Die Bürgerliche, die öffentliche und die private Frau

Die neue Definition des Politischen im 19. Jahrhundert ging einher mit einer neuen Definition dessen, was das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht. Manche Gesellschaftstheoretiker (vor allem angelsächsische) und Organisatoren unterschieden zwischen »Öffentlichkeit« und »Privatheit« und setzten diese getrennten »Sphären« gleich mit den Sphären von Mann und Frau. Ungeachtet solcher Theorien aber waren auch damals beide Bereiche miteinander verbunden und deren Grenzen fließend und ungenau. Nicht alles Öffentliche war männlich, und nicht alles Private weiblich.  Frauen bewegten sich in der Öffentlichkeit und öffneten mit dem Salon ihre private Häuslichkeit nach außen. Desgleichen waren Männer im Privaten keineswegs abwesend, und die Allmacht des Hausvaters lastete auf der Familie. Die bürgerliche Frau war zugleich öffentlich und privat, zu Hause und in der Stadt, in der Familie und in der Gesellschaft. Es ist wichtig, in diesem Punkt den Fallen des Diskurses zu entkommen und die herkömmlichen Stereotype zu dekonstruieren. Leib, Seele, Sexualität, Arbeit, Alleinsein durchzogen als Schneisen das Dickicht der Gesellschaft. Der Leib der Frau war öffentlich und privat zugleich. Man machte sich ein Bild von der Frau, und dieses war so bedeutsam, daß immer auch die äußere Erscheinung einer Frau - Schönheit, Haltung, Kleidung im Spiel war. Die Müßiggängerinnen der leisure class (Veblen), ob adlig oder bürgerlich, mußten elegant sein, denn in der Welt der gehobenen Kreise, die das Hofleben ersetzt hatte, herrschte statt der Kleiderordnung nun die Mode. Das Modegewerbe aber war von der Herstellung bis zum Verbrauch unübersehbar weiblich besetzt. Mode und Bekleidung scheinen Frauen dazu gezwungen zu haben, erste Ansätze eines ökonomischen Bewußtseins zu entwickeln.
Die Gebärfähigkeit rückte den Leib der Frau in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses. Das Gebären wurde zu einer Sache des Staates. Ärzte verdrängten die Hebammen vom Wochenbett, und Volkszähler spürten Alkovengeheimnissen nach mit der Vermutung, hinter der Abtreibung, zu der immer mehr kinderreiche Ehefrauen ihre Zuflucht nahmen, verberge sich eine heimliche Form der Geburtenkontrolle. Der Ruf der Neomalthusianer nach »bewußter Mutterschaft« fand zwar zunächst kaum Gehör, doch in der Praxis bestimmten die Frauen bereits selbst energisch über die Größe ihrer Familie und wurden damit zu demographischen Akteurinnen, mit denen fortan gerechnet werden mußte.
Öffentlich war auch die »Dirne«. Deren Gewerbe wurde im Namen von Hygiene und »Volksgesundheit« immer stärker reglementiert. So sehr sich Männer bemühten, zwischen ehelichem Schlafzimmer und Freudenhaus oder Bordell zu trennen, es gab doch zahlreiche Berührungen zwischen beiden Bereichen. Wie man Empfängnis verhütet, wurde in solchen Häusern
gelernt. Geschlechtskrankheiten wurden von Männern aus dem Bordell in die Familie eingeschleppt. Eine Frau konnte durchaus eine Zeitlang Hure sein und anschließend ein normales Familienleben führen. Allerdings wurde der Übergang zur Ehrbarkeit Ende des 19. Jahrhunderts erschwert, und die Trennlinie zwischen »anständigen« und anderen Frauen schärfer gezogen.
Für Frauen war die Prostituierte eine zwiespältige Figur. Sie rief Ängste und Verachtung hervor, aber auch Mitleid und solidarische Verbundenheit, sie mußte ebensosehr als Wunschbild ersehnter Freizügigkeit wie als Symbol größtmöglicher Unterdrückung herhalten. Im Namen der »Reinheit« wurde in London 1885 eine der größten Frauenkonferenzen des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Frauen gingen gegen den Mißbrauch ihrer Geschlechtsgenossinnen auf die Straße. Sie brachten damit den privatesten Bereich des Privaten öffentlich zur Sprache und übten so erstmals als weibliches Geschlecht eine öffentliche Rolle aus.
Das weibliche Geschlecht war das eigene Geschlecht. Die Frauen eigneten sich einen Teil davon an, beseelt von einer »Wißbegier«, auf der allerdings das Gewicht der Tabus fühlbar lastete. Das 19. Jahrhundert wurde nicht das Jahrhundert ihrer »sexuellen Befreiung«. Lesbierinnen konnten nur im verborgenen ihre Sexualität leben. Sie wurde geduldet, weil sie kaum bekannt war, nicht richtig erkannt wurde (man bezeichnete sie als »Pseudo-Homosexualität«), und allemal weitaus weniger öffentliches Ärgernis erregte als Gleichgeschlechtlichkeit unter Männern. Lesbierinnen konnten sich daher den Nachstellungen der Staatsmacht entziehen und ihre Intimität schützen.
Frauenerwerbsarbeit läßt sich nur im Zusammenhang mit der Familie verstehen. Denn der Familienstatus entschied über den Erwerbsstatus der Frau. Der Zugang zu bezahlter Arbeit regelte sich für Frauen danach, ob sie verheiratet waren, wieviele Kinder sie hatten und wie alt die Kinder waren. Die spezifischen Bedingungen der weiblichen Erwerbsarbeit wurden weder durch die Industrialisierung, die auch die Haushalte erreichte, noch durch die Urbanisierung, die die Möglichkeiten zur Arbeit im Haushalt vermehrte, bereits völlig umgewälzt.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Häuslichkeit so gut wie ausschließlich zur Frauensache. Im Diskurs der politischen Ökonomie wurde das Wesen der Frauenarbeit bestimmt und daran gearbeitet, die »weiblichen Arbeiten« und den »Beruf der Frau« als Naturverhältnis auszugeben. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, wie sehr die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ein Produkt der Sprache ist, die von männlichen Ökonomen, Arbeitgebern und Gewerkschaften in Umlauf gebracht wurde und die es daher genau zu analysieren gilt. Meistens ist der viel beredete
Unterschied der Geschlechter in erster Linie eine gesellschaftliche Konstruktion.
Das Alleinleben von Frauen ist ebenfalls schwer einzuschätzen. Allzustark wird es von realitätsüberdeckenden Stigmata verschleiert. Das Alleinleben bestand aus einem Geflecht von Beziehungen - zur Zeit, zu anderen Menschen, zur eigenen Person - und war daher in ständigem Wandel begriffen. Das Alleinleben war eine Erfahrung, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zumindest zeitweilig gemacht hat. Die wachsende Kluft zwischen der Lebenserwartung von Männern und Frauen erhöhte die Zahl und Unterschiedlichkeit der Witwen, die zusammen mit einer geschlechtsspezifischen Untersuchung des Alters eine gesonderte Untersuchung verdienten. Doch es gab darüber hinaus auch dauerhaftes Alleinleben. Neben den unfreiwillig »Sitzengebliebenen« gab es die Unabhängigen, die es vorgezogen hatten, um
der Freiheit willen ledig zu bleiben, denn »volljährige Mädchen« waren Männern rechtlich gleichgestellt. Zwischen diesen beiden Extremen gab es eine Fülle anderer konfliktreicher Lebenssituationen.
Noch zahlreiche andere Räume und Lebensverhältnisse von Frauen hätten vorgestellt werden können. Wichtig wäre es zum Beispiel über Geld, Geselligkeit, Gewalt zu berichten. Auch die Veränderungen der Ehe- und Mitgiftverträge, die wirtschaftlichen und häuslichen Zuständigkeiten der Frauen (Ressourcen des Haushalts und eigene Ressourcen), deren Rolle für Familienunternehmen oder das Familienvermögen - dieses und vieles mehr verlangt nach vergleichender Forschung.
Desgleichen wäre es nötig, in der abendländischen Welt die öffentlichen und vor allem die städtischen Räume zu durchstreifen, wie es Reisende im 19. Jahrhundert getan haben - Tocqueville, Flora Tristan, Valles -, um herauszufinden, wie Männer und Frauen dort zusammentrafen. Denn ganz offensichtlich wurde der Wille zur Trennung der Geschlechter ständig von spontanen Begegnungen durchkreuzt. Waren die von Frauen dominierten Salons noch weiterhin ein Zentrum der Frauenmacht? Waren die Cafes wirklich ausschließlich eine Männerdomäne, wie immer behauptet wird?
Die von Frauen erlittene oder ausgeübte Gewalt in Familie oder Gesellschaft ist ein Prisma, in dem sich besonders deutlich zeigt, wo sich das Patriarchat weiterhin hartnäckig hielt und wo es zurückwich. Inzest, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung in Werkstatt oder Fabrik, gewaltsame Entführung, Essensentzug, Schläge verweisen auf eine Unterjochung der Körper von Frauen, deren Ausmaß schwer zu ermessen ist.[1] Umgekehrt zeigt
sich an der »kriminellen Frau«, von der zwar ständig die Rede ist, deren Zahl aber in der strafrechtlichen Verfolgung verschwindend gering war (überall weniger als 20 Prozent der Angeklagten), welche Phantasmen die Furcht der Männer vor der Gleichstellung und ihre Angst vor dem Aufstand der Frauen hervorbringt. Alexandre Dumas der Jüngere verglich in seinem gleichnamigen Roman mordende und wählende Frauen (1880) und forderte gleichzeitig zu den nötigen Reformen auf. Gebt ihnen Rechte, meinte er, oder sie schlagen uns tot![2] Noch in seinen Auswüchsen verrät der kriminologische Diskurs (noch eine Sprache, die analysiert werden müßte) vieles über die Spannung, die im 19. Jahrhundert zwischen den Geschlechtern herrschte.
G.F.-M.P.