen Muster von Gemeindearbeit und wohlhabenden Stifterinnen gegenüberzustellen.[27] Hier aber soll mehr deren Gemeinsamkeit hervorgehoben werden, daß nämlich die »soziale Frage« in Industriegesellschaften im wesentlichen durch die ehrenamtliche Arbeit alleinstehender Frauen bewältigt wurde. Die verschiedenen Strömungen der religiösen Erweckungsbewegung, in Deutschland und in den Niederlanden der Pietismus, in England der Methodismus und in den katholischen Ländern der Marienkult, nahmen sich der »überzähligen« Frauen an. Sie nutzten über Generationen die Energien dieser Randgruppe und boten tatkräftigen Frauen verantwortliche Positionen, in denen sie Initiative zeigen konnten. In diesen Emanzipationsräumen nahmen sich die »Berufenen« der sozio-ökonomischen Fragen und politischen Diskussionen an und entwickelten dabei neue Ambitionen.
Diese Frauengemeinschaften waren praktisch die einzigen »Unternehmen«, die vornehmlich während des Noviziats eine Berufsausbildung, dann verschiedene Berufsmöglichkeiten und nicht zuletzt einen rechtlichen Rahmen boten, um Glauben und Handeln miteinander zu vereinbaren. Kühnheit, Können und Phantasie kamen dabei ebenso zum Einsatz wie Selbstversenkung, Gebet und Spiritualität. Der weibliche Katholizismus bezeugt eine Glaubensgewißheit, die die Introspektion, die höchste Steigerung des Mystizismus und die persönliche Beziehung zu Gott begünstigte.
Der Erfolg dieser Vereinigungen, der die Leistungsfähigkeit organisierter Frauen in Pflege- und Sozialberufen unter Beweis stellte, nährte damit gleichzeitig die hartnäckige Vorstellung, daß es im Bildungswesen und erst recht in den diversen Sektoren des Gesundheitswesens und der Wohlfahrtspflege spezifische Frauenberufe gebe. Welche ungeheure Arbeit damals unentgeltlich geleistet wurde, ist bislang nicht einmal annähernd geschätzt worden. Doch wurde deren geringer Preis bestimmend dafür, daß sich Ehelosigkeit als Voraussetzung für die Ausübung bestimmter Berufe auf Dauer durchsetzte.
Die »neuen Frauenberufe« vom Ende des 19. Jahrhunderts waren doppelt geprägt vom Vorbild der Religion und der Metapher der Mütterlichkeit: Hingabe/Verfügbarkeit, Bescheidenheit/Unterwürfigkeit, Selbstverleugnung/Aufopferung, das waren Leitthemen, die in den päpstlichen Unterweisungen zur Ehrenrettung der alten Jungfern sehr angelegentlich aufgegriffen wurden.[28] Das Ideal religiösen Jungfrauentums läßt sich bis zur Urkirche zurückverfolgen. Doch angesichts des »Frauenüberschusses« und der Geißel des sozialen Elends predigten die Kirchenoberen nun das Bündnis von Martha und Maria. Die Selbstversenkung sollte eine Anteilnahme an der Welt nicht länger ausschließen. So wurde die unfreiwillig ledig gebliebene junge Christin - war ihr Ledigbleiben nicht ein Wink der göttlichen Vorsehung? - aufgerufen, zur »Erzieherin und Führerin ihrer Mitschwestern« zu werden. »Sie möge sich hauptsächlich solchen Aufgaben widmen, die Takt, Feingefühl und Mutterinstinkt weit mehr erfordern als bürokratische Härte.«

Brüche und Widersprüche

Doch daß demographische Probleme von Glaubensgemeinschaften aufgefangen wurden, reichte nicht aus, um die Ehe zu retten. Es scheint, als hätten sowohl die viktorianische Erziehung wie die katholische Moral mit ihren Lehren von Keuschheit und Entsagung einen Keim für das Aufbegehren gegen die Ehe gelegt. Daß die Ehe unglücklich sein konnte, war nicht erst eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts. Doch das öffentliche Nachdenken über Mittel und Wege, dem Zerfall der Familie entgegenzuwirken, förderte zutage, wie sehr sich die ehrwürdige Institution gewandelt hatte. Sobald es gesetzlich möglich war, reichten vorwiegend Ehefrauen die Scheidung ein (in 80 Prozent der Verfahren). Sie nahmen die bis dahin stumm erduldeten Mißhandlungen und Gewalttätigkeiten immer seltener hin. Gegen Ende des Jahrhunderts wuchs die Zahl der Scheidungsverfahren in Europa exponentiell. Es hat den Anschein, als sei das Recht auf Scheidung zur Bekräftigung schon lange bestehender Trennungen von Tisch und Bett genutzt worden. Außerdem war es die verprügelte und nicht die betrogene Frau, die den Bruch forderte. Trotz unterschiedlicher Gesetzgebung und einer je nach Land jeweils anderen Scheidungsrate[29] wurde das Recht auf Ehescheidung oder zumindest Trennung für die Frauen zu einem Instrument der Befreiung.
Am raschesten breitete sich die Ehescheidung in protestantischen Ländern (allerdings nicht in England, wegen der hohen Kosten), in den Städten und in der Mittelschicht aus. Die Voraussetzungen für eine Scheidung als freiwilliges Alleinbleiben oder erstrittene Freiheit verbesserten sich zudem in dem Maße, wie sich die Mädchenoberschulen verbreiteten und sich allgemein der Wohlstand erhöhte.
Während von der gesetzgeberischen Rhetorik her alle Beschlüsse, die die Scheidung ermöglichten, abschafften oder erneut einführten, zu nichts anderem dienten, als die Familie zu retten oder die Gesellschaft mit der Ehe als Norm wiederherzustellen, kam gleichzeitig die Kritik an der Ehe in Gang.
Trotz der Frauenhasser, die eine »Invasion von Pedantinnen, die ebenso wie  die  Barbaren  unfähig  seien,  die Welt  zu  befruchten«,[30] brandmarkten, widmeten sich die Frauen der Schriftstellerei. Ihr Tun wurde zum Protest, zum Aufschrei gegen das häusliche Eingesperrtsein und zugleich zur Bekräftigung der eigenen Identität und zum Mittel der
wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Ihnen ging es nicht mehr um die Institution Ehe, sondern um das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Das Liebesideal schien unerreichbar, solange ein Geschlecht dem anderen nicht gleichgestellt, sondern ihm unterlegen, von ihm abhängig war. Große Schriftstellerinnen machten der Ehe den Prozeß und wagten sogar selbst vorzuleben, was sie schreibend eingefordert hatten. Doch wie viele der heute vergessenen Feuilletonistinnen oder Gelegenheitsschriftstellerinnen klammerten sich weiterhin an die billigen Volksromane wie an einen Rettungsanker, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ledige, Witwen, Geschiedene oder Getrennte, sofern sie nur ein Minimum an Bildung genossen hatten, fanden durch das neugeschaffene Urheberrecht ein bescheidenes Auskommen.
Was Frauen schrieben, wurde nicht immer veröffentlicht. Häufig ist es verborgen, geheim geblieben, wenn es nicht gleich ins Feuer oder in den Müll wanderte. Wer zufällig eines dieser intimen Tagebücher, etwa von Lee V. Chambers-Schiller,[31] in die Hand nimmt, entdeckt mögliche Gründe für das absichtliche Ledigbleiben. Häufig waren es die Umstände, aber noch häufiger ein durch den eigenen Bildungsgrad motiviertes Unabhängigkeitsstreben. Zwischen dem amerikanischen Unabhängigkeits- und dem Bürgerkrieg behaupteten viele, allerdings hinsichtlich Wohlstand und Bildung privilegierte Frauen, lieber die Freiheit als die Ehe gewählt zu haben: »Denn die Freiheit ist für die meisten von uns der liebenswertere Gatte.«[32] Lieber ledig bleiben als in der Heiratslotterie die eigene Seele verlieren: Dieses Prinzip paßte haargenau zum Ethos des Individualismus, das die abendländische Kultur im 19. Jahrhundert fortschreitend durchdrang. Es erhielt im wörtlichen Sinn seine Weihen im Bündnis mit dem Protestantismus. Dieses im nachhinein idealisierte und begründete Alleinbleiben wurzelte in der Tat in der protestantischen Auffassung von Vervollkommnung. Der Vorrang des Individuums vor den Institutionen der Menschen und besonders vor der Institution Ehe führt zur Vorstellung vom individuellen Heil »alone with God«. Vor das Jüngste Gericht tritt die Frau allein, ohne Ehemann, ohne Kind, und verantwortet sich selbst. Der Begriff der Single blessedness[33] zur Bezeichnung des Zölibats kam in amerikanischen Texten zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, und darum rankte sich ein regelrechter Kult. Seine Anhängerinnen weihten sich ihm in Glückseligkeit und Selbstaufgabe durch Sublimierung, wobei Güte, Nützlichkeit und Glück harmonisch miteinander verschmolzen. Daher ist es kaum erstaunlich, daß es bei den Quäkern um 1840 bis zu 40 Prozent ledige Frauen gab.

Ein gefordertes Recht

Alle diese Formen des Aufbegehrens fanden in den sozio-ökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts einen fruchtbaren Boden für eine wahrhaft kulturelle und politische Bewegung zugunsten einer weiblichen Autonomie, die auf Eheverzicht basieren sollte. Nach dem Beispiel vieler Frauenrechtlerinnen wie Pauline Roland, die öffentlich verkündete, sie entsage der Ehe, oder Florence Nightingale, die sich nicht selbst aufgeben und an das Schicksal eines Mannes binden wollte, erklärten Frauen wie Christabel Pankhurst, die Eheverweigerung von Frauen sei eine sexuelle Versklavung. [34] In den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts wurden regelrechte und in England besonders heftige Kampagnen gegen Gewalt in der Ehe und sexuellen Mißbrauch geführt. Als Selbstschutz und um ihren Kampf öffentlich zu machen, kamen damals Frauen zu dem radikalen Entschluß, auf Sexualität endgültig zu verzichten. Christabel Pankhurst war sicherlich nicht die einzige, die diese Entscheidung traf, denn 1919 waren 63 Prozent der Mitglieder der Women's Social and Political Union Junggesellinnen und die meisten übrigen Witwen. Der Zölibat wurde damals als eine Art Ehestreik, als vorläufiger Familienstand und politische Drohgeste betrachtet und als so lange notwendig, wie sich in der Gesellschaft noch kein neues soziales Bewußtsein entwickelt habe.
Seit 1870 setzte sich die Gestalt der lebensfrohen, städtischen, wohlsituierten, reiselustigen, kulturbeflissenen Junggesellin, die den bürgerlichen Frauenrollen demonstrativ den Rücken kehrte, in verschiedenen Bereichen des künstlerischen Schaffens und öffentlichen Lebens durch und stellte so die Möglichkeit ganz anderer Frauenschicksale vor. Dieser selbständige Lebensentwurf entwickelte sich in England und den Vereinigten Staaten, wo die größten Fortschritte im Eigentums-, Scheidungs-, Bildungs- und Wahlrecht gemacht worden waren, und erlangte eine immer stärkere Ausstrahlung. Allmählich entstanden Vorstellungen von wirtschaftlicher Selbständigkeit und freier Liebe und schufen den Mythos der »neuen Frau«.[35]
Doch der Drang, in allen Bereichen Freiheiten auf gleichem Fuße mit den Männern zu erlangen, ähnelt einer symbolischen Ablehnung von deren Hegemonie. Wissenschaftler, Ärzte oder Sexualwissenschaftler warfen eben deshalb das Nein zur Ehe mit der Forderung nach einer Berufslaufbahn und der Ablehnung des geheiligten Vorbilds der Gattin und Mutter in einen Topf und bemühten sich nach dem Vorbild des Wiener Psychiaters Richard von Krafft-Ebing, das Verhalten dieser Vorkämpferinnen mit aller Gewalt ins Lächerliche zu ziehen und sie als Lesbierinnen zu etikettieren.[36] Sie nahmen damit die alte Verurteilung der »Entartung der Gebärmutter« wieder auf, die schon im 18. Jahrhundert erfunden und in allen gelehrten Diskursen des 19. Jahrhunderts weiter bearbeitet worden war.

Das Gewicht der Bilder

Der Kampf zwischen der Verklärung der Ehe und der grotesken Überzeichnung des Altjungferndaseins wurde immer wieder geführt. Von der Drohung bis zur Beleidigung und ungeachtet aller je besonderen Merkmale und unterschiedlichen Diskussionsniveaus (lexikalischer oder wissenschaftlicher Wortschatz, Spruchweisheit oder Romanfigur) läßt sich feststellen, daß den Bezeichnungen für eine Frau ohne Mann stets ein diskriminierendes Frauenbild zugrunde liegt. Als »Hagestolze« werden dagegen vorwiegend »Genies« und »große Schriftsteller« vorgestellt.[37]
Virago, Lesbierin, Amazone, Hure, Grisette, Blaustrumpf - diese Schimpfnamen für die alleinstehende Frau hatten keine Begründung in der Sache und waren doch in der ganzen abendländischen Kultur verbreitet. Das literarische Konstrukt der alten Jungfer und der Alltagsgebrauch dieses Stereotyps gehören wesentlich zum 19. Jahrhundert.[38] Inkeiner anderen Epoche und auch nicht für das männliche Geschlecht war jemals so viel über Physiognomie oder Physiologie, Charakter oder gesellschaftliches Dasein der alleinstehenden Frau erfunden worden. Sobald das Bild der alleinstehenden Frau schärfer geworden war, gab es so gut wie keine Aussage mehr, die nicht auf die Abweichung vom weiblichen Ideal Bezug nahm, das durch Rechtsstatus, Liebesauffassung, biologischen Determinismus und Schönheitskatalog fixiert war.
Das ganze spielte sich so ab, als wären die alleinstehenden Frauen damals zum Kristallisationspunkt aller Ängste vor einer sexuellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und intellektuellen Selbständigkeit des Weibes geworden. Zunächst mußte gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Physiologie entstehen und die »Natur des Weibes« entdeckt werden,[39] bevor die Werte der Jungfräulichkeit so sehr in ihr Gegenteil verkehrt werden konnten, daß sie zum Hindernis für Weiblichkeit, ja zu deren Negation wurden; bevor die soziale Rolle unverheirateter Frauen oder Witwen so weit ignoriert werden konnte, daß sie zum Symbol der Nutzlosigkeit wurden; und bevor die alleinstehende Frau verdächtigt werden konnte, das Modell der Familie zu gefährden.
Angesichts dieser regelrechten Verweigerung einer Identität mußten Frauen ihr Leben als Alleinstehende in einem komplexen Hin und Her von Ablehnung und Verneinung gegenüber dem allmächtigen Bild der Mutter und Gattin gestalten. Sie reagierten auf dieses Vorbild mit Konformismus oder Widerstand, mit Erfahrung oder Utopie, mit Resignation oder Sublimierung. Doch ihre Reaktionen konnten sich niemals auf die Witzfiguren oder Jammergestalten zurückziehen, die damals als Leitmotive den Diskurs beherrschten.
Am Ende dieses Beitrags scheint es so, als schreibe sich das Auftreten der alleinstehenden Frauen in der Geschichte, dessen Umstände, Hintergründe, Zufälle und Notwendigkeiten wir hier darzustellen versucht haben, als fein ziseliertes Muster ein in die großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die für das 19. Jahrhundert so charakteristisch waren. Die Lebensverhältnisse der alleinstehenden Frauen entschleiern sozusagen die Grammatik der abendländischen »Moderne«, die geprägt war von der »Formenvielfalt des Individualismus, der ebensoviele Formen der Vergesellschaftung entsprachen«.[40]
Als Ausnahme und Bestätigung der Regel entwickelte die alleinlebende Frau eine Form der Neuordnung für die »holistische«[41] Gesellschaft des Ancien Regime. Als anonymes, egoistisches oder sublimierendes, befreites und kritisches, also emanzipiertes Individuum beerbte sie letztendlich die religiösen und puritanischen Erweckungsbewegungen. Nach Art der Wilderei und des Herumtastens war sie immer auch eine verzerrte Antwort auf die großen Prinzipien der Aufklärung und der Französischen Revolution über die Freiheit des Individuums.

Aus dem Französischen von Günter Seib