Ausbrüche

Eine Frau darf nicht aus dem engen Kreis ausbrechen, der ihr gezogen ist«, schrieb die saint-simonistische Arbeiterin
Marie-Reine Guindorf, die dieser Einkreisung unbedingt entfliehen wollte und sich umbrachte, als sie gescheitert war.[1] Nachdem sich während der Aufklärung und in den Revolutionen, deren Übel so gerne den Franzosen angelastet wurden, die Macht der Frauen kräftig bemerkbar gemacht hatte, waren die Männer Europas im 19. Jahrhundert in der Tat bemüht, diese Macht nun dadurch einzuschränken, daß sie die Frauen ins Haus sperrten und von bestimmten Tätigkeitsbereichen, nämlich vom literarischen und künstlerischen Schaffen, von gewerblicher Produktion und Handel, von Politik und Geschichte ausschlossen. Gleichzeitig wurde versucht, die Energien der Frauen stärker auf die wieder hoch geschätzte Häuslichkeit, d. h. auf das domestizierte Soziale zu lenken. Die Theorie der »Sphären«, als deren Interpret Ruskin hervortrat (Of Queen's Garden, 1864), wies einen Weg, die geschlechtsspezifische Aufteilung der Welt zu lenken,
sie rational zu einer harmonischen Komplementarität von Rollen, Aufgaben und Räumen zu ordnen und so die »natürliche« Berufung mit dem gesellschaftlichen Nutzen zu versöhnen.
Die Frauen verstanden es, sich der Räume, die ihnen zugebilligt oder anheimgegeben wurden, zu bemächtigen, um von dort aus ihren Einfluß bis in die Vorzimmer der Macht auszuweiten. In diesen Räumen suchten und fanden sie die Vorformen einer Kultur, die Gußform eines »Geschlechtsbewußtseins«.[2] Auch  den Ausbruch versuchten  sie, um endlich überall Aufenthaltsrecht zu haben. Ausbruch im wörtlichen Sinne hieß, fern von Heim und Herd auf der Straße zu flanieren, an verbotene Orte vorzudringen - ins Cafe, zur politischen Versammlung und zu reisen. Im übertragenen Sinne bedeutete Ausbruch, über zugewiesene Rollen hinauszuwachsen, sich eine eigene Meinung zu bilden, sich von Unterwerfung zur Unabhängigkeit aufzuschwingen; all dies konnte sowohl in der Öffentlichkeit wie in der Privatheit geschehen.
Nun zu einigen dieser Vorstöße.

In der Stadt

Wohltätigkeit als ehrwürdige Christinnenpflicht hatte die Frauen schon lange aus dem Haus geführt: Armen-, Gefangenen- und Krankenbesuche in der Stadt waren erlaubte Wege, zu denen jedermann seinen Segen gab. Das Ausmaß der sozialen Probleme im 19. Jahrhundert machte diese herkömmliche Praxis zur Notwendigkeit. In der Wohltätigkeit, diesem privaten Engagement für das Soziale, hatten Frauen einen herausragenden Platz; »the angel in the house« war zugleich »the good woman who rescues the fallen«, und Ruskin betrachtete diese Tätigkeit als Fortsetzung der häuslichen Pflichten. Katholiken und Protestanten - erstere autoritärer, letztere mehr unter Förderung von Selbsttätigkeit[3] - predigten den Frauen von Welt, es sei deren Aufgabe, die Lage der Ärmsten materiell und sittlich zu verbessern.
Immer mehr Zusammenschlüsse und Vereinigungen aller Art - Enthaltsamkeits-, Hygiene- und Moralvereine - boten, bisweilen in Konkurrenz zueinander, ihre Dienste an; und diese waren besonders die Dienste alleinstehender Frauen, von denen befürchtet wurde, sie könnten durch Nichtstun oder Kinderlosigkeit versauern. Schon 1836 bildete der Rheinisch-Westfälische Diakonissenverein die ersten protestantischen Krankenschwestern als unbezahlte Arbeitskräfte für Krankenhäuser, Kinderkrippen, Waisenhäuser usw. aus: Ende des Jahrhunderts gab es in Deutschland mehr als 13 000 Diakonissen. Unter dem Schlagwort »Soziale Mutterschaft« kam es in ganz Europa zu einer regelrechten Mobilmachung der Frauen. Diese Basisbewegung wurde angetrieben durch die Seuchen (die Cholera 1832), die Kriege mit ihren Verwundeten, die Wirtschaftskrisen mit ihrer Massenarbeitslosigkeit und ausgeweitet durch die allgegenwärtigen Probleme der Städte, durch Alkoholismus, Tuberkulose und Prostitution.

Von der Wohltätigkeit zur Sozialarbeit

Für solche »Liebeswerke« durften Frauen keinerlei Lohn erwarten; in der Stadt Hausarbeit zu leisten war genauso unbezahlt wie daheim. Männer, die große Wohltäter waren, wurden geehrt, mit Orden und Denkmälern bedacht und sind noch heute bekannt; die meisten Frauen aber, die zumindest im ersten Drittel des Jahrhunderts keine Veranstaltungen abhielten und keine Berichte verfaßten, sind vergessen. Catherine Duprat hatte große Schwierigkeiten, »die stummen Akteurinnen[3] der Societe de charite matemelle in Paris zu identifizieren, obwohl diese in der Restaurationszeit und unter der Julimonarchie äußerst aktiv gewesen waren.***451.18.*** Wie Sylvain Marechal damals schrieb, »soll der Name einer Frau nur im Herzen ihres Vaters, ihres Gatten oder ihrer Kinder eingegraben sein»,[5] oder auch in den Herzen der Armen, ihre angenommenen Kinder. Namenlose Liebeswerke verschlangen ungeheure Frauenenergien; ihre Spuren wurden verwischt, und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft sind heute kaum mehr zu ermessen.
Die karitative Arbeit war für die Frauen selbst allerdings keineswegs eine nebensächliche Erfahrung. Sie veränderte ihre Weltwahrnehmung, ihr Selbstgefühl und bis zu einem gewissen Punkt auch ihren Zugang zum politischen Leben. Sie lernten das Vereinswesen kennen, zunächst in gemischten Gruppen unter männlicher Leitung, dann in reinen Frauengruppen, in denen sie das Heft schließlich selbst in die Hand nahmen. So in den schon 1830 gegründeten Elisabethvereinen der Katholikinnen des Rheinlands, in dem von der Protestantin Amalie Sieveking 1832 in Hamburg gegründeten Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege,[6] in Ellen R. Whites 1859 ins Leben gerufenen London Bible Women and Nurses Mission ebenso wie in Octavia Hills 1869 gegründeter Charity Organization Society.[7] Auf die wohltätigen Damen, die von ihren Beichtvätern oder Ehegatten, deren Namen sie auf diese Weise bekannt machten, mehr oder minder dazu gedrängt wurden, folgten bald selbständigere Frauen, häufig Ledige oder Witwen, die sich über das physische und moralische Elend empörten und von missionarischem Eifer getrieben waren. Octavia Hill, eine aktive Geschäftsfrau und Mitglied zahlreicher Komitees, faßte die Philanthropie als eine Wissenschaft auf, die die Eigenverantwortung fördern sollte; in ihrem von liberaler Ideologie getragenen Werk Our Common Land (1877) bekundete sie ihren optimistischen Glauben an die Privatinitiative, der sie gegenüber jeglichem staatlichen Eingriff den Vorzug gab. Ihre Vereinigung, die sich zunächst auf eine aristokratische Elite, also die distinguierteste Gruppe der zum demonstrativen Müßiggang verpflichteten Oberschicht stützte, konnte mit wachsender Größe auch Frauen aus der Mittelschicht an sich binden, die sich vorwiegend der Aufgabe widmeten, über die Wohltätigkeit Hauswirtschaftsanleitungen nach dem Vermächtnis Josephine Butlers (Women 's Work and Woman 's Culture, London 1869) zu popularisieren. Manchmal wurden auch Frauen aus der Unterschicht, die dann geringfügig entlohnt wurden, systematisch einbezogen; die Bible Women der London Mission waren zum Heil Bekehrte, die wegen ihrer Sprache und Vertrautheit - sie wurden mit Vornamen angeredet - sehr beliebt waren.
Methoden und Ziele wandelten sich parallel. Zu Beginn ging es um »Liebeswerke«, später um ein gewaltiges Projekt der sittlichen Hebung und der Hygiene. Das Spendensammeln entwickelte sich aus Almosen, die im Freundeskreis und in der Nachbarschaft erbettelt wurden, zu Millionenkollekten, die bei Wohltätigkeitsauktionen oder -basaren zusammenkamen. In England gab es zwischen 1830 und 1900 jährlich mehr als hundert solcher Veranstaltungen. Diese ladies' sales waren Sache der Frauen, die begeistert waren, hier mit unerhörten Summen und sonst nur passiv konsumierten Gütern zu hantieren. Sie arbeiteten sich in die Mechanismen der Geschäftswelt ein und entwickelten dabei einen Schatz kreativer Phantasien. Unter dem äußeren Anschein von Festkomitees kehrten sie die Rollen um und verschafften bisweilen auch einer eher politischen Botschaft Gehör: Es gab Basare gegen den Freihandel zur Zeit der Com Laws, und in den Städten Nordostamerikas antislavery bazaars.
Bei der Verteilung der Mittel zeigt sich ein ähnlicher Wandel. Der Hausbesuch, mit dem »-würdige Arme« ermittelt werden sollten, wurde immer strenger. Er verwandelte sich in eine Untersuchung von Lebenslauf und Familie, und die Akten sammelten sich in den Vereinsheimen zu einem regelrechten Archiv der Armut. Die Frauen erlangten ein quasi professionelles Wissen und Können in ihrem sozialen Arbeitsgebiet. Dieses entwickelte sich um so mehr, als der Werdegang der Armen fortan verfolgt und gesteuert werden sollte; dabei ging es darum, schlechte Gewohnheiten als Wurzel allen Übels zu verändern und verwahrloste Familien wieder zu stabilisieren. Mehr als die Hospitäler, das Arbeitsgebiet einer Florence Nightingale (1820-1910), oder die Zuchthäuser, wo sich Elisabeth Fry, Concepcion Arenal, Josephine Mallet oder Madam dAbbadie d'Arrast engagierten, wurde die Familie als Keimzelle der Gesellschaft und besonders die Beziehung »Mutter-Kind« allmählich zum bevorzugten Arbeitsgebiet.
Vor allem sollten die Frauen kennengelernt, ausgebildet und beschützt werden. Die London Bible Women Mission veranstaltete Teekränzchen oder mother's meetings, um Grundbegriffe der Hauswirtschaft und Säuglingspflege zu verbreiten und das Bedürfnis nach einem sauberen und gemütlichen Heim zu wecken:  ein frischgewaschenes Tischtuch auf dem Eßtisch, Vorhänge an den Fenstern. Über die Hausfrauen als Mittlerinnen hoffte man gegen den Alkoholismus der Gatten und die Verwahrlosung der Kinder vorgehen zu können; sie waren Mittel zur Wiederherstellung und Dreh- und Angelpunkt des sozialen Friedens.
Aber das Moralpredigen schloß Mitgefühl oder gar Empörung über die Lebensverhältnisse der in Armut lebenden Frauen keineswegs aus. Es waren vor allem zwei Gestalten, die Protest wachriefen: die Heimarbeiterin und die Prostituierte. Gegen die sozialen Verheerungen der Konfektionsschneiderei, die daheim für Großkaufhäuser betrieben wurde und sich durch die Nähmaschine rasant ausbreitete, gingen die
wohltätigen Damen mit Untersuchungen vor und versuchten, auf die Verbraucherinnen einzuwirken. Die Amerikanerinnen organisierten Konsumgenossenschaften, Le Plays Schülerin Henriette Jean Brunhes führte diese in Frankreich ein. Das Ziel der Genossenschaftsgründungen war, das Verantwortungsgefühl der Käuferinnen zu stärken. Wenn die Käuferinnen ihre Anforderungen senkten oder ihre Käufe zeitlich besser planten, könnten sie - so war die Idee - den Arbeiterinnen der Schneiderateliers oder Modesalons lange, anstrengende Nachtarbeitsstunden oder den Heimweg nach Mitternacht ersparen. Die Aktion wurde zwar von dem aktiven protestantischen Genossenschafter Charles Gide begrüßt, doch von liberalen Ökonomen um so heftiger kritisiert. Diesen ging es gegen den Strich, daß Frauen die sakrosankten Gesetze des Marktes beeinflussen wollten und mit dem Verbrauch der Frauen gar die Produktion steuern wollten, den Zuständigkeitsbereich der Männer. In Frankreich gründeten Frauenrechtlerinnen und Gewerkschafterinnen wie Gabrielle Duchene und Jeanne Bouvier ein gut dokumentiertes Büro für Heimarbeit. Sie initiierten außerdem das Gesetz vom 10. Juli 1915, mit dem erstmalig die Gewerbeaufsicht für Heimarbeit und ein Mindestlohn eingeführt wurden, zwei Regelungen also, die ein neues Sozialrecht einläuteten.[8] Die Wohltätigkeit überschritt ganz eindeutig ihre Grenzen, und auch die Frauen wuchsen über sie hinaus.
Die Prostituierten dagegen weckten bei wohltätigen Damen ebenso wie bei radikalen Frauenrechtlerinnen, von Flora Tristan bis Josephine Butler, einhellig Mitleid und therapeutische Hilfsbemühungen. Das Frauengefängnis und Geschlechtskrankenspital Saint-Lazare war ein Brennpunkt des Handelns, vor allem von Protestantinnen (Emilie de Morsier, Isabelle Bogelot und L'CEuvre des liberees de Saint-Lazare). Während Josephine Butler einen glühenden Kreuzzug führte, um die Reglementierung der Prostitution abzuschaffen, veranstalteten Wohltätigkeitsvereine im Juli 1885 im Londoner Hyde Park die größte »Sittlichkeits«-Konferenz aller Zeiten »gegen das Laster«: 250.000 Personen kamen im Namen von purity zum Protest gegen die »Behandlung der weißen Sklavinnen« zusammen. Zwar mögen solche Schlagworte zwiespältig klingen, doch wurde mit ihnen die zentrale Frage nach dem Körper der Frau und der Möglichkeit seiner käuflichen Aneignung gestellt.
Bei der Umwandlung von Wohltätigkeit in «Sozialarbeit« spielten die Settlements eine entscheidende Rolle. Nun ging es nicht mehr um gelegentliche Hausbesuche, sondern um dauerhafte Stützpunkte in den Armenvierteln der Vorstädte, Außenbezirke, Grenzgebiete, also in den East ends aller Großstädte. Wiederum von Protestantinnen angestoßen, nahm die Bewegung in England ihren Ausgang vom Barnettschen Haushalt in Toynbee Hall. Octavia Hill gründete das erste settlement für Frauen in Southwark (1887); weitere folgten, geleitet von Ledigen, die vor der Eheschließung geflohen waren, bisweilen von Schwesternpaaren oder auch Akademikerinnen (z. B. The Women's University Settlement), die damit ihre Wohngemeinschaften aus der Studienzeit fortsetzten. Martha Vicinus hat die Gastfreundschaft und die Probleme dieser Wohngruppen skizziert, die unter der Labilität der jungen Frauen litten, welche zwischen dem kargen Leben eines ständigen sozialen Engagements und seinem emanzipatorischem Aspekt hin- und hergerissen waren. Freizügig im Umgang und im Erscheinungsbild, verweigerten sich diese Frauen - die im übrigen für die Familie und das
traute Heim agitierten - dem traditionellen Eheschicksal und verglichen sich mit ihren Brüdern, die draußen für das Empire fochten. Ihr Afrika und Indien waren die Elendsviertel.[9] In Frankreich wurden ähnliche Volkserziehungsexperimente in den Proletariervierteln von Charonne (Marie Gaherys Union) und im Lumpensammlerbezirk von Levallois-Perret durchgeführt. Hier war die Sozialkritikerin Marie-Jeanne
Bassot, die Sillon nahestand, von Jane Addams und dem Vorbild der amerikanischen Settlements beeinflußt. Sie gehörte der katholischen Sozialbewegung an und wollte ihre Sozialstation zur Keimzelle einer neuen Stadt machen. Diese Bewegung wurde indes wegen der mißtrauischen Gängelung durch die Priester und der Vereinnahmungsversuche durch die politische Rechte nicht so umfangreich. Nach dem Ersten Weltkrieg mobilisierten Gruppierungen wie Le redressement francais (Bardoux, Mercier) »Freiwilligenarmeen« besonders von Frauen als »Arbeiterinnen der Wohlfahrt« zum »Kampf gegen die Barbarei«, nämlich den Kommunismus. Der erste Kongreß der Settlements 1922 bewies deutlich, welchen Anwerbeeffekt eine solche Frauenaktion haben konnte, auch wenn sie dem Anschein nach sehr verhalten blieb.[10]
Die Wohltätigkeit wirkte sich in vielerlei Weise auf das Verhältnis der Geschlechter in den Städten aus. Durch sie entdeckten die Bürgersfrauen eine ganz andere Welt, und für manche von ihnen war das ein Schock. Sie erwarben Kenntnisse über Verwaltungs- und Finanzierungsaufgaben, Kommunikationsmittel und vor allem über die Erhebung von Sozialdaten. Flora Tristan (Promenades dans Londres, 1840) und Bettina von Arnim (Dies Buch gehört dem König, 1843) waren die ersten Berichterstatterinnen über das Elend.[11] »Widmet Euch ständigen Untersuchungen«, empfahl Henriette Jean Brunnes (1906), weitete damit den Ansatz aus und verallgemeinerte ihn. Die Frauen sammelten so Wissen und praktische Erfahrung, durch die ihnen potentiell eine Expertinnenrolle zuwuchs. Über das bescheidene Personal der London Mission oder der Settlements, über die vom französischen Jugendgerichtsgesetz von 1912 geschaffenen »Berichterstatter beiderlei Geschlechts«,[12] über die ersten Fraueninspektorinnen (in Frauengefängnissen, Schulen, Werkstätten und Fabriken) wuchsen sie in Amtsfunktionen und in eine immer professionellere Sozialarbeit hinein. Unterrichten, pflegen, helfen: dieser dreifache Auftrag wurde zur
Grundlage der »Frauenberufe«, die noch lange Zeit von ideeller Berufung und Liebeswerken geprägt bleiben sollten.[13]
Durch die Tätigkeit auf sozialem Gebiet wurden den Frauen allmählich eine Kompetenz zuerkannt, die ihren Wunsch nach eigenständiger Verwaltung rechtfertigte. »Wir fordern, daß man uns anvertraut, was für diesen besonderen Auftrag notwendig ist«, meinten 1834 die Damen des Mütterwohlfahrtsvereins. »Männer würden Einrichtungen und hohe Summen besser verwalten; doch es gebührt denen, die sich der Sache widmen und die schlimmsten Dinge mitansehen müssen und dabei immer noch Liebe erweisen können, die niederen Klassen zu überzeugen, ein schweres Leben auszuhalten.«[14] Der bescheidene Ton wurde zur radikalen Kritik und bei Octavia Hill oder Florence Nightingale zur entschlossenen Forderung; aufgrund ihrer Erfahrungen im Krimkrieg begann letztere, nicht nur die Spitäler, sondern auch die Armee zu reformieren, »den primären Ort, wo ein erstes Engagement vieler Frauen diesen ermöglicht, Zugang zur Wissenschaft und zum Wissen zu gewinnen«.[15]
Ausgehend von ihrer Fähigkeit zum »sozialen Wirtschaften« setzten die wohltätigen Damen bei den Wohnverhältnissen und in Wohnvierteln an, die sie gut kannten. Sie machten hier den Männern die Zuständigkeit streitig. Die Bürgersfrauen Nordfrankreichs ließen sich auf einen Konflikt mit den Stadträten ein, die ihnen die verlangten Zuschüsse verweigerten.[16] Die englischen Damen - etwa Louise Twining - führten Kampagnen gegen die Verwalter von Arbeitshäusern (workhouses), klagten die namenlose Unmenschlichkeit dieses Systems an und machten sich an eine Reform der Armengesetzgebung, der Poor Laws.
Als Fürsorgerinnen der Armen, über die sie gleichzeitig auf zwiespältige und keineswegs klassenneutrale Weise Macht ausübten, empfanden sie sich als Anwältinnen derer, die in ihren Augen weder Stimme noch Stimmrecht hatten. Zwischen Frauen und Proletariern gab es ein symbolisches, wenn nicht organisches Band, worauf die Saint-Simonisten hingewiesen hatten. Eugenie Niboyet schrieb: »Ich agitiere die Massen gern, weil ich bei ihnen meine ganze Kraft spüre. Ich bin Verkünderin.[17] Im Namen der Ausgestoßenen, der Schwachen, der Kinder und vor allem ihrer Geschlechtsgenossinnen forderten die sozial engagierten Frauen das Recht auf politische Repräsentation auf lokaler und sogar auf nationaler Ebene. Ihr eigentlicher Aktionsraum war die Kommune. Dort funktionierten vor allem während der ersten Hälfte des Jahrhunderts ihre formellen und informellen Netzwerke am effizientesten. In Utica (im Staate New York), einer von heftigen Erweckungsbewegungen erschütterten presbyterianischen Kleinstadt, gab es 1832 vierzig Frauenvereine (Maternal Associations, Daugthers of Temperance usw.), die sich hauptsächlich dem Schutz der von Prostitution und Vergewaltigung bedrohten Mädchen widmeten und wie eine regelrechte Sittenpolizei agierten. [18] Die angelsächsischen Suffragetten forderten gestützt auf solche Macht das Frauenwahlrecht, zunächst auf kommunaler Ebene. In minderem Umfang griffen Frauen als pressure groups durch Verbandsarbeit oder Petitionen (zu Scheidungsrecht, Arbeitsschutz usw.) in die Gesetzgebung ein. So wurden sie zu Akteurinnen auf kommunaler und gesamtstaatlicher Ebene.
Damit fanden sie erneut das Interesse der Männer, die bereit waren, sie zu benutzen, aber dabei sorgfältig auf ihre eigenen Vorrechte achteten. Je mehr der Pauperismus zur »sozialen Frage« wurde, desto nachhaltiger schalteten sich die Männer ein. Schutzherrschaft als Vatersache konnte nicht Frauen überlassen bleiben. Schon de Gerando (Le visiteur du pauvre, 1820) wünschte sich für die Hausbesuche mehr Männer, die aktiv in der Wirtschaft seien und Arbeit beschaffen könnten. Die großen Gestalten der Wohlfahrtspflege zum Ende des Jahrhunderts waren Männer: Barret, Booth als Gründer der Heilsarmee, Henri Dunand als Gründer des Roten Kreuzes, Max Lazard, der die erste internationale Konferenz zur Arbeitslosigkeit (1910) organisierte, usw. Die Verwaltung der sozialen Frage ging in die Hände von Politikern und Akademikern über: von Ärzten, Juristen, Psychologen. Diese hatten nichts Eiligeres zu tun, als Frauen zu subalternen Hilfskräften wie Krankenschwestern und Sozialhelferinnen zu degradieren. Damit mußte ein neuer Kampf um Berufsausbildung und Anerkennung von Prüfungszeugnissen als Statusgarantien
geführt werden. Das Feld der Auseinandersetzung hatte sich verlagert.
Die Wohltätigkeit hatte noch andere Wirkungen. Sie stellte zwischen den Frauen der Mittelschicht Kontakte her und führte dazu, daß von Neuengland bis Athen zumindest ansatzweise ein »Geschlechtsbewußtsein« entstand, das häufig zum Vorläufer für feministisches Bewußtsein wurde. Nach Carroll Smith-Rosenberg waren die »neuen Frauen«
von 1880-1890 die Töchter der »neuen bürgerlichen Matronen« der Jahre 1850-1880.[19] Dieser Schmelztiegel der Identität wirkte an den Grenzen von Politischem und Sozialem, Öffentlichem und Privatem,
Glaubensbekenntnis und Morallehre als Versuchslabor.

Bei den Arbeiterinnen

In der Stadt wurden die Arbeiterinnen doppelt verleugnet: als Frauen, weil sie angeblich die Antithese von Fraulichkeit waren (»Arbeiterin, welches unflätige Wort«, schrieb Michelet), und als arbeitende Menschen, weil ihr Lohn, statuarisch unter dem Manneslohn festgelegt, nur als »Zuverdienst« zum Einkommen der Familie betrachtet wurde, die die Aufgabe und das Schicksal der Frauen bestimmte. Ganze Branchen blieben den Arbeiterinnen verschlossen. Überdies basierte die Arbeiteridentität im 19. Jahrhundert im Alltags- und Privatleben ebenso wie im öffentlichen und politischen Leben voll und ganz auf dem Modus der Männlichkeit. Peter Stearns betont, daß sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bei englischen Arbeiterehepaaren Ende des Jahrhunderts verschlechterte.[20] Dorothy Thompson zeigt, wie sich die Frauen zur Zeit der Chartistenbewegung aus dem aktiven Raum zurückzogen; sie wurden in den Versammlungen immer leiser, ihre bloße Anwesenheit wurde wenig später als unpassend empfunden, und schließlich wurden sie aus den pubs und inns verbannt, die zu reinen Männerversammlungsorten wurden.[21] Ungeachtet aller Variationen verlief die Entwicklung letztlich überall gleich. Als Objekt für Gewalttätigkeit im Dschungel der Großstadt sowie häufig auch in der Familie und für sexuelle Belästigung in Werkstatt und Fabrik wurde der Körper der Arbeiterfrau als Allgemeingut angeeignet.[22] Anerkennung fand sie nur als Mutter oder Hausfrau. Nur die »Mutter der Kumpel« oder Mother Jones - eine Irin und Begründerin der Gewerkschaft der Bergarbeiter in den Vereinigten Staaten - wurden in der Arbeiterbewegung geduldet, die sich bis in ihre Symbole männlich gab: der Schwerarbeiter mit nacktem Oberkörper, gespanntem Bizeps, Muskelpaketen — der Mann aus Marmor - ersetzte in der Bilderwelt die Hausfrau mit dem Korb.[23] Bei den immer stärker ritualisierten und geordneten Demonstrationen war die Gewalttätigkeit und Unberechenbarkeit der Frauen gefürchtet; sie wurden zwar toleriert und mobilisiert, aber nur an zugewiesenen Plätzen, möglichst als Fahnenträgerinnen, Schmuckelement oder schützende Tarnung.[24] Selbst aus der Erinnerung verschwanden sie; in den meist von Männern verfaßten Funktionärsbiographien war wenig von den Müttern und Ehefrauen, die zudem häufig als weinerliche Bremserinnen dargestellt wurden, die Rede, aber viel von den Vätern, die von den Söhnen als Helden vergöttert wurden.
Die Frauen als Gruppe zogen sich von der Straße zurück, als die Zeit der Hungermärsche - wichtige Protestform der traditionellen Gesellschaften und zugleich Regulator der moralischen Ökonomie, deren Barometer sie waren - zu Ende ging. Früher hatten sie vom Markt her und wegen der Weizensteuer in die lokale und sogar nationale Politik eingegriffen. Am 5. und 6. Oktober 1789 waren es die Marktweiber, die die königliche Familie von Versailles nach Paris zurückholten und damit den politischen Raum grundlegend veränderten. Diese Hungerrevolten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch häufig waren und 1846-1848 alle europäischen Länder überzogen, wurden später mit verbesserter Versorgung seltener. Demonstrationen entwickelten sich immer mehr zur Männersache, wie Fabrikarbeiter und bald auch die Gewerkschaftsbewegung dabei die führende Rolle übernahmen. Bei der »Teuerungs-Krise, die 1910-1911 alle
Industriegebiete Europas erfaßte, kam es gleichwohl erneut zu Zusammenrottungen und Plünderungen von mehreren tausend Hausfrauen (die sich in Frankreich auf ihre Ahninnen vom Oktober 1789 beriefen), die die Märkte eroberten und die Preise der Produkte im Sinne der Internationale du beurre a quinze sous festlegten; sie organisierten sich in »Ligen«, um Spekulanten zu boykottieren, und handelten sich schwere Gefängnisstrafen ein. Unterdessen kritisierten die Gewerkschaften »diese instinktive, chaotische, blinde Bewegung« und gingen daran, sie in einen »Aufstand der Männer«[25] umzuwandeln. Dasselbe Drehbuch 1917 in Amsterdam bei der Kartoffelrevolte, einer subtilen Mischung aus alten und neuen Protestformen: der Führer der holländischen Sozialdemokraten forderte Hausfrauen, die zwei Lastkähne geplündert hatten, dazu auf, die Stafette an ihre Ehemänner und Söhne zu übergeben und diese zum Streik aufzuwiegeln.[26] Gewerkschafter und Sozialisten teilten im großen und ganzen die Ansicht der Massenpsychologen: Sie fürchteten bei Demonstrationen das weibliche Element und seine Gewaltbereitschaft.[27]
Als demonstrativer Akt von bewußten und organisierten Produzenten galt der Streik als männliche und zunehmend als rationalere Aktion. Gewalt wurde im Regelfall unterbunden oder zielbewußt angewandt, und damit auch der Einsatz von Frauen. Die Frauen von Streikenden hatten zwar weiterhin im Streik ihre Rolle. Ihr Platz war an den Gulaschkanonen der Volksküchen und der soupes communistes, dieser Urform gegenseitiger Hilfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei Solidaritätsveranstaltungen mit Gesang«, oder sie hatten bei Demonstrationen die Unternehmer und vor allem die »gelben« Gewerkschaften zu schmähen.[28] Die Bergarbeiterfrauen, die am besten in die Gemeinschaft integriert waren, beherrschten alle Formen der gemeinsamen Aktion, deren Repertoire der faszinierte Zola in epischer Breite geschildert hat (Germinal, 1885). Für zeitgenössische Beobachter (etwa Polizeikommissare) war der Frauenanteil bei Versammlungen oder Umzügen Indikator für das Ausmaß der Unzufriedenheit in der demonstrierenden Gruppierung.
Das Verhältnis der Geschlechter in gemischten Streiks würde besondere Aufmerksamkeit verdienen. Leider ist darüber so gut wie nichts bekannt, weil Männer und Frauen in den Quellen meistens in der Pseudoneutralität des Plurals (»die Streikenden«) zusammengefaßt werden. Bei Tarifverhandlungen wurden Frauenforderungen ohne weiteres geopfert und die ungleichen Löhne selten in Frage gestellt.
Es gab auch Frauenstreiks. Diese erhielten das Stigma des Ungehörigen. Sie waren eine unerträgliche Rebellion für den an Fügsamkeit gewöhnten Unternehmer; ein Ärgernis für die Familie, das durch das jugendliche Alter der streikenden Frauen noch verschärft wurde; eine Ungehörigkeit nach Meinung der Öffentlichkeit, die zwischen geduldiger Herablassung - »diese armen Irren« - und sexueller Anzüglichkeit schwankte; eine Störung des gewohnten Anblicks von weiblicher Unterwürfigkeit; also alles in allem ein Skandal. Die Arbeiter hatten etwas gegen die Streiks ihrer Frauen, und erst recht gegen die der Töchter, und drängten sie bisweilen brutal zur Wiederaufnahme der Arbeit. Beim Streik in der Zuckerraffinerie Lebaudy, Paris 1913, schleppte ein wütender Ehemann seine Frau gewaltsam in die Fabrik zurück und verabreichte ihr auf deren Schwelle eine öffentliche Tracht Prügel. Die Gewerkschaften unterstützten Frauen nur halbherzig; in ihren Statuten war die Streikunterstützung für Frauen normalerweise geringer festgelegt als die für Männer, da sie keine Familienväter seien und auf jeden Fall auch weniger zu essen brauchten! Streiks von Frauen waren eine Gefahr für die patriarchalische Gesellschaft, und diese erkannte ihnen daher ein Streikrecht genauso wenig zu wie ein Recht auf Arbeit.
Man kann ermessen, wie groß die Macht dieser geballten Abschreckung war. Einen Streik riskieren hieß, sich gegen die öffentliche Meinung stellen, aus der Fabrik auf die Straße gehen und sich wie ein Strichmädchen verhalten. Dazu gehörten Mut, ein lauer Frühlingstag und besondere Umstände: daß wegen einer zusätzlichen Schikane »das Maß voll« war, daß eine »Rädelsführerin«, die dann in der Presse unweigerlich zur Megäre oder Furie stilisiert wurde, die anderen mitriß. Eine solche Anführerin war die dicke Arbeiterin von Bermondsey, die Mary Agnes Hamilton (Mary Macarthur, London 1925) beschrieben hat. Man sieht sie geradezu an einem Augustmorgen des Jahres 1911 an der Spitze einer Armee streikender Arbeiterinnen marschieren, eine Frau mit starkem Körpergeruch, voller Ungeziefer und »ausstaffiert mit Federboas und Fuchskragen«.
Mit Ausnahme einzelner Branchen wie der Tabakverarbeitung war die Streikbereitschaft der Frauen gering. In Frankreich stellten sie zwischen 1870 und 1890 nur 4 Prozent der Streikenden bei 30 Prozent der
Beschäftigten. Ihre Streiks waren meist Abwehrstreiks. Sie waren spontan, schlecht organisiert und schwach begründet und glichen eher Protestaktionen gegen Überstunden und hetzenden Arbeitstakt, Hygienemängel oder eine zu harte oder willkürliche Arbeitsdisziplin. »Wir leiden schon zu lange«, sagten die Seidenspinnerinnen von Lyon (1869). Diese kurzfristigen Aktionszusammenschlüsse scheiterten häufig.
Nichtsdestoweniger waren sie Ausbrüche, seltene Gelegenheiten, »auf die Straße zu gehen«, und Aktionsformen, an welche sich die Beteiligten später besser erinnerten als an die Arbeiterbewegung. Manche wurden zu Ereignissen: der Streik der Seidenarbeiterinnen in Lyon, den sich die Erste Internationale zu eigen machte und zugleich der Streikführerin Philomene Rosalie Rozan jede Vertretungskompetenz auf dem Baseler Kongreß absprach; der Streik der Zündholzarbeiterinnen in London (1888), wo die Frauen zum ersten Mal streikten, ohne die Erlaubnis der männlich beherrschten Trade Unions einzuholen, sondern sich zwecks Gründung einer eigenen Gewerkschaft und zur Veröffentlichung ihrer Forderungen an Annie Besant wandten und dabei obendrein auch noch Erfolg hatten; der Streik der Typographinnen in Edinburg, die in einer bemerkenswerten Denkschrift - We Women unter Berufung auf ihre Fähigkeiten Gleichbehandlung und damit das Recht, als Druckerinnen zu arbeiten, forderten; der Streik der 20 000 Korsettschneiderinnen von New York (1909), der besonders reich an Provokationen war und dank der Zeitungsreportage von Theresa Malkiel allgemein bekannt wurde.[29]
Auf der Straße fürchteten die Arbeiter den ausgelassenen Überschwang der Frauen mit ihren Liedern, Tänzen, Puppenverbrennungen, der ihrer Jugend und ihrer eigenständigen Kultur entsprach. In den Versammlungssälen entdeckten die Frauen den Rausch der freien Rede und der Gemeinsamkeit. Ihre Plakate klebten sie an Hauswände; in der Presse veröffentlichten sie ihre Manifeste und eroberten sich so einen Teil des öffentlichen Raums. Als unerfahrene Kämpferinnen suchten sie anfänglich Unterstützung bei ihren männlichen Kollegen; doch mehr und mehr ärgerten sie sich über deren Bevormundung und wandten sich an Geschlechtsgenossinnen, Sozialistinnen oder seltener an Frauenrechtlerinnen: Annie Besant, Eleanor Marx, Beatrice Webb, Louise Otto, Clara Zetkin, Paule Mink, Louise Michel, Janet Addams, Emma Goldman usw. beteiligten sich an ihren Kämpfen. Bisweilen und nicht ohne Schwierigkeiten zeichnete sich eine »gemeinsame Front« der Frauen ab, welche die Führer der Arbeiterbewegung erst recht beunruhigte, sobald sie sich dauerhaft in die Gewerkschaftsbewegung einschalten wollte.
Die Gewerkschaftsbewegung war noch kaum eine Angelegenheit von Frauen. Beiträge, Zeitschriftenlektüre, Beteiligung an Abendversammlungen in Cafes schreckten ab. Aber es gab noch mehr Hindernisse: das Doppelproblem des Rechts auf Arbeit und auf politische Vertretung. Wie und in wessen Namen dürfen Frauen ihre Stimme erheben? Für wen? Sind nicht die Männer die naturgegebenen Vertreter der Familiengemeinschaft, zu der angeblich alle gehören?
In Berufen, die Männerdomänen waren, wurden Frauen zunächst nicht in die Gewerkschaft aufgenommen (Schneider, Buchbinder). Das war vor allem in Deutschland so, solange dort Lassallesche Auffassungen vorherrschten, die die Frauenarbeit grundsätzlich ablehnten. Anderswo wurden Frauen in Männergewerkschaften aufgenommen, erst zurückhaltend, dann wohlwollender. Als sich allmählich immer klarer abzeichnete, was auf dem Spiel stand, begannen Gewerkschafter sogar über die Passivität der Frauen zu klagen, zu der sie selbst beigetragen hatten. Denn Gewerkschafter sahen weder gern, daß Frauen das Wort ergriffen - noch um 1880 mußte eine Frau in Nordfrankreich dazu eine schriftliche Wortmeldung vom Ehemann oder Vater einreichen! - noch daß sie Funktionen übernahmen. Zugelassen wurden allenfalls ein paar schmückende Frauen auf der Tribüne, einige wenige Funktionärinnen und noch weniger Frauen unter den Delegierten auf Kongressen, den Orten der Macht. Sogar in der Tabak- und Streichholzindustrie, in der die Frauen zwei Drittel der Beschäftigten stellten, waren die Funktionäre in der Mehrzahl Männer. Das alles erklärt zur Genüge den geringen Anteil von Frauen unter den Gewerkschaftsmitgliedern. Es waren selten einmal mehr als 3 Prozent.
Der erste Anstoß zur Organisierung kam häufig von Frauen außerhalb der Arbeitswelt. Es waren Frauen, die in der Vereinsbewegung engagiert waren und die den Zusammenschluß zur gegenseitigen Hilfe ebensosehr als Mittel der Selbsterziehung wie der Vertretung von Forderungen propagierten. Louise Otto und ihr Allgemeiner Deutscher Frauenverein (Leipzig 1865), Emma Paterson und die Women's Trade Union League (1874), Janet Addams und die New Women's Trade Union League (Boston, 1903), Marguerite Durand und die von der Fronde unterstützten Gewerkschaften, Marie-Louise Rochebillard, Cecile Poncet und die »freien Gewerkschaften« aus der Gegend um Lyon, diese  und zahlreiche  andere  Frauen  erkannten klarsichtig,   daß  der speziellen Ausbeutung von Arbeiterinnen notwendigerweise nur mit einer reinen Frauenorganisation begegnet werden konnte. Was auch immer ihr »Maternalismus« gewesen sein mag, sie förderten die Heranbildung militanter Arbeiterinnen, die ihre Eigenständigkeit zu wahren wußten.
Das ging nicht ohne Zusammenstöße. Konflikte waren vorprogrammiert, auch mit Frauen. Das »Geschlechtsbewußtsein« zerbrach an Machtrivalitäten und an sozialen Hierarchien. Arbeiterinnen warfen
anläßlich der Sozialgesetzgebung den »Bürgerlichen« vor, sie hätten keinerlei Verständnis für ihre Belange. In Frankreich forderten die Sozialistinnen zu Beginn des Jahrhunderts mit allem Nachdruck eine
Arbeiterinnenschutzgesetzgebung, die von Feministinnen als diskriminierend in Grund und Boden verdammt wurde.[30] Im Streik der 20  000 warfen Aktivistinnen aus dem Bekleidungsgewerbe - Rose Schneiderman, Pauline Newman - den reichen New Yorker Suffragetten - Ava Belmont-Vanderbilt, Anne Morgan - voyeuristischen Elendstourismus und Reklamesucht vor. Die »Nerzbrigade« wurde klipp und klar in ihre
Schranken gewiesen. Würde es alles in allem, fragt Emma Goldman rhetorisch, etwas an der Lage der Arbeiterinnen ändern, wenn Anne Morgan Präsidentin der Vereinigten Staaten würde?
Außerdem betrachteten Damen die Frauen der Unterschicht meistens weniger als ihresgleichen denn als potentielle Dienstmädchen. Im Krimkrieg gab es in dem von Florence Nightingale geführten Grüppchen von Pflegekräften dauernd Streit zwischen ladies und nurses; die Nurses beanspruchten als entlohnte Krankenschwestern gleiche Rechte und weigerten sich, die Ladies zu bedienen, die obendrein noch über ihre Freizeit bestimmen wollten. Das brachte ihnen einen strengen Ordnungsruf von Florence ein: »Sie müssen einfach begreifen, daß Sie genau in derselben Lage sind wie in England, also der Frau Oberintendantin oder ihrer Stellvertreterin gehorchen müssen.«wurde.[31] Die Dienstbotenfrage blieb unter Frauen ein ewiger Zankapfel; das zeigte sich nicht zuletzt in Frankreich beim Kongreß von 1907.[32]
Diese sozialen Spannungen wurden durch das Problem der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Rassen und Ethnien noch verstärkt. Gegensätze zwischen weißen angelsächsischen Protestantinnen, Jüdinnen und Italienerinnen führten in der Women's Trade Union League zur Zerreißprobe, auch im Streik der 20 000 prallten die kulturellen Gegensätze hart aufeinander.
Das machte es der gewerkschaftlichen und sozialistischen Arbeiterbewegung um so leichter, die Konflikte zwischen Frauen herauszustellen und Frauen generell das Recht abzusprechen, Arbeiterinnen zu vertreten. Die Frauen seien der Stützpfeiler der Kirche, hieß es in Frankreich, und der Feminismus sei dem Wesen nach »bourgeois«. Das war ein schlagendes Argument, um die stets des Klassenverrats verdächtigte »gemeinsame Front der Geschlechter« abzuwehren. Der heftige Antifeminismus mancher Sozialistinnen - wie Louise Saumoneau in Frankreich; Clara Zetkin contra Helene Lange und Lily Braun in Deutschland - sowie deren Rückzug aus der Frauenwahlrechtsbewegung fand in diesen Befürchtungen seine Begründung. Besonders heftig war die Gegnerschaft in Frankreich und in Deutschland.[33] In England, wo die Geselligkeit der Frauen vielleicht weiter entwickelt und die Wahlrechtsbewegung besonders aktiv war, herrschte eine andere
Situation. Die hochorganisierten Baumwollweberinnen von Lancashire waren zugleich engagierte Wahlrechtskämpferinnen. Indem sie sich das Wohltätigkeitssystem der Hausbesuche - eben das der Bible Women für ihre Zwecke zunutze machten, führten sie in den Jahren zwischen 1893 und 1900 eine intensive Petitionskampagne durch und sammelten fast 30 000 Unterschriften von Arbeiterinnen, die ihre Delegierten
dann dem Parlament überreichten.[34]

Die Erweiterung des Raumes:
Wanderungen und Reisen

»Jede Frau, die sich zeigt, entehrt sich«, schrieb Rousseau an dAlembert. Um wieviel mehr drohte dieses einer Frau, die reiste! Reisende und vor allem alleinreisende Frauen setzten sich Verdächtigungen aus. Flora Tristan, die bei ihrer »Rundreise durch Frankreich« unter diesem Makel zu leiden hatte - in Südfrankreich nahmen viele Hotels aus Furcht vor Prostitution keine alleinreisenden Frauen auf -, schrieb ein Heftchen mit dem Titel Necessite de faire un bon accueil aux femmes etrangeres (1835), in der sie die Gründung eines Beherbergungsvereins für Frauen empfahl. Eine jede Niederlassung des Vereins müßte mit einem Lokal und einer Bibliothek, wo man Zeitungen lesen könne, ausgestattet sein, und das Motto sollte »Tugend, Vorsicht, Offenheit« lauten; die Mitglieder müßten als Erkennungszeichen ein rotumrandetes grünes Bändchen tragen; sie sollten das Recht haben, unerkannt zu bleiben, da dieses für ihre Privatheit erforderlich sei. Dieses Projekt war eine Vorwegnahme der Heime, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vor allem von protestantischen Vereinigungen und Verbänden gegründet wurden.[35]
Insgesamt hatten Frauen von Anfang an großen Anteil an der Mobilität, die die abendländische Gesellschaft mit der Entwicklung des Transportwesens vor allem nach 1850 erfaßte. Sie waren unterwegs als Migrantinnen, weil wirtschaftliche oder politische Erfordernisse und Zwänge sie dazu veranlaßten; sie waren aber auch unterwegs als Reisende aus Pflicht oder Neigung, und dies blieb für ihre Weltanschauung nicht ohne Folgen.

Die Binnenwanderung

In den Pendelbewegungen, die etwa in Frankreich zunächst für die Binnenwanderung typisch waren, waren es die Männer, die zu Baustellen oder zur Arbeit im städtischen Kleingewerbe aufbrachen. Die Frauen blieben im Dorf als Hüterinnen des von ihnen bestellten Bodens und der Tradition, so daß sie den aus der Stadt Heimkehrenden rückständig erschienen. Im Dorfe des Martin Nadaud verstummte die alte Fouenouse, wenn die jungen Maurer mit ihrer Hauptstadtarroganz die Abendunterhaltung bestritten.[36] Daneben aber gab es auch die Landflucht, die zur Abwanderung ganzer Familien führte. Schließlich veranlaßte der Aufschwung des Dienstbotenwesens, der vor allem mit der gestiegenen Nachfrage der Mittelschichten, aber auch mit dem aufkommenden Konfektionsgewerbe und dem sich wenig später entwickelnden Dienstleistungssektor zusammenhing, immer mehr junge Frauen vom Land, in der Stadt in Stellung zu gehen. Dies führte in den städtischen Zentren wieder zu einem zahlenmäßigen Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Allerdings gab es weiterhin je nach Viertel krasse Unterschiede. Es war für die zugewanderten Männer und Frauen nicht immer leicht, zusammen zu kommen; Bälle und daneben die Prostitution halfen nach.
Zunächst wurden die Zuwanderinnen von ihrem Herkunftsmilieu und dem Aufnahmesystem noch streng kontrolliert; bald aber befreiten sie sich zunehmend, was ein Schritt zum Besseren oder zum Schlechteren sein konnte. Verführt und im Stich gelassen, bevölkerten die Zuwanderinnen die Geburtskliniken, sie nahmen Zuflucht zu »Engelmacherinnen«, vermehrten die weibliche Kleinkriminalität hauptsächlich durch Ladendiebstähle, bevorzugt in den großen Kaufhäusern und vor allem bei Kleiderstoffen. Andere aber sparten, arbeiteten für eine Aussteuer zur wohlerwogenen Heirat und akklimatisierten sich in der Stadt, in der sie sich mit Findigkeit immer neue Verdienstmöglichkeiten erschlossen. Daß man sie brauchte, machte sie anspruchsvoller; die familienverbundene Hausbesorgerin machte lebenslustigen Kammerkätzchen - wie der Juliette von Octave Mirbeau[37] - oder »frechen« Dienstmädchen Platz, die beim kleinsten Anlaß »die Schürze hinhängen«. Bevor sie sich in die Abhängigkeit ihres Arbeitgebers Munby begab, wechselte Hannah Cullwick ständig das Quartier, wie sie in ihrem Tagebuch berichtet; ihr Schicksal war das einer Dienerin, die zwar geehelicht wurde, aber den sexuellen Launen von »Massa« ausgeliefert war und von der Familie des Hausherrn nie anerkannt wurde; der Aufstieg eines Dienstmädchens hatte Grenzen.[38] Jeanne Bouvier, die mit ihrer Mutter 1879 nach Paris »hinaufgefahren« war, zeigte ebenso wie Adelheid Popp in Wien eine verblüffende Mobilität. Frauen, die »aufgestiegen« waren (Jeanne Bouvier gliederte ihre Memoiren nach ihrem dreifachen »Aufstieg«: Gewerkschafterin, Schriftstellerin, Feministin), hatten, wie schon das Wort sagt, sich tummeln müssen. Der Quartierwechsel als notwendige, gewiß nicht hinreichende Bedingung von Aufstieg oder gar Befreiung erfordert eine Bereitschaft zum Bruch, um der erhofften Zukunftschancen willen.
Die Migrantinnen vom Land, vor allem die Dienstmädchen, waren kulturelle Mittlerinnen für Mode, Konsumgewohnheiten und städtische Gewohnheiten, darunter auch die der Empfängnisverhütung. Ende des 19. Jahrhunderts hatten sie ihre Rollen verändert. Ihre Familien ließen sie nun übrigens ungern weg: Diese Mädchen wurden zu selbständig und gingen für die Landwirtschaft verloren. Auf dem Lande gab es fortan immer mehr Junggesellen, während in den Großstädten zumindest in Frankreich 20 Prozent mehr junge Frauen im Alter von 20 bis 39 Jahren als junge Männer lebten. [39]
Ein weiteres Beispiel für Arbeitsmigrantinnen waren die Gouvernanten - Miss, Fräulein, Mademoiselle. Als Töchter verarmter Eliten oder eines intellektuellen Bürgertums, das die Töchter ebenso wie die Söhne auf Bildungsreisen schicken wollte (die protestantischen Reclus gehörten dazu), hatten sie einen viel größeren Aktionsradius und reisten in ganz Europa umher.[40] Henriette Renan hielt sich mehrere Jahre in Polen auf, um das Studiengeld ihres Bruders zu verdienen. Umgekehrt kamen Russinnen nach Paris, wie Nina Berberowa, die einen Schatz von Beobachtungen für ihr Werk sammelte. Gouvernanten wurden nicht nur wegen ihres Ausländerinnenstatus häufig ausgebeutet, sie hatten auch nicht immer einen guten Ruf. Ihnen wurden Intrigen und Verführung nachgesagt. Aus Liebe zu einer Gouvernante ermordete der Herzog von Choiseul-Praslin seine Frau; dieser Skandal zum Ende der Regierungszeit Louis-Philippes goß Wasser auf die Mühlen der Stereotype.

Die Fernwanderung

In der Fernwanderung entwickelte sich das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter ähnlich. Zu Beginn überwogen eindeutig die Männer; dann kam die Zeit der Familien, und das Verhältnis glich sich an. Die Männer gingen als Vorhut voraus, die Frauen kamen, wenn alles gut ging, nach. Der Wilde Westen war ein Land für Krieger und Pioniere, eine Männerwelt, in der Frauen selten waren und ihr Status ebenso wie ihr Bild zwischen der blonden Lady und der eher farbigen Hure schwankte. Der misogyne Western übersetzte diese Situation später auf die Filmleinwand.
Unter diesem Gesichtspunkt waren die Vereinigten Staaten ein umtriebiges Versuchslabor, dem inzwischen die feministische und nichtfeministische Geschichtsschreibung nachzuspüren begonnen hat. Die Auswirkungen der Wanderbewegungen waren widersprüchlich. Bisweilen wurde dadurch die Macht der Familie als Keimzelle der
Volkswirtschaft und des ethnischen Zusammenhalts gestärkt und die jeweilige Rolle der Geschlechter stärker betont. Im Neuengland der Jahre 1780-1835 entwickelte die Women's Sphere enge Bonds of Womanbood (N. Cott), die zur Grundlage eines »Geschlechtsbewußtseins« wurden. Bei den Präriefarmern und in den irischen oder italienischen Arbeitergemeinden war die Mutter die dominante Figur, die m 'mam, der Steinbeck in Die Früchte des Zorns epische Größe verliehen hat. Elinor Lerner hat gezeigt, daß in New York, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts 61 Prozent der Bevölkerung Juden, 13 Prozent Iren und 13 Prozent Italiener waren, die massivste Unterstützung für die feministische Sache und insbesondere für die Frauenwahlrechtsbewegung aus der jüdischen Gemeinde kam, die sowohl Bürgertum wie Arbeiterschaft umfaßte; die heftigste und hartnäckigste Opposition kam dagegen von den Iren; die Italiener waren gespalten, wobei die Süditaliener, bei denen die Frauen aktiver waren, mehr Zustimmung äußerten als die Norditaliener.[41]
Bisweilen aber eröffnete die Großräumigkeit mit ihren Entfernungen und Zwängen einen Spielraum, der die Selbstbehauptung der Frauen förderte. Auf seiner Amerikareise von 1832 war Tocqueville verblüfft über die Freiheit der Amerikanerinnen in Umgang und Haltung, denen in Louisiana schon früh per Gesetz das Briefgeheimnis zugestanden worden war. Als Weltreisende kehrten amerikanische Frauen Ende des 19.Jahrhunderts nach Europa zurück; vernarrt in Italien, konkurrierten sie in der Kunstkritik mit den Männern (z.B. Lee Vernon als Nachahmerin von Berenson in der Toscana, oder Edith Wharton); in Paris ließen sie sich am linken Seineufer nieder: Natalie Clifford Barney, die Amazone aus der Rue Jacob, Gertrude Stein in der Rue de Fleurus verkörperten die »neue Frau«, die intellektuell und sexuell emanzipierte Frau, die um so eher akzeptiert wurde, als sie von außerhalb kam und im Randmilieu der Intellektuellen lebte.[42]
Russische und jüdische Frauen, häufig beides in einer Person, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Sie taten sich mehr als alle anderen als Rebellinnen hervor, und ihr Einfluß war beträchtlich, wie Nancy Green in diesem Buch zeigt. »Ich will nicht bloß Arbeit und Geld, ich will Freiheit«, äußerte eine jüdische Einwanderin bei der Ankunft in New York. [43] Die Memoiren Emma Goldmans zeigen exemplarisch, wie das Reisen zum Mittel der Emanzipation wurde.[44]

In die Kolonien[45]

Die Aussiedlung in die Kolonien war zunächst ein Zwangsmittel und hatte deshalb keinen guten Ruf. In Frankreich konnten Frauen, die zur Zwangsarbeit verurteilt waren, nach 1865 statt dessen die Verbannung nach Übersee wählen. Manche äußerten diesen Wunsch; doch insgesamt blieb die Zahl der weiblichen Deportierten gering: nach Neukaledonien gelangten zwischen 1870 und 1885 nur 400 Frauen; 1866 wurden in Cayenne auf 16 805 Männer nur 240 Frauen gezählt.[46] Nach 1900 wurde dieses gescheiterte Experiment eingestellt. Die nach der Pariser Kommune deportierte Louise Michel hat über die Kanaken einen einfühlsamen und klugen Bericht geschrieben und davon geträumt, später in Freiheit nach Neukaledonien zurückzukehren, um unter neuen Bedingungen mit den Eingeborenen zu leben.
Frauen, die frei waren, gingen nicht spontan nach Übersee. Die französische Armee schreckte sie ab. Die wenigen Offiziersfrauen, die es vor 1914 riskierten, lebten ziemlich einsam. Die weiblichen Hilfsdienste hatten einen schlechten Ruf; Isabelle Eberhardt sollte diesen Vergessenen einen Roman (Femmes du Sud) widmen. Ein paar Versuche, Frauen in Einwanderungskolonien zu ziehen, wurden von philanthropischen Vereinen unternommen. Die Societe francaise d'emigration des femmes aux colonies, 1897 von J.-C. Bert und dem Comte d'Haussonville gegründet und von den Zeitschriften Revue des Deux Mondes und Quinzaine coloniale unterstützt, veröffentlichte einen entsprechenden Aufruf. Auf diesen Aufruf hin meldeten sich 400 bis 500 Kandidatinnen, kultivierte, aber mittellose Frauen. Deren Briefe belegen, welche Phantasien diese Frauen mit den Kolonien verbanden: eine Mischung von Exotik, Missionseifer und Aufstiegswünschen. Dieser Aufruf fand keine Wiederholung. England engagierte sich viel stärker in der Kolonialbesiedlung. Zwischen 1862 und 1914 verhalfen mehrere Dutzend Gesellschaften mehr als 20 000 Frauen zur Ausreise in die Kolonien. Einige dieser Gesellschaften wurden von Feministinnen betrieben, die in der Auswanderung ein Ventil für überzählige Frauen (redundant women) sahen, die sich in der Mittelmäßigkeit der britischen Gesellschaft langweilten: Eine solche Gesellschaft war die Female Middle Class Emigration Society (1862-1886),  die von Maria S. Rye und Jane Lewin geleitet wurde. Rye wollte hauptsächlich mittellose junge Mädchen als Dienstboten vermitteln, während sich Lewin mehr für die Förderung der Mittelschichten interessierte. Doch dieses feministische Kolonialexperiment, das nur 302 Ausreisen zustande brachte, scheiterte und wurde nach 1881 von der viel effizienteren Colonial Emigration Society geschluckt, die nur ein schlichtes Büro zur Vermittlung von Stellen bei Kolonisten war.
Die Lebensverhältnisse der Europäer in den Kolonien waren so eingerichtet, daß sie die traditionelle Segregierung der Geschlechter nur noch verstärkten. Von dieser Seite war ausnahmslos keine Erweiterung des Horizonts zu erwarten. Die Einwanderung aus den Metropolen hat allenfalls die Geburt von weniger Mischlingen zur Folge gehabt. Die Signaren in Senegal zum Beispiel waren schwarzen Frauen, die vorher mit den ersten weißen Kolonisten zusammengelebt hatten. Einige wenige europäische Frauen entwickelten in der Kolonie einen neuen Blick, wie etwa Hubertine Auclert in Algerien (Les femmes arabes en Algerie, 1900) und die Schriftstellerinnen, die Denise Brahimi[47] aufgelistet hat. Einige andere nutzten die Ausweitung der Kolonialreiche, um ihre Sehnsucht nach Afrika oder dem Orient zu stillen.

Frauen auf Reisen

Nicht nur diese Auswanderungen ohne Rückkehr aus häufig dramatischen Beweggründen, auch die mit dem Aufschwung des Tourismus und des Bäderwesens häufiger gewordenen Reisen boten Frauen aus wohlhabenderen Kreisen Gelegenheit, von daheim wegzukommen. Die Ärzte dämpften allerdings das Fernweh der Damen unter Hinweis auf die für den Teint ruinösen Sonnenstrahlen und das chaotische Eisenbahnwesen, das den inneren Organen übel mitspiele. Auch wohlgemeinte Ermahnungen und Besorgnisse - die Last der Koffer, die Angst vor Fahrplänen, vor Übelkeit oder unangenehmen Begegnungen - trugen zur Abschreckung bei. Seebäder und Kurorte verstärkten die Trennung nach Geschlechtern und sozialer Schichtung; Frauen durften nicht schwimmen und auch nicht am Strand liegen, diese Vergnügen blieben den Männern vorbehalten.[48] Dennoch waren kleine Fluchten möglich, bei denen der durch Verbote geschärfte Blick zum bevorzugten Mittel wurde, Beziehungen zu knüpfen und Eroberungen zu machen. Die Zeichnungen, die Skizzen im Reisetagebuch, bald auch der Fotoapparat machten »Momentaufnahmen« möglich. Am Horizont zeigten sich bereits die jungen Radlerinnen am Strand von Baalbek (Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte).
In der prostestantischen Welt zuerst, verhaltener und später in katholischen Kreisen, gehörte die Reise bald zum Abschluß der Mädchenerziehung. Die Kenntnis von Fremdsprachen eröffnete jungen Frauen die ihnen erlaubte Tätigkeit des Übersetzens. Andere machten sich auf den Weg, die Kunstschätze Italiens oder Flanderns zu bewundern, die für ihr geduldiges Kopieren so viele Modelle anzubieten hatten. Waren Museen nicht nach Baudelaire der einzig passende Ort für eine Frau? Ein junges Mädchen konnte dort immerhin allerhand über die männliche Anatomie erfahren, und deswegen waren den katholischen Erziehern Kirchen lieber. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird das Äquivalent der von den Söhnen schon lange praktizierten »Rundreise« auch den Töchtern zuteil. Marguerite Yourcenar (1903-1988) hat sehr davon profitiert.[49] Als Reisende, Übersetzerin, Schriftstellerin ist sie aus dieser neuen, zugleich klassischen und europäischen Frauenkultur hervorgegangen und hat sie auf eine schöpferische Ebene gehoben. Das Reisen gehörte jedenfalls von nun an zu den Wunschvorstellungen der Frauen. Es wurde immer aufs neue genährt durch Lichtbildvorträge, Reiseandenken, Illustrationen in Zeitschriften im Stile von Tour du Monde oder Harper's Bazaar und von Weltausstellungen. Der Mittelmeerraum, Kleinasien und der Ferne Osten, später Afrika, wurden so im geographischen Weltbild der Europäerinnen verankert. Doch zu welchen Brüchen konnte dieses Fernweh eines Tages führen?
Mehr als die Bildungsreise interessiert uns hier die Reise als Aktivität, mit der die Frauen einen regelrechten »Ausbruch« aus ihren Lebensräumen und -rollen versuchten. Für diesen Normbruch waren Fluchtwille, Leiden, Ablehnung einer unerträglichen Zukunftsperspektive, Überzeugung, Entdeckergeist, Bekehrungsabsicht die Voraussetzung. Dies trieb die Saint-Simonistin Suzanne Voilquin nach Ägypten, die Gräfin Belgiojoso aus dem unterdrückten Italien ins befreiende Frankreich, russische Studentinnen zum »Volk«, Frauen mit Forschungsdrang in die Armenviertel der Städte - wobei das Volk, später der Arbeiter, für viele von ihnen die sublime Gestalt des Mitmenschen verkörperte;[50] und nicht zuletzt wohltätige Frauen, Feministinnen und Sozialistinnen zu ihren Kongressen. Die Bedeutung solcher Kongresse
für die politische Bildung der Frauen sollte nicht unterschätzt werden. Kongresse waren ein überaus leistungsfähiges Kommunikationssystem, eine Bühne der Repräsentation. Sie eröffneten den Delegierten die Möglichkeit, das Auftreten auf der Rednertribüne, den Umgang mit öffentlicher Meinung und Presse, die internationalen »Beziehungen« zu erlernen. In ihren Memoiren legte Emma Goldman großes Gewicht auf ihre Reisen als Funktionärin: Diese Reisen bestimmten den Rhythmus ihres Lebens; ständig auf Achse, stets auf politischen Versammlungen oder Konferenz»tourneen«, war sie der Prototyp des Reisekaders, dem Menschen und Reden wichtiger waren als Landschaften, und das genaue Gegenteil des Touristen, den übrigens auch Marx verabscheute. Jeanne Bouvier, im Oktober 1919 Delegierte auf dem internationalen Arbeiterinnenkongreß in Washington, lieferte einen begeisterten Bericht von ihrer Reise über den Atlantik, von der herzlichen Aufnahme und der Organisation der National Women's Trade Union League, die sie auf Frankreich übertragen wollte.[51] Schon immer strebten die Frauen ans Theater, doch durften sie dort keine Regie führen.[52] Der Kongreß war eine spektakuläre Revanche, die Gelegenheit zu einer legitimen Reise. Man sieht nur ihren Ernst, doch die geheime Lust bei der Sache kann man sich vorstellen.
Zum doppelten Vergnügen wurde das Reisen durch das Schreiben, für das es die Gelegenheit bot oder dessen Auslöser es war. Die Deutsche Sophie von La Roche (1730-1807) wäre eine leidenschaftliche Reisende geworden, wenn sie gekonnt hätte; auf der Durchreise in der Schweiz bestieg sie den Montblanc und berichtete darüber; ihr Tagebuch Eine Reise durch die Schweiz gilt als erste Sportreportage einer Frau. Die zweimal geschiedene Russin Lydia Alexandra Paschkow, Korrespondentin von Zeitungen in St. Petersburg und Paris, machte Reisebeschreibungen zu ihrem Beruf; 1872 reiste sie durch Ägypten, Palästina, Syrien und begeisterte sich an Palmyra, wo ihr Lady Jane zuvorgekommen war, und gab in der Zeitschrift Tour du Monde einen genauen Bericht darüber: Dieser erweckte in Isabelle Eberhardt (1877-1904) die »Sehnsucht nach dem Orient«, die sie noch viel weiter führen sollte. Zum Islam übergetreten, führte diese uneheliche Tochter einer in der Schweiz exilierten großen russischen Dame Krieg in Nordafrika unter dem Zeichen Mohammeds, eine junge Aufständische, die Marschall Lyautey faszinierte; bei ihrem Tode mit 27Jahren hinterließ sie ein unveröffentlichtes Werk, das den einfachen Menschen des Maghreb gewidmet war.[53]
Alexandra David-Neel (1868-1969) war eine zum Buddhismus übergetretene Forscherin und Orientalistin. Sie hinterließ von ihren Reisen im Fernen Osten ein Tagebuch in Briefen, die sie ihrem Mann bis zu seinem Tode im Jahre 1941 schrieb. Nach fast dreißigjährigem Aufenthalt in Asien kehrte sie schließlich 1946 mit 78 Jahren zurück. Zu ihrem Gepäck gehörte eine außergewöhnliche Dokumentation vorwiegend von Fotografien, die heute in ihrem Haus und Museum im französischen Digne zu bewundern ist. Von einem Lama-Kloster zum nächsten durchreiste sie von ihren Trägern begleitet das ganze Hochland von Tibet auf der Suche nach Material für ihr geplantes orientalistisches Werk und nach ihrem eigenen Seelenfrieden: »Wirklich, wenn man sich einmal dort oben aufgehalten hat,« schrieb sie ihrem Mann Philippe, »gibt es nichts — absolut gar nichts — mehr, was man noch tun oder sich anschauen könnte. Das Leben (ein Leben wie meines, das ein einziger langer Traum vom Reisen war) ist dann zu Ende, hat sein endgültiges Ziel erreicht.[54]
Jane Dieulafoy (1851-1916), eine im Kloster Maria Himmelfahrt geborene junge Frau aus guter Familie, war dem Anschein nach überhaupt nicht dafür prädisponiert, eine »Frau in Männerkleidern« zu werden, eine der ersten Archäologinnen, die mit ihrem Mann in Persien den berühmten Kriegerfries ausgrub, der heute im Louvre in einem Saal ausgestellt ist und ihren ansonsten vergessenen Namen trägt. Sie heiratete einen Absolventen der Ecole Polytechnique, den Ingenieur Marcel Dieulafoy, weil sie seine Vorliebe für Algerien und den Osten und seine kameradschaftliche Auffassung von der Ehe teilte. Sie sah sich als seinen »Mitarbeiter« und betonte dabei selbst das Maskulinum. Zunächst führte sie als Hilfskraft das Reisetagebuch und übernahm das Fotografieren und Kochen; später widmete sie sich immer mehr den
archäologischen Arbeiten, entwickelte ihre Beobachtungen über die iranische Gesellschaft und interessierte sich besonders für die Frauen, zu denen sie vertrauten Zugang gewinnen konnte, und wurde schließlich Schriftstellerin. Nach zwei Expeditionen von Persien nach Frankreich zurückgekehrt, fügte sie sich nur schwer wieder in den Alltag ein, legte trotz des öffentlichen Spotts ihre Männerkleidung nie wieder ab; mit kurzgeschnittenen Haaren und knabenhafter Gestalt ähnelte sie einem jungen Mann, der androgynen Leitfigur der Belle Epoque. Feministin mehr in ihrer Lebensart als in ihren Forderungen, trat sie gegen die Scheidung auf, die ihren katholischen Überzeugungen zuwiderlief. Das Reisen reißt nicht alle Grenzen ein; es legt im Gegenteil Widersprüche bloß.[55]
Reisen an sich bewirkt noch nichts. Aber welche Erfahrung! Durch das Reisen lernten die Frauen andere Kulturen kennen. Sie wurden schöpferisch tätig; sie experimentierten mit neuen Techniken, und ihr ausgeprägtes Verhältnis zur Fotografie ist verblüffend. Diese zunächst als nebensächlich erachtete Kunst, die so viele Handgriffe und den Aufenthalt in der Dunkelkammer erfordert, konnte den Frauen überlassen werden; und alsbald zeichneten sich etliche von ihnen in dieser Kunst aus Qulie Margaret Cameron, Margaret Bourke-White, Gisela Freund). Sie drangen in neue Disziplinen vor: Archäologie, Orientalistik, nicht ohne dabei auf Frauenhaß zu stoßen, der sie auf die Amateurrolle beschränken wollte: »Du lebst nicht in solchen Kreisen. Du hast keine Ahnung, wozu gewisse Leute imstande sind; ihr Haß auf den Feminismus gewinnt tagtäglich an Boden«, schrieb Alexandra.[56]
Vor allem haben sie ihre Freiheit als Subjekte durchgesetzt: in der Art, wie sie sich kleiden, in ihrer Lebensweise, ihren Entscheidungen, in religiösen und geistigen Dingen und in der Liebe. Auf die eine oder andere Art haben sie - bisweilen um einen sehr hohen Preis - geschlossene Kreise durchbrochen und die ihrem Geschlecht gesetzten Grenzen verschoben.

Die Brüche der Zeit

Durch welche Art von Brüchen wurde im 19. Jahrhundert das Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit und vor allem in der Politik gefördert? Was veränderte in dieser Hinsicht das Verhältnis der Geschlechter zueinander? Es soll hier nicht um die »Lage« der Frauen gehen. Um diese zu erläutern, wären die Technikgeschichte - Nähmaschine, Staubsauger - oder die Medizingeschichte - Fläschchen, Empfängnisverhütung - zu berücksichtigen, also alles, was man üblicherweise als »Modernisierung« bezeichnet.[57] Es geht hier vielmehr um die Frauen als Akteurinnen. Welchen Einfluß hatte auf sie das, was man üblicherweise Ereignisse nennt? Woraus besteht ein solches Ereignis der Sache nach?
Müßte der Begriff nicht weiter gefaßt oder verändert, auch auf die Kultur oder die Biologie ausgedehnt werden?
Es gibt zum Beispiel Bücher, die ein Ereignis waren, die mit ihrer Wirkung das Bewußtsein der Leserin veränderten, Gespräche, Kontakte und Austausch bewirkten und regelrecht objektivierten. Dazu gehören Die Verteidigung der Rechte der Frau (Mary Wollstonecraft), Die Unterwerfung der Frauen (J. Stuart Mill), Die Frau und der Sozialismus (August Bebel) und später auch Das andere Geschlecht (Simone de Beauvoir, 1949); auch Romane wie Corinne (Madame de Stael) oder Indiana (George Sand) eröffneten vielen Frauen neue Identitätsmuster. Durch ihr Leben ebenso wie durch ihr Werk scheint George Sand über die Landesgrenzen hinweg vor allem auch in Deutschland als Figur der Befreiung gewirkt zu haben. Die Forschung hat gerade erst begonnen, solchen Einflüssen nachzugehen.
Wie wirkten sich die Veränderungen des Unterrichtswesens auf den Zusammenhalt unter Frauen aus? Die angelsächsischen Colleges etwa waren auch Ort der Geselligkeit und Aktionsbasis. Welche Bedeutung hatte das Entstehen von Pionierberufen wie dem der Lehrerin, die bis nach Saloniki als leuchtendes Orientierungsziel wirkte? Die Öffnung und dann das Verbot des Medizinstudiums für Frauen in Rußland um 1880 spielte eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der in Europa besonders dynamischen Gruppe der Medizinstudentinnen.[58] Mit Sicherheit waren solche Schlüsselereignisse im Bildungswesen häufig Ausdruck und Kristallisationspunkt der politischen Kräfteverhältnisse.
Entsprechend der Bedeutung von Körper und Gesundheit muß man auch von biologischen Ereignissen ausgehen. Die Cholera 1831-1832 und in geringerem Maß die von 1859 machte den Einsatz von Frauen erforderlich; indem die Seuchen die Frauen in die Armenviertel zogen, veränderten sie deren Blick und Sprache und vermittelten ihnen Fachkompetenz. Bettina von Arnim und ihre deutschen Freundinnen nahmen angesichts der Wirkungslosigkeit der klassischen Heilmittel Zuflucht zur Homöopathie und hygienischen Prophylaxe. Auch Geißeln der Gesellschaft - Tuberkulose, Alkoholismus, Syphilis - waren Kampffronten, an denen Frauen bewußt in vorderster Linie standen, um für Frauen zu kämpfen, die eher Opfer als Verbreiter dieser Übel waren. Wie Josephine Butler bei ihrer Gesetzesinitiative zum Contagious Disease Act entwickelten sie bisweilen eine radikale Kritik an der »Männerzivilisation« und setzten ihr ein Ideal der »Reinheit« entgegen.
Ganz allgemein waren Fragen der Hygiene, der Krankenpflege, der medizinischen Berufe und vor allem der Gynäkologie und Geburtshilfe Gebiete, auf denen Mann und Frau in allen Ländern vom Ural bis zu den Appalachen hart gegeneinander standen. Bei Geburten waren erfahrene Matronen als Helferinnen inzwischen verdrängt worden. Zwischen den Ärzten und den Hebammen, denen Kaiserschnitt und Zangengeburt verboten waren, herrschte ein erbitterter Kampf. Dieser wurde verstärkt durch den Abtreibungsverdacht, dem die Hebammen immer mehr ausgesetzt waren. Ende des 19. Jahrhunderts führte die Furcht vor dem Geburtenrückgang dazu, daß der Staat die Geburtenkontrolle zu seiner Sache machte. Die juristische Repression von Abtreibung und Neomalthusianismus wurde härter und veranlaßte die Frauen, sich ihres Körpers politisch bewußt zu werden. Dieser Entwicklung ist Judith Walkowitz genauer nachgegangen.

Gegenüber dem Vater: Brüche in den Gesetzen

Da das Wirken des Parlaments sich nur vom Wahlrecht der Männer ableitete, war jedes Gesetz ungeteilter Ausdruck einer patriarchalischen Gewalt. Diese regelte das Verhältnis der Geschlechter auf eine Art, die man keineswegs als »beliebig« bezeichnen kann. Sie gehorchte im Gegenteil einer strengen Logik, die aber bisweilen einer solchen Beliebigkeit durchaus ähnelte. Die Debatten dieser Männerklubs sind im übrigen ein unerschöpfliches Reservoir an Bravourstückchen für eine Anthologie des Frauenhasses. Selten einmal gab es Gesetzesinitiativen zugunsten der Frauen. Im Bürgerlichen Recht und im Strafrecht war doch schon alles geregelt und sollte beibehalten werden. Verändert wurde allenfalls etwas zu ihrem »Schutz«, etwa in der Arbeitswelt, wo sie zunächst einmal den Kindern gleichgestellt wurden. Das erklärt die Zurückhaltung von Frauen gegenüber Maßnahmen, die diskriminierend wirken konnten. Wirklich egalitäre Gesetze waren äußerst selten. Deren Entstehung wirft die Frage auf, welche Motive der Gesetzgeber hatte. Nicole Arnaud-Duc hat die Doppelzüngigkeit der französischen Gesetzgebung von 1907 herausgearbeitet, mit der verheirateten Frauen freie Verfügung über ihren Lohn eingeräumt wurde, damit sie die Haushaltskasse einfacher aufbessern konnten. In ähnlicher Weise war es der Blick auf die Lage der Armen, der die englischen Parlamentarier dazu veranlaßte, das Eigentumsrecht für Frauen zu reformieren. Die soziale Nützlichkeit hatte stets größeres Gewicht als die Gleichberechtigung der Geschlechter.
Viele Frauen waren sich über die gesetzlichen Hindernisse im Klaren, über die sie täglich stolperten und die sie unablässig an ihre Minderwertigkeit erinnerten. Prozesse zeigten bisweilen ihre erbärmliche Lage auf und schärften ihre Meinungsbildung. So löste etwa die Affäre Norton die Reform des Rechts verheirateter Frauen auf Scheidung und Eigentum aus. Caroline Norton, die sich 1836 von ihrem Mann getrennt hatte, war eine berühmte Schriftstellerin geworden; da sie aber in Gütergemeinschaft verheiratet war, gehörte ihr Verdienst ihrem Mann, der sie vergeblich des Ehebruchs mit dem Premierminister bezichtigt hatte, um an das Geld zu kommen, und sich dann das Sorgerecht für ihre drei Kinder hatte zusprechen lassen. Sie protestierte mit einer aufsehenerregenden Streitschrift, die zum Ausgangspunkt des Gesetzes
von 1839 wurde, das getrennt lebenden Müttern erweiterte Rechte auf ihre Kinder gewährte. 1853-1855 ging sie erneut zum Angriff über (English Law for Women in the 19th Century, 1853; Letter to the Queen on Lord Cranworth's Marriage and Divorce Bill, 1855). Nach ihr nahm Barbara Leigh Smith (1827-1891), die Tochter eines liberalen Parlamentsmitglieds, den Stab wieder auf. Ihr gelang es, sowohl die öffentliche Meinung der Frauen zu mobilisieren, als auch das Interesse der von Lord Brougham geleiteten Law Amendment Society zu wecken. Das Scheidungsgesetz (Divorce Act) wurde 1857 beschlossen. Es enthielt bedeutende, aber für das Eigentumsrecht der Frauen ungenügende Regelungen. Weitere Schlachten mußten von Act zu Act (1870, 1882, 1893) geschlagen werden. Der Widerstand kam insbesondere vom House of Lords. Schließlich aber erhielten nicht nur geschiedene, sondern auch verheiratete Frauen das Recht, ungehindert über ihr eigenes Hab und Gut zu verfügen. Dieser Erfolg wurde ermöglicht durch die konzertierte Aktion von Feministinnen und Demokraten (J. S. Mill oder Rüssel Gurney) und durch öffentliche Kundgebungen von Frauen, die ausgelöst wurden durch dramatische Episoden wie das traurige Schicksal der Suzannah Palmer, die ins Elend gestürzt war. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Gesetzgebung gelangten Petitionen mit Tausenden von Unterschriften ins Parlament, und ein Großindustrieller und Abgeordneter berichtete, er könne seine Fabrik nicht mehr betreten, ohne daß ihm die Arbeiterinnen mit Fragen über den Fortgang der Reform zusetzten.[59]
Ähnlich war es in Frankreich zwischen 1831 und 1834: Der Vorstoß der Liberalen zugunsten des Scheidungsrechts wurde durch eine umfassende Petitionskampagne gestützt, in der die Frauen auf ihre Leidenssituation aufmerksam machten.[60] Daß Reformen so langsam vorankamen, sagten die Feministinnen, beweise die Notwendigkeit, den Frauen das Wahlrecht zu geben, damit sie ihre Sache selbst vertreten könnten. Unter Verknüpfung ziviler Rechte mit politischen Rechten wiesen sie nach, was das Recht auf Scheidung im Grunde war: die Anerkennung der Frauen als Individuen, »der erste Schritt auf dem Weg zur Staatsbürgerschaft für Frauen«.[61] Um so erbitterter war der Widerstand der Traditionalisten. »Rührt nicht an die französische Familie, denn sie ist zusammen mit der Religion die letzte Kraft, die uns bleibt«, verkündete Monsignore Freppel 1882 im Laufe einer Debatte von unerhörter Heftigkeit. [62] Das Bündnis von Republikanern aller Spielarten Freimaurer, Protestanten und Juden - war erforderlich, damit das Gesetz Naquet 1884 verabschiedet werden konnte.
Weil sie eine so grundlegende Bruchstelle ist, bietet die Scheidung ein gutes Beispiel dafür, was Gesetzgebung bedeutet: ein Kräftespiel, das sich ständig verändert, ein Schlachtfeld, auf dem sich alle beteiligten Gruppen messen, das Ausmaß der Hindernisse, die Natur der Bündnisse, der Wandel der öffentlichen Meinung. Für die Feministinnen als Mittlerinnen zwischen der Politik und der Gesamtheit der Frauen ist der Kampf um diese Gesetzgebung ein entscheidender Moment in einem nicht endenden Ringen, in dem sie die Macht ihrer politischen Präsenz prüfen können. Für den Feminismus des 19. Jahrhunderts ist die juristische Dimension entscheidend, denn die Justiz ist die Vaterfigur.

Gegenüber Gott: Brüche in der Religiosität

Die Intensität der Bande zwischen den Frauen und der Religion gibt religiösen Ereignissen einen besonderen Widerhall. Als komplexe Verbindungen von Disziplin und Pflicht, Geselligkeit und Recht, Praxis und Sprache haben Religionen wie ein Bleimantel auf Frauenschultern gelegen; aber Religionen haben ihnen auch Tröstung und Hilfe geboten. So kann die Feminisierung der Glaubensgemeinschaften im 90. Jahrhundert auch in einem anderen Sinn gelesen werden: als Zusammenschluß und als Einflußnahme,[63] allerdings nicht als Erwerb von Macht: sie blieb wie die Politik in Männerhand.
Dies gilt vor allem für die katholische Kirche, die in der Gegenrevolution und im Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes und der Unbefleckten Empfängnis erstarrt war. Dort waren Breschen seltener und Mobilisierungen und Kreuzzüge häufiger. Als die Kirche die Frauen über Frauenbünde, etwa die Ligue patriotique des Francaises,[64] in die Politik drängte, geschah dies, um ein durch und durch konservatives Familienbild zu festigen. Die Frau, die von der Kirche verherrlicht wurde, war immer die Frau im Schein der Lampe oder unter der Lampe. Die katholische Sozialbewegung hat die Fesseln etwas gelockert; aber ihre Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern waren eher mittelbar als direkt.
Der Protestantismus ist viel reicher an Brüchen. Jean Bauberot hat deren Gründe analysiert. Der deutsche Pietismus förderte schon zu Goethes Zeiten die Audrucksmöglichkeiten der Frauen. Die englischen und amerikanischen Erweckungsbewegungen waren jeweils günstige Gelegenheiten für Frauen, das Wort zu ergreifen. In Neuengland gründeten die Bostonerinnen Esther Burr und Sarah Prince, kultivierte Damen, deren Briefwechsel von Freundschaft und Innigkeit zeugt, sowie Sarah Osborne und Suzanne Anthony als einfache Frauen von Newport Ende des 18. Jahrhunderts Frauengruppen, ja sogar eine Female Society. Diese waren in ihrer religiösen und gesellschaftlichen Praxis äußerst radikal.[65] Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vervielfachten sich mit dem zweiten »Great Awakening« Sekten, die von Prophetinnen wie Jemima Wilkinson oder Anna Lee, der Begründerin der Shakerbewegung, geführt wurden. In einer Art vorläufiger Gleichberechtigung der Geschlechter unterwanderten diese Frauen, die sich häufig mit Randgruppen verbündeten, gleichzeitig Symbole, Riten und Heilsbotschaften. Sie geißelten die Recht- und Zuchtlosigkeit der neuen städtischen Gesellschaft; die 1834 in New York gegründete Female Moral Reform Society entrüstete sich über die Heuchelei der »Doppelmoral« und versuchte, allerdings ohne großen Erfolg, Prostituierte zu bekehren.[66]
In England führte die vor allem methodistische religiöse Erneuerung, die hinsichtlich der Geschlechterrollen sehr viel konservativer war, die Frauen zum Widerstand. Manche von ihnen bekannten sich zu einem Rationalismus, in dem das Soziale die Stelle des Sakralen einnahm: so etwa Emma Martin (1812-1851), die, allmählich zum Schweigen gebracht und zur »Ausgestoßenen« geworden, am Ende beschloß, Hebamme zu werden, ein Weg, den auch die Saint-Simonistin Suzanne Voilquin einschlug. Andere investierten ihre Energien in einen sozialistischen Erlöserkult, der von dem Glauben durchdrungen war, daß das Heil von den Frauen kommen müsse. Johanna Southcott (1750-1814), ein Dienstmädchen aus Devonshire, vernahm Stimmen mit der Verkündigung, sie sei »the Woman clothed with the Sun« und bekehrte mit ihren Predigten zahlreiche Gläubige; bei ihrem Tode waren es mehr als 100 000, darunter 60 Prozent Frauen. Der Owenismus als Mischung von streng rationaler Sozialwissenschaft und verbalem Erlöserkult verherrlichte gleichfalls den Auftrag der Frau.[67]
Solches tat auch der französische Saint-Simonismus. Er hatte keinen genauen religiösen Bezug, sondern war ein außergewöhnliches Kulturgebräu aus moralischem Feminismus, Bekehrungs- und Freiheitsdrang. Er suchte die Heilsmutter im Morgenland und weckte mit seinen Predigten die Begeisterung der Frauen durch den Aufruf, sie sollten »wie Männer das Wort ergreifen«.[68] Desiree Veret, Jeanne Deroin,
Eugenie Niboyet, Ciaire Demar sprachen und schrieben mit messianischer Überzeugung. Wie groß war dann die Enttäuschung, als der große Vater ganz in klerikaler Manier alle zurückstieß, die er gerufen hatte! Abfall vom Glauben und Selbstmord waren häufig die Antwort. All diese durch eine gemeinsame historische Archäologie, möglicherweise durch das revolutionäre Beben der Welt miteinander verbundenen Sekten waren Versuche, sich zu Wort zu melden und Verantwortung zu übernehmen, und ihr Erbe sollte das ganze Jahrhundert in Unruhe versetzen.

Gegenüber der Mutter Nation:
Kriege und Kämpfe um nationale Unabhängigkeit

Als eigentlich männliches Betätigungsgebiet haben Kriege eher die Tendenz, die traditionellen Rollen zu bekräftigen. Mit erhöhter Disziplin, und gestützt auf einen vor allem bei Frauen Schuldgefühle mobilisierenden Diskurs, wurden beide Geschlechter in den Dienst des Vaterlandes gepreßt, die Männer an der Front, die Frauen im Hinterland. Da versammelten sie sich, nähten, zupften Scharpie, kochten und pflegten vor allem Verwundete. Damit beschäftigten sich die Damen der patriotischen Frauenvereine in Deutschland 1813, und erst Rahel Varnhagens aufgeklärter Geist konnte sie dazu bringen, auch feindliche Verwundete zu versorgen. Die nach politischer Betätigung strebende Gräfin Belgiojoso erhielt von Mazzini 1849 die Organisation der Krankenhäuser und Notaufnahmen in Rom anvertraut; sie stellte mutige, aber verwahrloste Frauen der Unterschicht ein, denen sie erst Disziplin beibringen mußte: »Ich hatte ohne mein Wissen einen Harem eingerichtet«, schrieb sie; trotzdem verteidigte sie ihre Frauen gegen harsche Kritik.[69] Als mildtätige Damen professioneller geworden waren und ihre Meinung äußerten, kam es zu Konflikten. Das galt für Florence Nightingale auf der Krim ebenso wie für die Russischen Medizinstudentinnen, die im russisch-türkischen Krieg von 1878 eine Anerkennung ihrer Qualifikation forderten, übrigens ohne großen Erfolg.
Viele Frauen hätten gern mit der Waffe gekämpft; sie wollten Clorinde, Jeanne d'Arc oder Krimhild sein, Schießscharten besetzen, das Schwert führen. Doch der Dienst an der Waffe blieb ihnen versagt: »Wäre es passend oder auch nur anständig, wenn junge Mädchen und Frauen auf Wache ziehen und Patrouille gehen würden?« fragte Sylvain Marechal.[70] Er hätte hinzufügen können: »und die Soldaten verweichlichen«, denn es ging immer auch um Sexualität. Das Gesetz vom 30. April 1793 schickte die zu den Waffen geeilten Frauen zurück nach Hause und verbot ihnen jede weitere militärische Betätigung. Trotzdem blieben etliche in Verkleidung bei den Truppen.[71] Fortan haftete ein Makel an allen Frauen, die zu den Fahnen eilten. 1848 überschüttete man die deutschen Frauen und vor allem die Vesuvierinnen von Paris mit Spott. Diese bewaffneten Frauen aus dem Volk hatten sich erkühnt, eine »politische Verfassung für die Frauen«, das Tragen von Männerkleidung und den Zugang zu allen öffentlichen Ämtern zu fordern, »ob zivil, religiös oder militärisch«. Daumier, Flaubert und Daniel Stern (Pseudonym für Marie d’Agoult) zogen sie ins Lächerliche.[72]
Die Mittelmeerländer verhielten sich anders. Die Teilnahme von Frauen am griechischen Befreiungskrieg nicht nur in der Lebensmittelversorgung, sondern auch in der Verteidigung mit Waffen, verblüffte die internationale öffentliche Meinung. Es gab sogar Revolutionskommandantinnen im Stabsrang, dauerhaft ernannt und auf gleichem Fuß mit den Männern, reiche Frauen, Töchter oder Witwen von Insel-Reedern, die ihr Vermögen und ihren Namen in den Dienst der Sache gestellt hatten. Eine berühmte Figur ist Lascarina Bouboulina (1771-1825), die »Große Dame« und Mäzenin der Gesellschaft der Freunde, die die Erhebung vorbereitete. Sie spielte eine wichtige Rolle in der Belagerung von Tripoli, wo es ihr gelang, die Rettung der Frauen aus dem Harem von Hurchit Pascha auszuhandeln. Eine zweite ist Mado Mavrogenous (1797-1838), die die Notabeln ihrer Insel Mykonos zur Teilnahme am Aufstand bewog. Nach dem Massaker von Chios (1822) organisierte sie eine Miliz, die sie mit der Waffe in der Hand befehligte; sie schrieb einen Brief »An die Damen von Paris« und beschwor sie darin, die Sache der griechischen Christen gegen die Bedrohung durch den Islam zu unterstützen: »Ich wünsche mir einen Tag der Schlacht, wie Sie sich nach dem nächsten Ball sehnen«, schreibt sie darin. Von ihrer Familie verstoßen, weil sie deren Erbe in diesem Krieg verbraucht hatte, starb sie einsam und mittellos.[73] Das mit einer aristokratischen und religiösen Weltanschauung vereinbarte Bild der Soldatin wurde zunehmend unerträglich in diesem bürgerlichen Jahrhundert, für das die Gewalttätigkeit von Frauen, ob nun Kriminelle, Kriegerinnen, Terroristinnen, ein Skandal war, den Kriminologen (Lombroso, Die kriminelle Frau) als angeborene Veranlagung erklären wollten, um ihn aus der Welt zu schaffen.
Die Unterstützung nationaler Erhebungen durch Frauen mußte andere, erträglichere Formen annehmen. Königin Luise von Preußen, die polnischen Komtessen im Exil, die Gräfin Markievicz in Irland, die Fürstin Christina Belgiojoso stellten ihren Einfluß in den Dienst ihres Landes. Letztere war Journalistin, Historikerin, mit Augustin Thierry und Mignet befreundet und tat alles, um die Unterstützung der französischen Intelligenz und Regierung zu erlangen. Sie verzweifelte oft, untröstlich über ihren Ausschluß: »Was ich brauche, ist Schwerarbeit; und nicht bloß eine Arbeit der Feder, sondern Handeln. Doch wo solches für eine Frau finden?«[74] Die Krankenhäuser und Notaufnahmen wurden ihr anvertraut; dann kam das Zerwürfnis mit Mazzini, der Ruin, das Exil in der Türkei. Denn es herrschte allenthalben Mißtrauen gegen solche Frauen, die eine politische Rolle spielen wollten.
Die kollektive Erfahrung der Irinnen von der Ladies' Land League bietet hierfür ein weiteres Beispiel. Die Führer der Land League (Parnell), die für die Verteidigung der irischen Bauern engagiert kämpften, warben Frauen zur Unterstützung an. Doch auf Anregung von Parnells Schwestern, Ann und Fanny Parnell, organisierten sich die Frauen 1881 nach amerikanischem Vorbild in einer selbständigen Ladies' Land League. Sie wollten sich nicht auf reine Wohltätigkeit beschränken und nahmen den Widerstand gegen Exmittierungen selbst in die Hand, indem sie den Vertriebenen Notunterkünfte, huts zur Verfügung stellten. Sie radikalisierten die Bewegung und nahmen den Pachtstreik vorweg, was ihnen die Feindschaft der Großgrundbesitzer und der reichsten Bauern eintrug. Trotz ihrer Kollekten war ihr Budget defizitär und wurde zum Vorwand, ihnen die Verwaltungskompetenz zu bestreiten. Vor allem die veröffentlichte Meinung, mit protestantischen und katholischen Bischöfen an der Spitze, kritisierte ihr öffentliches Auftreten.
Diese Frauen, die sich vordem in politischen Versammlungen schüchtern im Hintergrund gehalten hatten, erklommen nun das Podium: das aber ging trotz aller gewahrten Zurückhaltung - Ann Parnell war immer in Schwarz gekleidet und sprach langsam und ruhig - zu weit. Die Familien kritisierten diese Frauen, die spätabends unterwegs waren und angeblich ihre Familien entehrten. Wurden sie etwa nicht immer wieder verhaftet und saßen mit gewöhnlichen Sträflingen in einer Zelle? Mary O'Connor mußte eine Haftstrafe von sechs Monaten zusammen mit Prostituierten absitzen. Im Dezember 1881 wurde  die Ladies' Land League verboten, desgleichen alle Frauenversammlungen; und Frauen wurden gleichzeitig auch aus der Irish National League ausgeschlossen. Fanny Parnell starb mit 33 Jahren; Ann überwarf sich mit ihrem Bruder und zog sich unter einem Pseudonym in eine Künstlerkolonie zurück. 1911 ertrank sie beim Schwimmen in zu hohem
Wellengang; über ihre Erfahrungen hat sie einen Bericht hinterlassen: The Land League Story of a great shame, der mangels Verleger lange Zeit unveröffentlicht blieb, und in dem sie über sich selbst nichts verlauten läßt.[75]
Vorübergehend als Hilfskräfte oder Stellvertreterinnen zugelassen, mußten Frauen stets erneut unsichtbar werden, sobald wieder Frieden herrschte. Nationale Befreiungskriege änderten nichts am Verhältnis der Geschlechter zueinander. Auch im 20. Jahrhundert ist das noch so. Dennoch fiel es den Frauen, die sich kennengelernt hatten, äußerst schwer, nun einfach an den häuslichen Herd zurückzukehren. Die deutsche Frauengeneration von 1813 hat im privaten Bereich die Verankerung gelockert. Die Amerikanerinnen des Bürgerkrieges setzten die Energie, mit der sie für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft hatten, in der Wohltätigkeit und in der Frauenbewegung ein.

Revolution, meine Schwester?

Revolutionen - wir haben es an der großen Französischen Revolution gesehen, die das Jahrhundert und dieses Buch eröffnete - verändern die Balance zwischen den Geschlechtern, weil es in ihnen um die Macht und um den Alltag geht. Sie waren Zäsuren der Frauenbewegung, wie Anne-Marie Käppeli zeigt. Während der Krieg dem individuellen Wollen im Namen der Staatsräson Schweigen gebot, ermöglichte die Revolution zumindest in ihren Anfängen, die Sehnsucht oder das Unbehagen auszudrücken, das sie hervorgebracht hatte. Warum ermöglichte sie es nicht auch den Frauen? Diese »großen Ferien des Lebens« konnten Frauen niemals im selben Maße genießen wie die Männer, da sie damit beschäftigt waren, die Lebensbedürfnisse der Familie zu sichern, was in solchen Zeiten noch schwieriger war als sonst. Doch letztendlich boten diese chaotischen Verhältnisse auch den Frauen zahlreiche Möglichkeiten, herumzukommen und Leuten zu begegnen.
Revolutionen schaffen genausowenig Einheit unter den Frauen wie unter den Männern. Auch das konterrevolutionäre Lager hatte seine Heldinnen und Getreuen; sie unterstützten die Priester, die nicht abschworen, und das wurde dann häufig als Argument gegen das Frauenstimmrecht ins Feld geführt. Aber das ist hier nicht unser Thema.
Uns interessieren die »Rechte«, deren Verkündung an Bedingungen geknüpft wird; das Universelle definierte seine Grenzen und Ausschlüsse. In diesem Raum voller Widersprüche entstand der Feminismus, der zumindest in Frankreich zunächst eher auf das Recht als auf die sozialen Verhältnisse zielte. Wie die Fremden, Bergleute, Leibeigenen und Armen aus dem neuen Recht ausgeschlossen, erlangten die Frauen bisweilen aus dieser Nachbarschaft eine gewisse Vertretungsmacht.
Frauen stehen bei Revolutionen nicht im Vordergrund. Zunächst bleiben sie als die üblichen Hilfstruppen im Schatten. So verhielten sich die Frauen vom 5. und 6. Oktober oder der Fete de la Föderation, deren einigende und mütterliche Rolle Michelet pries. Dann litten sie darunter, daß sie nicht beachtet wurden. Sie suchten Verbündete: in der ersten Revolution Condorcet und eine Handvoll Girondisten; in der Julirevolution 1830 die Saint-Simonisten, 1848 die Arbeiter; danach Freidenker, Freimaurer und Demokraten. Das Bündnis mit dem Sozialismus war, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in allen Ländern das häufigste und zugleich konfliktträchtigste, weil der organisierte Sozialismus vorrangig in Klassenkategorien dachte und ihm jede selbständige Frauenorganisation widerstrebte. Doch die gemeinsame Organisation mit den Männern bedeutete, daß die Frauen von Sprechern, die nicht die ihren waren, zum Schweigen verdammt wurden oder zotige Zwischenrufe in den Versammlungen hinnehmen mußten. Im Juni 1848 erklärte Eugenie Niboyet, die des ewigen »Gelärms« gegen sich überdrüssig war, daß »von nun an kein Mann mehr zugelassen wird, wenn er nicht von seiner Mutter oder Schwester vorgestellt worden ist« (La Liberte, S.Juni 1948), eine ironische Retourkutsche. Wenn die Frauen nicht erstickt werden wollen, brauchen sie Vereine, Clubs, Treffen und Zeitungen nur für sich. Wir wissen, was es damit allenthalben und ständig auf sich hat.
Auf die Revolution folgt immer die Restauration. Ob im Griechenland der Witteisbacher oder im Deutschland des Biedermeiers, im Frankreich Charles X. oder im Viktorianischen England und im Amerika unter Stonewall Jackson, überall sah die Restauration ihre Aufgabe darin, wieder Ordnung in den Sittenverfall zu bringen, der für die politische Anarchie verantwortlich gemacht wurde. Dazu gehörte stets als ein Teilziel die Unterwerfung der Frauen: Nicht von ungefähr brachte Napoleons Code civil eine Verschlechterung gegenüber dem alten Landrecht. Diese Meinung vertreten einige Juristen, aber auch Frauen: »Die Frauen haben weniger Rechte als unter dem Ancien Regime«, war 1838 im Journal des Femmes zu lesen. Der Gedanke des Rückschritts wurde von aktiven Frauen analog zur Pauperisierung gegen den fortschrittlichen Optimismus des Jahrhunderts gesetzt. Sie trösteten sich mit der anthropologischen Vision eines ursprünglichen Matriarchats, und der Marxismus versprach, dieses »historische Scheitern« der Frauen zu korrigieren. Im Stich gelassen von den Verbündeten, unterdrückt von der Staatsmacht, breitete sich unter Frauen eine ungeheure Gleichgültigkeit und ein tiefes Gefühl der Enttäuschung aus. Doch aus diesem nährte sich wiederum das »Wir« des Geschlechtsbewußtseins.
So erscheinen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in der Geschichte als ein dynamischer Prozeß, der sich aus Konflikten speist, die ihrerseits aus einer großen Zahl von Brüchen ungleicher Bedeutung und unterschiedlichster Art erwachsen. Eine bruchstückhafte Geschichte also? Das ist das Bild, welches gewöhnlich aufbewahrt und in den gleichgültigen oder herablassenden männlichen Geschichtsdarstellungen nach wie vor in Umlauf gebracht wird. In Wirklichkeit aber sind diese kurzfristigen Erschütterungen wahrscheinlich durch das Gewebe des kollektiven Gedächtnisses unsichtbar miteinander verbunden. Druckerzeugnisse, Erinnerungen, die Weitergabe häufig von Mutter auf Tochter bewerkstelligen eine gewisse Übertragung der Erfahrungen, und durch diese bildet sich ein Muster bewußter Gruppen, die schließlich insgesamt eine allgemeine Meinung begründen. Eine geschlechterbezogene Geschichte der öffentlichen Meinung müßte erst noch geschrieben werden.

Aus dem Französischen von Günter Seib

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