Neuerungen

Je suis femme.
Nee ici je mourrai. Jamals l'heureux voyage
Ne viendra de son alle ouvrir mon horizon.
Je ne connaitrai rien du monde depassage
Au-dela de ce mur qui borne ma maison (...)
Je suis femme.
Je resterai dans mon enclos...
Aux ages dont il reste un sillon de memoire,
Je nepourrai Jamals revivrepar l'histolre.
Pas un mot qui parle pour moi.
Je suis femme![1]
Clemence Robert, Paris Silhouette,
Gedichtsammlung, 1839

  Im 19.Jahrhundert aber geriet das Gleichgewicht in Bewegung; der Weg in die Moderne erforderte einen Wandel, und die Frauen selbst drangen immer nachhaltiger darauf, die Grenzen zu durchbrechen, die ihrem Geschlecht gezogen waren.
In den folgenden Kapiteln geht es um das vielfältige individuelle und kollektive Bestreben der Frauen, mit Raum und Zeit, mit Gedächtnis und Geschichtlichkeit auf neue Weise umzugehen. Frauen beteiligten sich an den Bewegungen jenseits des ihnen zugewiesenen häuslichen Geheges in Form von Reisen, Wohltätigkeitsaktivitäten, gewerkschaftlichem Handeln und Streik. Sie interessierten sich vor allem für den Feminismus, ohne Zweifel die Neuheit des Jahrhunderts. Anne-Marie Käppeli schreibt über Entstehen, Schlüsselereignisse, Ausdrucksformen (in Vereinen, durch Zeitschriften . . .), Forderungen und Vorkämpferinnen (welche Fülle von Namen und Werken, die ein spezielles Nachschlagewerk erfordern würde) des Feminismus, sie berichtet über seine Bündnisse (vor allem das konfliktbeladene mit der sozialistischen Bewegung, die in Klassen- und nicht in Geschlechterverhältnissen dachte) und die Vielfalt seiner Formen und Debatten. Je mehr sich der Feminismus ausbreitete, um so pluralistischer und widersprüchlicher wurde er. Zwischen dem Feminismus der Gleichheit als Assimilation an die Männer und dem Feminismus der dualistischen Differenz entbrannte schon damals der Streit. Die dualistische Auffassung des Männlichen und des Weiblichen mochte riskant sein, doch sie führte zu tiefen Einsichten über geschlechtsspezifische Unterschiede, die zuweilen Entdeckungen Sigmund Freuds vorwegnahmen. Frauen beteiligten sich auch an anderen Bewegungen, etwa an denen für vegetarische Lebensweise, für Tierschutz und Homöopathie. Viele Frauen traten gegen den Krieg auf, und einige betonten bereits, daß »das Private politisch ist« (Olive Schreiner). All dies verwies auf eine alternative Vision der Welt und der Existenz. Gewiß, dem Versuch, die verstreuten Gedanken und Werke dieser zersplitterten Minderheiten zusammenzutragen, haftet etwas Künstliches an. Doch ganz ohne Frage ist das Durchsetzungsvermögen dieser Gruppen größer als ihr zahlenmäßiger Umfang. Immer entschlossener machten sich einzelne zu Sprecherinnen und redeten von »uns Frauen«. Immer wieder verblüfft, wie rasch sich Ideen des Feminismus über ganz Europa verbreiteten und auf andere Kontinente übersprangen. Damals herrschte so etwas wie ein »goldenes Zeitalter« des abendländischen Feminismus, der teilhatte an der Entwicklung von Demokratie und Individualismus. Der Feminismus beschleunigte das Entstehen der »neuen Frau« um die Jahrhundertwende, und ob die »neue Frau« nun gefeiert oder geschmäht wurde, sie zwang in diesem Fall die Männer zur Selbstbesinnung und Neudefinition.
Es ließe sich unschwer zeigen, wie begrenzt diese Veränderungen blieben und wie stark auf allen Ebenen des Wirtschafts-, Berufs-, Kultur- und vor allem des politischen Lebens die dem Aufstieg der Frauen entgegenstehenden Widerstände waren. Ausführlich könnte man schildern, wie träge die Gesetzgebung reagierte und wie auch weiterhin Männerreservate (Klerus.
Armee, Staatsdienst, Wissenschaft) hermetisch verschlossen blieben, wie die Grenzen des Wissens ständig hinausgeschoben wurden und in welcher zufriedenen oder resignierten Passivität die Mehrheit der Frauen verharrte und oft den wenigen wagemutigen Frauen eher feindlich gegenüberstand. Auch ist zu bedenken, daß Meinungsfronten nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern quer durch beide verliefen, was das Ganze noch unübersichtlicher macht. Der allgewaltige Familienvater des Bürgerlichen und des Strafgesetzbuches war zwar angeschlagen, stand aber noch fest auf den Beinen. Der alte Adam bot der neuen Eva die Stirn.
Veränderungen werden dennoch in den Beiträgen dieses Bandes faßbar und sichtbar. Die Forderung der Frauen nach dem Recht auf den eigenen Körper, nach Zugang zum Wissen über Sexualität - den verbotenen Früchten vom Baume des Paradieses - war ein womöglich noch flüchtiges und scheues Vorzeichen ihrer Emanzipation, deren mögliche Auswirkungen im Bewußtsein der Männer bereits Angst und Schrecken auslöste. Von Wien bis London, von Stockholm bis Boston waren Roman und Theater besessen von dieser fixen Idee. An die Stelle der romantischen -Anbetung« der Frau trat nun rabenschwarzer Naturalismus. Muse und Madonna mutierten zum zänkischen Eheweib, zur entmannenden Mutter, zur würgenden Geliebten, zum selbständigen Mannweib, zur fordernden, unbefriedigten Krakenfrau, wie sie die Medusa des Modern Style verkörperte. Der Jugendstil, der die schlangenhafte Geschmeidigkeit des ungreifbaren Frauenleibs mit seinen verschlungenen Formen fassen wollte, scheint eine Art Beschwörung gewesen zu sein.[2]
Die Identitätskrise der Männer wurde in den Fieberträumen einer wuchernden Phantasie zwar überzeichnet, war aber nichtsdestoweniger real. Sie wurde von den in ihrer Allmacht und Selbstgewißheit erschütterten, untereinander und über die Frauen heillos zerstrittenen und am Kreuzweg unentschlossen verharrenden Männern unterschiedlich intensiv erlebt. Die Einübung der Freiheit ist eine harte Schule. Sie erschöpft sich nicht darin, einfach Individuum zu sein.
Die Krise des Rückfalls, die jedesmal aufbricht, wenn die Teilungen zwischen den Geschlechtern neu definiert werden - diese Momente in der Geschichte zu ermitteln, wäre eine lohnende Aufgabe -, erlangte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine besondere Schärfe. Die leidenschaftliche Debatte über das Matriarchat ,[3] das Erscheinen von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) und sein Selbstmord kurz danach,[4] Marinettis Futuristisches Manifest mit seiner Aufforderung zur »Bekämpfung von Moralismus und Feminismus« und zur »Verherrlichung des Krieges als einziger Welthygiene« sind allesamt symptomatisch für diese Krise der Identität.
Der Weltkrieg wurde in gewisser Weise eine Rückkehr zur alten Ordnung der Geschlechterverhältnisse. Das 19. Jahrhundert aber hatte grell beleuchtet, wie sehr diese Verhältnisse geschichtlich waren.
G.F.-M.P.