Den Frauen das Wort

Germaine de Stael und Lou Andreas-Salome

Diese beiden großen Frauenpersönlichkeiten sind nicht die Heldinnen und Vorzeigefiguren, wie sie in einer bestimmten Geschichte der Frauen gern dargestellt werden; berühmt sind sie allerdings, sogar sehr berühmt. Ausnahmeerscheinungen waren sie in mehr als einer Hinsicht. Es war ihnen vergönnt, ohne materielle Sorgen zu leben. Diese Unabhängigkeit wußten sie zu nutzen, um Reisen quer durch Europa zu unternehmen, durch Deutschland, die Schweiz, England, Italien; um Vorurteile zu widerlegen, die letztlich alle darauf hinausliefen, daß eine Frau auf keinen Fall zeigen dürfe, wie selbständig sie ist; um nicht vor Schreck zu erstarren, wenn sie sich gleichsam selbstverständlich als Gesprächspartnerinnen großer Männer wiederfanden. Sie lebten und verkörperten ihre Zeit.

Germaine de Stael
»Frauen, die die Kultur des Briefschreibens pflegten«

Madame de Stael wuchs auf unter dem Ancien Regime, wo es einigen Frauen gelang, sich mit ihrem Salon ein eigenes »Reich» zu schaffen und dort bisweilen mit persönlicher Größe einen Ausnahmestatus zu genießen. Doch als sie voll im Leben stand, wurde sie als selbständige Frau sowohl in der Ersten Republik als auch im napoleonischen Kaiserreich mit Mißtrauen betrachtet. Es ist also mehr als verständlich, daß sie sich nach dem Zeitalter der Aufklärung zurücksehnte und diese künftig allen Menschen zugänglich machen wollte. Germaine de Stael klagte, wie sehr sie leide und wie schwer ihr der Übergang von der einen in die andere Welt, von der Monarchie in die Republik falle; doch sie wußte auch, daß »geistige Genüsse dazu da sind, vor den Stürmen der Seele Ruhe zu bieten«. In dem nachstehend abgedruckten Text zeigt sie sich so klarsichtig, daß man ihrem Vergleich zwischen den zwei historischen Welten, die ihr beide gleichermaßen keinen angemessenen Platz zugestanden haben, willig folgt. In ihren Reflexionen scheint zudem das auf, was jenseits ihrer Amouren das Wesentliche in ihrem Leben als Frau war, nämlich ihre Leidenschaft für die Übung des Geistes und das intellektuelle Leben ihrer Zeit sowie die Gewißheit, daß das öffentliche Leben generell und auch für eine Frau wichtig sei. Madame de Stael kam ihrer Zeit nicht gelegen, doch sie entschied sich dennoch, mit dem vollen Einsatz ihres Seins darin mitzuspielen. So streng sie auch immer über ihre Zeitgenossinnen urteilte, fiel sie ihnen doch nie in den Rücken: Im klaren Bewußtsein ihrer eigenen Vorzugsstellung gab sie nie den Gedanken auf, daß Frauen ein besseres Los beschieden sein müsse und daß deren Mangel an Solidarität nur der Unwissenheit und dem Vorurteil geschuldet sei.

»Das Leben der Frauen in der Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht noch ungewiß. Der Wunsch zu gefallen beschäftigt ihren Geist; die Vernunft rät ihnen, im Verborgenen zu bleiben; und ob sie erfolgreich sind oder scheitern, hängt rein vom Zufall ab.
Ich glaube, es wird eine Zeit kommen, wo weise Gesetzgeber sich ernsthaft der Frage widmen werden, welche Erziehung Frauen zuteil werden, welche bürgerlichen Rechte Frauen schützen, wieviel Pflicht ihnen abverlangt und wieviel Lebensglück ihnen zugesichert werden sollen; doch beim heutigen Stand der Dinge haben sie in ihrer Mehrheit weder in der natürlichen Ordnung noch in der Gesellschaftsordnung einen Platz. Was den einen zum Vorteil ausschlägt, stürzt andere ins Verderben; mal gereichen ihnen ihre Vorzüge zum Schaden, mal ihre Mängel zum Nutzen; mal sind sie alles, mal sind sie nichts. Ihr Schicksal ähnelt in mancher Hinsicht dem der Freigelassenen im alten Rom: streben sie nach Höherem, hält man ihnen die vom Gesetz nicht zugestandene Macht als Verbrechen vor; bleiben sie Sklavinnen, ist Unterdrückung ihr Los.
Gewiß ist es im allgemeinen durchaus besser, wenn sich die Frauen ausschließlich den häuslichen Tugenden widmen; doch das Merkwürdige am Urteil der Männer über sie ist,  daß den Frauen Pflichtvesäumnisse eher vergeben werden, als wenn sie durch herausragende Begabungen Aufsehen erregen; seelische Verkümmerung der Frauen zur Kleingeisterei wird gern hingenommen, während wahre Geistesgröße auch vor den Augen der ehrlichsten Männer kaum Gnade finden würde.
Ich werde die diversen Ursachen dieser Ausnahmestellung darlegen. Ich beginne zunächst mit der Untersuchung, welches Los literarisch tätige Frauen in den Monarchien, und welches sie in den Republiken zu erwarten haben. Sodann werde ich charakterisieren, worin sich das Los der Frauen, die nach literarischem Ruhm streben, unter diesen beiden Staatsformen hauptsächlich unterscheidet. Abschließend betrachte ich allgemein, welches Glück denjenigen Frauen verheißen wird, die nach Ruhm streben.
In den Monarchien müssen sie fürchten, der Lächerlichkeit, in den Republiken, dem Haß preisgegeben zu werden. (...)
Seit der Revolution meinen die Männer, es sei politisch und moralisch von Nutzen, Frauen auf das absurdeste Mittelmaß zu beschränken; seither reden die Männer nur noch in einer elenden Sprache ohne Anstand und Geist zu den Frauen und die Frauen haben keinen Antrieb mehr, den eigenen Verstand zu entwickeln; die Sitten sind darob nicht besser geworden. Die Weite der Ideen zu beschränken, war kein Weg, um die Einfalt der ersten Lebensjahre zurückzuholen; die Folge war allein, daß der weniger entfaltete Geist zu minderem Anstand, zu geringerer Achtung vor dem Urteil der Öffentlichkeit, zu weniger Möglichkeiten, die Einsamkeit zu ertragen, geführt hat. Es ist zu dem gekommen, was für die heutige Geistesverfassung kennzeichnend ist: man glaubt allenthalben, die Aufklärung selbst sei schädlich gewesen und möchte den Schaden beheben, indem man die Vernunft zum Rückzug zwingt. Doch der durch die Aufklärung verursachte Schaden kann einzig durch noch mehr Aufklärung geheilt wrerden. Entweder ist Moral völlig falsch, oder es trifft zu, daß sie um so höher wird, je aufgeklärter man ist. (...)
Niemals können die Männer in Frankreich in solchem Maße republikanisch werden, daß sie völlig ohne die Unabhängigkeit und den Stolz, die den Frauen von Natur aus gegeben sind, auszukommen vermöchten. Im Ancien Regime hatten Frauen zweifellos zu großen Einfluß auf Staatsangelegenheiten; doch Frauen sind keineswegs minder gefährlich, wenn sie der Aufklärung und folglich der Vernunft entbehren; ihr Einfluß richtet sich dann auf maßlose Zufallsgelüste, auf Entscheidungen ohne Unterscheidungsvermögen, auf Empfehlungen ohne Anstand; sie ziehen dann jene herab, die sie lieben, anstatt sie emporzuheben. Und was gewönne der Staat dabei? Selten besteht Gefahr, einer Frau zu begegnen, deren Vortrefflichkeit im Mißverhältnis zur wahren Bestimmung ihres Geschlechtes steht: muß die Republik ob dieser geringen Gefahr des Ruhmes entraten, den Frankreich durch seine Gefälligkeit und Lebensart in Europas Gesellschaft genoß? Ohne Frauen kann die Gesellschaft weder angenehm noch reizvoll sein; aber Frauen ohne Geist oder ohne jene anmutige Gesprächsfähigkeit, die eine erlesenste Erziehung voraussetzt, verderben die Gesellschaft, anstatt sie zu zieren; sie bringen eine gewisse Nichtigkeit in die Konversation und eine Plattheit in den Umgang, eine gemeine Spottlust, die am Ende alle wahrhaft vortrefflichen Männer abschrecken müßte und die glanzvollen Abende von Paris zur Begegnung junger Männer, die nichts zu tun haben, mit jungen Damen, die nichts zu sagen haben, herabsinken ließe.
Man kann in allem Menschlichen Mißliches entdecken. Man findet es mit Sicherheit in der Vortrefflichkeit von Frauen, sogar in der von Männern, in der Selbstverliebtheit geistvoller Menschen, in der Ruhmsucht von Helden, in der Naivität großer Seelen, in der Reizbarkeit unabhängiger Denker, im Tatendrang Mutiger, et cetera. Aber müssen deswegen natürliche Vorzüge aus Leibeskräften bekämpft und alle Einrichtungen darauf ausgerichtet werden, die Fähigkeiten herabzuwürdigen? Daß eine solche Herabwürdigung die Autorität der Familie oder der Regierung stärken könnte, ist kaum zu vermuten. Frauen ohne Sinn für Gespräch oder Literatur sind gewöhnlich geschickter darin, sich ihren Pflichten zu entziehen; und Nationen ohne Aufklärung können nicht frei sein, sondern wechseln nur öfter den Herrn.
Frauen wie Männer, Nationen wie Einzelmenschen aufzuklären, zu bilden und vollkommener zu machen, das ist immer noch das beste Geheimrezept für alle Zwecke der Vernunft, für alle gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, denen ein dauerhaftes Fundament gegeben werden soll.
Daß Frauen Geist haben, könnte nur aus wohlmeinender Sorge um ihren Seelenfrieden Anlaß zur Befürchtung sein. Sobald ihr Verstand geweckt wird, werden sie nämlich möglicherweise auch darüber aufgeklärt, wie unglücklich ihr Los ist. Die gleiche Logik gilt jedoch allgemein für jede Aufklärung über das Glück der Menschen, und diese Frage scheint mir geklärt.
Wenn die Lage der Frauen nach dem bürgerlichen Recht noch sehr zu wünschen übrig läßt, muß daran gearbeitet werden, ihr Los zu verbessern, anstatt ihr geistiges Niveau zu senken. Es ist für die Aufklärung und das Glück der Gesellschaft nur von Nutzen, wenn auch die Frauen ihren Geist und Verstand sorgfältig pflegen. Nur ein einziges wirklich unseliges Mißgeschick könnte sich aus einer erlesenen Erziehung, wie sie den Frauen gewährt werden muß, ergeben: daß nämlich die eine oder andere Frau ihre herausragenden Fähigkeiten entfaltet und dabei ein Bedürfnis nach Ruhm entwickelt. Doch auch ein solcher Zufall würde der Gesellschaft keinerlei Eintrag tun und geriete nur jener sehr kleinen Anzahl von Frauen zum Schaden, die von der Natur für die Leiden einer beschwerlichen Vortrefflichkeit ausersehen sind.
Wenn es eine Frau gäbe, die vom geistigen Ruhm in Bann geschlagen und nach solchem streben würde, wie einfach wäre es doch, sie rechtzeitig davon abzubringen! Man würde ihr vorführen, zu welchem schrecklichen Los sie sich selbst zu verdammen bereit sei. Sehen Sie sich nur die Gesellschaftsordnung an, würde man ihr sagen, und Sie werden gleich merken, daß sie ganz und gar gewappnet ist gegen eine Frau, die sich auf die Höhen des Ansehens der Männer aufschwingen will. (...)
Ruhm kann einer Frau sogar zum Vorwurf gemacht werden, denn er steht im Gegensatz zu ihrer natürlichen Bestimmung. Die strenge Tugend verurteilt sogar das an sich Gute und deswegen Gerühmte, weil es die Vervollkommnung der Bescheidenheit irgendwie mindert. Männer von Geist staunen, wenn ihnen in Frauen Rivalinnen erwachsen, und sie können weder mit dem Großmut des Gegners noch mit der Nachsicht des Beschützers über sie urteilen, sie achten in diesem neuen Kampfe weder die Regeln der Ehre noch die des Herzenstakts.
Würde eine Frau, um ihr Unglück vollkommen zu machen, inmitten politischen Zwistes zu großer Berühmtheit gelangen, so würde man ihren Einfluß sogar dann für schrankenlos halten, wenn sie überhaupt keinen hätte; man würde ihr an allem, was ihre Freunde tun, die Schuld geben; man würde sie für alles hassen, was sie liebt, und man würde sie als Wehrlose zuerst angreifen, bevor man sich jene vornähme, die man vorerst vielleicht noch fürchtet. (...)
Das ist noch nicht alles. Die Öffentlichkeit scheint die Männer von allen Pflichten gegenüber einer Frau zu entbinden, der ein vortrefflicher Geist zuerkannt wird: man darf sie undankbar, gemein, bösartig behandeln, ohne daß die Öffentlichkeit auf den Gedanken käme, Genugtuung für die so verletzte Frau zu fordern. Ist sie etwa keine außergewöhnliche Frau? Damit ist alles gesagt; sie bleibt sich selbst überlassen, sie muß allein mit ihrem Schmerz fertigwerden. Oft fehlt es ihr sowohl an der Zuwendung, die eine Frau auf sich zieht, als auch an der Macht, die das Mannsein garantiert; sie muß die Besonderheit ihres Daseins leben wie ein indischer Paria, zwischen allen Klassen der Gesellschaft, denen sie nicht angehören kann und die sie stets als eine Frau betrachten, die ganz auf sich selbst gestellt existieren muß: als Gegenstand der Neugier, vielleicht des Neides, als eine Frau, die in Wirklichkeit nur Mitleid verdient.«

Aus De la litterature (1802)

Lou Andreas-Salome
»Die Humanität der Frau«

Am Ende des 19. Jahrhunderts stand Lou Andreas-Salome in voller Reife. Sie war sich ihrer Chancen, ein freies Leben zu führen und ihre Fähigkeiten voll auszuschöpfen, weitaus gewisser als Madame de Stael. Staunend sieht man, wie sie das ihr Mögliche auslotete, wie sie die traditionelle Muse des Mannes und gleichzeitig die schöpferische Frau, die neue Intellektuelle wurde. Ihre Gesprächspartner Nietzsche, Rilke oder Freud erkannten das sehr wohl und suchten den Dialog mit ihr. Sie sang das Hohelied der Entfaltung der Frau zu ihrer spezifischen Fraulichkeit und in ihrer Verschiedenheit zum Mann. Für sie gab es zweierlei Welten, für jedes Geschlecht eine, und aus ihrer Sicht war es keineswegs sicher, daß es sich in der Welt der Frau schlechter lebte. Sie definierte den weiblichen Tätigkeitsbereich vom Geschlecht der Frau, also vom weiblichen Körper her neu. Bei der Frau gebe es keine Trennung von Körper und Geist. Daraus folge die Gewißheit, daß sich die Frau im Gegensatz zum Manne nie von sich selbst abspalte. Schwieriger ist es allerdings, ihre Folgerungen aus diesem Denken der sexuellen Differenz zu akzeptieren. Die Frauenemanzipation erschien ihr als triste Imitation des Weges der Männer, als Falle des Drangs zur Nachahmung. Lind obwohl sie durchaus erkannte, warum die Frau versucht war, den häuslichen Kreis zu verlassen, glaubte sie dennoch, daß ebendort deren wahre Berufung liege. Ihre eigene Berufung sah sie ganz offensichtlich nicht dort. Deswegen berührt ihr Text so merkwürdig: Wer spricht in dem Text, oder vielmehr was für eine Frau spricht dort?

»In dieser ihrer geistigen Eigenart ist, wie in ihrem übrigen Wesen, das Weib ebenfalls viel stärker durch ihre Physis bedingt und gebunden, als der Mann. Über diesen Punkt wird meistens möglichst konventionell hinweggesehen, und gerade von Frauen, weil sie es gern so darstellen, als ob überhaupt nur kränkelnde weibliche Wesen von den wechselnden Dispositionen ihres körperlichen Organismus etwas bemerkten. Und doch ist das, was selbst dem gesundesten, blühendsten Weibe unweigerlich als bestimmendes Gesetz seiner ganzen Physis im Unterschiede vom Mann inne wohnt, nichts, wodurch sie sich hinter den Mann zurückgestellt vorkommen dürfte, vielmehr wodurch sie sich in der weiblichen Besonderheit ihrer Kraft neben ihm behauptet; es handelt sich dabei ja um etwas außerordentlich Wichtiges und Wirksames, nämlich um den natürlichen Rhythmus ihres physischen wie seelischen Lebens. Des Weibes Leben folgt darin einem verborgenen Takt, einem rhythmischen Auf und Nieder, das sie ganz von selbst in einen, immer neu anhebenden, immer neu mündenden Kreislauf hineinhebt, in dem sich all ihr Sein mit allen seinen Äußerungen harmonisch wiegt. So ist auch körperlich, gerade wie geistig, nicht die vorwärtsstrebende, sich immer feiner und weiter zerspaltende Linie des Weibes Art, sondern es ist, als beschriebe sie Kreis um Kreis schon mit der bloßen Tatsache ihres Lebens. Seltsam ist es, diesen Lebensrhythmus immer nur entweder totzuschweigen oder als etwas ganz Gleichgültiges hinzustellen, während er vielmehr - gerade für den völlig gesunden, seines Körpers völlig sichern - Menschen eher den Gedanken an Feier und Sammlung, an eingestreute Sonntage, an Stunden tiefen, heitern Friedens weckt, von denen sich der Alltag immer neu überschauen, klären und ordnen ließe, und an denen Blumen auf den Tisch und ins Gemüt gehören: weil sich in ihm noch einmal, im engsten physischesten Sinne, wiederholt, was das innere Wesen des Weibes auch im Großen und Ganzen ausmacht. Obgleich die Zeiten wohl allmählich vorübergehen, in denen die Frauen gemeint, dem Manne in jeglichem, worin sie sich als tüchtig ausweisen wollten, nachahmen zu müssen, und in denen sie (nicht nur als Schriftstellerin!) unter männlichem Pseudonym arbeiteten. - so sind sie doch noch immer zu weit davon entfernt, auf alles was des Weibes ist, mit ehrfürchtigem Auge zu sehen. Ehe sie das nicht tun und sich in ihrer Verschiedenheit vom Manne, und zunächst ganz ausschließlich in dieser, so hingebend und tief wie möglich zu begreifen suchen, - alle leisesten physischen wie psychischen Winke dafür treu benutzend, - so lange werden sie auch gar nicht wissen, wie breit und mächtig sie sich im Bau ihres eigenen Wesens auseinander falten können, und wie weit die Grenzen ihrer Welt in Wahrheit sind. Das Weib ist noch immer nicht genügend bei sich selbst und eben insofern noch nicht genügend Weib geworden, wenigstens nicht so, wie es in der Sehnsucht der besten Männer ihrer Zeit und in ihrer eigenen Sehnsucht lebt. Ehemals fehlte es ihr dazu, wie den ehemaligen Menschen überhaupt, an geübter Selbsterkenntnis und an Freiheit von eingebürgerten Gewohnheitsvorurteilen, sie kannte nicht alle ihr zugehörenden Schätze und Gemächer, und getraute sich nur in den allernächstliegenden zu wohnen und sie mit dem allernächstliegenden zu schmücken. Später aber folgte sie, kopfscheu gemacht, mit wunderlicher Stupidität dem Lockruf aus ihrem eigenen Hause heraus, hinaus auf die Landstraße. Leider ist er ja auch vielen, die ihm gar nicht folgen möchten, nicht als Lockung sondern als Drohung, zu gleichem Schicksalsruf geworden, einfach weil die Einsicht in eine soziale Notwendigkeit, mag dieselbe immerhin ein soziales Übel sein, sie hinauszwingt in einen Kampf, bei dem sie die Ellenbogen brauchen müssen und rastlos, ruhelos, in zersplitternder Einzelbetätigung um sich hauen wie der Mann. Auf diese Tatsache selbst, die sich mit Worten nicht ans der Welt schaffen läßt, ist hier nicht der Raum einzugehen. Nur soviel ist gewiß: daß es gerade für einen solchen Existenzkampf am wünschenswertesten wäre, wenn das Weib seinen guten Magen bekunden und auch die härtesten Bissen verdauen könnte, ohne an seiner eigenen Schönheit einzubüßen, - daß sie ihren weiblichen Stempel auf die Dinge drückte, anstatt sich in ihnen aufzugeben, und daß sie, selbst unter gewisser Einbuße an tadelloser Konkurrenzfähigkeit, ein klein wenig Weibesseele, Heimat und Harmonie dorthin brächte, wo keine sind, wo sie aber vielleicht leise wirken könnten. Wer sich als stärker erweisen wird: das Weib, oder aber das, was es sich Unweibhaftes zumutet, - das muß die Zeit lehren.
Außer diesem Umstande treibt jedoch heutzutage noch ein anderer das Weib in Scharen aus der Enge des bloßen Familienkreises fort, und das ist der nicht zu leugnende selbständige innere Hunger nach kräftigerer und mannigfaltigerer Nahrung, als sie daheim ohne weiteres vorfindet. Diese beiden Sachlagen dürfen nicht miteinander verwechselt werden: es kann nämlich mit einem scheinbar recht emanzipatorischen Ziel vor den sehnsüchtigen Augen ein junges Wesen doch nur sich selbst und seine eigene Entwicklung suchen. Vielleicht greift es sogar nach einem bestimmten äußern Beruf, der ihm gar nicht zusagt, während es mit alldem doch nur nach den verschiedenen Wegen herumtastet, die es in sich selbst gehen will, um sich selbst einmal ganz zu umfassen, ganz zu besitzen, und daher ganz geben zu können. Manches Mädchen, dem zum Entsetzen der Ihrigen die kleinen häuslichen Pflichten momentan zuwider sind, trägt unbewußt kein anderes Verlangen, als sich zu einer reichen, köstlichen Frauenseele auszuwachsen, in deren Bereich einen jeden heimatlicher Friede umfängt, und verwehrt man ihr die Versuche dazu, und verschrumpfen ihre stärksten Fähigkeiten, so bleibt sie zu ewiger Unharmonie verdammt, eckig und unproportioniert, und zählt in ihrem Alter mit galliger Bitterkeit ihre unausgegebenen Goldstücke. In dieser Beziehung kann man daher nur Freiheit und immer wieder Freiheit predigen, und muß man jede künstliche Schranke und Enge zerbrechen, weil man mehr Grund hat, den Sehnsuchtsstimmen im Menschen selbst zu trauen, selbst wenn sie sich falsch ausdrücken, als vorgefaßten und zurechtgemachten Theorien. Wo überhaupt eine Entwicklung Glanz und Freudigkeit über ein Wesen bringt, da ist sie, so wunderliche Krümmungen sie auch machen mag, doch auf richtiger Fährte und schließlich dazu da im Weibe das Weib selbst, nämlich dessen innerste Lebensfähigkeit zur Reife zu bringen.

»Der Mensch als Weib. Ein Bild im Umriß, in:
Neue Deutsche Rundschau, Jg. X, 1899[1]